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BUCHBESPRECHUNGEN -- Michael Wirnrner (2006): Dekonstruktion und Erziehung. Studien zurn Paradoxieproblem in der Padagogik. transcript: Bielefeld. 421 Seiten. Es ist eine verbreitete Auffassung, dass Para- doxien lediglich auf ein fehlerhaftes Moment im Denken hinweisen, ohne dass ihnen in der Wirklichkeit etwas entspricht, sie also nur Scheinproblerne darstellen, die sich in Nichts auflosen, sobald der Denkfehler beho- ben ist. Michael Wimmer tritt dieser Auf- fassung nachdrucklich entgegen. Als geeig- neten Ansatz, sich dern Paradoxieproblem auf neue Weise zuzuwenden und dabei auch die Fragen- und Aufgabenstellungen der Pad- agogik neu zu durchdenken, betrachtet er die Dekonstruktion i m Sinne Jacques Derri- das. Die Dekonstruktion, so Wirnmer, rnache nicht nur immer wieder auf die Fragwurdig- keiten von Losungen aufmerksam, durch die Paradoxien aufgelost werden sollten, son- dern lasse auf diesern Wege zugleich auch die ethischen, das Verhaltnis zurn Anderen betreffenden Herausforderungen im Umgang rnit Paradoxien hervortreten. Die Arbeit von Wimmer gliedert sich in funf Hauptkapitel. Den ersten drei urnfangreichen Kapiteln Das Paradoxieproblem in der Pad- agogik (K I), Ansatze zu einer Paradoxogra- phie (K II) und Paradoxien als Antwort des Denkens auf die Erfahrung des Anderen (K Ill) folgen zwei jeweils kurzere Kapitel rnit den liberschriften Paradoxien als Madali- taten des Daseins (K IV) und Der Einsatz der Dekonstruktion (K V). In seinem ersten Kapitel bezieht Wimmer sich wiederholt auf die Paradoxie, die sich in der von Kant forrnulierten Frage artikuliert: =Wie kultiviere ich die Freiheit bei dern Zwange?-. Wimmer betont, dass die para- doxale Relation von Freiheit und Zwang in der rnodernen Padagogik immer wieder von neuem ihre Spuren hinterlasse, ohne dass es gelungen ware, sie vollig aufzulosen. So sei sie in modifizierter Form auch in vielfal- tigen, spannungsvoll aufeinander bezogenen Doppelanweisungen gegenwartig, etwa in den Begriffspaaren Fuhren und Wachsenlas- sen, Unterstutzen und Gegenwirken, Binden und Freigeben, Offenhalten und Festlegen etc. (S. 42) Ware es der Padagogik moglich, sich der Verstrickung in gegenlaufige Aufga- benbestimrnungen zu entwinden und sich stattdessen ausschliefilich einer dieser Auf- gaben zuzuwenden bzw. das Gewicht entwe- der nur auf den Freiheitspol oder aber allein auf den Zwangspot zu legen, so horte sie in den Augen Wirnmers auf, Padagogik zu sein. Anstatt blob die Negation einer Moglichkeit zu bezeichnen, bildet die Unmoglichkeit, die in diesen Doppelanweisungen hervor- tretende Paradoxie aufzulosen, daher eine positive Unrnoglichkeit, auf der die Moglich- keit der Padagogik selbst grundet. Wimmer zeigt u.a., wie die Paradoxie von Freiheit und Zwang auch in der Differenzie- rung zwischen Bildung und Erziehung fort- wirkt, so dass das Verhaltnis beider zuein- ander sich seinerseits paradox gestaltet. Ebenso macht er auch auf eine -Paradoxie der padagogischen Verantwortung- auf- rnerksam, da der padagogischen Verant- wortung allein schon insofern unvermeid- lich eine Unverantwortlichkeit innewohne, als sie Doppelaufgaben verpflichtet sei, die so aufeinander verwiesen, dass sie sich im Widerstreit miteinander verschrankten. Er spricht von einer -Paradoxie der padago- gischen Aufgabe (zwischen Notwendigkeit und Unmoglichkeit)-, einer -Paradoxie des padagogischen Handelns (zwischen Frei- heit und Zwang).., einer -Paradoxie pad- agogischer Verantwortung (zwischen Ver- antwortung und Unverantwortlichkeit)<< und einer 8,Paradoxie des padagogischen Gegenstandes (zwischen Bildung und Erzie- hung).. (S. 103f). Ohne zu bestreiten, dass in der Weise, wie Paradoxien in der moder- nen Padagogik formutiert wurden, fragwur- dige Autonornie-, Subjekt- und Vernunft- konzeptionen rnit zur Artikulation gelangen, mochte er zeigen, dass in den Paradoxien oftmals zugleich mehr und anderes zurn Aus- druck kommt als nur die Fragwurdigkeit die- ser Konzeptionen, namlich ein den jewei- ligen Ansatzen nicht gefugig zu machendes und in ihren Losungsversuchen sich nicht auflosendes widerstandiges Frerndes. Wirn- mer wendet seine Aufmerksarnkeit in diesern Zusarnrnenhang besonders dern Urnstand zu, dass die Padagogik aufgefordert ist, einem nie restlos vorhersehbaren Neuen und einern dern ldentifizieren und Verfugen sich stets auch entziehenden Anderen zu antworten. -Das Neue<und ,der Andere"', bemerkt er, mbezeichnen die Grenze - nicht nur, aber auch - padagogischer Reflexion, Intentiona- litat und Verfugbarkeit- (S. 103). Es ist irn Sinne Wirnrners der Urngang rnit dieser Gren- ze, der im Umgang rnit dern padagogischen Paradoxieproblern auf dern Spiel steht. Der Auseinandersetzung rnit dern Paradoxie- problem in der Padagogik folgt irn zweiten Kapitel eine Erorterung der Frage, wie das ~Paradoxie-Tabu- entstehen konnte, das die okzidentale Vernunft kennzeichnet. Als beson- ders wichtig stellt Wimmer dabei Aristoteles' Satz vorn Widerspruch und vom ausgeschlos- senen Dritten heraus. Detailreich und faszi- nierend beschreibt er in diesem Kapitel den Weg, welcher in der Geschichte des abend- landischen Denkens von den paradoxie- und ratselverhafteten mythischen Erzahlungen zur Etablierung eines philosophischen Dis- kurses fuhrte, der Ratsel und Paradoxien zu losbaren Problernen erklarte. Ohne wichtige gegenlaufige Stromungen und Tendenzen aus- zublenden, aubert er die These, dass ein ent- scheidender -Grundzug~~ der abendlandischen Denkgeschichte sich in der Entstehung einer Logik herausbildet, in der Unvereinbarkeiten keinen Platz haben und Paradoxien nur als durch ein mangelhaftes Denken verursach- te Scheinprobleme gelten konnen. Seine Ver- rnutung lautet, dass die Umgangsweise rnit Paradoxien ,,cine kulturell und historisch spe- zifische Antwort auf das Ratsel des Anderen darstelltc' (S. 263) und dass ,,das irn abend- landischen philosophischen und wissenschaft- lichen Diskurs - aber naturlich auch in den praktischen gesellschaftlichen und poli- tischen Verhaltnissen - gespannte Verhaltnis zurn Anderen zusamrnenhangt rnit der Reini- gung des Denkens von Paradoxien und Unver- einbarkeiten- und der darin sich bekun- denden Veranderung in der -Welteinstellung und -erfahrungsc (S. 196, Anm. 108). In seinern dritten Kapitel Bsst Wimmer rnit Eugen Fink zunachst einen bemerkens- werten, in der Gegenwart aber kaum noch zur Notiz genornrnenen Denker ausfuhr- lich zu Wort kommen, der sich seinerseits in sowohl philosophischen als auch padago- gischen Kontexten kritisch rnit den Weichen- stellungen beschaftigt hat, die irn Ubergang vorn rnythischen Denken zur platonisch- aristotelischen Metaphysik vorgenommen wurden. Ebenso ausfuhrlich erfahrt auch Gotthard Gunther Erwahnung, der in sei- ner kybernetischen Philosophie die Unzu- langlichkeit der seit Aristoteles bestimrnend gewordenen zweiwertigen Logik aufzeigt. Fink und Gunther, so Wimrner, trafen sich u.a. darin, dass sie auf eine Beziehung des Subjekts zurn Anderen hinzuweisen ver- suchten, der die von ihnen kritisierten Tra- ditionen nicht gerecht zu werden vermoch- ten, doch seien beide auf unterschiedliche Weise zugleich so in dern Bannkreis dieser Traditionen gefangen, dass ihnen der Weg zu einern ,,anderen Denken des Anderen- auch selbst weitgehend verschlossen geblieben sei. Hier liegt fur Wimmer die Einsatzstel- le, um sich Emrnanuel Levinas zuzuwenden, der in seinern philosophischen Sprechen imrner wieder die eindeutige Grenze zwi- schen logischen Oppositionen in Frage stellt und aufzeigen mochte, wie Verbindungen, die in der Ordnung der herkornmlichen Logik nur als widersinnig erscheinen kon- nen, irn Bereich des Zwischenrnenschlichen - genauer gesagt: in der Beziehung des Selbst zurn Anderen in seiner nicht assimi- lierbaren Andersheit - dennoch einen eige- nen Sinn, eine eigene Bedeutung anzuneh- men vermogen. In seinern vierten Kapitel wendet Wim- mer sich dern Paradoxieproblem in wieder- um anderer Weise zu. Er zeigt hier u.a., wie der Universalitatsanspruch der okzidentalen Vernunft auf der Verkennung des ihr Ande- ren und, damit verbunden, auf dern Unsicht- barrnachen von Paradoxien grundet, auf denen diese Vernunft aufruht. Zuletzt ver- sucht er, neu auf die beruhmt gewordenen Fragen zu antworten, die Kant vor 200 Jah- ren formulierte, namlich auf die Fragen: ,,Was kann ich wissen?-, ,,Was soll ich tun?.., ,>Was darf ich hoffen?- und ,,Was ist der Mensch?=. Hatte Kant betont, dass die ers- ten drei Fragen sich jeweils auf die letzte, auf die Frage nach dern Menschen, bezogen

Rez Wimmer

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Page 1: Rez Wimmer

BUCHBESPRECHUNGEN - -

Michael Wirnrner (2006): Dekonstruktion und Erziehung. Studien zurn Paradoxieproblem in der Padagogik. transcript: Bielefeld. 421 Seiten.

Es ist eine verbreitete Auffassung, dass Para- doxien lediglich auf ein fehlerhaftes Moment im Denken hinweisen, ohne dass ihnen in der Wirklichkeit etwas entspricht, sie also nur Scheinproblerne darstellen, die sich in Nichts auflosen, sobald der Denkfehler beho- ben ist. Michael Wimmer t r i t t dieser Auf- fassung nachdrucklich entgegen. Als geeig- neten Ansatz, sich dern Paradoxieproblem auf neue Weise zuzuwenden und dabei auch die Fragen- und Aufgabenstellungen der Pad- agogik neu zu durchdenken, betrachtet er die Dekonstruktion im Sinne Jacques Derri- das. Die Dekonstruktion, so Wirnmer, rnache nicht nur immer wieder auf die Fragwurdig- keiten von Losungen aufmerksam, durch die Paradoxien aufgelost werden sollten, son- dern lasse auf diesern Wege zugleich auch die ethischen, das Verhaltnis zurn Anderen betreffenden Herausforderungen im Umgang rnit Paradoxien hervortreten.

Die Arbeit von Wimmer gliedert sich in funf Hauptkapitel. Den ersten drei urnfangreichen Kapiteln Das Paradoxieproblem in der Pad- agogik (K I), Ansatze zu einer Paradoxogra- phie (K II) und Paradoxien als Antwort des Denkens auf die Erfahrung des Anderen (K Ill) folgen zwei jeweils kurzere Kapitel rnit den liberschriften Paradoxien als Madali- taten des Daseins (K IV) und Der Einsatz der Dekonstruktion (K V).

In seinem ersten Kapitel bezieht Wimmer sich wiederholt auf die Paradoxie, die sich in der von Kant forrnulierten Frage artikuliert: =Wie kultiviere ich die Freiheit bei dern Zwange?-. Wimmer betont, dass die para- doxale Relation von Freiheit und Zwang in der rnodernen Padagogik immer wieder von neuem ihre Spuren hinterlasse, ohne dass es gelungen ware, sie vollig aufzulosen. So sei sie in modifizierter Form auch in vielfal- tigen, spannungsvoll aufeinander bezogenen Doppelanweisungen gegenwartig, etwa in

den Begriffspaaren Fuhren und Wachsenlas- sen, Unterstutzen und Gegenwirken, Binden und Freigeben, Offenhalten und Festlegen etc. (S. 42) Ware es der Padagogik moglich, sich der Verstrickung in gegenlaufige Aufga- benbestimrnungen zu entwinden und sich stattdessen ausschliefilich einer dieser Auf- gaben zuzuwenden bzw. das Gewicht entwe- der nur auf den Freiheitspol oder aber allein auf den Zwangspot zu legen, so horte sie in den Augen Wirnmers auf, Padagogik zu sein. Anstatt blob die Negation einer Moglichkeit zu bezeichnen, bildet die Unmoglichkeit, die in diesen Doppelanweisungen hervor- tretende Paradoxie aufzulosen, daher eine positive Unrnoglichkeit, auf der die Moglich- keit der Padagogik selbst grundet.

Wimmer zeigt u.a., wie die Paradoxie von Freiheit und Zwang auch in der Differenzie- rung zwischen Bildung und Erziehung fort- wirkt, so dass das Verhaltnis beider zuein- ander sich seinerseits paradox gestaltet. Ebenso macht er auch auf eine -Paradoxie der padagogischen Verantwortung- auf- rnerksam, da der padagogischen Verant- wortung allein schon insofern unvermeid- lich eine Unverantwortlichkeit innewohne, als sie Doppelaufgaben verpflichtet sei, die so aufeinander verwiesen, dass sie sich im Widerstreit miteinander verschrankten. Er spricht von einer -Paradoxie der padago- gischen Aufgabe (zwischen Notwendigkeit und Unmoglichkeit)-, einer -Paradoxie des padagogischen Handelns (zwischen Frei- heit und Zwang).., einer -Paradoxie pad- agogischer Verantwortung (zwischen Ver- antwortung und Unverantwortlichkeit)<< und einer 8,Paradoxie des padagogischen Gegenstandes (zwischen Bildung und Erzie- hung).. (S. 103f). Ohne zu bestreiten, dass in der Weise, wie Paradoxien in der moder- nen Padagogik formutiert wurden, fragwur- dige Autonornie-, Subjekt- und Vernunft- konzeptionen rnit zur Artikulation gelangen, mochte er zeigen, dass in den Paradoxien oftmals zugleich mehr und anderes zurn Aus- druck kommt als nur die Fragwurdigkeit die- ser Konzeptionen, namlich ein den jewei- ligen Ansatzen nicht gefugig zu machendes

und in ihren Losungsversuchen sich nicht auflosendes widerstandiges Frerndes. Wirn- mer wendet seine Aufmerksarnkeit in diesern Zusarnrnenhang besonders dern Urnstand zu, dass die Padagogik aufgefordert ist, einem nie restlos vorhersehbaren Neuen und einern dern ldentifizieren und Verfugen sich stets auch entziehenden Anderen zu antworten. -Das Neue< und ,der Andere"', bemerkt er, mbezeichnen die Grenze - nicht nur, aber auch - padagogischer Reflexion, Intentiona- l i tat und Verfugbarkeit- (S. 103). Es ist irn Sinne Wirnrners der Urngang rnit dieser Gren- ze, der im Umgang rnit dern padagogischen Paradoxieproblern auf dern Spiel steht.

Der Auseinandersetzung rnit dern Paradoxie- problem in der Padagogik folgt irn zweiten Kapitel eine Erorterung der Frage, wie das ~Paradoxie-Tabu- entstehen konnte, das die okzidentale Vernunft kennzeichnet. Als beson- ders wichtig stellt Wimmer dabei Aristoteles' Satz vorn Widerspruch und vom ausgeschlos- senen Dritten heraus. Detailreich und faszi- nierend beschreibt er in diesem Kapitel den Weg, welcher in der Geschichte des abend- landischen Denkens von den paradoxie- und ratselverhafteten mythischen Erzahlungen zur Etablierung eines philosophischen Dis- kurses fuhrte, der Ratsel und Paradoxien zu losbaren Problernen erklarte. Ohne wichtige gegenlaufige Stromungen und Tendenzen aus- zublenden, aubert er die These, dass ein ent- scheidender -Grundzug~~ der abendlandischen Denkgeschichte sich in der Entstehung einer Logik herausbildet, in der Unvereinbarkeiten keinen Platz haben und Paradoxien nur als durch ein mangelhaftes Denken verursach- te Scheinprobleme gelten konnen. Seine Ver- rnutung lautet, dass die Umgangsweise rnit Paradoxien ,,cine kulturell und historisch spe- zifische Antwort auf das Ratsel des Anderen darstelltc' (S. 263) und dass ,,das irn abend- landischen philosophischen und wissenschaft- lichen Diskurs - aber naturlich auch in den praktischen gesellschaftlichen und poli- tischen Verhaltnissen - gespannte Verhaltnis zurn Anderen zusamrnenhangt rnit der Reini- gung des Denkens von Paradoxien und Unver- einbarkeiten- und der darin sich bekun- denden Veranderung in der -Welteinstellung und -erfahrungsc (S. 196, Anm. 108).

In seinern dritten Kapitel Bsst Wimmer rnit Eugen Fink zunachst einen bemerkens-

werten, in der Gegenwart aber kaum noch zur Notiz genornrnenen Denker ausfuhr- lich zu Wort kommen, der sich seinerseits in sowohl philosophischen als auch padago- gischen Kontexten kritisch rnit den Weichen- stellungen beschaftigt hat, die irn Ubergang vorn rnythischen Denken zur platonisch- aristotelischen Metaphysik vorgenommen wurden. Ebenso ausfuhrlich erfahrt auch Gotthard Gunther Erwahnung, der in sei- ner kybernetischen Philosophie die Unzu- langlichkeit der seit Aristoteles bestimrnend gewordenen zweiwertigen Logik aufzeigt. Fink und Gunther, so Wimrner, trafen sich u.a. darin, dass sie auf eine Beziehung des Subjekts zurn Anderen hinzuweisen ver- suchten, der die von ihnen kritisierten Tra- ditionen nicht gerecht zu werden vermoch- ten, doch seien beide auf unterschiedliche Weise zugleich so in dern Bannkreis dieser Traditionen gefangen, dass ihnen der Weg zu einern ,,anderen Denken des Anderen- auch selbst weitgehend verschlossen geblieben sei. Hier liegt fur Wimmer die Einsatzstel- le, um sich Emrnanuel Levinas zuzuwenden, der in seinern philosophischen Sprechen imrner wieder die eindeutige Grenze zwi- schen logischen Oppositionen in Frage stellt und aufzeigen mochte, wie Verbindungen, die in der Ordnung der herkornmlichen Logik nur als widersinnig erscheinen kon- nen, irn Bereich des Zwischenrnenschlichen - genauer gesagt: in der Beziehung des Selbst zurn Anderen in seiner nicht assimi- lierbaren Andersheit - dennoch einen eige- nen Sinn, eine eigene Bedeutung anzuneh- men vermogen.

In seinern vierten Kapitel wendet Wim- mer sich dern Paradoxieproblem in wieder- um anderer Weise zu. Er zeigt hier u.a., wie der Universalitatsanspruch der okzidentalen Vernunft auf der Verkennung des ihr Ande- ren und, damit verbunden, auf dern Unsicht- barrnachen von Paradoxien grundet, auf denen diese Vernunft aufruht. Zuletzt ver- sucht er, neu auf die beruhmt gewordenen Fragen zu antworten, die Kant vor 200 Jah- ren formulierte, namlich auf die Fragen: ,,Was kann ich wissen?-, ,,Was soll ich tun?.., ,>Was darf ich hoffen?- und ,,Was ist der Mensch?=. Hatte Kant betont, dass die ers- ten drei Fragen sich jeweils auf die letzte, auf die Frage nach dern Menschen, bezogen

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und von der Beantwortung dieser Fragen die Bestirnrnung des praktischen Sinnes der Phi- losophie abhinge, so hebt Wirnrner hervor, ihm scheine eine ,,Verschiebung der Fra- ge nach dern Menschen zur Frage nach dern Anderen.. geboten, wenn es urn die Frage nach dern Sinn der Philosophie und daruber hinaus zugleich vor allern auch darum gehe, ,-eine andere Moglichkeit des Sozialen, des Politischen, des Padagogischen und der Zukunft denkbar zu rnachen, die den Ande- ren, die Singularitat, das Ereignis nicht aus- schliebt.. (S. 352). Mit diesen Bernerkungen leitet er zu seinern funften Kapitel uber, in dern er sich anknupfend an Derrida wieder- holt der Frage nach einer 3,anderen Moglich- keit des Moglichen- widrnet, die es zugleich erforderlich rnache, auf Modalitaten der Verschrankung von Moglichem und Unmog- Lichern aufrnerksam zu werden.

Wirnrner betont in diesern letzten Kapitel, dass die Moglichkeit von Erziehung gerade auf der Unmoglichkeit beruht, ihr Gelingen nach Mabgabe vorher gewusster Bedingungen dieses Gelingens zu verburgen. Die Moglich- keit des Ereignisses als eines in seinem Mog- lichsein nicht im vorhinein schon Bekannten und Feststehenden sei unlosbar rnit dieser Unrnoglichkeit verbunden. In dekonstrukti- ver Perspektive, so Wimrner, sei Erziehung ..als Erziehung nur rnoglich, weil sie durch den Moment ihrer Unrnoglichkeit hindurch- gehen und ihn in sich aufnehmen muss [...I. Sonst ware sie Dressur, Technik, Prograrnrn, Kalkul. Die Unmoglichkeit (verstanden als logisch nicht deduzierbares Programrn bzw. als rational nicht bestirnrnbares Ziel oder als nicht allgernein und voraus kalkulierbares Handeln) ist also Bedingung ihrer Moglich- keit.. (5. 379). Von dieser so verstandenen Unmoglichkeit hangt irn Sinne Wimrners auch die Moglichkeit eines Urteilsraumes ab, in dern die Frage: -Wie dern Anderen gerecht werden?.. uberhaupt erst aufgeworfen wer- den kann. Jener Urteilsraurn eroffnet sich ihrn zufolge dort, wo man irn Eingehen auf einen singularen Anderen nicht blob ein vor- ab schon vorhandenes Wissen oder bereits bestehende allgerneine Zielvorgaben oder Regelvorschriften zur Anwendung bringen kann, sondern sich als aufgefordert erfahrt, dieses Wissen bzw. diese Ziete oder Rege- lungen ihrerseits im Hinblick auf die Frage

zu beurteilen, ob sie diesern Anderen in sei- ner Einzigartigkeit gerecht werden. Das aber, so bernerkt er, sei nur in einer Situation der >,Unentscheidbarkeit<e moglich, in der keine andere lnstanz bereits fur einen entschie- den i ~ n d einern die eigene Verantwortung so durch das Vorgeben fertiger Antworten schon abgenomrnen habe.

Wimmers Buch zeichnet sich nicht nur durch die Vielschichtigkeit und Differenziertheit des Gesagten aus, sondern ebenso auch durch die Anregungen, die uber das Gesagte hinaus von ihrn ausgehen. So lasst sich Wim- rners These, dass -die Beziehung zurn Ande- ren jeder padagogischen Beziehung voraus- geht<< (5. 106), z.B. rnit dern Paradox des Unendlichen im Endlichen, des -Mehr- im ..Weniger- bei Levinas verbinden. Denn in Anlehnung an Levinas ist zu fragen, wie die an-archische Verantwortung fur den Ande- ren, die =fruher.< anhebt als jede bereits ausdrucklich als >,padagogisch~~ definierte Beziehung zu ihm, in der padagogischen Ver- antwortung als einer dieser Verantwortung vorhergehenden und uber sie hinauswei- senden, narnlich an ihrern wie auch irnrner definierten ,,Ende- nicht zum Abschluss komrnenden Verantwortung Spuren hinter- lassen kann. Das heibt zugleich, dass zu fragen ist, wie sich die unendliche Verant- wortung fur den Anderen als unaufhebbar Anderern in der endlichen padagogischen Verantwortung fur ihn als zu Erziehendern bemerkbar rnachen kann, und ob und wie es rnoglich ist, dieser in jener Ausdruck zu verleihen. Das sei hier als Beispiel fijr eine der Fragen erwahnt, denen in Anknupfung an Wimmers Auseinandersetzung rnit dern Paradoxieproblem in der Padagogik genauer nachzugehen ware.

Als Fazit bleibt zu ziehen, dass es Wirn- mer in sehr beeindruckender Weise gelun- gen ist, seinern Anliegen gerecht zu werden, >,cine andere Denkrnoglichkeit des Para- doxieproblems aufzuzeigen, von dern aus die Grund- und Nebenfragen der Padagogik neu durchdacht werden konnen'. (S. 382), und dabei zugleich die Bedeutsarnkeit des dekonstruktiven Ansatzes Derridas fur die Padagogik herauszustellen.

Katharina Schmidt

Mark-Georg Dehrrnann (2008): Das -0rakel Abschluss der Einleitung wird Shaftesbury der Deisten-. Shaftesbury und die deutsche zudern in der Gerrnanistik verortet, da die- Aufklarung. Wallstein: Gottingen. 500 Seiten. se doch schon zu Beginn des 20. Jahrhun-

derts auf die Bedeutung des englischen Den- Seit einigen Jahren geniebt Anthony Ashley kers hingewiesen und in ihrn eine der Quellen Cooper, Third Earl of Shaftesbury, auch in der der Genietheorie gesehen habe. deuts~hs~rachigen Diskussion eine irnmer gr6- Oer werdende Aufrnerksarnkeit - dies durch- aus in Ubereinstirnrnung rnit Forschungsdis- kussionen in anderen europaischen Wndern. In diesern Kontext ist auch die hier vorzuste(- lende Arbeit zu verorten, verfolgt sie doch das Vorhaben, ,,die Rezeption, Wirkung und Bedeutung Shaftesburys in Deutschland aufzu- suchen- (5. 8). Der Schwerpunkt der Untersu- chung liegt dabei irn 18. Jahrhundert, genauer noch in der Mitte desselben, da hier die =deut- sche Shaftesbury-Rezeption zu ihrern Hohe- punkt- kornrne (ebd.). Darnit bearbeitet der Autor kein grundsatzlich neues Forschungsthe- ma, sondern erganzt und prazisiert den bishe- rigen Forschungsstand und revidiert ihn auch in einigen Punkten. Zwei Thesen leiten dabei die gesarnte Untersuchung: Komrnunikative Realitaten bilden die Moglichkeitsbedingungen von Rezeption und Texte konnen nicht auto- nom, sondern irnrner nur in historisch-kultu- rellen Realitaten eingebettet gesehen werden (5. 25f). Darnit schlieOt er an schon (anger dis- kutierte Erkenntnisse innerhalb der history of ideas an, ohne diese allerdings naher zu erlau- tern oder sich selber explizit in einer rnetho- dischen Tradition zu verorten.

Die Untersuchung gliedert sich in eine Einlei- tung, sechs inhaltliche Kapitel sowie einen ausfuhrlichen Anhang. In der Einleitung (5. 7-27) erlautert der Autor sein Forschungsvor- haben. Shaftesbury wird kurz in seinem his- torischen Kontext in England situiert, dabei folgt Dehrrnann der Einschatzung von Law- rence Klein, der Shaftesburys Philosophie als -Polite Philosophy bezeichnet hat, wornit sich ,,Shaftesburys Prograrnrn- als ,,dezidiert weltlich und liberal.. (S. 10) charakterisieren lasse. Daran schliebt eine Situierung Shaftes- burys in Deutschland an, die rnit dern Schlag- wort ,,gegensatzliche Rezeptionec gekenn- zeichnet werden konne. Einerseits seien Teile von Shaftesburys Werk begeistert aufgenom- men und ubersetzt worden, andererseits gel- te er aber auch als Deist, wornit imrner auch der Verdacht verbunden gewesen sei, die christliche Moral werde untergraben. Zurn

Das erste Kapitel (5. 28-88) untersucht die fruhe Rezeption Shaftesburys auf dern Kon- tinent. Dabei steht die Rezeption bei Jean Le Clerc, Gottfried Wilhelrn Leibniz, Johann Friedrich Burg sowie in den deutschen Zeit- schriften bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts im Zentrurn. Es zeige sich, so Dehrmann, dass Shaftesburys Rezeption auf dern Kontinent ein ahnliches Schicksal erlitten habe wie andere englischsprachige Zeitgenossen: Die Rezeption war schwierig. Das sei einerseits in fehlenden Sprachkenntnissen begrundet gewesen, andererseits aber auch in unter- schiedlichen Denktraditionen, was wiederurn Folge der fehlenden Sprachkenntnisse gewe- sen sein durfte. Als Zentrurn der Rezeption konne Leipzig bezeichnet werden, wobei die Promotoren Shaftesburys in Europa haupt- sachlich gegen das Vorurteil gekarnpft hatten, er sei ein ,,Religionsfeind<< (S. 87). Mit den gegen 1750 zunehrnenden Ubersetzungen von Shaftesburys Schriften habe sich jedoch auch langsarn ein differenzierteres Bild Shaftesbu- rys zu etablieren begonnen, der imrner rnehr auch zum -Lehrer der literarischen Kritik und Ethik- geworden sei (S. 88).

Das zweite Kapitel widrnet sich dern Verhalt- nis zwischen Shaftesbury und der Theologie der Aufklarung (5. 89-155). Dabei kornmt Dehrmann zurn Fazit, dass die theologische Rezeption Shaftesburys in Deutschland die wirkungsrnachtigste gewesen sei, wohl nicht zuletzt deshalb, weil die ersten Leser durch- weg Theologen waren. Dehrrnann kann zudern materialreich zeigen, dass sich bei der theologischen Lekture Shaftesburys die Frage irnmer um die Vereinbarkeit mit der christlichen Religion drehte, wobei festzu- stellen sei, dass diese unterschiedlich beant- wortet wurde. Einerseits wurde Shaftesburys Konzept des moral sense als Bedrohung der christlichen Ethik angesehen, weshalb davor gewarnt werden musste. Andererseits wurde gerade dies etwa von Spalding als Moglichkeit gesehen, den >,naturlichen Menschen zu Gott zu fuhren.. (5. 154); ein Anliegen, das sich in