4
EMU: Evidenzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung Unterrichtsdiagnostik – Ein Weg, um Unterrichten sichtbar zu machen Kern dieses Ansatzes ist es, Daten über den eigenen Unterricht zu gewinnen und diese Daten zu nutzen, um den Unterricht zu verbessern. Im Zentrum steht dabei immer das Lernen der Schüler. Prof. Dr. Andreas Helmke Dr. Friedrich-Wilhelm Schrader Dr. phil. Tuyet Helmke alle am Fachbereich Psychologie, Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Die Realisierung eines erfolgreichen leis- tungsförderlichen Unterrichts ist ein Ziel, dem sich Schulen und Lehrkräfte im Gefolge von Bildungsstandards und Lern- standserhebungen mehr denn je verpflich- tet sehen. Über die Faktoren, die zum Lernerfolg der Schüler beitragen können, gibt es mittlerweile einen Korpus empi- risch gesicherten Wissens. Metaanalysen, also zusammenfassende Analysen der Effekte vieler einzelner Studien, liefern klare Erkenntnisse, welche Maßnahmen in der Regel – aber natürlich nicht in jedem Einzelfall – wirken und welche nicht. John Hattie, einer der renommiertes- ten Vertreter dieses Ansatzes, kommt nach der Sichtung und Aufarbeitung der Ergebnisse von über 900 Metaanalysen zur Einschätzung, dass die Auswahl und Nutzung von Unterrichtsmaßnahmen, deren leistungsförderliche Wirkung grundsätzlich nachgewiesen wurde, zwar eine wichtige Grundlage erfolgreichen Unterrichts ist, dass es aber vor allem darauf ankommt, den Lernprozess der Schüler genau im Blick zu behalten und die eingesetzten Maßnahmen ständig darauf zu überprüfen, ob sie den Lern- prozess auch tatsächlich verbessern (Hat- tie, 2009, 2012), siehe auch die Artikel von Steffens & Höfer (SchulV BY 2/12 S. 38 ff. und 3/12 S. 66 ff.). »Fundamentally, the most powerful way of thinking about a teacher’s role is for teachers to see themselves as evaluators of their effects on students. Teachers need to use evidence-based methods to inform, change, and sustain these evaluation beliefs about their effects.« (Hattie, 2012, S.14) Unterrichtsmaßnahmen wirken schließ- lich erst dann, wenn sie die nötigen Lern- prozesse in Gang setzen. Erforderlich dafür ist eine hinreichende Abstimmung der Maßnahmen auf die jeweiligen Lernbe- dürfnisse und -möglichkeiten der Schüler. Solche Anpassungsbemühungen werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht auf der Basis bloßer Überzeugungen und Vermutungen erfolgen, sondern auf der Grundlage von Daten, also evidenzbasiert. Der Frage, ob der Unterricht bestimmte Effekte auf Schülerseite erzielt, vorgeordnet (wenn auch nicht immer klar abgrenzbar) ist dabei aber eine andere Frage: Genügt der Unterricht selbst bestimmten Kriterien, die erst die Voraussetzung dafür sind, dass lern- und leistungsförderliche Wirkungen bei den Schülern eintreten? Die empirische Unterrichtsforschung hat dazu eine Reihe von Befunden erbracht. Um dieses Wissen für die Unterrichts- entwicklung zu nutzen, haben wir im Auf- trag der KMK ein Konzept und Werk- zeuge für eine evidenzbasierte Unter- richtsdiagnostik entwickelt (Helmke et al., 2011). Kern dieses Ansatzes ist es, Daten über den eigenen Unterricht zu gewinnen und diese Daten zu nutzen, um den Unterricht zu verbessern. Im Zen- trum steht dabei immer das Lernen der Schüler. Alle Bemühungen zur Verbesse- rung des Unterrichts sind stets daran zu messen, inwieweit sie Lernprozesse anre- gen, fördern und unterstützen. Hattie hat seine Metaanalysen unter das Motto gestellt, das Lernen der Schüler sichtbar zu machen (visible learning), um es besser fördern zu können. In analoger Weise ist es das Anliegen von EMU, das Lehren sicht- bar zu machen (visible teaching). Hier kommt ein Gesichtspunkt ins Spiel, der bei Hatties Fokussierung auf Effektstär- ken (zu Recht) ausgeblendet wurde: Ein und dasselbe Unterrichtsangebot wirkt auf verschiedene Schülerinnen und Schü- ler nicht uniform, sondern wird – je nach Lernvoraussetzungen und -präferenzen – sehr unterschiedlich wahrgenommen, interpretiert und genutzt. Ist man darüber im Bilde, dann lassen sich viel leichter und gezielter Ansatzpunkte für eine Verbesse- rung finden. Evidenzbasierter Unterricht – Grundzüge des Ansatzes Evidenzbasiert zu unterrichten bedeutet, sich bei der Planung und Gestaltung des Unterrichts auf Daten, also Beobachtun- gen und andere empirisch feststellbare Indikatoren (z.B. Tests) zu stützen. Das ist keinesfalls so selbstverständlich wie es klingt. Lehrer entwickeln zur Bewälti- gung ihres komplexen Handlungsfelds Theorien, die ihr Handeln steuern und die Wahrnehmung lenken. Dass Theo- rien, Erwartungen und Hypothesen die menschliche Wahrnehmung steuern, ist ein in der Psychologie hinlänglich bekannter Sachverhalt. Theorien machen das Handeln häufig effektiver, können aber auch – vor allem dann, wenn die Theorien nicht hinreichend an der Reali- tät kontrolliert werden – die Wahrneh- mung ein Stückweit verzerren, indem relevante Faktoren übersehen werden und andere zu stark in den Blickpunkt geraten. Theorien haben zudem – weil man meist auf das achtet, was man erwar- tet – oft auch eine Tendenz, sich selbst zu bestätigen. Es ist daher nötig, die Theo- rien und handlungssteuernden Annah- men an der Realität zu prüfen, zumindest von Zeit zu Zeit. Das ist leichter gesagt als getan. Um Unterricht fundiert zu beur- teilen, benötigt man Methoden und Stra- tegien und in der Regel einen Blick von außen, der die eigene Perspektive ergänzt und korrigiert. Das ist auch das Anliegen unseres Ansatzes der Unterrichtsdiagnostik. Die Grundidee besteht darin, das eigene unterrichtliche Handeln und die ihm zugrunde liegende Perspektive explizit zu machen, sie mit anderen Perspektiven zu vergleichen und auf diese Weise die eigene Sichtweise bewusst zu machen und zu reflektieren. Unterricht als kom- plexes Interaktionsgeschehen lässt sich nur auf der Basis von Beobachtungen Qualität SchVw BY 6|2012 180

Qualität EMU: Evidenzbasierte Methoden der ...andreas-helmke.de/wordpress/wp-content/uploads/2014/02/SchulV-BY-6-2012.pdf · 3.AbgleichvonPerspektiven Das Explizitmachen von Urteilen

  • Upload
    lyphuc

  • View
    222

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Qualität EMU: Evidenzbasierte Methoden der ...andreas-helmke.de/wordpress/wp-content/uploads/2014/02/SchulV-BY-6-2012.pdf · 3.AbgleichvonPerspektiven Das Explizitmachen von Urteilen

EMU: Evidenzbasierte Methoden derUnterrichtsdiagnostik und -entwicklungUnterrichtsdiagnostik – Ein Weg, um Unterrichten sichtbar zu machen

Kern dieses Ansatzes ist es, Daten über den eigenen Unterricht zu

gewinnen und diese Daten zu nutzen, um den Unterricht zu verbessern.

Im Zentrum steht dabei immer das Lernen der Schüler.

Prof. Dr. Andreas HelmkeDr. Friedrich-Wilhelm SchraderDr. phil. Tuyet Helmkealle am Fachbereich Psychologie,Universität Koblenz-Landau, Campus Landau

Die Realisierung eines erfolgreichen leis-tungsförderlichen Unterrichts ist ein Ziel,dem sich Schulen und Lehrkräfte imGefolge von Bildungsstandards und Lern-standserhebungen mehr denn je verpflich-tet sehen. Über die Faktoren, die zumLernerfolg der Schüler beitragen können,gibt es mittlerweile einen Korpus empi-risch gesicherten Wissens. Metaanalysen,also zusammenfassende Analysen derEffekte vieler einzelner Studien, liefernklare Erkenntnisse, welche Maßnahmenin der Regel – aber natürlich nicht injedem Einzelfall – wirken und welchenicht.

John Hattie, einer der renommiertes-ten Vertreter dieses Ansatzes, kommtnach der Sichtung und Aufarbeitung derErgebnisse von über 900 Metaanalysenzur Einschätzung, dass die Auswahl undNutzung von Unterrichtsmaßnahmen,deren leistungsförderliche Wirkunggrundsätzlich nachgewiesen wurde, zwareine wichtige Grundlage erfolgreichenUnterrichts ist, dass es aber vor allemdarauf ankommt, den Lernprozess derSchüler genau im Blick zu behalten unddie eingesetzten Maßnahmen ständigdarauf zu überprüfen, ob sie den Lern-prozess auch tatsächlich verbessern (Hat-tie, 2009, 2012), siehe auch die Artikelvon Steffens & Höfer (SchulV BY 2/12S.38ff. und 3/12 S.66ff.).

»Fundamentally, the most powerful wayof thinking about a teacher’s role is forteachers to see themselves as evaluators oftheir effects on students. Teachers need touse evidence-based methods to inform,change, and sustain these evaluationbeliefs about their effects.« (Hattie, 2012,S.14)

Unterrichtsmaßnahmen wirken schließ-lich erst dann, wenn sie die nötigen Lern-prozesse in Gang setzen. Erforderlich dafürist eine hinreichende Abstimmung derMaßnahmen auf die jeweiligen Lernbe-dürfnisse und -möglichkeiten der Schüler.Solche Anpassungsbemühungen werdennur dann erfolgreich sein, wenn sie nichtauf der Basis bloßer Überzeugungen undVermutungen erfolgen, sondern auf derGrundlage von Daten, also evidenzbasiert.Der Frage, ob der Unterricht bestimmteEffekteaufSchülerseiteerzielt, vorgeordnet(wenn auch nicht immer klar abgrenzbar)ist dabei aber eine andere Frage: Genügt derUnterricht selbst bestimmten Kriterien,dieerst die Voraussetzung dafür sind, dass lern-und leistungsförderliche Wirkungen beiden Schülern eintreten? Die empirischeUnterrichtsforschung hat dazu eine Reihevon Befunden erbracht.

Um dieses Wissen für die Unterrichts-entwicklung zu nutzen, haben wir im Auf-trag der KMK ein Konzept und Werk-zeuge für eine evidenzbasierte Unter-richtsdiagnostik entwickelt (Helmke etal., 2011). Kern dieses Ansatzes ist es,Daten über den eigenen Unterricht zugewinnen und diese Daten zu nutzen, umden Unterricht zu verbessern. Im Zen-trum steht dabei immer das Lernen derSchüler. Alle Bemühungen zur Verbesse-rung des Unterrichts sind stets daran zumessen, inwieweit sie Lernprozesse anre-gen, fördern und unterstützen. Hattie hatseine Metaanalysen unter das Mottogestellt, das Lernen der Schüler sichtbar zumachen (visible learning), um es besserfördern zu können. In analoger Weise ist esdas Anliegen von EMU, das Lehren sicht-bar zu machen (visible teaching). Hierkommt ein Gesichtspunkt ins Spiel, derbei Hatties Fokussierung auf Effektstär-ken (zu Recht) ausgeblendet wurde: Einund dasselbe Unterrichtsangebot wirktauf verschiedene Schülerinnen und Schü-ler nicht uniform, sondern wird – je nachLernvoraussetzungen und -präferenzen –

sehr unterschiedlich wahrgenommen,interpretiert und genutzt. Ist man darüberim Bilde, dann lassen sich viel leichter undgezielter Ansatzpunkte für eine Verbesse-rung finden.

Evidenzbasierter Unterricht –Grundzüge des Ansatzes

Evidenzbasiert zu unterrichten bedeutet,sich bei der Planung und Gestaltung desUnterrichts auf Daten, also Beobachtun-gen und andere empirisch feststellbareIndikatoren (z.B. Tests) zu stützen. Dasist keinesfalls so selbstverständlich wie esklingt. Lehrer entwickeln zur Bewälti-gung ihres komplexen HandlungsfeldsTheorien, die ihr Handeln steuern unddie Wahrnehmung lenken. Dass Theo-rien, Erwartungen und Hypothesen diemenschliche Wahrnehmung steuern, istein in der Psychologie hinlänglichbekannter Sachverhalt. Theorien machendas Handeln häufig effektiver, könnenaber auch – vor allem dann, wenn dieTheorien nicht hinreichend an der Reali-tät kontrolliert werden – die Wahrneh-mung ein Stückweit verzerren, indemrelevante Faktoren übersehen werdenund andere zu stark in den Blickpunktgeraten. Theorien haben zudem – weilman meist auf das achtet, was man erwar-tet – oft auch eine Tendenz, sich selbst zubestätigen. Es ist daher nötig, die Theo-rien und handlungssteuernden Annah-men an der Realität zu prüfen, zumindestvon Zeit zu Zeit. Das ist leichter gesagt alsgetan. Um Unterricht fundiert zu beur-teilen, benötigt man Methoden und Stra-tegien und in der Regel einen Blick vonaußen, der die eigene Perspektive ergänztund korrigiert.

Das ist auch das Anliegen unseresAnsatzes der Unterrichtsdiagnostik. DieGrundidee besteht darin, das eigeneunterrichtliche Handeln und die ihmzugrunde liegende Perspektive explizit zumachen, sie mit anderen Perspektiven zuvergleichen und auf diese Weise dieeigene Sichtweise bewusst zu machenund zu reflektieren. Unterricht als kom-plexes Interaktionsgeschehen lässt sichnur auf der Basis von Beobachtungen

Qualität

SchVw BY 6|2012

180

Page 2: Qualität EMU: Evidenzbasierte Methoden der ...andreas-helmke.de/wordpress/wp-content/uploads/2014/02/SchulV-BY-6-2012.pdf · 3.AbgleichvonPerspektiven Das Explizitmachen von Urteilen

und Beurteilungen, die stets auch einStück subjektiv sind, erfassen und nurbedingt messen. Man benötigt dafür Kri-terien, an denen man sich bei der Beob-achtung und Beurteilung des Unterrichtsorientieren kann. Geeignete Kriteriensind Merkmale und Dimensionen derUnterrichtsqualität, die im Rahmen derempirischen Unterrichtsforschung unter-sucht worden sind und für die bewährteBeobachtungs- und Beurteilungsinstru-mente vorliegen. Derartige Qualitätsdi-mensionen sind auch Grundlage für denhier behandelten Ansatz der Unterrichts-diagnostik.

Er beruht darauf, dass der Unterrichtvon der unterrichtenden Lehrpersonselbst, einem hospitierenden Kollegenund den unterrichteten Schülern anhandsolcher Qualitätsdimensionen beurteiltwird. Gegenstand der Beurteilung ist eineUnterrichtsstunde oder -einheit, zumeinen, weil realistischerweise nur so einekollegiale Beurteilung erfolgen kann,zum anderen, weil auf diese Weise leich-ter Ansatzpunkte für Verhaltensänderun-gen gefunden werden können und einAbgleich verschiedener Perspektiven er-möglicht wird.

Dabei liegen drei Prinzipien zugrunde:

1. Fokussierung auf zentraleDimensionen

Fokussierung auf zentrale Dimensionender Unterrichtsqualität, die sich mit eta-blierten Beurteilungsverfahren erfassenlassen, und explizite Beurteilung desUnterrichts anhand dieser Dimensionen.Die explizite Beurteilung bietet einegünstige Voraussetzung, um später diedem Urteil zugrunde liegenden subjekti-ven Kriterien herauszuarbeiten.

2. Unterrichtserfassung ausverschiedenen Perspektiven

Erfassung des Unterrichts aus verschiede-nen Perspektiven: der des unterrichten-den Lehrers, eines sachkundigen Beob-achters (z.B. eines Kollegen) und der Per-spektive der unterrichteten Schüler.Diese Perspektiven decken unterschiedli-che Facetten der Unterrichtswirklichkeitab und vermitteln so ein vollständigeres,facettenreicheres und vielschichtigeresBild.

Beispiele für unterrichtsbezogene Aus-sagen aus drei Perspektiven werden in derTabelle 1 veranschaulicht.

Nr. Schülerfragebogen Lehrerfragebogen Kollegenfragebogen

1Ich konnte in dieserUnterrichtsstundeungestört arbeiten.

Die Schüler/-innenkonnten ungestörtarbeiten.

Die Schüler/-innenkonnten ungestörtarbeiten.

2

Wenn die Lehrerin in die-ser Unterrichtsstundeeine Frage gestellt hat,hatte ich ausreichendZeit zum Nachdenken.

Wenn ich eine Fragegestellt habe, hatten dieSchüler/-innen ausrei-chend Zeit zum Nach-denken.

Wenn die Kollegin eineFrage gestellt hat, hattendie Schüler/-innen aus-reichend Zeit zum Nach-denken.

3Mir ist klar, was ich indieser Stunde lernensollte.

Den Schüler(n)/-innenwar klar, was sie indieser Stunde lernensollten.

Den Schüler(n)/-innenwar klar, was sie indieser Stunde lernensollten.

4Ich war die ganzeStunde über aktiv beider Sache.

Die Schüler/-innenwaren die ganze Stundeüber aktiv bei der Sache.

Die Schüler/-innenwaren die ganze Stundeüber aktiv bei der Sache.

5Ich habe in dieser Unter-richtsstunde etwas dazugelernt.

Ich habe die Lernzieledieser Unterrichtsstundeerreicht.

Die Kollegin hat dieLernziele dieser Unter-richtsstunde erreicht.

Tab. 1: Beispiele für unterrichtsbezogene Aussagen aus drei Perspektiven

Perspektive des unterrichtendenLehrers

Die Perspektive des unterrichtenden Leh-rers ist dadurch gekennzeichnet, dass erdie Ziele, den Lehrstoff, die Lernvoraus-setzungen der Schüler und andere fürsein Handeln maßgebliche Faktorenkennt und sein Handeln darauf stützt. Erkennt das Umfeld, die Schüler, derenLeistungsstand, den Stoff und dessenStellenwert im gesamten Unterrichtskon-zept, die Interaktionsgeschichte.

Perspektive des Kollegen

Die Perspektive des Kollegen beruht aufeinem vom unmittelbaren Handlungs-druck entlasteten Beobachten. Er siehtdabei Zusammenhänge klarer, kann dieWirkungen des Unterrichts auf dieSchüler unmittelbarer und umfassenderbeobachten und auf Abläufe achten,die unter didaktisch-methodischen Ge-sichtspunkten aufschlussreich sind. Kol-legiale Hospitation gilt als aussichtsrei-che und wirkungsvolle Möglichkeit derLehrerfortbildung, die sich gegenüberanderen Formen der Hospitation da-durch auszeichnet, dass sie auf der glei-chen Hierarchieebene (»auf Augen-höhe«) und in einem bewertungsfreienRaum erfolgt. Sie umfasst drei Kern-prozesse:

fokussierte Beobachtung auf derGrundlage eines vereinbarten Beob-achtungsschwerpunkts;Feedback sowieeinen Perspektivwechsel

und hat ein großes Potenzial, wenn esdarum geht, Routinen und Gewohnhei-

ten dem Bewusstsein zugänglich zumachen, handlungssteuernde impliziteTheorie zu modifizieren und eigeneUrteilstendenzen und blinde Flecken zuerkennen. Der idealtypische Ablauf einerHospitation lässt sich als Zyklus mit fol-genden Schritten beschreiben: Vorberei-tung, Datenerhebung, Analyse undReflexion, Umsetzung und Evaluation(Helmke, 2012).

Perspektive der Schüler

Die Perspektive der Schüler ist gekenn-zeichnet durch die Kenntnis des Lehrers,seiner Verhaltensgewohnheiten, der all-gemeinen Klassensituation und der Mit-schüler, des durchgenommenen Stoffsund dessen Verständnis. Die Schülerper-spektive ist nicht zuletzt deswegen wich-tig, weil nur sie zeigt, ob der Unterrichtverständlich war, eine angemesseneSchwierigkeit hatte und als anregend undmotivierend erlebt wurde. Insofern ist esnur konsequent, die Schüler in die Beur-teilung einzubeziehen, weil diese Aspektevon ihnen am besten beurteilt werdenkönnen: »A key is not whether teachersare excellent, or even seen to be excellentby colleagues, but whether they are excel-lent as seen by students – the students sitin the classes, they know whether the tea-cher sees learning through their eyes, andthey know the quality of the relationship.The visibility of learning from the stu-dents’ perspective needs to be known bythe teachers so that they can have a betterunderstanding of what learning looks andfeels like for the students« (Hattie, 2009,S.116).

Qualität

SchVw BY 6|2012

181

Page 3: Qualität EMU: Evidenzbasierte Methoden der ...andreas-helmke.de/wordpress/wp-content/uploads/2014/02/SchulV-BY-6-2012.pdf · 3.AbgleichvonPerspektiven Das Explizitmachen von Urteilen

3. Abgleich von Perspektiven

Das Explizitmachen von Urteilen undderen Reflexion zielt darauf ab, das eigeneVerhalten bewusst zugänglich zu machenund dann zu reflektieren. Die verglei-chende Betrachtung dieser drei Urteils-perspektiven dient dazu, eigene Sichtwei-sen zu verdeutlichen, zu bestätigen oderzu korrigieren, die Einseitigkeiten dersubjektiven Wahrnehmung zu überwin-den und blinde Flecken zu beseitigen.

Die obenstehende Abbildung (Abb. 1)veranschaulicht den Abgleich von ver-schiedenen Perspektiven.

Abb.1: Beispiel für die Unterrichtswahrnehmung aus drei Perspektiven (»Triangulation«)

EMU stellt für diese Zwecke Beurtei-lungsinstrumente (Fragebögen) für denunterrichtenden Lehrer, den hospitie-renden Kollegen und die Schüler sowieein EDV-Tool zur Auswertung und Visua-lisierung der Ergebnisse zur Verfügung(vergl. www.unterrichtsdiagnostik.info)

Das Kerninstrument umfasst vier zen-trale fachübergreifende Prozessmerk-male der Unterrichtsqualität: (1) Effizi-ente Klassenführung, (2) Lernförderli-ches Klima undMotivierung, (3) Klarheitund Strukturiertheit und (4) KognitiveAktivierung. Hinzu kommt ein Bilanzbe-reich, d.h. eine Einschätzung der Stundein emotionaler, (Wohlfühlen), motivatio-naler (Interessantheit) und kognitiverHinsicht (Lernertrag, Passung).

Das EDV-Tool besteht aus einer Excel-Maske, in die die Urteile eingegebenwerden und einem Auswertungspro-gramm, das neben einigen statistischenKennwerten vor allem graphische Profileder Einschätzungen erzeugt. Diese Pro-file machen auf anschauliche Weisedeutlich, wo Gemeinsamkeiten und Un-terschiede in der Wahrnehmung liegen.Sie sind Grundlage für Gespräche zwi-schen unterrichtendemund hospitieren-dem Lehrer, aber auch zwischen Lehrerund Schülern.

Nutzung von EMU für den Umgangmit Vielfalt

Der Schlüssel zum Lernerfolg der Schülersind natürlich deren Lernprozesse und-aktivitäten. Lernförderlicher Unterrichtheißt dementsprechend, geeignete Aktivi-täten anzuregen und zu unterstützen. Diesist auch die zentrale Botschaft des verbrei-teten Angebots-Nutzungs-Modell. Esgeht davon aus, dass der Unterrichtzunächst einmal nur ein Angebot ist, dasnur dann zum Lernerfolg führt, wenn esvon den Lernenden in geeigneter Weisegenutzt wird. Auch andere Faktoren (wieMerkmale des Elternhauses) werden nurdann lernwirksam, wenn sie in Lernpro-zessen der Schüler Niederschlag finden.

Was bei einem Schüler lernförderlichist, hängt von seinem aktuellen Leis-tungsstand bzw. dem Grad des erreichtenWissens und Verständnisses sowie vonanderen Lernvoraussetzungen ab. Dies-bezüglich bestehen zwischen Lernendenerhebliche individuelle Unterschiede.Die Herausforderung für die Lehrkraftbesteht darin, mit diesen Unterschiedenso umzugehen, dass im günstigsten Falljeder Schüler bestmöglich gefördert wird.Dies setzt eine fortlaufende Diagnostikdes Schülerverhaltens im Alltag voraus;der Erleichterung dieser Aufgabe dientdie Broschüre »Pädagogisch diagnostizie-ren im Alltag« (ISB, 2008). Um die Sensi-bilität von Lehrkräften für den Umgangmit Vielfalt zu steigern, haben wir inEMU ein Zusatzangebot für den»Umgang mit Vielfalt« entwickelt.

Die PISA-Ergebnisse aus Ländern miterfolgreichen Schulsystemen zeigen, dassHeterogenität in den Lernvoraussetzun-gen der Schüler kein Hindernis fürerfolgreiches Unterrichten sein muss,sondern eine Lernchance darstellen kann.Der Umgang mit Vielfalt erfordert dia-

gnostische Kompetenzen, die Hattie wiefolgt charakterisiert: »For differentiationto be effective, teachers need to know, foreach student, where the student begins,and where he or she is in his or her jour-ney towards meeting the success criteriaof the lesson. Providing instruction at thewrong level for each student is missingthe mark; it is inefficient and ineffective«(Hattie, 2012, S. 99). Außerdem mussder Lehrer in der Lage sein, seinen Unter-richt nötigenfalls umzustrukturieren undanzupassen, wenn Lernschritte nichterfolgreich bewältigt werden. Hattiebezeichnet Lehrer, die dazu in der Lagesind, als »adaptive learning experts« (Hat-tie, 2012, S.100).

Die Forschung zeigt aber, dass Diffe-renzierung per se nicht ausschlaggebendist. Wichtig ist nicht das Ob, sondern dasWie: Welche Unterrichtsmethoden dabeizum Einsatz kommen (Roßbach & Wel-lenreuther, 2002), ob ein lernförderli-ches, motivierendes Klima vorliegt undob die Schüler ein Mindestmaß an Kom-petenzen im Bereich selbstreguliertenund kooperativen Lernens erworbenhaben. Das Erfolgsgeheimnis gelungenerDifferenzierung scheint nicht darin zuliegen, unterschiedliche Gruppenaktivi-täten bereitzustellen, sondern darin, dieUnterschiede für gemeinsame Aktivitä-ten nutzbar zu machen: »While there isno doubt that every student in the class islikely to be different, an art of teaching isseeing the commonality in diversity, inhaving peers work together, especiallywhen they bring different talents, errors,interests, and dispositions to the situa-tion, and understanding that differentia-tion relates more to the phases of lear-ning – from novice, through capable, toproficient – rather than merely providingdifferent activities to different (groupsof ) students« (Hattie, 2012, S. 97/98).

Qualität

SchVw BY 6|2012

182

Page 4: Qualität EMU: Evidenzbasierte Methoden der ...andreas-helmke.de/wordpress/wp-content/uploads/2014/02/SchulV-BY-6-2012.pdf · 3.AbgleichvonPerspektiven Das Explizitmachen von Urteilen

Aus diesem Grund haben wir beiEMU der Qualität kooperativen Lernensbesondere Aufmerksamkeit gewidmet. Eshandelt sich um einen Schülerfragebo-gen, der – bearbeitet nach Phasen derGruppenarbeit – Aufschluss über dieQualität des kooperativen Lernens gebenkann. Die insgesamt 40 Items decken diefolgenden Aspekte ab: Vorgaben, Zeit-nutzung, Regeln, Kooperation, Arbeits-klima und Feedback, Präsentation, Dis-kussion und Bilanz.

Rahmenbedingungen für denEinsatz von EMU

Damit evidenzbasierte Unterrichtsdia-gnostik erfolgreich genutzt werden kann,

sind verschiedene Voraussetzungen nötig.Eine Grundvoraussetzung ist, dass EMUim Team erfolgen sollte: Kollegiale Zusam-menarbeit istunabdingbar.DieKernstruk-tur bilden daher Tandems aus unterrich-tendem Lehrer und einem hospitierendenKollegen. Meistens besuchen diese wech-selseitig ihren Unterricht, führen Unter-richtsbeobachtungen durch und diskutie-ren anhand der gewonnenen Daten überden Unterricht.

Günstig ist es, wenn EMU in geeigneterWeise in die Innenarchitektur der Schuleeingebaut wird, damit die Erfahrungen derTandems zurückgespiegelt werden und diegesamte Schule etwas davon lernen kann.Nach allen bisherigen Erfahrungen

kommt der Schulleitung dabei eineSchlüsselrolle zu (Helmke et al., 2011).

Im Folgenden werden abschließend einige Features von EMU beschrieben; für vertiefendeTexte, Fragebögen, Software, Folien, Literatur etc. wird auf www.unterrichtsdiagnostik.infoverwiesen.

EMU ist ein Akronym für Evidenzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwick-lung. Es handelt sich dabei um ein handlungsorientiertes Programm, das an der UniversitätKoblenz-Landau im Auftrag der Kultusministerkonferenz entwickelt wurde.

EMU richtet sich an alle, die ihren Unterricht weiter entwickeln möchten oder andere dabeiberaten. Dies sind primär Schulen und Studienseminare. EMU eignet sich auch für die Schul-aufsicht, Bildungsadministration, pädagogische Berater/innen und universitäre Lehrerbil-dungszentren. Die Ziele:

Standortbestimmung: Erkennen von Stärken und Schwächen des eigenen UnterrichtsBewusstmachung eigener subjektiver Theorien des Lehrens und LernensErkennen blinder Flecken bei der UnterrichtswahrnehmungSensibilisierung für Heterogenität innerhalb der KlasseDatenbasierte Vereinbarung von Maßnahmen zur Weiterentwicklung des UnterrichtsDatenbasierter kollegialer Austausch über Unterricht im bewertungsfreien RaumVerständigung über ein gemeinsames Bild von Unterricht im Team oder KollegiumSchulentwicklung durch »Öffnung der Klassenzimmertüren« und Austausch über Unter-richtWertschätzung der Schüler/innen: Nutzung der Fragebogeninstrumente für Schülerfeed-back

Das Material umfasst:

eine elfseitige Broschüre (in einer Freistunde gut zu lesen), mit Links zu weiterführendenTextenInstrumente für die Unterrichtsdiagnostik aus Lehrer-, Kollegen- und Schülersicht:

Effiziente Klassenführung, Schüleraktivierung, Lernförderliches Klima und Motivie-rung, Klarheit und Strukturiertheit, Bilanz, Umgang mit Vielfalt, Kompetenzorientie-rung, Qualität von Gruppenarbeit, Kognitive Aktivierung, fachliche/fachdidaktischeQualität und Lehrersprache

Software für die Visualisierung der ErgebnisseLeitfaden für ein kollegiales Feedbackgespräch über eine Unterrichtsstunde aus Sichtder Lehrergesundheit (EMUplus)Unterrichtsvideo mit Auswertungsdaten für Ausbildungs- und Trainingszwecke

EMU steht allen Schulen und Studienseminaren uneingeschränkt und kostenfrei zur Verfü-gung. Das Programm ist selbsterklärend und erfordert keine externen Spezialisten. EMU istmodular aufgebaut und bietet viele Einstiegsmöglichkeiten. Das Material wird kontinuierlichverbessert und ergänzt.

Download: www.unterrichtsdiagnostik.info

Anfragen an: [email protected]

Autorenteam: A. Helmke, T. Helmke, G. Lenske, G. Pham, A.-K. Praetorius, F.-W. Schrader &M. Ade-Thurow

Fazit

Evidenzbasierte Unterrichtsdiagnostikist ein praktikables, flexibel einsetzbaresund offen ausgestaltbares Instrument,um den Unterricht datengestützt weiter-zuentwickeln. Erste Erfahrungen sindermutigend; der Ansatz ist bereits inmehreren Bundesländern offiziellerFortbildungsbestandteil. Eine Erweite-rung ist der in Kooperation mit dembaden-württembergischen Kultusmi-nisterium im Rahmen des Projektes»10plus – Gesund und motiviert bleibenimLehrberuf«entstandene,ebenfalls all-gemein nutzbare Feedbackleitfaden zurUnterrichtsreflexion aus der Perspektiveder Lehrergesundheit (EMUplus).

LiteraturHattie, J. A. C. (2009). Visible Learning. A synthe-sis of over 800 meta-analyses relating to achieve-ment. London: Routledge.Hattie, J.A.C. (2012).Visible learning for teachers.Maximizing impacton learning.London:Routledge.Helmke, A. (2012). Unterrichtsqualität und Leh-rerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Ver-besserung des Unterrichts (4. Aufl.). Seelze: Klett-Kallmeyer.Helmke, A., Helmke, T., Lenske, G., Pham, G.,Praetorius, A.-K., Schrader, F.-W., Ade-Thurow, M.(2011). Unterrichtsdiagnostik – Voraussetzung fürdie Verbesserung der Unterrichtsqualität. In A.Bartz, M. Dammann, S. Huber, C. Kloft & M.Schreiner (Hrsg.),PraxisWissen SchulLeitung, AL28, 2011 (Kap.30.71). Köln: Wolters Kluwer.Helmke, A., Helmke, T., Lenske, G., Pham, G.,Praetorius, A.-K., Schrader, F.-W. & Ade-Thurow,M. (2011). EMU – Unterrichtsdiagnostik. Version3.2 Kultusministerkonferenz. Landau: UniversitätKoblenz-Landau, Campus Landau.ISB (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungs-forschung) (2008). Pädagogisch diagnostizieren imSchulalltag. München: ISB.Steffens, U. & Höfer, D. (2011). Zentrale Befundeaus der Schul- und Unterrichtsforschung. EineBilanz aus über 50.000 Studien. SchulVerwaltungHessen/Rheinland-Pfalz, 10/2011 (vgl. auch Schul-Verwaltung Bayern, Heft 2/2012, S.38ff.).Steffens, U.& Höfer, D. (2012). Was ist das Wich-tigste beim Lernen? Die pädagogisch-konzeptionel-len Grundlinien der Hattieschen Forschungsbilanzaus über 50.000 Studien. Schulverwaltung Bayern,3/2012, S.66ff.Roßbach, H.-G. & Wellenreuther, M. (2002). Empi-rische Forschungen zur Wirksamkeit von Methodender Leistungsdifferenzierung in Grundschule. In F.Heinzel & A. Prengel (Hrsg.), Heterogenität, Integra-tion und Differenzierung in der Primarstufe (Jahr-buch Grundschulforschung 6, S.44–57). Opladen.

Qualität

SchVw BY 6|2012

183