3

Click here to load reader

Rezension Dulinicz Frühe Slawen im Gebiet zwischen unterer Weichsel und Elbe

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Rezension Dulinicz Frühe Slawen im Gebiet zwischen unterer Weichsel und Elbe

Marek Dulinicz. Fruhe Slawen im Gebiet zwischen unterer Weichsel und Elbe: Eine archaologische Studie.Neumunster: Wachholtz Verlag, 2006. 432 S. ISBN 978-3-529-01396-6.

Reviewed by Gerson H. JeutePublished on H-Soz-u-Kult (March, 2007)

M. Dulinicz: Fruhe Slawen

Die Entstehung von Kulturen ist stets einvieldiskutiertes Forschungsgebiet, insbesondere dann,wenn diese in den Zeitraum einer sich erst en-twickelnden Schriftlichkeit fallen und die historischeForschung sich daher auf andere, beispielsweise aufarchaologische Quellen beziehen muss. Da, wo dieseAuseinandersetzungen gescheut werden, fallen ganzeRegionen aus dem Blickwinkel einer europaischenGeschichtsbetrachtung, Regionen wie etwa Ostmit-teleuropa, in dem die politischen Veranderungen dervergangenen Jahrzehnte in Teilen auch zu einemneuen Geschichtsbild gefuhrt haben. Die vorliegendeStudie fragt daher nach dem Entstehen der west-lichen und nordwestlichen Slawen wahrend des 7.bis 9. Jahrhunderts und bezieht sich dabei vor-rangig auf archaologische Materialien. Der Bandbasiert auf der Habilitationsschrift von Marek Dulin-icz, die in Polen bereits vor einiger Zeit unterdem Titel “Ksztatowanie si Sowiaszczyzny Ponocno-Zachodniej. Studium archeologiczne” (Warszawa2001) erschienen ist, in den vergangenen Jahren je-doch wesentlich ausgebaut und um zahlreiche Lit-eraturangaben erganzt werden konnte. Die Ar-beit stellt ein kompetentes Kompendium dar, nichtzuletzt, da der Verfasser sich bereits seit Jahrzehn-ten mit der Problematik beschaftigt. Studienaufen-thalte in Deutschland und Polen haben ihn den ein-maligen Ein- und Uberblick verschafft, der noch inden 1970er und 1980er-Jahren nicht moglich gewe-sen ware, obgleich damals im ehemaligen Ostblockdie Erforschung der Slawen ein wesentliches Themader archaologischen Wissenschaft war. Neben dergroßeren Freiheit im wissenschaftlichen Betrieb trittnun eine erweiterte und vor allem prazisere Datenba-sis auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Als Quel-lengruppen fur seine Untersuchungen stehen Duliniczhauptsachlich Siedlungen sowie einige wenige Graber-felder, Hort- und Einzelfunde zur Verfugung. Die

archaologischen Ergebnisse werden durch die natur-wissenschaftlichen Daten, wie erwahnt, entscheidenderganzt und anschließend der historischen Uberliefer-ung gegenubergestellt.

Dementsprechend gliedert sich die Arbeit: Demrecht knappen Kapitel “Stand der archaologischenForschung” (S. 17-23) folgt die Darstellung der“Schriftquellen zur altesten Geschichte der westlichenSlawen” (S. 24-38), die eben deswegen verhaltnis-maßig kurz ausfallt, weil es fur den Zeitraum des7. bis 9. Jahrhunderts nur wenige Quellen gibt.Es folgt mit den “Naturwissenschaftlichen Alters-bestimmungen als Grundlage chronologischer Un-tersuchungen” (S. 39-64) das wichtigste und nach-haltigste Kapitel des Bandes. Dagegen ist der Ab-schnitt “Analyse und Chronologie der Funde” (S. 65-159) eher den traditionellen archaologischen Meth-oden verhaftet. Vom Umfang und der Thematikher als Hauptkapitel zu betrachten sind die Unter-suchungen zu “Siedlung und Besiedlung” (S. 160-265). Entsprechend der geringen Quellenbasis folgtein kurzer Abschnitt zu “Grabformen und Bestat-tungssitte” (S. 266-274). Ein auswertendes Kapi-tel (S. 275-287) und ein sehr ausfuhrlicher und aus-formulierter Katalog nebst einem Register und demLiteraturnachweis (S. 288-423) beschließen das volu-minose und leicht unhandliche Buch.

Nach wie vor steht in der ostmitteleuropaischenFruhgeschichtsforschung die Frage im Vordergrund,wann die Einwanderung der Slawen in das Gebietzwischen Elbe und Oder sowie zwischen Oder undWeichsel erfolgte und aus welcher Region die Zuwan-derer kamen. Wenn sie westlich der Oder im 6.Jahrhundert ankamen, hatten sie vielleicht noch Kon-takt mit den Germanen. Im spaten 7. Jahrhun-dert dagegen werden sie in einen weitgehend men-schenleeren Raum gekommen sein. Die wenigenschriftlichen Quellen weisen auf den fruhen Zeitraum,

1

Page 2: Rezension Dulinicz Frühe Slawen im Gebiet zwischen unterer Weichsel und Elbe

H-Net Reviews

die archaologischen, vor allem aber die naturwis-senschaftlichen, also dendrochronologischen Daten,setzen die Zuwanderung jedoch in das 8. Jahrhun-dert. Die meisten Daten sprechen fur die erste Halftedes 8. Jahrhunderts, teilweise sogar erst fur die ersteHalfte des 9. Jahrhunderts. Archaologische Objektedie in das 6./7. Jahrhundert zuruckgehen sind dage-gen uberwiegend kontextlose Einzelfunde. Sie warenin der traditionellen Archaologie wichtige Eckpfeiler,sind heute ohne zugehorige Siedlungs- oder Grabbe-funde jedoch kaum noch von Wert. Ebenso sind Ra-diocarbondatierungen (C14-Methode) kritisch zu hin-terfragen. Deutlich wird, dass sie aufgrund ihrer Un-genauigkeit als Datierungsmethode in der Fruhmitte-lalterforschung nicht mehr herangezogen werden dur-fen.

Die Entwicklung im Gebiet zwischen Oder undWeichsel geht nicht in allen Punkten den gleichenWeg, und so warnt Dulinicz auch zu recht da-vor, Erscheinungen im westlichen Grenzgebiet nichtohne Weiteres auf den großpolnischen und pommer-schen Raum zu ubertragen. Diese Praxis wurdenoch vor wenigen Jahren betrieben; nun kann je-doch durch die vergroßerte Datenbasis ein detail-liertes Bild entworfen werden. Zur Losung der Fragenach der Herkunft der Zuwanderer haben die Sprach-wissenschaften das sudliche Rußland und die Ukrainesowie den Raum sudlich der Karparten vorgeschla-gen. Das ebenfalls erwogene Oder-Weichsel-Gebietentfallt nun jedoch als “Urheimat” der Slawen,wie Dulinicz mit seinen Ergebnissen unterstreicht.Eher randstandig sind weitere Fragen der Fruh-slawenforschung, fur deren Beantwortung traditionelldie Archaologie bemuht wurde: Wo lag die civi-tas Dragoviti, die Karl der Große wahrend seinesFeldzuges im Jahre 789 besuchte? Wo befanden sichdie Brucken uber die Elbe, die er bauen ließ? Wolag das beruhmte Heiligtum Reric? Antworten da-rauf werden noch auf sich warten lassen, da ahn-lich wie bei Fragen der ethnischen Zugehorigkeit Vgl.Brather, Sebastian, Ethnische Interpretationen in derfruhgeschichtlichen Archaologie. Geschichte, Grund-lagen und Alternativen, in: Erganzungsbande zumReallexikon der Germanischen Altertumskunde 42,Berlin 2004. eine prazise Zuweisung von Befundenzu konkreten Ereignissen und Namen ohne weiter-fuhrende schriftliche Erlauterungen - die ja in diesemFalle fehlen - kaum moglich ist.

Auch fur das Kapitel “Siedlung und Besiedlung”werden zunachst die schriftlichen Quellen ausgew-ertet. Diese bieten jedoch nur sparliche Angaben,da sie sich auf militarische und politische Ereignisse

ab dem 9. Jahrhundert konzentrieren. Aus denBeschreibungen geht immerhin hervor, dass die slaw-ischen Hauser in die Erde eingetieft waren undaus Holz bestanden. Dulinicz unterteilt nun diearchaologisch bekannten Gebaude in vier Gruppen:ebenerdige Wohngebaude, eingetiefte Wohngebaude,ebenerdige Nebengebaude und eingetiefte Nebenge-baude. Eine solche Unterteilung ist jedoch nichtunproblematisch; sie kann nur bei guter Befunder-haltung und unmittelbar wahrend der Ausgrabun-gen vorgenommen werden. Sicherlich wird es Uber-gangstypen sowie Nutzungsanderungen und Paral-lelnutzungen gegeben haben, vor allem bei derEinwanderergeneration und ihrer vorrangig land-wirtschaftlichen Lebens- und Wirtschaftsweise. Da ersich der Problematik bewusst ist, stellt Dulinicz weit-ere Klassifikationen vor, die wiederum recht klein-teilig und kompliziert sind und somit den einfachenBauten selten gerecht werden. Zu all seinen Gruppenbeschreibt er ausfuhrliche Beispiele und liefert zahlre-iche Abbildungen, die zudem auf gleichen Maßstabund Strichstarke umgezeichnet wurden. So ist einVergleich wesentlich besser moglich, als wenn mansich bei jeder Zeichnung erneut in den Zeichenstileinlesen muss. Zu den eingetieften Nebenbauten wer-den allerdings auch Brunnen gezahlt. Diese hattenohne Weiteres einer eigenen Gruppe zugeordnet wer-den konnen.

Von siedlungsgeschichtlich großerer Bedeutung istdas Kapitel “Struktur, Großen und topographischeLage der offenen Siedlungen” (S. 219-243). Auchhier gibt Dulinicz zu Beginn zunachst eine Klarungder Terminologie. Deutlich wird jedoch, dass es im-mer noch zu wenige großflachig und fast gar keinevollstandig ergrabenen Siedlungen gibt. Dennochbleibt die Frage nach der Struktur einer Siedlung vorallem fur Zeiten der Transformation, ob einer fruh-slawischen oder einer hochmittelalterlichen, span-nend. Sie kann ein Schlussel zur Klarung eth-nischer und sozialer Aspekte einer landlichen Sied-lung sein. Das Fazit von Dulinicz ist jedochernuchternd: Die fruhslawischen Siedlungen sindso unregelmaßig, dass keine sinnvolle Interpretationmoglich ist. Festzustellen ist lediglich, dass die Sied-lungen in Polen wesentlich kleiner als am Dnjestroder an der Donau sind; sie wurden so angelegt, dasssie Zugang zu den unterschiedlichsten Bereichen derUmwelt besaßen. Die vorgelegte Studie stellt einesder wichtigsten Werke der letzten Jahre zur slawis-chen Einwanderung zwischen unterer Weichsel undElbe dar, die ihren Wert in den nachsten Jahren nichtverlieren wird.

2

Page 3: Rezension Dulinicz Frühe Slawen im Gebiet zwischen unterer Weichsel und Elbe

H-Net Reviews

If there is additional discussion of this review, you may access it through the list discussion logs at:http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl.

Citation: Gerson H. Jeute. Review of Dulinicz, Marek, Fruhe Slawen im Gebiet zwischen unterer Weichselund Elbe: Eine archaologische Studie. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. March, 2007.URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=21666

Copyright © 2007 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. This work may be copied andredistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usageright holders. For permission please contact [email protected].

3