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Integration und Ausschluß: Ethnizität, Staatsbildungsprozesse und Stratifikation in Ruanda Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie eingereicht an der Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien von Albert Kraler Wien, im Januar 2001

Ruanda Integration und Ausschluss - univie.ac.at · 2005-10-09 · i inhaltsübersicht inhalt ii vorbemerkung v vorwort vii teil 1 grundlegungen 1 kapitel 1 ethnizitÄt, stratifikation

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Integration und Ausschluß:

Ethnizität, Staatsbildungsprozesse und Stratifikation in Ruanda

Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie

eingereicht an der

Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien

von

Albert Kraler

Wien, im Januar 2001

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Inhaltsübersicht INHALT II VORBEMERKUNG V VORWORT VII

TEIL 1 GRUNDLEGUNGEN 1

KAPITEL 1 ETHNIZITÄT, STRATIFIKATION UND STAATSBILDUNG 2 1.1. AUSSCHLUSS – INTEGRATION: IDENTITÄT – IDEOLOGIE – EINE PRÄLIMINARE DISKUSSION VON ETHNIZITÄT 2 1.2 STRATIFIKATION 27 1.3 STAAT 30 1.4 RESÜMEE 31 KAPITEL II DISKURSE ÜBER STRATIFIZIERUNG UND ETHNIZITÄT IM VORKOLONIALEN RUANDA 33 2.1 ZUR BEDEUTUNG DER GESCHICHTE 33 2..2 KEIN UNBESCHRIEBENES BLATT: DIE ENTDECKUNG RUANDAS 39

TEIL 2 STAATSBILDUNGSPROZESSE, STRATIFIKATION UND ‚ETHNIZITÄT’ IM PRÄKOLONIALEN RUANDA 50

KAPITEL III: BESIEDELUNGSGESCHICHTE UND FRÜHE STAATSBILDUNG 51 3.1 DAS OBSESSIVE ZURÜCKBLICKEN: WANDERUNG, INVASION ODER EINFACH NUR USURPATION 51 3.2 POLITISCHE AUTORITÄT IN DER FRÜHZEIT DER GESCHICHTE DES GROßEN SEENGEBIETES, CA.1000-1650 54 3.3. VON HERRSCHAFTSVERBAND ZUM STAAT: RUANDA, CA.1500 BIS 1750. 64 3.4 DER CHARAKTER FRÜHER HERRSCHAFTSVERBÄNDE 74 KAPITEL IV ZENTRALISIERUNG UND EXPANSION 81 4.1 EXPANSION UND MILITÄR 85 4.2 LAND 90 4.3 DIE AUSWEITUNG VON KLIENTELBEZIEHUNGEN 95 4.4 RESÜMEE: RUANDA AM VORABEND DER KOLONISATION 100

TEIL 3 KOLONISATION UND HERRSCHAFT 107

KAPITEL V DIE DEUTSCHE PERIODE 108 5.1 DIE KOLONISIERUNG UND IHR KONTEXT 108 5.2 DAS SYSTEM KOLONIALER HERRSCHAFT 119 5.3 HERRSCHAFT UND HERRSCHAFTSIDIOM: KOLONIALADMINISTRATION UND MISSION IM GESELLSCHAFTLICHEN KONTEXT 127 5.4 RESÜMEE 174 KAPITEL VI: DIE BELGISCHE PERIODE 181 6.1 DIE ÖKONOMIE DER BESATZUNG: ERSTER WELTKRIEG UND ÜBERGANG BIS 1925 181 6.2 DIE ÖKONOMIE DER REFORM: DER KOLONIALE ENTWICKLUNGSSTAAT, CA. 1925-1945 225 6.3 SOZIALE UND POLITISCHE STRATIFIKATION: RUANDA CA. 1940-1960 239

TEIL 4 DEKOLONISATION UND REVOLUTION 244

KAPITEL VII: REFORM UND REVOLUTION 245 7.1. DIE DEKADE POLITISCHER REFORM, 1948-1959 245 7.2 ‚REVOLUTION’ 252 7.3. MECHANISMEN DER ETHNISIERUNG 258 KAPITEL VIII NOCH EINMAL: ETHNIZITÄT 261

BIBLIOGRAPHIE 263

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Inhalt INHALT II Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Karten iv VORBEMERKUNG V Zur Terminologie ruandesischer Institutionen v Zitierweise vi VORWORT VII Ausgangspunkt vii Zielstellung der Arbeit vii Der Aufbau viii

TEIL 1 GRUNDLEGUNGEN 1

KAPITEL 1 ETHNIZITÄT, STRATIFIKATION UND STAATSBILDUNG 2 1.1. AUSSCHLUSS – INTEGRATION: IDENTITÄT – IDEOLOGIE – EINE PRÄLIMINARE DISKUSSION VON ETHNIZITÄT 2 1.1.1 Debatten über Ethnizität 11 1.1.2.1 Mechanismen in der Herstellung und Reproduktion von Kollektiven 12 1.1.2.2 Stamm, Ethnos, Rasse – zwischen Natürlichkeit und Konstruktion 12 1.1.2 ‚Objektive’ und ‚subjektive’ Ethnizität: Kategorisierung und Identifikation 15 1.1.3. Kollektivität – Kollektives Handeln 19 1.1.4 Das Ethnos als politisches Kollektiv 22 Die Hegemonietheorie Laclaus 23 1.2 STRATIFIKATION 27 1.3 STAAT 30 1.4 RESÜMEE 31 KAPITEL II DISKURSE ÜBER STRATIFIZIERUNG UND ETHNIZITÄT IM VORKOLONIALEN RUANDA 33 2.1 ZUR BEDEUTUNG DER GESCHICHTE 33 2.1.1 Gegenwart und Geschichte 33 2.1.2 Vergangenheit und Interpretation 33 2.1.3 Begründungen 34 2..2 KEIN UNBESCHRIEBENES BLATT: DIE ENTDECKUNG RUANDAS 39 2.2.1 Der zeitgenössische Hintergrund 39 2.2.2.Fixierungen 43 2.2.3 Frühe Kontakte 46

TEIL 2 STAATSBILDUNGSPROZESSE, STRATIFIKATION UND ‚ETHNIZITÄT’ IM PRÄKOLONIALEN RUANDA 50

KAPITEL III: BESIEDELUNGSGESCHICHTE UND FRÜHE STAATSBILDUNG 51 3.1 DAS OBSESSIVE ZURÜCKBLICKEN: WANDERUNG, INVASION ODER EINFACH NUR USURPATION 51 3.2 POLITISCHE AUTORITÄT IN DER FRÜHZEIT DER GESCHICHTE DES GROßEN SEENGEBIETES, CA.1000-1650 54 3.2.1. Die Region 54 3.2.2. Soziale und politische Prozesse in der Frühzeit der Region 57 3.3. VON HERRSCHAFTSVERBAND ZUM STAAT: RUANDA, CA.1500 BIS 1750. 64 3.3.1 Kontinuität oder Innovation?: Staatsbildungsprozesse 69 3.3.1.1Kontinuität und Diskontinuität denken: Herrschaftsverbände und ihre ethnische Färbung 71 3.4 DER CHARAKTER FRÜHER HERRSCHAFTSVERBÄNDE 74 Exkurs: Militärische (Re-)Organisation und militärischer Ethos 76 3.4.1 Herrschaftsdichte 79 KAPITEL IV ZENTRALISIERUNG UND EXPANSION 81 4.1 EXPANSION UND MILITÄR 85 4.2 LAND 90 4.2.1 Arm und Reich: Tagelöhner 94 4.3 DIE AUSWEITUNG VON KLIENTELBEZIEHUNGEN 95 4.4 RESÜMEE: RUANDA AM VORABEND DER KOLONISATION 100

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TEIL 3 KOLONISATION UND HERRSCHAFT 107

KAPITEL V DIE DEUTSCHE PERIODE 108 5.1 DIE KOLONISIERUNG UND IHR KONTEXT 108 5.1.1 Einleitung 108 5.1.2 Koloniale Erschließung und Erbfolgestreit: Ruanda in den 1890er Jahren 112 5.1.3 Ruandas neue Grenzen: Begegnung mit dem Kongo 112 5.1.4 Der Coup von Rucunshu 115 5.1.4.1 Sukzession, Königtum, Widerstand und Legitimität 117 5.2 DAS SYSTEM KOLONIALER HERRSCHAFT 119 5.2.1 Materielle Zwänge und indirekte Herrschaft 119 Exkurs: Burundi 121 5.2.2 Die objektiven Voraussetzungen indirekter Herrschaft 122 5.3 HERRSCHAFT UND HERRSCHAFTSIDIOM: KOLONIALADMINISTRATION UND MISSION IM GESELLSCHAFTLICHEN KONTEXT 127 5.3.1 Christliche Mission und Herrschaft 129 5.3.1.1 Die Niederlassung der Weißen Väter in Ruanda 129 5.3.1.1.1. Grundbesitz, Arbeitskraft und Ausbeutung 131 5.3.1.2 Katholische Mission unter deutscher Herrschaft 1900-1916 132 5.3.1.2.1 Die Weißen Väter und Nordruanda 133 5.3.1.2.2 Gewalt, Macht und Herrschaft im Geiste und jenseits des Evangeliums 134 5.3.1.2.3 Mission und Elitenpolitik 136 5.3.2 Deutsche Militärokkupation und Herrschaft 138 5.3.2.1 Die Errichtung des Kolonialstaats(1) ca.1900-1907 138 5.3.2.2 Koloniale Durchdringung, Gewalt und ‚antikolonialer’ Widerstand 142 5.3.2.2.1 Die ‚Petite Revolution’ von 1904 142 5.3.2.2.2 Die doppelte Interaktion von Zentrum und Peripherie: Dualer Kolonialismus, regionale Revolten und die Kristallisation embryonaler kollektiver Identität in Nordruanda ca. 1904-1912 147 5.3.2.2.2.1 Die Inkorporation des Nordens 147 Exkurs: Kolonialer Staat und Hegemonie 153 5.3.2.2.2.2 Subimperialismus à la Ruanda: Ausbeutung und Herrschaft 155 Exkurs: Kolonialer Staat und Zwangsarbeit 158 5.3.2.2.2.3 Die Protagonisten (Symbolfiguren) der Aufstandsbewegung: Muhumusa, Basebya, Rukara und Ndungutse 159 Muhumusa 159 Rukara rwa Bishingwe 162 Basebya 164 Ndungutse 165 5.3.2.2.2.4 Herrschaft, Revolte und kollektive Identität in Nordruanda 167 5.3.2.3 Die Errichtung des Kolonialstaates (2) – Versuche der Institutionalisierung und Reform 170 5.4 RESÜMEE 174 KAPITEL VI: DIE BELGISCHE PERIODE 181 6.1 DIE ÖKONOMIE DER BESATZUNG: ERSTER WELTKRIEG UND ÜBERGANG BIS 1925 181 6.1.1 Krieg und Besetzung 181 6.1.2 Nicht nur Besatzung: Militärverwaltung und Transformation von Herrschaft in Ruanda 185 6.1.2.1 Einrichtung 185 6.1.2.2 Konsolidierung des Staates: die Wiederrichtung der Residentur 187 6.1.2.3 Formalisierung des Staates und seine Modernisierung 191 6.1.2.3.1 Der internationale Status Ruandas 192 6.1.2.3.2 Die Konturen des Staates, 1919-1924 193 6.1.2.3.2.1 Das Problem indirekte Herrschaft und der Legitimität 193 6.1.2.3.2.2 Die Lösung des Problems: Reform der indigenen Herrschaftsstrukturen und Verrechtlichung der Herrschafts- und Klientelbeziehungen 195 6.1.2.3.3 Die Konturen der neuen Elite – Staat und Bildungspolitik 201 Exkurs: Klientelismus und Abhängigkeit unter den veränderten Bedingungen von Herrschaft 205 6.1.3 Die Neudefinition des Verhältnisses von Mission und Staat, ca.1917-1945 211 6.1.3.1 Staat und Mission, Mission und Gesellschaft 211 6.1.3.2 Der katholische Schulsektor- Segregation und Ausschluß 214 6.1.3.3 Konsolidierung und Neubeginn, von der Mission zur Staatskirche, 1917 bis ca.1945 219 6.2 DIE ÖKONOMIE DER REFORM: DER KOLONIALE ENTWICKLUNGSSTAAT, CA. 1925-1945 225 6.2.1 Die Transformation der Verwaltung 227

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6.2.2 Die Transformation der Ökonomie 234 6.2.2.1 Susbsistenzsicherung 234 6.2.2.2 Staatskapitalismus: die Anbindung Ruandas an die Weltwirtschaft 236 Planwirtschaft auf kleinbäuerlicher Basis: Ruanda, ca. 1920-1960 236 Ökonomische Transformation und Arbeitsmigration 237 6.3 SOZIALE UND POLITISCHE STRATIFIKATION: RUANDA CA. 1940-1960 239

TEIL 4 DEKOLONISATION UND REVOLUTION 244

KAPITEL VII: REFORM UND REVOLUTION 245 7.1. DIE DEKADE POLITISCHER REFORM, 1948-1959 245 7.1.1 Faktoren und Kontext des politischen Wandels 245 7.1.2 Der Versuch kontrollierten Wandels 1948-1959 247 7.2 ‚REVOLUTION’ 252 7.2.1 Auftakt 253 7.2.2. Aufstand (November 1959) und die royalistische Reaktion 254 7.2.3 Revolution und Transition 255 7.3. MECHANISMEN DER ETHNISIERUNG 258 KAPITEL VIII NOCH EINMAL: ETHNIZITÄT 261

BIBLIOGRAPHIE 263

Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Karten

Abbildung 1: Bezeichnung (das Nominale) und Praktische Konsequenz ............................................................... 9 Abbildung 2: Soziale Norm/ Soziale Praxis.......................................................................................................... 10 Abbildung 3: Kollektivität und kollektives Handeln (1)....................................................................................... 20 Abbildung 4: Kollektivität und kollektives Handeln (2)....................................................................................... 21 Abbildung 5: Die notwendige Beschränkung von Identität .................................................................................. 25 Abbildung 6: Die Wirkungsweise des (Symbol des) Antagonismus in Sozialen: Identität durch Ausschluß....... 26 Abbildung 7: Schema der Herrschaftsbeziehungen in Ruanda ca. 1750............................................................... 83 Abbildung 8: Schema der Machtbeziehungen und Grundverhältnisse im spätvorkolonialen Ruanda................ 106 Abbildung 9: Modell der Herrschaftsausübung in Nordruanda während der deutschen Periode........................ 158 Abbildung 10: Rebellion und Kollektivität ......................................................................................................... 168 Abbildung 11: Organisation der europäischen Verwaltung in Ruanda............................................................... 188 Abbildung 12: Schema der Verwaltung unter belgischer Kolonialherrschaft..................................................... 233 Tabelle 1: Genealogie ruandesischer Könige (Bami) nach verschiedenen Quellen 65 Tabelle 2: Institutionelle Entwicklungen bis ca. 1750 68 Tabelle 3: Zahl der Ibikingi nach Region (ca.1900) 94 Tabelle 4: Errichtung der deutschen Verwaltung 126 Tabelle 5: Missionsgründungen vor 1919 130 Tabelle 6: Grundbesitz der katholischen Mission 131 Tabelle 7: Belgische Residenten und Vize-Gouverneure 1917-1962 191 Tabelle 8: Rechtlicher Status Ruandas, 1917-1925 193 Tabelle 9: Schülerzahlen in Schulen der Weißen Väter/Schwestern ca.1927 nach Zentrum (écoles urbaines) und

Peripherie (écoles rurales) 216 Tabelle 10: Schülerzahlen der Groupe Scolaire (Astrida) nach 'ethnischer' Zugehörigkeit 217 Tabelle 11: Expansion der Mission - Zahl der Missionare, indigener Priester, Missionsstationen, Außenposten

und Katechisten 1922-1944 220 Tabelle 12: Zahl der Katholiken und Taufwerber, 1914-1943 225 Tabelle 13: Absetzungen und Gebietsauflösungen 1930-1932 230 Tabelle 14: Anzahl der Chiefs und Subchiefs, ausgewählte Jahre bis 1959 230 Tabelle 15: Reform 'traditioneller' Herrschaft 231 Tabelle 16: Ablauf der Revolution und Typologie ihrer Stadien 252

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Karte 1: Königtümer im Bereich des Großen Seengebietes ................................................................................. 54 Karte 2: Ruanda am Ende des 19.Jh................................................................................................................... 105

Vorbemerkung

Zur Terminologie ruandesischer Institutionen

Die Bezeichnungen ruandesischer Institutionen sind sowohl in ihrer deutschen Übersetzung bzw.

Umschreibung als auch in Kinyarwanda (der Sprache Ruandas) angegeben. Für die deutsche

Bezeichnung von Herrschaftsträgern unterhalb des Mwami (‚König’) wird von mir der englische

Ausdruck ‚Chief’ verwendet, da mir keine adäquaten deutschen Bezeichnungen von politischen

Positionen in einem außereuropäischen Kontext bzw. Afrika bekannt sind, die dieselbe allgemeine

Bedeutung haben wie der englische Ausdruck, zumal seine Verwendung sich auch in

deutschsprachigen Texten zunehmend durchsetzt.

Die Orthographie der ruandesischen Ausdrücke richtet sich nach einer vereinfachten Schreibweise

(ohne Kennzeichnung von Tonhöhe und Vokallänge) und gibt die vollständige Schreibung der

betreffenden Ausdrücke wieder, also inklusive der Klassenpräfixe (sowie der Präpräfixe), außer bei

Worten, bei denen sich der ausschließliche Gebrauch des Wortstammes eingebürgert hat (im

wesentlichen die Bezeichnungen ‚Hutu’, ‚Tutsi’ und ‚Twa’ sowie ‚Mwami’. Ethnonyme bzw.

Bezeichnungen der regionalen Herkunft, aber auch die Namen von Lineages werden wechselweise in

ihrer bloßen Stammform und mit Präfixen, teilweise aber ohne Augment gebraucht (z.b. Abanyiginya

und Nyiginya als Bezeichnung für den Klan, dem die königliche Lineage angehörte; Bashi und

Banyandgua als Beispiele für Ethnonyme bzw. von Bezeichnungen für regionale Gruppen).

Ausgenommen davon sind natürlich wörtliche Zitate, bei denen die jeweilige Schreibweise der Autoren

übernommen wird. Im Kinyarwanda unterscheiden sich /r/ und /l/ in den meisten Fällen nicht bzw.

kaum. Das spiegelt sich in der wechselnden Schreibung wider. So findet man sowohl ‚uburetwa’ als

auch ‚ubuletwa’ usw. Ich verwende, wo es sich eindeutig um generalisierte Praktiken bzw. um eine

Person von überregionaler Bedeutung handelt, weitgehend Formen mit /r/ - heutigen Usancen

folgend. Wo es sich um lokale Bezeichnungen handelt, folge ich dem Gebrauch des Autors, dem das

Material entnommen ist.

Das Kinyarwanda gehört zu den Bantusprachen und ist – wie alle Bantusprachen – eine

Klassensprache. Klassensprachen zeichnen sich dadurch aus, daß es kein grammatisches

Geschlecht gibt und statt dessen das Nominalsystem in Klassen organisiert ist. In den Bantusprachen

werden Klassen durch Präfixe ausgedrückt und alle anderen Wortarten (Verb, Pronomen usw.) mit

den Substantiva übereingestimmt. Im Kinyarwanda gibt es 19 Klassen, wobei die meisten Klassen in

Klassenpaaren (Singular/Plural) auftreten. Klassen bzw. Klassenpaare sind auch semantisch relevant,

d.h. Klassen ordnen Worte im Groben nach gemeinsamen Bedeutungsinhalten. So gibt es eine

Personenklasse (Kl.1/2), eine Klasse, in der sich eine Vielzahl von Pflanzen befinden (Kl.3/4) sowie

Lokativklassen. Im Text werden ruandesische Termini mit dem jeweiligen Klassenpräfix und dem

jeweiligen Präpräfix angegeben (Präpräfixe bzw. Augmente) kommen in der gesprochenen bzw.

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geschriebenen Sprache nur vor, wenn das jeweilige Nomen betont wird).

Im Text häufig vorkommend sind Personenbezeichnungen und Bezeichnungen für Institutionen. Im

Folgenden werden Beispiele für die wichtigsten der im Text vorkommenden Klassen gegeben.

(Muster: Präpräfix (Augment) – Präfix – Stamm)

Klasse 1/2

Klasse 1 (sg.) u-mu-tware (Chief) Klasse 2 (pl.) a-ba-tware

u-mu-gabekazi (Königinmutter) a-ba-gabekazi

Klasse 5/6

Klasse 5 (sg) i-sambu (Parzelle Ackerland) Klasse 6 (pl.) a-ma-sambu

Klasse 7/8

Klasse 7(sg) i-gi-kingi (Weideland, ‚Lehen’) Klasse 8 (pl.) i-bi-kingi

Klasse 11/10

Klasse 11 u-ru-go (Gehöft) Klasse 10 (pl.) i-n-go

Klasse 14

U-bu-konde (Besitztitel von Land bei Ackerbauern)

Nomina können mittels sogenannter Konnektive verbunden werden, um eine Genitivkonstruktion bzw. ein

zusammengesetztes Nomen zu bilden. Zahlreiche Bezeichnungen politischer Positionen folgen diesem Muster

(z.b.: umutware w’umuheto – Armee Chief)

Zitierweise

Der Text hält sich im allgemeinen an übliche Zitierweisen. Quellen für Sekundärzitate (d.h. aus der

Sekundärliteratur übernommene Originalzitate) sind im Fußnotenapparat angeführt und folgen den Angaben der

Autoren, nach denen zitiert wurde.

Fußnoten/ Endnoten (abgekürzt: FN, EN) werden als solche zitiert und ausgewiesen. Werden in der verwendeten

Literatur Fußnoten nicht durchgängig durchnumeriert, verweise ich zusätzlich auf die Seitenzahlen, auf denen

sich die Fußnoten finden bzw. auf die sich Endnoten beziehen.

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Vorwort

Ausgangspunkt

Am Ausgangspunkt dieser Arbeit steht ein doppeltes Unbehagen: ein Unbehagen über die

neuerdings festzustellende Ubiquität eines Begriffes, der hier zum Thema gemacht wird,

nämlich derjenige der ‚Ethnizität’. Dazu gesellt sich ein spezifischeres Unbehagen, nämlich

das Unbehagen darüber, in welchem Maße Konflikte allerlei Art, besonders aber kriegerische

Konflikte als Konflikte zwischen ethnischen oder ethno-nationalen Kollektiven erlebt und

wahrgenommen werden. Während der Begriff ‚Ethnizität’ und der Fokus auf Ethnizität und

Konflikt zwar nicht als solche völlig neu ist, ist er im Gegensatz zu früher Bestandteil eines

weit verbreiteten Populärdiskurses. In den Sozialwissenschaften wurde er in den Vierzigern

im Rahmen der amerikanischen Migrations- und Stadtforschung einer ersten breiten

Thematisierung zugeführt, eine Debatte, die in den Sechziger Jahren wiederaufgenommen

wurde und in deren Verlauf die Verwendung des Begriffes sukzessive auf die postkolonialen

Gesellschaften ausgedehnt worden ist.

Das Unbehagen über Ethnizität speist sich aus zwei Quellen: Zum einen erlangt das unter

Ethnizität gefaßte Phänomen Aufmerksamkeit als grundsätzlich problematische bzw.

problematisierte Kategorie, die auf eine anomalische Dimension von Ethnizität verweist.

Zum anderen ist die Verteilung der Kategorie eine extrem ungleiche – im Gegensatz zum

Rassebegriff des 19.Jh. ist Ethnizität eine Kategorie, mit der nicht jeder bedacht wird:

Ethnizität ist etwas, das nicht jeder ‚hat’.

Ruanda hat nun eine lange Tradition, unter dem Gesichtspunkt von ‚Ethnizität’ oder ähnlicher

Kategorien – Volk, Rasse – betrachtet zu werden. Tatsächlich hat sich dieses Muster

besonders während der turbulenten Dekolonisation des kleinen Landes verfestigt. Der

Genozid, der 1994 stattgefunden hat, war selbst wieder ein weiterer Grund, Ruanda (wieder

einmal) unter der Perspektive von Ethnizität zu durchleuchten. Dabei gesellt sich allerdings

zu den zwei angesprochenen Ursachen eines tiefen Unbehagens eine dritte: nämlich die

Starrheit des auf Ruanda angewandten Ethnizitätsbegriffs.

Zielstellung der Arbeit

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den Staatsbildungsprozesse in Ruanda in einen

systematischen Zusammenhang mit der Produktion und Reproduktion von gesellschaftlichen

Strukturen und sozialer Identität (und damit auch kollektiver Identität) zu stellen. Die

grundlegende (Rahmen-) Hypothese der Arbeit ist, daß sich Stratifizierungs- bzw.

Ethnizitätsprozesse in den staatlichen Institutionen einschreiben bzw. umgekehrt, daß

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gesellschaftliche Prozesse wesentlich von der Natur des Staates determiniert werden. Der

Staat als institutionalisierter gesellschaftlicher Regelungsmechanismus ist, wie jede andere

gesellschaftliche Institution auch, geschichtlich gewachsen und gibt insofern und wenn auch

nur indirekt und beschränkt, Auskunft den Verlauf und Ausgang früherer Kämpfe um seine

Definition; Kämpfe um die Definition von Staatlichkeit und politischer Macht, die auf

horizontaler Ebene genauso zu verorten ist (also auf der Ebene der verschiedenen Personen

mit dem Anspruch auf Herrschaft über eine definierte Bevölkerung) genauso wie auf einer

vertikalen Ebene, also zwischen diesen und der Bevölkerung – wenn man so will, zwischen

Staat und Gesellschaft.

Der Bogen der Arbeit ist, zugegebenermaßen, sehr weit gespannt: er reicht von der Frühzeit

des Staatsbildungsprozesses irgendwann zwischen 500 n.Chr und 1500 n.Chr, in dessen

Kontext der frühe embryonale ruandesische Staat anzusiedeln ist, bis in die rezentere

Vergangenheit, als die kolonial entscheidend modifizierte Monarchie gestürzt und durch eine

Republik ersetzt worden ist. Die im Titel (Integration und Ausschluß) paraphrasierte zentrale

Hypothese dieser Arbeit, daß die Konjunktur des Ethnischen in Ruanda als ein Ergebnis von

Integration (d.h. als Ergebnis des Staatsbildungsprozesses) und von verschiedenen

Ausschlußbewegungen (auf symbolischer Ebene, auf der Ebene des Diskurses; auf

politischer Ebene, Ausschluß von politischen Ämtern usw.) zu verstehen ist, versteht sich

selbst wiederum als eine Spezifikation der eingangs angeführten Hypothese von der

Einschreibung sozialer Kämpfe und Konflikte in formalen politischen Institutionen (dem

Staat).

Der Aufbau

Teil 1: Grundlegungen

Der theoretisch gehaltene Einleitungsteil versucht grundsätzliche, in der Arbeit verwendete,

theoretische Konzepte einer Klärung zuzuführen. Es wird argumentiert, daß 'Ethnizität' primär als

Kollektivkonstruktion zu verstehen ist, die auf der Behauptung einer Zusammengehörigkeit fußt, die

mittels verschiedener Inklusionskriterien (biologische, kulturelle, linguistische, geschichtliche usw.)

plausibel gemacht wird - und nur Sinn macht, wenn die Artikulation ethnischer Zusammengehörigkeit

in dem gesellschaftlichen Kontext betrachtet wird, in dem sie auftritt. Für den ruandesischen Fall heißt

das, daß Ethnizität nicht unabhängig von der für Ruanda als so charakteristisch dargestellten

(ethnischen) Stratifikation, die wieder unmittelbar mit dem Staatsbildungsprozeß zusammenhängt,

betrachtet werden kann. Im zweiten Teil der Einleitung wird auf gewissermaßen ideengeschichtlichem

Terrain die Genese der Ruanda zur kolonialen Zeit dominierenden (europäischen)

Klassifikationsschemata, innerhalb derer das Verhältnis der Ethnien zueinander bzw. die Gesellschaft

überhaupt konzeptualisiert worden ist, analysiert sowie die dominanten Wahrnehmungsmuster

herausgearbeitet, die selbst wieder soziale und politische Diskurse ruandesischer Akteure maßgeblich

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beeinflußten und prägten.

Teil 2: Staatsbildungsprozeß, Stratifikation und ‚Ethnizität’ im präkolonialen Ruanda

Im 1. Teil des dritten Kapitels wird die Bedeutung der Frühgeschichte Ruandas und des Großen

Seengebietes im allgemeinen begründet und diese in der Funktion gesehen, die sie als Gründungs-

und Begründungsmythos einnimmt. Im zweiten Teil des Kapitels, der im Gegensatz zu den folgenden

Kapiteln, nicht chronologisch aufgebaut ist, wird die Herausbildung von Staaten im Großen

Seengebiet und speziell, die Entwicklung des ruandesischen Staates analysiert. Im Vordergrund

stehen dabei die Analyse der Institutionen des Staates, seiner Reichweite und der Herrschaftsdichte in

der Fühzeit regionaler Staatsbildungsprozesse sowie die mit seiner Herausbildung verbundenen

Konzepte von Legitimität und Herrschaft.

Im vierten Kapitel werden die wesentlichen Elemente des Zentralisations- und Expansionsprozesses

beschrieben, der in institutionellen Neuerungen hinsichtlich des Zugangs zu Ressourcen,

Klientelbeziehungen und Verfügungsrechte über Klienten und Untertanen seinen Niederschlag fand

und in eine gesellschaftliche Stratifikation mündete, die auf den Zugang zu Ressourcen und politischer

Macht beruhte. Teil 3: Kolonisation und Herrschaft

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der deutschen Kolonialperiode. Zuerst werden die Gründe für

die zur Zeit der Kolonisierung vorherrschende Schwäche des ruandesischen Königtums ergründet,

dann das System kolonialer Herrschaft, nämlich indirekter Herrschaft beschrieben und schließlich im

dritten Unterkapitel sozusagen die 'Mikrophysik' der Macht, die Herausbildung eines drei Säulen -

Mission, Kolonialadministration und einheimische Strukturen beinhaltenden Herrschaftssystems

anhand von Beispielen analysiert.

Das sechste Kapitel ist in zwei Unterabschnitte geteilt: Der frühen belgischen Periode (von 1917-

1924), in der die Grundlagen von Herrschaft in Ruanda radikal transformiert worden sind einerseits,

und der Periode belgischer Reformen und der Konsolidierung des Systems (1925-1945) andererseits.

Wie im vorangegangenen Kapitel werden einerseits die groben Konturen des

Staatsbildungsprozesses herausgearbeitet und andererseits die Veränderungen in der ‚Mikrophysik’

der Macht anhand lokal verorteter Transformationen von Herrschaft, Stratifikation und kollektiver

Identität nachvollzogen.

Teil 4: Dekolonisation und Revolution

Im siebten Kapitel steht die Periode politischer und ökonomischer Reformen von 1948 bis zur

Unabhängigkeit Ruandas im Jahr 1962 im Mittelpunkt. Die Periode ist deshalb so interessant, weil sie

die Verwendung von Ethnizität als radikalen politischen Diskurs mit emanzipatorischer Orientierung

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brachte. Besonderes Augenmerk wird der Bedeutung symbolisch-physischer Gewalt, sozusagen dem

‚revolutionären Akt’ an sich für die Durchsetzung von Ethnizität als politisch wirkmächtige und

plausible Variable gewidmet. Im achten Kapitel wird schließlich Resümee gezogen und versucht, die

im ersten Teil aufgeworfenen Fragen in befriedigender Weise zu beantworten und die der Arbeit

zugrundeliegende und im Titel ausgedrückte These der Arbeit zu untermauern.

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Teil 1 Grundlegungen

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Kapitel 1 Ethnizität, Stratifikation und Staatsbildung

1.1. Ausschluß – Integration: Identität – Ideologie – eine präliminare Diskussion von Ethnizität

Der Rückblick, am Beginn des 21. auf die Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts in

Ruanda, lenkt den Blick unweigerlich auf ein Phänomen, das selbst wieder unseren Blick

formt und bestimmt: auf Ethnizität. Die konzentrierte Aufmerksamkeit einer breiteren

Weltöffentlichkeit erhielt das Land – abgesehen von sporadischen Berichten über seine

Entdeckung, seine gesellschaftliche Organisation und periodischen Berichten von

Missionaren in einschlägigen Missionszeitschriften, und später, am Ende der Fünfziger, als

gelegentlich die scharfen Auseinandersetzungen der UNO mit der Treuhandmacht Belgien

ihren Widerhall in Berichten der internationalen Medien fanden - erstmals durch seine

‚Revolution’ – die kuriose Form und lokale Variante einer antikolonialen Bewegung, die nicht

gegen die europäischen ‚Kolonialherren’ gerichtet war, sondern die mit deren Unterstützung

und gegen eine ‚ethnische’ Minderheit geführt wurde. Sie behauptete die Durchsetzung

demokratischer Werte: die Herrschaft der Mehrheit (‚rubanda nyamwinshi’1) – mit ihrem

Pendant, der Abschüttelung der Herrschaft einer zugleich ethnisch als auch feudal-

aristokratisch verstandenen Minderheit.

In einem gewissen Sinn wurde damit das Land von einer breiten Öffentlichkeit immer schon

(wenn überhaupt) in erster Linie in seinem ethnischen Antagonismus wahrgenommen.

Später, in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern rückte das Land, manchmal auch sein

Nachbar, der ‚Zwillingsstaat’ Burundi, in dem sich ‚dieselbe’ ethnische Zusammensetzung

finden läßt, mehrmals für kurze Momente in das Scheinwerferlicht der westlichen

Öffentlichkeit: der ethnische Konflikt war wieder ausgebrochen. Von Genozid war die Rede,

und in Burundi fand er, ohne viel Aufsehen zu erregen, auch statt. Durchbrochen wurde

1 Die leidenschaftliche Repetition von Zahlen, die das Verhältnis der drei ethno-sozialen Gruppen (zu dieser Wortwahl siehe weiter unten Seite 29ff) nicht nur in numerischer Hinsicht repräsentieren sollten (meist so: 85:14:1), sondern auch eine stark legitimistische Konnotation aufwies, wurde in der Form des Slogans ‚rubanda nyamwinshi’ zum Kern der modernen politisch-ethnischen Identität der Hutu als ethnischer Gruppe. Der Slogan kompensierte zugleich auch den Mangel an so etwas wie ‚eigener’ Kultur (Sprache, Literatur, Tänze, Musik...), das – die Hutu ‚Ethno-Nationalisten’ waren sich dessen durchaus bewußt – eigentlich das ‚Um und Auf’ moderner nationaler bzw. ethnischer Identitäten darstellt. Der Slogan selbst war ein Ausdruck des nach dem zweiten Weltkrieg aufgekommenen, aber in seiner Form äußerst kruden Verständnisses von Demokratie als ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker’ einerseits und Herrschaft der demographischen Mehrheit andererseits. War ersteres ein wesentlicher Motor in der Dekolonisationsbewegung nach dem zweiten Weltkrieg, für das der Beschluß der ‚Atlantic Charter’ von 1941 das wesentliche Dokument war, auf das sich afrikanische Eliten beriefen, war das Verständnis von Demokratie als Herrschaft der demographischen Mehrheit lange Zeit (de facto bis zum Ende der 2. Republik 1994) das Fundament der postkolonialen ruandesischen Herrschaftsideologie. (Vgl. dazu Chrétien 1997a: 36f ; Prunier 1995 : 80). Der letzte durchgeführte Zensus von 1978 ergab einen Anteil der Hutu an der Bevölkerung von 89,8% , während derjenige der Tutsi 9,8% und der Twa, der kleinsten Gruppe, 0,4% betrug (Rumiya 1992 : 9)

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dieses Wahrnehmungsmuster nur im Kontext der entwicklungspolitischen Diskussion, wo

Ruanda jedenfalls hinsichtlich der Nutzung von externen Ressourcen beachtliche Erfolge

vorweisen konnte – die zur Dauerinstitution gewordene Entwicklungshilfe machte rund 10%

des BSP aus (etwa 200-300 Mio. $ jährlich). Innerhalb des entwicklungspolitischen

Diskurses wurde das Land u.a. wegen seiner straff organisierten, relativ effizienten,

jedenfalls aber effektiven staatlichen Strukturen als Vorzeigemodell angepaßter agrarischer

Entwicklung, wenn auch in einer Art ‚Entwicklungsdiktatur’, gehandelt (Becker 1993: 128f).

Zweiundzwanzig Jahre nach dem Genozid in Burundi, der von der Bevölkerung

euphemistisch und zugleich naturalisierend ikiza (Flut) genannt wurde, schien der

Völkermord in Ruanda, der trotz aller Anzeichen völlig unerwartet über die Opfer, die

Beobachter und die Weltöffentlichkeit, hereingebrochen war, in dessen Verlauf 800.000

Menschen getötet wurden und weitere 1.2 Mio. in benachbarte Staaten flüchteten – die

Wirkmächtigkeit eines aggressiven, von Antagonismen und Konflikten geprägten, ethnischen

Ordnungsmodells zu unterstreichen. Dies geschah just zu der Zeit, als mit der Ermordung

von ca. 7.000 Moslems2 – vorwiegend Männer – durch serbische ‚Tschetniks’ in Srebrenica,

der Bosnienkonflikt zu einem neuen Höhepunkt gekommen und ein aggressiver ethnischer

Nationalismus dem ‚zivilisierten’ Kern Europas bedrohlich nahe gekommen und damit Teil

dessen (Wahrnehmungs-) Wirklichkeit geworden war. Zudem schienen gleichzeitige

Entwicklungen in anderen Teilen der Welt – etwa der Zusammenbruch der UdSSR, der von

einer Reihe von ethno-nationalen Konflikten innerhalb ihres ehemaligen Staatsgebietes –

allen voran in Nagorny-Karabach und Tschetschenien begleitet war, die plötzliche Ubiquität

des Ethnischen zu unterstreichen.

Rückblickend erscheint die ethnische Strukturierung der politischen Auseinandersetzung, ja

des Sozialen überhaupt, als die eigentliche Tiefenstruktur der ethnisch gespalteten und so

betrachteten Gesellschaft. War die ethnische ‚Tiefenstruktur’, die Zentralität der ethnischen

Differenzierung Ruandas und Burundis ein manifestes und allen evidentes Faktum, erschien

diesselbe aus der medialen und z.T. auch sozialwissenschaftlichen Perspektive der

Neunziger Jahre in anderen Regionen der Welt – besonders in den ehemals

kommunistischen Staaten, dem ehemaligen Jugoslawien und den Nachfolgestaaten der

UDSSR - als immer latent vorhandenes Phänomen, nur verdeckt von den sinistren und

gewalttätigen kommunistischen Projekten der Staats- und Nationsbildung, sozusagen als ein

gesellschaftliches Unterbewußtsein, das die Erinnerung an das eigentliche Zentrum und

Wesen während der Zeit des ‚kommunistischen Jochs’ bewahrt hatte. Der Zusammenbruch

des Ostblocks, der sich ab der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre Schritt für Schritt vollzog,

2 Der Massenmord in Sebrenica wurde im Juli 1995 begangen.

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wurde als Katalysator für das Wiedererwachen eines tot geglaubten Gespenstes ethnischer

und nationalistischer Ideologie erlebt3 und war darin zugleich ein Katalysator für die

Wahrnehmung von Konflikten als primär ethnisch oder nationalistisch bestimmt. Er läutete

einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Welt außerhalb des von EU, Japan, den

USA und anderen entwickelten Staaten gebildeten Dreiecks, der Avantgarde der

Globalisierung, ein. Der Fall des Ostblocks wies damit in seiner Bedeutung weit über die

ehemaligen Ostblockländer hinaus. Der Konnex zwischen dem Zusammenbruch der UdSSR

und Jugoslawiens bzw. dem Sturz kommunistischer Regierungen anderswo und der

Renaissance nationalistischer Ideologien bildet in gewisser Weise das kulturalistische

Pendant zum neoliberalen Politikdiskurs und der einhergehenden massiven Expansion

(spezifisch neoliberaler) marktförmiger Organisationsweisen und dem zumindest diskursiv

beteuerten Rückzug des Staates.

Ethnizität ist in den Neunziger Jahren zu so etwas wie einer Art Universalkategorie

geworden, die als über die soziale Realität gelegte, etwas schimärenhafte Schablone, deren

Verständnis prägt oder spezieller: das Verständnis ihrer inneren und äußeren Randzonen.

Ethnische Segmentierung des Arbeitmarkts, Ethnizität und differentielle Lebenschancen,

Ethnizität und Entwicklung, ethnische Kolonien und Netzwerke, Ethnizität und Zugang zu

Bildungs-, Gesundheits- und Wohlfahrtseinrichtungen sind nur einige der Problembereiche,

für deren Verständnis das Konzept der Ethnizität verwendet wird – ganz abgesehen von den

politischen Kämpfen, die unter ethnischen Etiketten ausgetragen werden, welche dann selbst

wieder, aber auch unabhängig davon, zu Analysekategorien der Sozialwissenschaftler

werden. Nicht zufällig erlangt der Faktor Ethnizität, im politischen und medialen Diskurs

gleichermaßen wie in seiner akademischen Theoretisierung, Aufmerksamkeit in erster Linie

als problematisierte Kategorie4, die auf eine mit ihr verbundene, anomalische Dimension

3 Für eine instruktive Kritik dieser gängigen Interpretation in bezug auf Bosnien, welche die faktische Unhaltbarkeit der meisten in dem Paradigma enthaltenen Prämissen aufzeigt, siehe Malcolm 1994: Introduction 4 Eine der wenigen Ausnahmen, jedenfalls in der rezenten Diskussion und in expliziter Referenz zu Ethnizität, bildet Joshua Fishman, der in den in Ethnizität beinhalteten Dimensionen des ‚Seins’ (Being), ‚Handelns’ (Doing) und ‚Wissens’ (Knowing) ein positives gemeinschaftliches Element verkörpert sieht, das sie mit anderen Formen der Vergemeinschaftung verbinde und durch das sie sich als legitime Gemeinschaftsform erweise. (Fishman 1980: passim). Die Sozial- und Kulturanthropologie im allgemeinen bildet eine gewisse Ausnahme zur Tendenz in Politikwissenschaft und Soziologie, Ethnizität vorwiegend als problematische Kategorie anzusehen. Dies ist ein Resultat mehrerer Faktoren: zum einen ihrer (traditionellen) Orientierung auf eine Mikroebene und auf relativ (geographisch, ‚ethnisch’ oder anders definierte) geschlossene Einheiten, mit dem Anspruch diese möglichst umfassend zu beschreiben, wobei dem Anthropologen/ Ethnographen qua seines ‚Dort-Seins’ – der Präsenz im Feld – ein privilegierter epistemologischer Status zugestanden wird, was selbst wieder als das methodologische und epistemologische Fundament der Disziplin gesehen werden kann. Die tendenziell positive Bewertung von so etwas wie Ethnizität ist freilich dann kein Ergebnis einer expliziten Evaluation der Kategorie, sondern rührt aus der Betrachtung der Mikroebene, gewöhnlich einer spezifischen ethnischen Gruppe, und dem Fokus auf die Bedeutung der spezifischen sozialen Institutionen der ethnischen Gruppe für die Individuen.(Präziser gesagt, kann sowohl eine Tendenz zu einer Positiv-, als auch zu einer Negativbewertung festgestellt werden. Dies ist ein Resultat des für den ethnologischen Kulturrelativismus und jeder

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hinweist, die den zugrundeliegenden Vorstellungen von legitimer, ‚rationaler’ sozialer

Ordnung zuwiderzulaufen scheint. ‚Ethnizität’ erweist sich damit als ambivalente Kategorie,

deren ‚Verteilung’ ungleich ist und zugleich für die Bereiche, für die sie angewendet wird, als

fundamental postuliert wird.

Vielleicht würden wir für die spezifische Situation Ruandas und eingedenk der

Schimärenhaftigkeit dieses Begriffsrasters – der breiten, mithin unpräzisen Bedeutung5 des

Begriffs, besser daran tun, unseren Blick zu schärfen versuchen und, gemäß unserem

Ausgangspunkt, den ethnischen Konflikt als den zentralen Begriff, und damit die konfliktiven

Beziehungen zwischen – in unserem Fall – zwei antagonistischen ethnischen Entitäten, den

Tutsi und Hutu, in das Zentrum unserer Untersuchung zu rücken. So verfahrend, befänden

wir uns in ‚guter‘ Gemeinschaft mit zahlreichen bekannten und unbekannten Politologen,

Historikern, Journalisten, Politikern und anderen ‚Praktikern‘, die aus der katastrophischen

Erfahrung der Neunziger heraus, und aus dem Wissen um die turbulente postkoloniale

Geschichte und die blutige Phase der Dekolonisation Ruandas heraus, nicht ganz

unbegründet, im Konflikt zwischen den beiden ethno-sozialen Gruppen das bestimmende

Motiv der ruandesischen Geschichte sehen.

Dennoch gibt es gute Gründe, eben dies nicht zu tun und statt dessen den Antagonismus

zwischen den beiden Ethnien (oder ethno-sozialen Gruppen) zunächst hinter uns zu lassen

und sich dem scheinbaren Objekt der Untersuchung über einen Umweg anzunähern. Anstatt

ethnische Identität und Ethnizität als basale Kategorie6, als unabhängige, erklärende

Variable anzunehmen, und darauf aufbauend, das ethnische Kollektiv als veritablen

historischen und daher substantiellen Akteur zu behandeln, soll eine Ebene früher angesetzt

werden. Dies erlaubt, sowohl der ‚Substantialisierungsfalle‘ (das Anfüllen einer

wissenschaftlichen Beobachtungstätigkeit, der es um Neutralität gegenüber dem Beobachtungsgegenstand geht, typischen Oszillierens zwischen dem Hier und Dort, kurz typisch für das Verhältnis des Beobachters zum Beobachteten und der ihn selbst beobachtenden, mündliche Anmerkung von A.Sonderegger) Darüber hinaus sind der weit über die Sechziger Jahre hinaus bedeutende Einfluß des in gewisser immer noch die theoretische Grundorientierung bildendenden Strukturfunktionalismus mit seiner Konsensorientierung neben der Orientierung auf den ‚Exotischen Anderen’ weitere Faktoren, die den im Vergleich zu anderen Sozialwissenschaften weit weniger problematischen Status von ‚Ethnizität’ in der Sozial- und Kulturanthropologie begründen (Vgl. Jenkins 1997 Kap.1u.2). 5 zu Definitionen und begriffsgeschichtlichen Anmerkungen von Ethnie und Ethnizität siehe Tonkin/McDonald/Chapman 1989: 11-17; Nash 1989: 10-15; sowie Kap. 1.1.1 Debatten über Ethnizität) pp.11f 6 Der von Hettlage/Deger/Wagner (1997) herausgegebenen Sammelband “Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Krisen” folgt dieser Logik überaus konsequent, indem Ethnizität so gedeutet bzw. jedenfalls so behandelt wird, als ob sie eine komplexe sozialstrukturelle Variable wäre (wie Schichtzugehörigkeit, Ausbildung etc.). Um in der Sprache der Statistik zu bleiben: Der Versuch, Ethnizität meßbar zu machen – bis hin zu dem Versuch, über Meinungsumfragen die Stellung/ Einstellung der Slowenen zur eigenen Nation/ zur eigenen Ethnie und zu anderen ‚Ex-Jugoslawen‘ (Kroaten, Bosnier, Serben...) zu untersuchen und daraus eine Maßzahl für die Bedeutung von Ethnizität zu generieren – braucht die Variable ‚Ethnizität‘ in gewissen Sinn als immer schon bereits erklärtes Phänomen. Das, wonach gefragt wird, ist im Prinzip ein Reichweitenphänomen: Kann Ethnizität erklären, daß X, Y, Z geschieht?

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vorgefundenen Kollektivitätskonstruktion mit einer scheinbar transhistorischen Essenz) zu

entgehen, als auch einem mit funktionalistischen7 (modernisierungstheoretischen)

Perspektiven verbundenen Notwendigkeitsphantasma bestimmter Gruppen- und

Identitätsbildungen.

In einem gewissen Sinn geht es dann zwar um ‚politisierte‘ Ethnizität, um die Strukturierung

der politischen Auseinandersetzung und des politischen Systems auf der Basis

‚bestehender‘, ‚vorgefundener‘ sozialer Grenzen und Einheiten, von ‚cultural givens‘ (Geertz

1963). Zugleich transzendiert die Fragestellung die Grenzen des von Ethnizität gemeinten

sozialen Phänomens der ethnischen Verfaßtheit eines Kollektivs und geht über die

(pragmatische) Bedeutung der Ethnie als vorgefundene, präpolitisch verstandene Einheit

hinaus, indem sie fragt, warum das Ethnos und nicht etwas anderes zum Symbol eines

zentralen Antagonismus, warum ethnische Identität zur zentralen politischen Identität in einer

Gesellschaft wird und andere potentiell politisch wirksame Identitäten – Lokalität, soziale

Position etc. – verdrängt, oder, wie wir sehen werden, gleichbedeutend mit einer von ihnen

wird. Damit wird Ethnizität explizit einer politischen Betrachtung unterworfen. Das heißt aber

weder, daß die unter Ethnizität gefaßten Phänomene sich im Politischen erschöpfen, noch,

daß Ethnizität – wenn man das ‚Tun’ (‚prattein’) als den Kern eines Begriffs des Politischen,

das Vorhandensein eines ‚Möglichkeitsraum’ und verhandelbarer Gegenstände als seine

Bedingung, und die ‚Setzung’ als praktischen Ausfluß des Politischen faßt – beliebig setzbar

oder verhandelbar ist. So formuliert, bleibt die Fragestellung grundsätzlich offen gegenüber

anderen Formen, oder besser: Idiomen politischer Kollektivität. Ethnismus steht dann in einer

Reihe mit Nationalismus, Klanismus, Regionalismus oder kollektiver Ideologien basierend

auf Klasse (‚Klassismus’, wie es Laclau/Mouffe 1991 nennen), ohne daß die Spezifität

ethnischer Kollektivitätskonstruktionen – die ‚gesellschaftliche Organisation von Differenz’

(Frederik Barth) – und ihrer Herstellung geleugnet wird. Damit rücken die

Konstitutionsbedingungen der ethnischen Gemeinschaft als politisch instituierte

Gemeinschaft in den Vordergrund. Die Betonung des politischen Gehalts von Ethnizität ist

allerdings nicht lediglich eine Frage der Perspektivierung, sondern zielt auf die Beantwortung

der Frage, wo sie ihren eigentlichen Ort hat.8

Mit anderen Worten (und in der Vorziehung der Antwort) erlaubt es die hier vorgeschlagene

Perspektive, der Dichotomie ursprünglich (natürlich) – gesellschaftlich zu entgehen, indem

Ethnizität als Organisationsmodell von Differenz explizit nicht als präpolitische, dem zwar

Sozialen zugehörige, aber ihm zugleich ‚ursprüngliche‘ und ‚natürliche‘ und erst im

7 In einem gewissen Sinn fallen viele einschlägige marxistische Zugänge in dieselbe Kategorie. 8 Ulrich Bielefeld (1995: 46f) faßt dies unter den Begriff der politischen Vergesellschaftung, die der im Sozialen stets inhärenten Tendenz der Differenzierung eine (organisierte) Homogenisierung entgegensetzt.

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politischen Prozeß politisch wirksam werdende Kategorie betrachtet wird und eben nicht, wie

Peter Berghoff es in seiner Kritik eines naturalisierenden Nations- bzw. Ethnizitätsbegriffs

formuliert, als Urmasse politischer Gebilde (Berghoff 1997: 19). Indem der Begriff Ethnizität

nur unter Vorbehalt gebraucht wird, rückt das in den Vordergrund, das trotz der scheinbaren

Ursprünglichkeit der die Glieder des ethnischen Kollektivs verknüpfenden Bande: des

‚Blutes‘ (als Abstammungsgemeinschaft), der Sprache, der Kultur, des Bodens9 und der

Geschichte noch nötig ist: die Konstitution des Kollektivs qua Kollektiv. Wenn man so will, ist

der Konstitutionsprozeß das, was dem ‚ethnischen Körper‘, dem Kollektiv der Individuen mit

unter Umständen, aber nicht notwendigerweise bereits existierenden bestimmten

gemeinsamen Eigenschaften physischer, kultureller und anderer Natur erst das Leben (Bios)

gibt, das ihm so oft als ursprünglich unterstellt wird. Anders gesagt, verleiht das in das

Kollektiv hinein imaginierte Bios seinem ‚Körper‘ erst dessen Form. Dieses Moment des

‚mehr-als‘10 ist entscheidend für die Betrachtung kollektiver Phänomene, insbesondere wenn

diesen eine quasi biologische Ursprünglichkeit und daher Notwendigkeit unterstellt wird.

Selbst in dem spekulativen Fall, bei dem die Mitglieder eines Kollektivs nachweislich eine

geschlossene Abstammungsgemeinschaft bilden, Sprache und ‚Kultur‘ teilen und durch eine

gemeinsame Geschichte geprägt sind, ist ihr Selbstverständnis als Kollektiv nicht aus einer

immer beschränkten Gemeinsamkeit herzuleiten. Die Attribute der Einheit – so stark sie auch

sein mögen – erklären die freilich immer prekäre und nie vollständig erreichte Konstitution

einer kollektiven Einheit kaum. Das gilt selbst für das kleinste gesellschaftliche Kollektiv, der

Familie – dem Paradebeispiel einer als ursprünglich und natürlich gedachten Einheit, der von

einer weit zurückreichenden Denktradition ein dem ‚Volk’ ähnlicher Status der Elementarität

für die Gesellschaft zugeschrieben wurde. In seiner Übertragung in den Kontext des

modernen Nationalstaatensystems und auf einer höheren Ebene, nimmt das ethnische

Kollektiv einen der Familie ähnlichen Status ein. Letztere erweist sich jedoch in historischer

Perspektive als zwar nicht notwendigerweise staatliche, aber nichtsdestoweniger politische

Setzung, insofern ihre konkrete Form, Organisation und Ideologie keinesfalls durch die

biologisch vorgegebene Reproduktionstriade – Vater, Mutter, Kind – determiniert wird.

9 Eine eigene Sprache und eine eigene ‚Kultur’ im engeren Sinn, geschweige denn ein ‚angestammtes’ Territorium besitzt keine der ethno-sozialen Gruppen Ruandas, wenn auch spezifische kulturelle und soziale Institutionen mit je einer der Gruppen verbunden wird und Varietäten des Kinyarwanda als der einen oder anderen ethno-sozialen Gruppe zugehörig gehandelt werden. Entkleidet von seiner kulturellen und geographischen Bedeutung wird aus dem Ethnos ein primär ‚rassisch’ definierter Körper. 10 Dieser Aspekt, der mit wechselnder Begrifflichkeit ein fundamentaler Bestandteil einiger (post-)moderner Zugänge zur Gesellschaftstheorie ist – namentlich der sich auf Lacan zurückführenden Schulen – stand schon Anfang des Jahrhunderts im Mittelpunkt der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Soziologie Georg Simmels, der sich darin selbst wieder von der Lebensphilosophie Henri Bergsons beeinflussen ließ. Für Simmel bestand das Problem darin, wie ‚Leben‘ (sein zentraler Begriff), das er als kontinuierlichen Prozeß dachte, seine Einheit erhalten könne. Diese von ihm definierte Einheit (‚Mehr-als-Leben‘) enthält ein transzendentales Moment, das hier zum Thema gemacht wird. (Vgl. Bevers 1985: 155)

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Das Flottieren der Bedeutung von ‚Familie‘ - und das gilt für andere Kollektivbegriffe ebenso

wie für jeden anderen Begriff der sozialen Sprache – ist zudem ein beredtes Zeichen der

prekären Beziehung zwischen Begriff und Bezeichnetem, zwischen Signifikant und Signifikat.

Weder erlaubt es die historische Existenz bestimmter Begriffe auf die historische Existenz

der heute darunter gefaßten Sachverhalte, also auf die Äquivalenz der historischen und

gegenwärtigen Bedeutung zu schließen, noch erhellt die historische Bedeutung die

gegenwärtige Verwendung des Begriffes. Selbst in synchroner Perspektive erweist sich die

konkrete Bedeutung sozialer Begriffe stets als multivalent und verändert sich je nach dem

Gebrauchskontext eben dieser Begriffe, nämlich je nach der Position der konkreten Sprecher

innerhalb des sozialen Raums.11 Mehr als nur ein Ausdruck semantischer Verschiebungen

im Laufe der Geschichte zu sein, weist der Wandel von Begriffen auf je unterschiedliche

soziale Konstellationen, deren Veränderungen von ihrer begrifflichen Konzeptualisierung

gespiegelt und zugleich auch geformt wurde. Es geht in den Worten des französischen

Mediävisten Marc Bloch12 nicht darum, zu wissen, daß ‚Bureau‘ ein alter Begriff sei und

ursprünglich ein Stück Wollstoff bezeichnete, sondern darum wie der Begriff seine

Bedeutung veränderte und unter welchen Umständen er seine spätere(n) Bedeutung(en)

angenommen hat (zitiert nach Chrétien 1997b: 17). Desgleichen geht es nicht darum die

Antiquität der Worte ‚Hutu‘ und ‚Tutsi‘ aufzuzeigen, sondern die Prozesse zu verstehen, die

dazu führten, daß die Begriffe im 20. Jahrhundert den Charakter fundamentaler

Zugehörigkeitskategorien angenommen haben, in deren Namen eine Revolution

ausgefochten, und Menschen vertrieben und getötet worden sind (Chrétien 1997b). Es geht

also darum, den Spuren der ‚Setzung’ ethnischer Zugehörigkeitskategorien nachzuspüren

und die Arena – den (Möglichkeits-)Raum – zu verstehen, innerhalb dessen diese Setzungen

erfolgt sind. Von entscheidender Wichtigkeit sind hier zwei Unterscheidungen zwischen

jeweils zwei Bedeutungsebenen, die bei ethnischen Prozessen wirksam werden: 1) die

Unterscheidung zwischen Norm und gesellschaftlicher Praxis einerseits; und 2) die

Unterscheidung zwischen dem Benennungsaspekt (dem ‚Nominalen’; the nominal) und den

praktischen Konsequenzen dieser Benennung (dem ‚Praktischen’; the virtual) andererseits.

Der Name einer ethnischen Kategorie bzw. ihrer zahlreichen, ähnlich gearteten Allotrope –

Lokalität, Region, Nation etc. – erweist sich in der Zeit als relativ stabil, wenn auch die

Benennungen historischen Konjunkturen unterworfen sind, die praktischen Folgen und

Konsequenzen der Namen sind es aber nicht, weder in historischer Perspektive, noch in

11 Der soziale Raum selbst ist mehrdimensional – nicht nur gibt es ein ‚Oben’ und ein ‚Unten’ in einer sozialen Hierarchie, also eine horizontale und vertikale Ebene sozialer Stratifikation – verstanden als systematische Positionierung im sozialen Raum, sondern Faktoren wie das ‚Hier’ und ‚Da’ – die Nähe oder Distanz zu den politischen Zentren einer Gesellschaft, regionale Subräume (d.h. es gibt so etwas wie eine soziale Geographie, die wiederum von dem Charakter der physischen Geographie mitbestimmt wird) usw. 12 Marc Bloch (1974) [11941]: Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, Paris: Colin pp.37-41

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horizontaler, synchroner Hinsicht (Jenkins 1997: 167). Die ‚Virtualities’ ethnischer Prozesse

sind dann der Aspekt, unter dem Wandel und Transformationen, Hierarchisierung und

Stratifikation, Abgrenzungsprozesse, Inklusion und Exklusion analysiert werden müssen.

Ähnlich fundamental für das Verständnis von Ethnizität bzw. von Kollektivität überhaupt,

wenn nicht so gar noch grundsätzlicher, ist es, sich der unterschiedlichen Bedeutungen

bewußt zu werden, die in der Rede von Kollektivität bzw. Kollektiven verschmolzen werden.

Davon soll weiter unten die Rede sein (Vgl.Kap.1.1.4 pp.19ff).

Abbildung 1: Bezeichnung (das Nominale) und Praktische Konsequenz

Das Nominale (Zeichen für...) Praktische Konsequenzen Zeit .... Richtung der Verschiebungen Lies: während das Nominale, also die Bedeutung und Begriffsbreite eines (sozialen) Begriffs über die Zeit relativ stabil bleiben, sind die praktischen Konsequenzen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie ständiger Veränderung unterworfen. Die Gründe für derartige Verschiebungen können vielfältig sein: geänderte ökonomische und soziale Bedingungen, sowie einzelne politische Interventionen (z.B. die erfolgreiche Problematisierung einer sozialen Kategorie im politischen Diskurs). In eine ähnliche Richtung wie die Unterscheidung zwischen dem ‚Nominalen’ und dem

‚Praktischen’ weist eine weitere analytische Differenzierung, die – unter verschiedenen

Namen – die Ideengeschichte, die Geschichte der Philosophie und die politische

Philosophie im Speziellen sowie die (jüngere) Geschichte der Sozialwissenschaften geprägt

hat, nämlich die Differenzierung zwischen gesellschaftlichen Normen und tatsächlichen

Praktiken, oder um es klassisch zu formulieren, zwischen Ideen und der ‚Realität’. Die Kluft

zwischen gesellschaftlichen Normen und ihrer Einhaltung ist erfahrungsgemäß eine große –

eine Erfahrung, die im Speziellen Anthropologen machten und thematisierten, als sie

versuchten, Heiratsvorschriften und Heiratspraxis auf einen Nenner zu bringen (Vgl. zu einer

Diskussion Bourdieu 1979, Teil 2, Kap.1). Ethnische Stereotype, zumal in einer

mögliche B

edeutungen m

öglcihe praktische K

onsequenzen

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Gesellschaft, in der Ethnizität gleichermaßen ein politisch als auch sozial wirkmächtiger

Faktor ist, beinhalten, ohne ausdrücklich normativ zu sein, normative Vorstellungen wie im

übrigen das Vokabular der sozialen Sprache überhaupt. Was sich wie eine Deskription von

Fakten geriert, meint meist das ‚So-soll-es-sein’ bzw. ‚So- ist-es-in-meinen-(unseren)-Augen’.

Mehr als nur ein Ausdruck der Kluft zwischen Normativem und Faktischem, weist die

Spaltung zwischen Norm und Praxis auf hegemoniale Definitionen der gesellschaftlichen

Wirklichkeit und verlangt nach einer Kontextualisierung – d.h. nach einer Verortung der

Diskurse über Ethnizität bzw. nach einer Archäologie ihrer Genesis. Ich werde im Kontext

der Diskussion von Kategorisierung und Klassifikation darauf zurückkommen (Vgl.Kap.1.1.3

pp.15ff).

Abbildung 2: Soziale Norm/ Soziale Praxis

Normative Dimension Praktische Dimension

soziale Normen und normative Kraft sozialer Begriffe

Praxis A Praxis B

Praxis C

Hegemonialer Diskurs hegemoniale Praxis

deviante Praxis Hegemonialer Block subalterne ‚Klassen’ Lies: Soziale Normen und die normative Kraft sozialer Begriffe werden in hegemonialen Diskursen geprägt, als deren (prinzipielle) Träger wiederum ein bestimmter hegemonialer Block fungiert. Während die ‚subalternen Klassen’ – sozusagen die hegemonisierten Bevölkerungsschichten in der Formulierung hegemonialer Diskurse mitwirken, werden sie mehr von diesem Diskurs bestimmt, als daß sie ihn bestimmen können. Soziale Normen bzw. normativ gebrauchte Begriffe der sozialen Sprache wirken auf die soziale Praxis, die in der Sprache der Norm artikuliert wird, ohne sie jedoch völlig determinieren zu können. Umgekehrt beeinflußt die soziale Praxis die Formulierung sozialer Diskurse bzw. sozialer Normen, allerdings, wie in der Grafik dargestellt, ungleichgewichtig. Nicht jede soziale Praxis ist fähig, sich als Norm zu artikulieren, bzw. sich bei der Formulierung von sozialen Normen einzubringen. Eine soziale Praxis (z.B. eine von den sozialen Normen abweichende soziale Praxis) wird möglicherweise innerhalb hegemonialer Diskurse nie repräsentiert, unabhängig von ihrer Häufigkeit. Selbst die in einer Gesellschaft hegemoniale Praxis repräsentiert sich nie vollkommen als Norm.

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1.1.1 Debatten über Ethnizität

Ethnizität ist eine relativ neue begriffliche Innovation in den Sozialwissenschaften

(Tonkin/McDonald/Chapman 1989:11ff), der darunter gefaßte Gegenstand ist es freilich

nicht. Damit etymologisch verbundene Begriffe wie ‚Ethnie‘ bzw. semantisch nahe Konzepte

wie ‚Volk‘, ‚Stamm‘ usw. fanden lange davor Eingang in das Konzept- und Begriffsrepertoire

der Sozialwissenschaften, wenn auch meist im für die Betrachtung der eigenen

Gesellschaften marginalen Diskurs der Völkerkundler, Orientwissenschaftler und anderer.

Die unter dem sozialwissenschaftlichen Begriff subsumierten Phänomene von

Gruppensolidarität, ‚Blutsverbundenheit‘ bzw. Verwandtschaft und gemeinsamer Kultur und

darauf aufbauende Differenz sind wohl schon Gegenstand menschlichen Denkens, Fühlens

und Handelns, seitdem es menschliche Gemeinschaften gibt (Hutchinson/Smith 1996: 3).

Heute findet der Begriff ‚Ethnizität’ und die mit ihm verbundenen Konzepte nicht nur in den

Sozialwissenschaften eine breite Akzeptanz und Anwendung, sondern ‚Ethnizität’ hat auch

Eingang gefunden in das Alltagsverständnis breiter Teile der Bevölkerung – und nicht nur

der westlichen. Diskurse über Ethnizität bilden, anders als solche über Kategorien wie

Klasse oder Schicht und ähnliches nicht mehr die Domäne esoterischer akademischer Zirkel,

sondern finden gleichermaßen im öffentlichen wie im privaten Raum statt. Die Ubiquität des

Begriffs ist nur vergleichbar mit der Aufmerksamkeit, die Begriffe wie ‚Globalisierung’ und

‚Nationalismus’ – mit dem Ethnizität (und Diskurse über Ethnizität) übrigens eng verbunden

sind - genießen. ‚Ethnizität’ erweist sich im öffentlichen Diskurs, in dem sie immer als

irgendwie problematisch artikuliert wird, als etwas, das nicht schlicht ‚das dem Ethnos

Zugehörige’ meint bzw. die Gesamtheit dessen bezeichnet, was es heißt, einem Ethnos

anzugehören und/oder sich ihm zugehörig zu fühlen, sondern als Quelle von Konflikten und

anomaler Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsstrategien. Zudem scheint ‚Ethnizität’

nicht – wie der universalistische Klassifikationsbegriff ‚Rasse’ im 19.Jh. – etwas zu sein, ‚das

jeder hat’. (Vgl. Tonkin/McDonald/Chapman 1989). Der ‚Besitz’ von Ethnizität markiert im

Unterschied dazu, eine Randlage, ein Anderssein, mithin den oder die Anderen schlechthin;

sie bezeichnet die Randlage der als ethnisch definierten und visualisierten Gruppen und

verortet diese in den inneren und äußeren Peripherien westlicher Gesellschaften.

Zugleich findet Ethnizität Eingang in das Vokabular immer mehr, bisher davon unbetroffener

sozialer Felder und Problemstellungen:

[U]nter dem Etikett ‚ethnisch’ [werden] so verschiedene Phänomene versammelt wie

separatistische Bewegungen in Westeuropa (Nordirland, Baskenland, Katalonien) und

Kanada, Bürgerkriege in Jugoslawien und dem Libanon, ‚Rassenunruhen’ in Großbritannien

und den USA, die offene oder über subtile Mechanismen der Ausschließung erfolgende

Diskriminierung ‚ethnischer’ Minoritäten im Bildungssystem, auf dem Arbeits- und

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Wohnungsmarkt etc., Ausländerfeindlichkeit und Rassismus in Deutschland. (...) Im

Alltagsdenken und im politisch-öffentlichen Diskurs herrscht ein breiter Konsens darüber, daß

diese so unterschiedlichen Phänomene eine gemeinsame ‚Ursache haben’: objektive, nur

bedingt überbrückbare kulturelle Unterschiede zwischen Ethnien/Völkern. (Lentz 1995: 8)

1.1.2.1 Mechanismen in der Herstellung und Reproduktion von Kollektiven

Die Rede von der Ethnizität legt freilich nicht nur Zeugnis ab von der (momentanen)

Konjunktur eines Begriffes, der in seiner Verwendungsweise globale asymmetrische

sozioökonomische Verhältnisse widerspiegelt, sondern weist auch auf bestimmte

Mechanismen kollektiver sozialer Formen, die sich in Abgrenzung, Affirmation und

Konstruktion kultureller, sozialer oder politischer Differenz manifestieren. Claude Lévi-

Strauss (1952: 15) hat den fundamentalen und universellen Charakter auf der Wahrnehmung

von kollektiver Differenz aufbauenden Abgrenzungsmechanik herausgestrichen und sie als

Funktion der Beziehung und der Interaktion von Menschen interpretiert. In der Überführung

der Lévi-Strauss’schen Beobachtung in einen explizit politische Perspektive kann man

folgern, daß kulturelle (und damit auch, aber nicht notwendigerweise so: sozial und politisch

wirkmächtige) Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen nur

verständlich sind, wenn sie als Ergebnis von Ab-, Ausgrenzungs- und gleichzeitig

Integrationsprozessen verstanden werden, die selbst wieder den Notwendigkeiten kollektiver

Willensbildung13 entspringen. In eine ähnliche Richtung argumentierend, haben andere auf

den universellen, und gleichzeitig den für das Politische fundamentalen Charakter der

formalen Abgrenzungsbewegung und der damit verbundenen Dialektik des Ein- und

Ausschlusses hingewiesen (vgl. etwa Moser 1999; Laclau/Mouffe 1992). Ich werde an

anderer Stelle auf die Mechanismen kollektiver Identitätsbildung zurückkommen.

1.1.2.2 Stamm, Ethnos, Rasse – zwischen Natürlichkeit und Konstruktion

Theoriegeschichtlich ist das Aufkommen von Ethnizität zutiefst mit der Desavouierung

alternativer Begriffe verbunden, namentlich dem der ‚Rasse’, für dessen konzeptueller

Niedergang die Erfahrung und die Auswirkungen der Nazi-Diktatur entscheidende

Bedeutung hatten. Das offensichtliche Unbehagen mit dem belasteten Begriff und der

bemerkenswerte theoretische Aufwand, mit dem eine neue Begrifflichkeit geprägt wurde,

konnte aber nicht verhindern, daß Ethnie und Ethnizität in vielen Kontexten nicht wenig mehr

als Substitute für ‚Rasse‘ oder ‚Stamm‘ waren. Erfuhr letzterer Begriff seine veritable

Beschneidung aus letztlich pragmatischen Gründen, weil ‚Stamm‘ als politisches Modell

einerseits und ‚Stamm‘ als kulturelle/ gesellschaftliche Einheit14 andererseits kaum in

13 In dem Sinn der gleichzeitigen Konstituierung von Handlungseinheiten und Handlungsakteuren und so, zugegebenermaßen in einem sehr umfassenden, ausgedehnten Sinn. 14 Die Trennung der zwei Aspekte ist eine nachträgliche: Geprägt wurde der Begriff im 19.Jh vor der Hochzeit des ‚wissenschaftlichen Rassismus’ und meinte eine Kollektivität, in deren Grenzen sich idealiter Menschen mit

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Übereinstimmung gebracht werden konnte und damit für die Konzeptualisierung

gesellschaftlicher Realitäten mehr hinderlich als förderlich war, so war die Abwendung von

‚Rasse‘ dagegen ein stark moralisch motiviertes Phänomen (Lentz 1997: 157; Young 1983:

442ff). Die Erkenntnis, daß es biologisch gesehen keinen Grund gibt, von ‚Menschenrassen‘

zu sprechen (Vgl. Wilfing 1999), bestätigte in gewisser Weise die sozialwissenschaftliche

Abkehr von dem Konzept15. Die Aufgabe des Begriffs ließ aber eine Leerstelle offen, ohne

deren heimliches Wiederanfüllen die spezifische Qualität von ‚Rasse‘ – die Einschreibung

sozialer Konflikte, Interessen und Unterschiede im Körper oder anders, deren

Symbolisierung durch Referenz auf verschiedene ‚Typen‘ von Körpern (Omi/Winant16 1986

zitiert in Sánchez 1997: 1015) – nicht artikuliert werden konnte. Dies trug wesentlich dazu

bei, ‚Rasse‘ sozusagen als blinden Passagier des Ethnizitätskonzepts mit sich herum zu

tragen (und weiter zu befördern). Die Rassismusproblematik kann durch die antirassistisch

motivierte Abkehr von dem Begriff der Rasse allein nicht gelöst werden: „Aus dem einfachen

Grunde, daß [der Begriff der Rasse] Rassismen äußerlich [ist] und [seine] Rolle von

prinzipiell jeder Kategorie gespielt werden kann.“ (Sonderegger 1999: 34). Es lohnt sich m.E.

daher, ‚Ethnos’ von ‚Rasse‘ konzeptuell zu trennen, gerade in Anbetracht des

wechselseitigen Naheverhältnisses der beiden Begriffe.

Seitdem Clifford Geertz in seinen Arbeiten über die Spezifität postkolonialer, ‚neuer‘ Staaten

die von Edward Shils in seiner Typologie politischer Bindungen vorgeschlagene Kategorie

‚ursprünglicher‘ Bindungen (im englischen Original: primordial ties) übernommen und

argumentiert hatte, daß Ethnizität (bzw. verschiedene Symbole der Ursprünglichkeit der

‚Zusammengehörigkeit‘ wie Abstammung, Religion, Sprache, Region, Bräuche) sich eben

durch die empfundene17 Ursprünglichkeit der das Ethnos zusammenhaltenden Bande

auszeichne (Geertz 1963), bewegte sich die Debatte über Ethnizität zwischen den beiden

Polen der Primordialismus (Ursprünglichkeit)/ Essentialismus einerseits und

Instrumentalismus/ Konstruktivismus andererseits. Beide Pol-Positionen verweisen auf

bestimmte, plausibel erscheinende Punkte (eine gewisse Stabilität des ‚Imaginaire‘:

kultureller und politischer Ausdrucksformen ethnischer Gruppen18; das ‚Alter’19 vieler

gemeinsamen physischen Charakteristika, mit gemeinsamen Bräuchen, einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen ‚Charakter’, ‚Geist’ und ‚Gemüt’ fanden, Religion und Mythos auf den Stamm fokusiert waren und die ‚Stammesmitglieder’ eine gemeinsame Gruppenidentität (am ehesten das, was heute als Ethnizität konzeptualisiert wird) hatten und eine politische Gemeinschaft bzw. Einheit bildeten (Vgl. Kopytoff 1987: 4) 15 Diese Abkehr vollzog sich weder vollständig noch gleichmäßig. Überlebte der Begriff im deutschen Sprachraum lediglich in Rechtstexten, die die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe thematisieren und indirekt in ‚Rassismus‘, genießt ‚race‘ im franko- und anglophonen Bereich eine dagegen relativ unterproblematisierte und weitverbreitete Existenz. 16 M.Omi; H.Winant (1986): Racial Formation in the United States from the 1960s to the 1980s, New York: Routledge p.55 17 Ein von seinen Kritikern gern übersehenes Qualitativ. 18 vgl. etwa Waldmann 1989, passim. Die empirisch und ‚empiro-theoretisch‘ gut recherchierte Studie Waldmanns über ethnischen, gewalttätigen Radikalismus scheitert an eben dem: ihrer positivistischen Naivität.

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ethnischer Konflikte und der damit verbundene Eindruck der stabilen, unveränderten,

bestenfalls an den Erfordernissen der Moderne angepaßten ethnischen Identität; die starke

affektive Komponente des Ethnizitätsphänomens, etc. einerseits und die ‚Erfindung‘ und

subversive Reinterpretation von Identitäten; das Fließen und die Multiplität von Identitäten in

pluralen20 Gesellschaften etc. andererseits), von denen ausgehend die essentialistische

respektive konstruktivistische Interpretation als Wahl einer tatsächlich trügerischen

Alternative erfolgt. Erscheint der von Essentialisten vertretene, häufiger jedoch der den auf

solche Weise bezeichneten Autoren vorgeworfene Essentialismus, als nichts anderes als ein

kulturalistisch reformierter Rassismus, der ausgehend von ‚unbestreitbaren‘ Merkmalen

‚unüberbrückbare‘ Verschiedenheiten zum bestimmenden Faktor in multikulturellen

Gesellschaften macht, so läuft der radikale Konstruktivismus – wenn auch in ‚guter‘,

emanzipatorischer Absicht, nicht selten darauf hinaus, im Beweis der Konstruiertheit und des

geschichtlichen Gewachsen-Seins oder der bewußten Manipulation der zur Frage stehenden

Kategorie durch politische Eliten den Beweis ihrer ‚Falschheit‘ und folglich ihrer Illegitimität

erbracht zu haben: sie entlarvt zu haben und es dabei zu belassen. Tatsächlich nimmt kaum

ein Autor einer der beiden Extrempositionen21 ein und bei näherer Betrachtung erweist sich

die von verschiedenen Autoren dargelegte (oder unterstellte) Präferenz für den einen oder

anderen Pol als kontextuell bedingt oder mit anderen Worten: als Funktion der Perspektive,

die über einen Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaft

gelegt wird. Der Vorbehalt, mit dem dem Begriff der Ethnizität hier begegnet wird, meint

daher eine vorbehaltlos universalistische Konzeption; er gilt ihm qua (kognitiver) Kategorie,

dem Kategorischen.22

Was eingefordert wird, ist eine Konzeption, die dem ambivalenten Charakter von Ethnizität

als Möglichkeitskategorie gerecht wird: als Potential, das für manche eine vorrangige, Indem Waldmann soziale Einheiten (ethnische Gruppen, politische und terroristische Organisation etc.) als Kategorien hinnimmt, schleicht sich bei ihm ein ‚Transhistorismus‘ : der Trugschluß der unproblematischen Identität von Signifikant und Signifikat: von Kategorie und Bezeichneten(m) ein, der es verhindert, Veränderung in der Substanz – zu benennen und damit deren Insignifikanz zu erkennen: die Leere des Symbols. Dementsprechend entgeht ihm die spezifische Qualität der von ihm als so wichtig eingeschätzten “strukturellen Entwicklungen und Weichenstellungen, deren Nachwirkungen, direkt oder indirekt, noch gegenwärtig aufs nachhaltigste spürbar sind” (ebenda: 23). 19 in dem Sinn, daß Konflikte schon lange Zeit unter der Berufung auf eine oder mehrere ethnische Identitäten ausgefochten wurden bzw. diese von späteren Rezipienten als (neuer) essentieller Kern früherer Konfliktepisoden definiert wurden. 20 als Gegensatz zu ethnisch homogenen oder überwiegend homogenen Gesellschaften und gleichzeitig in Abgrenzung zum Begriff ‚pluralistisch’, der (in Anlehnung an Leo Kuper) einen Interessenspluralismus bezeichnet, der sich per definitionem von einem ethnischen Pluralismus durch seine unterschiedliche soziale Basis abgrenzt. Vgl. Kuper 1971: 7ff 21 Extrempositionen als Übertreibungstrategien sind dennoch ein hilfreiches Mittel, Verdecktes sichtbar zu machen, Ambivalenzen zu öffnen, indem sie Eindeutigkeiten in ein Gegenteil pervertieren. 22 Dazu Marx 1997: 98 ”In der Rede vom ‘ethnischen Konflikt’ wird der Ethniebegriff, ob nun virtuell-ideologisch oder real-naturhaft gefaßt, zur universalen Grundkategorie erhoben, die dem Bedürfnis

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‚primäre’ und affektiv besetzte soziale Identität darstellt, für andere wiederum keine

Bedeutung hat und für den einzelnen einer von vielen Faktoren ist, die sein Handeln und

seine soziale Identität bestimmen. Der Anthropologe Max Gluckman formuliert die mit der

alleinigen Konzentration auf die großen Kategorien (Ethnie, Klasse usw.) verbundene

Problematik, die typischerweise zu einer simplizistischen Darstellung der sozialen

Wirklichkeit führe, aufgrund eigener Forschungserfahrungen in ‚Zululand’ (Provinz Natal,

Südafrika) folgendermaßen: [My observations in Zululand] made me realize that in trying to understand social life in

Zululand, it was not sufficient to think in terms of groups of whites and blacks, of massed

ethnic groups, of overall attitudes of domination and subordination, or of statements in terms

of hatred and resentment as against contempt and fear, even to comprehend the system at

the highest levels of abstraction. These divisions and associated oppositions were only part of

the overall picture at all levels. To understand what was going on in the whole of South Africa,

one had to look at the whole as a whole, and also as composed of many different regions,

associations, and domains or sets of social relationships directed towards specific purposes.

The whole cannot be explained by the parts, but the parts influence the whole. And these

social relationships in parts of the total South African state were called into being by a series

of variable situations in which personages were mobilized by different goals and values out of

a medley of consistent, inconsistent and discrepant, and even contradictory, goals and values.

(Gluckman 1971: 379)

Damit verbunden – und ein Grund für den problematischen Status der Gegenübersetzung

der instrumentalistischen Perspektive einerseits und des primordialistischen Verständnisses

von Ethnizität andererseits – ist das Problem der mangelnden Präzision bei der Definition

von Ethnizität, die sich in einer Betonung unterschiedlicher Aspekte äußert, und die man auf

einer abstrakten Ebene als in dem schwierigen Verhältnis von sozialer Kategorie und

(selbstbewußtem) Kollektiv begründet betrachten kann.23

1.1.2 ‚Objektive’ und ‚subjektive’ Ethnizität: Kategorisierung und Identifikation

Die Unterscheidung zwischen dem Ethnos als Kollektiv (im engeren soziologischen Sinn, der

‚corporate group’ im Englischen) und dem Ethnos als soziale Kategorie kann zunächst

einmal typologisch gedeutet werden. In typologischer Hinsicht, die – wie sich weisen wird –

nicht allein auf die wissenschaftliche Ebene beschränkt ist, und in Analogie zur politisch-

theoretischen Unterscheidung der ‚Klasse für sich’ und der ‚Klasse an sich’, kann zwischen

einem ‚subjektiven‘ und ‚objektiven‘ Aspekt ethnischer Zugehörigkeit unterschieden werden:

Ersterer meint die subjektive Identifikation mit einer (ethnischen) Gruppe, ihren Werten, entgegenkommt, nicht nur die eigene Welt, sondern auch den Rest der Welt durch Akte der Grenzziehung, die Gleiches und Anderes klar und zuverlässig scheidet, in eine binäre Ordnung zu bringen.” 23 Vgl. Goyvaerts 2000a: 157 für ein Beispiel einer hochgradig problematischen Gegenübersetzung von sozialer

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Weltanschauung, kulturellen Charakteristika und, eventuell, ihren politischen Forderungen.

Diese subjektive Identifikation kann selbst eine Vielzahl von Formen aufweisen und

verschieden weitgehend sein. Sie schließt keineswegs a priori andere ähnlich geartete

Identifikationsprozesse und damit in einem gewissen Sinn doppelte und dreifache

Identifikationen ethnisch-nationalen Charakters aus. ‚Subjektive’ Ethnizität beschreibt

sozusagen den Gruppen-Charakter der ethnischen Gruppe im eigentlichen Sinn, während ihr

begriffliches Pendant, objektive Ethnizität, diese als soziale Kategorie interpretiert und

außerhalb des individuell bestimmbaren gesellschaftlichen Raums, mithin (z.b. wenn ein

Sozialwissenschaftler daran geht, eine Gesellschaft zu klassifizieren und zu kategorisieren),

jenseits des individuell unmittelbar einsichtigen (offensichtlichen) gesellschaftlichen Raums

verortet.

Einer sozialen Kategorie anzugehören, kann für die Lebenswirklichkeit der so beschriebenen

Individuen ziemlich irrelevant sein, insofern sie um diese Zugehörigkeit nicht

notwendigerweise wissen müssen bzw. diese für sie keine spürbaren oder bewußt erlebten

Konsequenzen besitzen muß (obwohl dies gewöhnlicherweise der Fall sein wird).

Im Gegensatz zur ‚subjektiven Ethnizität’: der subjektiven Identifikation mit dem ethnischen

Kollektiv, die im engeren Sinn mit ethnischer Identität zu tun hat, indem sie ein

Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums zu einer Gruppe von Menschen anzeigt, bezeichnet,

die ‚objektive’ Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, die Zugehörigkeit zu einer

Kategorie. Entblößt von subjektiven Elementen, erweist sich objektive Ethnizität als eine

Begriffskategorie, einer Begriffsklasse innerhalb bestimmter hegemonialer Kategorisierungs-/

Klassifizierungsraster. Sie fußt wiederum – trotz der kulturalistischen Deutung von Ethnizität

– auf genealogischen oder anderen Zuordnungskriterien, die letztlich die Kontinuität der

Gruppe biologisch deuten und damit implizit das Alter Ego der Ethnizität – Rasse – wieder

einführen.

‚Objektive’ Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie und das subjektiv empfundene

Zugehörigkeitsgefühl zu der betreffenden Kategorie sind gleichermaßen gesellschaftlich

konstruiert und zwar auf zweierlei Art: als Diskurs der Klassifikation (innerhalb dessen die

Kategorien konstruiert und ‚mit Leben erfüllt’ werden) und als rationalisierender Diskurs,

dessen Gegenstand der Grund der Zugehörigkeit zu einer Kategorie (z.B.: qua Geburt) ist.

Als sozialwissenschaftlicher Begriff zeigt sich eine objektivistische Lesart von Ethnizität als

durchaus problematisch, insofern der Begriff einen ontologisch objektiven Status der

Kategorie und selbstbewußtem (ethnischen) Kollektiv.

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beobachteten Kategorie suggeriert, der sich in letzter Analyse als ebenso sozial konstruiert

erweist, wenn auch auf einer anderen Ebene. Beide Pole – subjektive und objektive

Ethnizität sind daher fest im Sozialen verankert, und ihre Gegenübersetzung Ausdruck der

unterschiedlichen Aspekte, die sie ausmachen. Mit A. Epstein kann subjektive Ethnizität als

der subjektive, und daher in gewissen Maße als der egozentrische, und objektive Ethnizität

als der soziozentrische Aspekt von ethnischer Kollektivität gefaßt werden (Epstein 1978: 38).

Objektive Ethnizität‘ verweist – und darin besteht die Brauchbarkeit der Gegenübersetzung

der beiden Pole subjektive und objektive Ethnizität – auf bereits in gewisser Weise

konstituierte Gruppen, ungeachtet dessen, ob sich die einzelnen Individuen mit der Gruppe

identifizieren. Sie beruht auf einem gegebenen (bzw. als gegeben wahrgenommenen)

Kategorisierungsschema, das es ermöglicht, Personen unterschiedlichen Ethnien

zuzuordnen, deren ‚Entstehung’ z.B. selbst wieder in der Vergangenheit verortet wird.

Letztlich erschöpft sich ‚objektive’ Ethnizität in der Affirmation des ‚Vorgefundenhabens’, der

‚givens’ einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit und ist damit in gewissem Sinn

tautologisch. Sie läuft im Fall von Ethnizität notwendigerweise auf eine genealogische

Deutung der ethnischen Differenz hinaus und findet auf der Ebene des Individuums ihren

Ausdruck in der Askription der Zugehörigkeit zum ethnischen Kollektiv qua Geburt.

‚Fremdheit’ oder eine bestimmte regionale Herkunft stellen Kriterien dar, mit Hilfe derer

Gesellschaften ihre Außen-(und Innen)grenzen definieren und damit auch in gewisser Weise

bestimmen, wer zu ihrem eigentlichen ‚Inneren’, ihrem Kern gehört. Häufiger werden jedoch

vorgefundene Definitionen von ethnischer Zugehörigkeit weitertradiert und reproduziert.

Damit wird ethnische Differenz im wesentlichen vorausgesetzt und ihre Genese bewußt

ausgeblendet. Das ‚Weltwissen’ von ‚sinnvoll handelnden sozialen Akteuren’ kann und will

nichts zur Konstruktion von Ethnizität aussagen. Auch hier lohnt es sich,

gesellschaftsinhärente Kategorisierungsprozesse und –praktiken und den

sozialwissenschaftlichen Gebrauch sowie der sozialwissenschaftlichen Analyse von sozialen

Kategorien deutlich zu trennen. Was auf gesellschaftlicher Ebene hegemonialen

Klassifizierungssystemen sowie einer gewissen Pragmatik im Umgang mit der Wirklichkeit –

der Beschränkung des Verhandelbaren und der Akzeptanz der Voraussetzungshaftigkeit im

sozialen Alltag – entspricht und in diesem Maße der ‚Logik’ des Sozialen folgt, wird auf der

Metaebene der Analyse zu einem fundamentalen Hindernis, Gesellschaften jenseits ihrer

Selbstrepräsentationen zu verstehen.

Konsequent zu Ende gedacht ist mit der Akzeptanz der Präkonstitution ethnischer Kollektive

ein Entwicklungsmodell verbunden, das von ethnisch homogenen, isolierten ‚Ureinheiten’

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ausgeht, die mit zunehmender Interaktion restrukturiert, aufgelöst, inkorporiert werden, die

aber die visualierte prähistorische Ausgangssituation darstellen, mit Hilfe derer alle

darauffolgenden Entwicklungen interpretiert werden können. Die Vorstellung ‚ethnischer

Inseln’ ist zu Recht von verschiedenen Autoren kritisiert worden (vgl. Barth 1969:11f; Jenkins

1997: 27). Entscheidend ist letztlich die Beantwortung der Frage, was nun aus einer solchen

präkonstituierten Gruppenzugehörigkeit – und sei es nur als Zugehörigkeit zu einer vom

Sozialwissenschaftler definierten Kategorie folgte, könnte man sie konsequent nachweisen

und sähe man von ihrer Inkonsistenz und Brüchigkeit in historischer Hinsicht ab.

Gewiß berührt sie nicht – zumindest nicht unmittelbar – die Frage der subjektiven Ethnizität,

also der für ein politisch Wirkmächtigwerden von Ethnizität notwendigen subjektiven

Identifikation mit dem ethnischen Kollektiv: Daß ich in gewissen Kontexten immer als

Angehöriger meiner ethnischen Gruppe gesehen werde, und ich mich wesentlich als

Angehöriger dieser ethnischen Gruppe definiere, bedeutet noch lange nicht, daß dies für

meine Vorfahren genauso gewesen sein muß, nur weil ich sie als meine (oder ‚unsere’)

Vorfahren als mit denselben transzendenten Eigenschaften – der Angehörigkeit zu ‚meiner’

ethnischen Gruppe ausgestattet sehe. Selbst wenn die strukturellen Bedingungen, die für die

Konstitution der Gruppe kennzeichnend sind, andauern und so jedenfalls die Existenz der

Kategorie über die (oder eine gewisse) Zeit(periode) als gesichert gelten kann, oder wenn

die ethnische Gruppe eine politische Gemeinschaft oder eine ihrer selbst bewußten soziale

Gruppe konstituiert, ist die konkrete Form der Identifikation alles andere als präkonstituiert.

Der immer schon strukturierte Charakter von gesellschaftlicher Interaktion – zwischen

Individuen verschiedener sozialer und politischer Stellung sowie, in vermittelter Form,

zwischen Kollektiven – soll nicht dazu verleiten, dem strukturierenden Kontext der Interaktion

a priori eine all-determinierende, mithin präjudizierende Stellung zuzuschreiben. Vielmehr

ergeben sich die Formen ethnischer Identifikation im konkreten historischen Prozeß der

Interaktion von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die immer vermittelt verläuft:

Wenn von der Interaktion zweier oder mehrerer ethnischer Gruppen die Rede ist, handelt es

sich in Wirklichkeit nie um alle Mitglieder der Gruppen, die überhaupt oder in gleicher Weise

interagieren, sondern um die Interaktion einzelner, deren Wahrnehmung als Personen, die

stellvertretend für die Gruppe handeln, einen Mechanismus und spezifische Codes der

Repräsentation voraussetzt. Erst diese ermöglichen es, die konkret handelnden Personen

als Repräsentanten des Kollektivs zu erkennen und anzuerkennen (Vgl. Bourdieu 1992b:

65).

Vermittelt ist der Prozeß auch, weil er nicht in einem Vakuum stattfindet, sondern in einem

sozialen Feld, das durch strukturelle Variablen – Staatlichkeit und ihre Form, politische

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Interaktion, Produktionsweise, Stratifikation, soziale Nähe und Distanz etc. – determiniert

wird (Vgl. Bourdieu 1992c: 35). Die Rückverfolgbarkeit gegenwärtiger Gruppen auf zu einem

bestimmten früheren Zeitpunkt eingewanderte Gruppen allein kann daher weder die

Identifikation mit dem ethnischen Kollektiv, noch das ‚objektive’ Vorhandensein von

ethnischen Gruppen erklären. Sie besagt höchstens so viel, daß es Gruppen gibt, die nach

ihrer Herkunft unterschieden werden können. Nicht mehr und nicht weniger.

Anstatt, daß die Festschreibung gesellschaftlicher Kollektive Erklärungen bereitstellen

würde, wirft sie selbst wieder zumindest zwei weitere Fragen auf, nämlich nach der oder den

Ursache(n) dieser Konstanz und nach den Formen der Identifikation mit dem Kollektiv oder

anders formuliert, in welcher Form die Kollektive gesellschaftlich wirkmächtig werden, d.h.

wie Kollektivität auftritt; und, wie sie (wenn überhaupt) diskursiv artikuliert wird. Letzteres

kann als das Ergebnis des politischen Prozesses im engeren Sinn gesehen werden, insofern

es um die Konstruktion, Repräsentation, Organisation und Artikulation des Kollektivs geht.

Von den Mechanismen der ‚Bewußtwerdung’ und kollektiven Organisation soll weiter unten

gesprochen werden, zunächst muß aber eine Ebene tiefer angesetzt und gefragt werden,

was unter Kollektivität überhaupt gefaßt, und daran anschließend, was als ein ‚Kollektiv’

betrachtet werden kann.

1.1.3. Kollektivität – Kollektives Handeln

In der hier verwendeten Terminologie meint Kollektivität das abstrakte Gemeinsame von

Kollektivbegriffen wie Ethnie, Klasse, Nation usw. und macht insofern keine Unterscheidung

zwischen dem Kategorie- und dem Kollektivaspekt im engeren soziologischen Sinn, also

jenem Aspekt, der oben unter dem Begriff der subjektiven Ethnizität diskutiert worden ist –

der kollektiven ‚Identität’, dem ‚kollektiven Bewußtsein’ als solches24. Ein Kollektiv – denkt

man an die angeführten Kollektivbegriffe Ethnie, Klasse, Nation – bezeichnet in der

Minimalbedeutung des Begriffes eine größere Anzahl von Personen, die in bestimmter

Hinsicht gleich sind, wobei diese ‚Gleichheit’ (eine Identität im philosophischen Sinn) auf

zweierlei Art und in der Form einer Entgegensetzung verstanden werden kann, nämlich als

Gleichheit (Äquivalenz in den Worten Ernesto Laclaus) hinsichtlich der Zugehörigkeit zum

Kollektiv einerseits, die als tautologische Relation nur Sinn macht, wenn die Imagination der

Zugehörigkeit zum Kollektiv, also die Identifikation mit dem Kollektiv zu dessen eigentlichem

Bestehensgrund wird – wie es die luzide Formulierung dieses Verhältnisses durch Benedict

Anderson als‚Imagined Communities’, nahelegt.25 Die zweite, dieser Lesart

entgegengesetzte Bedeutung dieser ‚Gleichheit’ könnte man, wenn man so will, mit dem

Begriff ‚systemische’ Kollektivität umschreiben und zielt auf die Ähnlichkeit von (Wert-) 24 Vgl. dazu den entsprechenden Eintrag zu Kollektivität in Reinhold et al.1992: 307f

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Haltungen und sozialem Verhalten, die ‚Mitglieder’ derartiger Kollektive (Sozialkategorien im

soziologischen Sinn) miteinander verbinden, ohne das Ergebnis bewußter Mobilisierung zu

sein. Diese Art von Homogenität innerhalb gewisser Populationen ist selbst wieder das

Ergebnis umfassender Prozesse und Strukturen in ‚der’ Gesellschaft als ganzes und eine

Widerspiegelung der strukturellen Positionen von Individuen in der Sozialstruktur bzw. einem

Sozialsystem.26 Diese werden, ebenso wie die Repräsentation der sozialen Positionierung in

der ‚Praxis’ der Individuen (den Haltungen, dem sozialen Verhalten etc.), über die

Sozialisation vermittelt und folglich innerhalb hegemonialer Prozesse reproduziert. Die

Herstellung bzw. Herausbildung sozialer Identität – verstanden als Synthese sozialer Rollen

und Statuspositionen – kann dann in weiterer Folge als Ausfüllen von ‚Identitätsräumen’

angesehen werden, die innerhalb eines hierarchisch strukturierten Sozialisationsprozesses

‚eröffnet’ werden (vgl. Friedman 1995: 76). Pierre Bourdieus Konzept des Habitus (Bourdieu

1979) hat eben diese systematische und dennoch nicht organisierte Einheit(lichkeit) sozialen

Handelns von sozialen Klassen, Ethnien etc. zum Thema.

Abbildung 3: Kollektivität und kollektives Handeln (1)

(1) Kollektivität als Imagination (Äquivalenz hinsichtlich der Zugehörigkeit zum Kollektiv)27

A = B = ... = X

A, B, ...X: Individuen

= ... Äquivalenzzeichen

<S> Symbol für das Kollektiv

25 ohne sich freilich darin zu erschöpfen. Vgl. Anderson 1991 26 Totalisierende und homogenisierende Begriffe wie ‚Sozialsystem’ bzw. ‚Sozialstruktur’ sind notwendigerweíse metaphorischen Charakters und zielen auf Regelmäßigkeiten im weitesten Sinn, ohne damit irgendeine Art von Abgeschlossenheit zu implizieren. 27 Die Graphik folgt den zeichentheoretischen Überlegungen Ernesto Laclaus, wie sie etwa in dem Text ‚Von den Namen Gottes’ durchexerziert werden (Laclau 1998). Die logische Struktur von Kollektivität (1) und (2) gleicht sich insofern, als daß die Äquivalenz in (2) eine ist, die erst durch den Analysten artikuliert wird bzw. in einer Periode sozialer Krisen, zum Gegenstand der Artikulation im Rahmen einer sozialen Bewegung wird. Vor ihrer Artikulation ist eine derartige Äquvivalenz irrelevant, aber nicht inexistent, sondern nur außerhalb der Diskurswelt verortet und ist ein Ergebnis der als ‚Doxa’ zur stillschweigenden Voraussetzung des Sozialen gemachten sozialen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen von Gesellschaften (Bourdieu 1979: 330).

<S>

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Abbildung 4: Kollektivität und kollektives Handeln (2)

(2) Kollektivität als systematische Konvergenz der sozialen Praxis a a’ a’ a’

A = B = C =...= X

A, B, C...X: Individuen

a, a’: konvergierende Praxis der einzelnen Individuen

=... Ävquivalenz

Der Habitus ist gleichzeitig das Prinzip der Trägheit des Sozialen und das generative Prinzip

seiner Produktion in der Gestalt der sozialen Praxis. Der Habitus als Prinzip, das scheinbar

die Gleichförmigkeit der sozialen Praxis herstellt, ist selbst wieder Produkt äußerer Zwänge,

und die Gleichförmigkeit der von ihm hervorgerufenen sozialen Praxis eine Folge der

Seinsbedingungen des Habitus: Der Habitus, dieses durch geregelte Improvisation dauerhaft begründete Erzeugungsprinzip

(....), bringt Praxisformen und Praktiken hervor, die in dem Maße, wie sie dahin tendieren, die

den objektiven Produktionsbedingungen ihres Erzeugungsprinzips immanenten

Regelmäßigkeiten zu reproduzieren – wobei sie sich freilich ebenso den innerhalb einer

gegebenen Situation als objektive Potentialitäten eingeschriebenen Erfordernissen und

Zwängen anpassen -, sich weder aus den punktuell als Summe der Stimuli, die jene

Praxisformen hervorgerufen zu haben scheinen, definierten objektiven Bedingungen noch aus

den Bedingungen unmittelbar deduzieren lassen, die das dauerhafte Prinzip ihrer Produktion

geschaffen haben; aus dem folgt, daß jene Praxisformen nur derart erklärt werden können,

daß die objektive Struktur, die die sozialen Bedingungen der Produktion des Habitus, der sie

erzeugt hat, definiert, in Beziehung gesetzt wird zu den Anwendungsbedingungen dieses

Habitus, d.h. zu der jeweiligen Konjunktur, die, außer bei radikalen Umbrüchen, einen

partikularen Zustand dieser Struktur repräsentiert. Vermag der Habitus als Operator zu

funktionieren, der den Bezug der beiden Relationssysteme in der und durch die

Hervorbringung der Praxis praktisch herstellt, so weil er zu Natur gewordene Geschichte ist,

die als solche negiert, weil als zweite Natur realisiert wird: In der Tat gibt das ‚Unbewußte’

niemals etwas anderes wieder als das Vergessen der Geschichte, das die Geschichte selbst

vollzieht, indem sie die objektiven Strukturen, die sie erschafft, in jenen Quasi-Naturen, als

welche die Habitusformen zu verstehen sind, verkörpert (Bourdieu 1979: 170f).

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1.1.4 Das Ethnos als politisches Kollektiv

Ethnizität als askriptive Variable weist zwei von einander qualitativ unterschiedliche bzw.

unterscheidbare, aber nichtsdestoweniger zusammenhängende, prozessuale Qualitäten auf,

nämlich Identifikation(sprozesse) einerseits und soziale Kategorisierung/

Klassifikation(sprozesse) andererseits. Während ‚Identifikation’ auf Prozesse innerhalb der

ethnischen Gruppe bzw. innerhalb einer ethnischen Grenzziehung verweist (was nicht heißt,

daß diese Prozesse nicht von außen induziert werden können), sind Kategorisierungs- und

Klassifizierungsprozesse notwendigerweise in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext

verortet und unweigerlich mit Herrschafts- und Unterordnungsverhältnissen verbunden,

deren Struktur determiniert oder zumindest nachhaltig beeinflußt, wessen Definitionen und

Kategorisierungen wirkmächtig werden (Jenkins 1997: 23). Beide Aspekte sind aber zutiefst

miteinander verwoben, insofern Kategorisierungen bzw. hierarchische Klassifizierungen

(subjektive) Identifizierungsprozesse auf Seiten der so kategorisierten/ klassifizierten

Gruppen entlang des in der Kategorisierung und Klassifizierung impliziten Codes der

‚Differenz’ – der Ordnung der sozialen Ähnlichkeit nach Wir/Sie; Eigenem/Fremden;

Ähnlichem und Ungleichem, das heißt aber auch: Inklusion und Exklusion – nach sich ziehen

(können). ‚Können’, denn soziale Kategorien umschreiben Möglichkeitsfelder, oder in den

Worten Jonathan Friedmans ‚Identifikationsräume’, die nicht in allen sozialen Kontexten

wirksam sein müssen und deren Vorhandensein nicht notwendigerweise entsprechende

Identifikationsprozesse nach sich ziehen (Friedman 1995: 74). Insofern die in einer

Gesellschaft vorhandenen Klassifikationsschemata und Kategorisierungen zugleich die allen

Akteuren zugänglichen möglichen Definitionen der sozialen Wirklichkeit beinhalten, sind sie

ein Ausdruck der in ihr wirkenden hegemonialen Kräfteverhältnisse (Vgl. Lentz 1995: 39).

In der folgenden Diskussion steht ein spezieller Fall eines ethnischen Identifikations-

prozesses im Vordergrund, einer, der auf politischer Mobilisierung beruht. Mit politischer

Mobilisierung sind die Möglichkeiten ethnischer Identifikationsprozesse keineswegs

erschöpfend dargestellt, und es ist keineswegs zwingend, daß ethnische Grenzziehung

aufgrund bewußter Artikulation des ‚Eigenen’ und des ‚Fremden’ vonstatten gehen muß.

Vielmehr handelt es sich in der Regel wohl um unbewußte oder halbbewußte Prozesse und

um einen (freilich auch sozial bedingten) ‚Automatismus’, der Menschen zumindest in der

Regel dazu befähigt, ‚spontan’ zwischen ‚Innen’ und ‚Außen’, zwischen denen, die

‚dazugehören’, einem ‚nahestehen’ und jenen, die dies nicht tun, und zu denen man besser

Distanz wahrt, zu unterscheiden. Die dabei leitenden Regeln werden im Sozialisationsprozeß

erlernt und weitergegeben, wobei der Primärsozialisation innerhalb der Familie die Rolle

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zukommt, das ethnische Rollenverhalten emotional ‚plausibel’ zu machen (Vgl. dazu Epstein

1978: 111).

Die Hegemonietheorie Laclaus

Ernesto Laclau hat in mehreren Arbeiten (1994, 1996, 1998, 1999; gemeinsam mit Chantal

Mouffe 1991) eine Theorie politischer Kollektivität vorgelegt, die trotz ihrer offensichtlichen

Defizite (insbesondere was den institutionellen Aspekt von Politik sowie die Materialität

sozialer und ökonomischer Prozesse betrifft) einen guten Anknüpfungspunkt für eine

allgemeine Theorie politischer Mobilisierung und politischer Kollektivität darstellt. Dies

insbesondere, weil sie es erlaubt, ohne substantialistische Identitätskonzepte auszukommen,

indem sie Identität als grundsätzlich prekäres und ambivalentes Konstrukt beschreibt.

Am Ausgangspunkt der Laclau’schen Theorie steht eine in gewisser Weise

poststrukturalistische Konzeption von ‚Wirklichkeit‘, die für sich im Prinzip eine allgemeine

Gültigkeit bzw. weniger stark ausgedrückt, eine breite Anwendbarkeit beansprucht.

Wie immer auch der ontologische Status einer bestimmten Klasse von Phänomenen bzw.

einer bestimmten Art von Wirklichkeit, also z.B. ‚die Gesellschaft‘ gefaßt wird, ist die

(physikalische, biologische, chemische, soziale, ökonomische...‚) Realität‘ immer nur

vermittelt wahrnehmbar, mit anderen Worten, eine Repräsentation. In zeichentheoretischer

Perspektive erweist sich jedes Objekt als diskursiv konstituiert. Diese Feststellung hat dabei

überhaupt nichts mit der Spaltung zwischen Idealismus und Realismus zu tun, noch

bestreitet sie die Möglichkeit der Erfahrbarkeit (und der Einheit) der objektiven Welt28.

Bestritten wird nur, daß Objekte „sich außerhalb jeder diskursiver Bedingung des

Auftauchens als Gegenstände konstituieren können.“ (Laclau/Mouffe 1991: 158). Der

ontologische Status jedweder Repräsentation ist nun aber stets derselbe, gleich ob von der

Repräsentation materieller Phänomene oder von der Repräsentation von immateriellen

Phänomenen die Rede ist und damit werden Prozesse der Repräsentation und somit

Prozesse der Artikulation repräsentierter Einheiten – Identitäten – vergleichbar.

Der nächste Schritt und der Ausgangspunkt für die folgende Überlegung ist, daß Objekte

relational zueinander in Diskursen artikuliert werden. Weil Objekte immer relational

konstituiert sind, sind sie nie völlig unabhängig von den spezifischen Beziehungen zu den

einzelnen Elementen, zu denen sie in Bezug stehen.

Repräsentation – die Konstitution von Objekten in Diskursen – ist fundamental durch zwei 28 Einen interessanten Versuch, die Annahme einer einheitlichen realen Welt mit einer konstruktivistischen

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gegenläufige Logiken strukturiert: der Logik der Differenz einerseits und der Logik der

Äquivalenz andererseits. Einzelne Elemente der Diskurswelt bilden zunächst neutrale

Sequenzen von Differenzen, denen nicht notwendigerweise ein finalistischer Sinn zukommt.

Indem sie in Beziehung zueinander – äquivalent und different –gesetzt werden, bilden sich

spezifische Diskurse heraus, die aus verschieden langen Äquivalenzketten bestehen und

innerhalb derer die ‚Identität’ der Diskurselemente – Laclau nennt solche in einem Diskurs

artikulierten Elemente ‚Momente’ – modifiziert wird. Äquivalenz bedeutet eine Beziehung, in

der die Elemente nicht ident miteinander sind (und damit ununterscheidbar würden), sondern

äquivalent hinsichtlich einer Eigenschaft, die über die partikulare Bedeutung des Elements

hinausgeht. Die einzelnen Elemente verlieren gleichzeitig ihre jeweilige partikularen

Bedeutungen nie ganz und diese kontaminieren die durch die Äquivalenzoperation gebildete

Identität einer Kette von Elementen. Der Rest an Partikularität verhindert auch das beliebige

Ausdehnen der Äquivalenzkette. Anders gesagt, je länger die Kette, desto prekärer die

Äquivalenz und desto inhaltsloser der von der Kette gebildeten Identität, die selbst durch

eines oder mehrere Elemente der Kette repräsentiert wird. Dieses Symbol der Identität, zum

Beispiel eine Führungsgestalt in einer Aufstandsbewegung – man denke etwa an die

obskure Gestalt des Commandante Marcos, der zu einer Symbol für verschiedene

Widerstandsäußerungen in Chiapas geworden ist – symbolisiert sozusagen das

‚Gemeinsame‘ der Kette, die Äquivalenz. Diese Repräsentation der ganzen Kette durch

einzelne Elemente der Kette nennt Laclau Hegemonie: Ein Element der Kette symbolisiert

diese und ‚hegemonisiert’ sie gleichzeitig, weil sie alle Elemente der Kette auf den eigenen

dominanten partikularen Bedeutungsrest orientiert. Die hegemoniale Beziehung legt

allerdings nicht fest, welchen partikularen Bedeutungselemente den so konstituierten Diskurs

prägen.

Theorie der sozialen Wirklichkeit zu verbinden, findet sich in Searle (1995).

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Abbildung 5: Die notwendige Beschränkung von Identität

Eine bestimmte politische Praxis kann als hegemonialer Versuch verstanden werden, differente Elemente (etwa partikulare

Forderungen an das politische System etc.) zu hegemonisieren, zu artikulieren. Lehnt man einen naiven Essentialismus ab,

so kann das universalistische Konzept/ Symbol (etwa Klasse), welche die Äquivalenzen ‚verkörpert‘ eben keine,

selbstevidente, selbstredende und metaphysische Kategorie sein, sondern Teil des Systems, m.a.W ein Element der so

konstruierten Äquivalenz zwischen verschiedenen Forderungen wird die Funktion übernehmen, die gesamte Kette (den

hegemonialen Block) zu repräsentieren. Das Symbolelement behält dabei immer einen Rest an partikularer Bedeutung,

welche der unbeschränkten Ausdehnung der Äquivalenz Grenzen setzt.

A == C == D || Nicht – C <S>.........Symbol

A, B, C, D.....partikulare Inhalte

== ............Äquivalenzen

|| .............Grenze der Äquivalenzkette

Die gegenläufigen Logiken von Differenz und Äquivalenz lassen dagegen eine vollkommene

Schließung der Identität nicht zu, sie bleibt notwendigerweise prekär. Laclau umschreibt

diese Unmöglichkeit der Schließung, die er in jedem Erfahrungssystem vorhanden sieht, mit

dem Begriff des Antagonismus. Jedes Erfahrungssystem kennt diesen grundsätzlichen

Mangel, der im Extremen das ‚irreale‘ Jenseits des Erfahrungssystems beschreibt und das

es begrenzt. Laclau, der zuweilen diesen Platz des Mangels mit Lacan als ‚das Reale‘

beschreibt, sieht in diesem Jenseits ein notwendiges Element des Ausschlusses, gegen das

Identität (eine Kette von Äquivalenzen) artikuliert wird. Konsequent zu Ende gedacht, wird

aus jedem der einzelnen Elemente eine durch den gleichen Mechanismus von

Differenz/Äquivalenz/Ausschluß konstruierte Identität. Selbst das Element des Ausschlusses,

das ja immer als Symbol des Ausschlusses bzw. des Antagonismus auftritt, kann als ein

derartiges komplexes Element begriffen werden, insofern es selber wieder als eine Kette von

Äquivalenzen/Differenzen auftritt. Ethnische Polarisierung in gespaltenen Gesellschaften

kann so als diskursive Konstellation zweier Kollektivkonstruktionen, die für die jeweils andere

B

<S>

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als Symbolisierung des fundamentalen Antagonismus fungieren. Die gegenseitig

stabilisierende Wirkung einer solchen Konstellation ist evident. Gleichzeitig wird die

Definition über die das jeweilige Kollektiv konstituierende Äquivalenzbeziehung dadurch

zunehmend zu einer, die innerhalb der gegenseitigen Beziehung: durch Eigen- und

Fremdwahrnehmung produziert und reproduziert wird.

Abbildung 6: Die Wirkungsweise des (Symbol des) Antagonismus in Sozialen: Identität durch Ausschluß

X (<SA>)

A == == C

A, B, C..... partikulare Elemente

<S>.....Symbol für Totalität der Äquivalenzen

X .....antagonistisches (Ausschluß-)Element

<SA>....Symbol des Antagonismus

Gleich wie die Berechtigung des prinzipiell weitgehenden Erklärungsanspruchs der

Laclau’schen Politiktheorie bewertet wird29, gibt sie m.E. ein brauchbares Werkzeug in die

Hand, mit der politische Kollektivität, wenn auch nicht vollständig erklärt, so doch sinnvoll

analysiert werden kann. Die Theorie unterstreicht insbesondere die grundsätzliche Offenheit

von Identitätsbildungsprozessen und lenkt die Aufmerksamkeit auf den konstruktiven

Prozeß, der zu der Etablierung von Differenz wie auch von Äquivalenz führt. Mit der

Begriffstirade von Differenz, Äquivalenz und Antagonismus, der, wenn sie ergänzt wird durch

eine Multiperspektivität der Analyse (die Äquivalenzkette stellt sich verschieden dar, je

nachdem aus welchem Blickwinkel sie betrachtet wird) werden insbesondere Spannungen

innerhalb von dominanten Diskursen von Kollektivität sichtbar und weisen sie somit als

Ergebnisse historischer Konjunkturen aus – eine Perspektive, die dann verloren geht, wenn

die ethnische Identität selbst als weitgehend unproblematisch vorausgesetzt wird. In der 29 Für eine Kritik des Laclau’schen Ansatz aus Lacan’scher Sicht, also in gewisser Weise aus dem Blickwinkel der Theorietradition, der Laclau selbst angehört, siehe Liepowatz 1998. Abgesehen von dem unklaren Verhältnis zwischen Diskurswelt und materieller Welt, das freilich ein Grundproblem jedweder Sozialtheorie ist und auch bleiben wird, sieht Liepowatz ein grundsätzliches Problem in der Laclau’schen Unfähigkeit, Kriterien anzugeben, die bestimmen, wie es zu einer bestimmten Diskurskonstellation kommt. Das Theoriedefizit führe dazu, daß bei Laclau Dekonstruktion den Charakter eines Automatismus annimmt, der Beliebigkeit und die endlose Metonymisierung des Sozialen notwendigerweise zur Folge habe und folglich blind gegen strukturelle

B <S>

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Literatur zu Ruanda hat sich zwar eingebürgert, auf die problematische Basis von ethnischer

Identität (als Hutu, Tutsi und Twa) hinzuweisen, gleichzeitig bleibt sie aber die Basis, von der

aus die ruandesische Gesellschaft analysiert wird. Besonders in einigen einflußreichen, in

den 60er Jahren recherchierten Studien zu sozialem und politischem Wandel in Ruanda

(Lemarchand 1970; Codere 1973) zeigt sich, daß ‚ethnische Identität’, trotz aller Betonung

der Diversität und Prekarität der ethnischen Bindungen in Ruanda, eine der Analyse

zugrunde gelegte Zentralkategorie bleibt. Lemarchand hat so etwa die Tendenz, den

ideologischen Kampf um den Begriff ‚Hutu’ in den Fünfziger Jahren in Richtung der

‚Bewußtwerdung’, also der Identifizierung der Bevölkerung mit der sozialen Kategorie ‚Hutu’,

deren Existenz jedenfalls nicht in Frage gestellt wird, zu interpretieren, während

Widersprüche durch sozialen Wandel (i.e.: Modernisierung) erklärt werden, welche die

‚traditionellen’ Kategorien untergraben und somit Widersprüche in den politischen Kampf um

Hegemonie hineintragen. In ähnlicher, aber viel deutlicherer Weise, macht sich Codere in

ihrer lebensgeschichtlichen Studie auf die Suche nach der ethnischen Identität und,

spezieller, nach dem ethnischen Antagonismus und bedauert, nur wenig dementsprechende

Bezüge in den Darstellungen ihrer Informanten gefunden zu haben (Codere 1973: 196).

Dagegen versucht diese Arbeit ethnische Identität als etwas grundsätzlich Prekäres zu

analysieren, die, um als politische Ressource zu taugen, artikuliert werden muß und zwar so,

daß mit ihr einerseits Differenzen, mithin ein fundamentaler Antagonismus (z.B. gegenüber

der herrschenden Klasse) ausgedrückt werden können. Andererseits muß sie so breit

formuliert bleiben, daß regionale, soziale, kulturelle u.a. Partikularismen die Identität nicht

sprengen können. Wie weiter unten ausgeführt werden wird, hat in Ruanda der ethnizistische

Diskurs paradoxerweise erst sehr spät Eingang in die politische Arena gefunden und zwar zu

einem Zeitpunkt, in der die ethnische Lesart der sozialen Stratifikation – wenn sie überhaupt

jemals zugetroffen hatte – zunehmend weniger die soziale Wirklichkeit beschreiben konnte.

Gleichzeitig wurde die Vergangenheit verstärkt unter ethnischen Gesichtspunkten

interpretiert, womit in einem typischen Akt von ‚retroactive grounding’ die Existenzbedingung

der ethnischen Identität, die Präsupposition ihrer Existenz vom ‚ethnischen Blick’ selbst

geschaffen wurden (Zizek 1994: 40ff).

1.2 Stratifikation

Stratifikation oder Schichtung als Begriffsvariante der deutschsprachigen

Nachkriegssoziologie – gehört zu einem der Grundprobleme der Sozialwissenschaften und

mit ihr der geschichtsträchtige Begriffsapparat, wie er von den Klassikern der Soziologie –

allen voran von Karl Marx und Max Weber ab der zweiten Hälfte des 19.Jh. entwickelt Faktoren bleibt (ebenda: 164f).

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worden ist und zu der in Auseinandersetzung mit den zentralen Begriffe von Klasse, Kaste

und Stand entwickelt worden ist. Dieses theoriegeschichtliche Erbe soll hier nur angedeutet

werden, zumal auch die Diskussion über Stratifikation in Ruanda nicht unbeeinflußt von ihr

geblieben ist und wechselweise ‚Kaste’ und ‚Klasse’ als Kategorien für die beiden

gesellschaftlichen Großgruppen, Hutu und Tutsi vorgeschlagen worden sind, bevor die

Bezeichnung ‚ethnische’ Gruppe diese Kategorien sozialer Ungleichheit zumindest implizit –

soweit Tutsi und Hutu unter der Thematik ‚Ethnizität’ verhandelt werden – verdrängt hat.

Fundamental geht es bei Stratifikation um soziale Ungleichheit, also um Lebenschancen von

Individuen in einer Gesellschaft, die ihnen aufgrund ihrer Positionen in gesellschaftlichen

Beziehungsgefügen zukommen (Vgl. Hradil 1993: 147). In einem gewissen Sinn ist diese

Definition von sozialer Ungleichheit zirkulär, weil die Position eines Individuums im

gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht nur mit Bezug auf ein (natürlich) hegemoniales

Kategorienschema bzw. Klassifikationssystem zu bestimmen ist, das letztlich determiniert, in

welcher Rangordnung zueinander gesellschaftliche Positionen zu sehen sind. Daraus folgt

aber, daß ein bestimmtes Schichtungsgefüge, d.h. eine aus der systematischen Natur

sozialer Ungleichheit resultierenden Struktur nicht unabhängig von den Diskursen über diese

selbst ist, sondern in einem komplexen Interaktionsverhältnis mit jenen steht. Etwas

vereinfacht gesagt, gibt es soziale Stratifikation, gesellschaftliche Unter- und Überordnung

auf zweierlei Art und Weise: in der Realität und in den Köpfen (Vgl. Bourdieu 1992c: 20). Sie

gehört daher in gewisser Hinsicht – in dem Sinn, daß bei der Verteilungsstruktur von

gesellschaftlichen Gütern auch immer die soziale Identität von Individuen und Gruppen

verhandelt mit – zu der gleichen Klasse von Phänomenen, die im ersten Abschnitt dieses

theoretischen Einstiegs diskutiert worden sind – zu Kollektivität und sozialer Kategorie. Auf

die komplexe Beziehung zwischen Ungleichheitsstruktur und Diskursen über Ungleichheit,

die letztlich wieder auf die zentralen Problematiken sozialer Identität und sozialer Struktur

und deren reziprokes Verhältnis zurückweisen, haben in jüngerer Zeit zahlreiche Arbeiten

hingewiesen.30 Auf sie soll hier nicht näher eingegangen werden.

Stratifikation – als systematisierte soziale Ungleichheit – kann – folgt man dem oben

angeführten ‚Caveat’ – als das Ergebnis eines Klassifikationsprozesses gesehen werden, im

Zuge dessen Personengruppen bzw. soziale Kategorien nach ihrem zugeschriebenen Status

in eine Rangfolge gebracht werden, wobei die Art und Weise, wie Individuen klassifiziert

werden, Machtverhältnisse widerspiegelt (Shibutani/Kwan 1965: 29 und 36). Stratifikation

umfaßt daher weitaus mehr als nur die ungleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen,

30 Vgl. etwa die Aufsätze im Oxford Reader zu ‚Class’ (Joyce 1995), insbesondere die Einleitung von Joyce im selben Band (pp. 3-16). Vgl. auch Laclau/Mouffe 1991, deren zentraler Gegenstand die Konstruktion von Klasse als veritabler historischer Akteur im marxistischen Diskurs ist.

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29

sondern schließt die Verteilung anderer Güter – wie politische Macht, kulturelle und

symbolische Güter – mit ein (Vgl. ebenda: 38). Mit Pierre Bourdieu, der die unterschiedlichen

Arten von Kapital auf einen griffigen begrifflichen Nenner gebracht hat, geht es bei der

Produktion und Reproduktion von gesellschaftlicher Ungleichheit um die Verteilungsstruktur

von drei primären Arten von Kapital: kulturellem, sozialem und ökonomischen Kapital

(Bourdieu 1992c). Wir werden sehen, daß alle drei Arten des Kapitals für die Entstehung

eines spezifischen Stratifikationsregimes in Ruanda wirksam waren und daß bestimmte

Interventionen entscheidend dafür waren, daß ein bestimmtes Deutungsschema, das

Stratifikation in Ruanda mit der (‚ethnischen’) Verteilung von politischen Ämtern korrelieren

ließ, eine hegemoniale Stellung erlangte und andere Kriterien sozialer Ungleichheit - wiewohl

diese an Bedeutung in einer breiten Palette von sozialen Situationen keineswegs verloren –

zunehmend verdrängte31.

Im Unterschied zu modernen westlichen Gesellschaften, wo unter ethnischer Stratifikation32

zumeist eine Situation verstanden wird, wo eine ethnische Minorität (gleich ob durch

Immigration entstanden oder durch Kolonisierung dezimiert und verdrängt) von der

Mainstream-Gesellschaft marginalisiert wird und der in der Folge eine Position im unteren

Bereich der gesellschaftlichen Rangordnung zugewiesen wird, ist Stratifikation – sowohl als

Prozeß als auch als dessen Ergebnis – in Ruanda viel offensichtlicher und intensiver mit der

Konstruktion von Ethnizität verbunden33, ohne daß die ethnische Zugehörigkeit, selbst am

Höhepunkt einer mehr oder weniger formalisierten ethnischen Stratifikation während der

belgischen Kolonialperiode, jemals ein hinreichendes Kriterium für die Bestimmung der

sozialen Position eines Individuums gewesen ist. Soziale Ungleichheit steht daher im

Zentrum der Analyse von Ethnogenese in Ruanda, wobei ‚soziale Identität’ – als der

Schnittpunkt verschiedener Identitätsräume und sozialer Kategorien der favorisierte

analytische Begriff ist, mit der sowohl Ethnizität als auch Stratifikation analysiert werden.

Diese Überlegung grundsätzlichen Charakters führt mich auch, soweit es die Textökonomie

erlaubt, bei der Bezeichnung der ruandesischen Großgruppen – Hutu, Tutsi und Twa –

zunächst kein spezifizierendes Attribut (entsprechend den auf sie angewandten Kategorien -

Ethnie, Klasse, Kaste) anzuführen. Es gibt gute Gründe dafür – allen voran die unklare 31 Ich spiele hier insbesondere an Ungleichheitsphänomenen im spätvorkolonialen und kolonialem Ruanda an, die obgleich sie einen großen Teil der Bevölkerung betraf, nie artikuliert wurde und auf die weiter unten näher eingegangen wird (Vgl. Kap. 4.2.1 Arm und Reich: Tagelöhner’). 32 Ethnische Stratifikation wird zudem als viel starrer als das auf idealiter auf kapitalistische Kriterien beruhende Schichtungsgefüge in modernen Gesellschaften empfunden und steht so in einem gewissen Gegensatz zu dem vom Konzept der ‚Modernisierung’ propagierten Ethos der zunehmenden Rationalisierung aller Lebensbereiche, also auch der Rationalisierung der Verteilung gesellschaftlicher Güter (Vgl. dazu Shibutani/Kwan 1965: 51). 33 Astrid Lentz hat mit Recht darauf verwiesen, daß soziale Ungleichheit im Zentrum ethnischer Prozesse steht und daß „[e]thnische Differenzierung und Ethnizität [...] vor dem Hintergrund der ungleichen Verteilung von

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30

Bedeutung von Hutu, Tutsi und Twa in historischer Perspektive -, die ruandesischen Termini

zunächst einmal als Bezeichnungen sozialer Kategorien zu akzeptieren, denen eine direkte

Entsprechung im Deutschen (sowie im Englischen und Französischen) weitgehend fehlt.

Trotzdem, und um den spezifischen Charakter der Kategorien zu fassen, denen heute (am

Ende des 20.Jh.) tatsächlich ein ethnischer Charakter zukommt, möchte ich die darunter

gefaßten Gruppen als ethno-soziale Gruppen bezeichnen. Trotzdem wird im Text aus

pragmatischen Gründen gelegentlich von ‚Ethnien’ die Rede sein. Die (begründete)

Zurückhaltung gegenüber einer Fixierung der Bedeutung von Hutu, Tutsi und Twa soll aber

im ganzen Text immer mitgedacht werden.

In dem Maße, in dem ein Stratifikationsregime auf das Vorhandensein von systematischen

Verteilungsmechanismen beruht, rückt eine Institution in den Vordergrund, die bisher

vernachlässigt wurde und den Abschluß des Theoriekapitels bilden wird: der Staat und mit

ihm, Staatsbildung.

1.3 Staat

Während der Staat lange Zeit das unbestrittene Zentrum der Politikwissenschaft und ihrer

Vorläufer darstellte, fiel es der Disziplin und verwandte Sozialwissenschaften bis heute

schwer, sich bei der Theoretisierung von Staat und Staatlichkeit von der alles dominierenden

westlichen ideengeschichtlichen Tradition zu lösen, die mit den Namen Bodin, Hegel,

Hobbes, Locke, Montesquieu u.a. – kurz, mit den Klassikern der politischen Philosophie

verbunden ist bzw. von der Art von Staatstheorie, die auf den diversen nationalen

Staatslehren aufbaut, die mit der Entwicklung und Ausdifferenzierung des öffentlichen

Rechtes entstanden sind. Es gibt nun zwar heute einen spezialisierten Begriffs- und

Theorieapparat, um den modernen europäischen Staat und zu einem geringeren Teil, seine

Entwicklung, zu beschreiben und um daraus Kriterien für Staatlichkeit mit universalistischem

Anspruch zu gewinnen34, ein entsprechendes theoretisches Verständnis für andere Typen

des Staates bleibt aber weiterhin ein Desiderat, während zugleich empirische

Beschreibungen und Analysen auf eine unüberschaubare Menge angewachsen sind. Die

Mehrzahl der Analysen afrikanischer Staaten beschäftigt sich zudem selten mit mehr als den

postkolonialen Staat, oder seinem Vorläufer, dem kolonialen Staat – als ob letzterer gleich

einer Art Schöpfergott die Arena von Herrschaftsbeziehungen völlig neu strukturiert hätte

und jede Spur vorkolonialer Herrschaftsinstitutionen verwischt hätte. Es ist daher auch nicht

materiellen und symbolischen Ressourcen betrachtet werden [müssen]“ (Vgl. Lentz 1995: 13). 34 u.a. Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt (die prominenteste Definition); (äußere und innere) Souveränität, Monopol der Gewaltausübung, Autonomie gegenüber der Gesellschaft usw. oder funktionell als formalisierter Ausgleichs- und Regelungsmechanismus etc.; Vgl. den entsprechenden Eintrag zum Stichwort ‚Staat’ in Lexikon der Politik, Bd.7 sowie den Eintrag von Martin Jänicke zu ‚Staatstheorien der Gegenwart’ in Bd.1.

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31

weiter verwunderlich, daß der Terminus ‚Staat’ in bezug auf Afrika überhaupt selten in den

Mund genommen wird, wenn von der vorkolonialer Periode die Rede ist, sondern von

‚Gesellschaften’ und ähnlichem und die Analyse von ‚Herrschaftsformen’ präkolonialer

Gesellschaften weitgehend Anthropologen überlassen wird.

In Ruanda ist die grundsätzliche Kontinuität des Staates und von Staatlichkeit im

Allgemeinen möglicherweise offensichtlicher als bei anderen afrikanischen Staaten, die

essentiell koloniale Neugründungen waren und in denen zahlreiche vorkoloniale

Gesellschaften inkorporiert wurden. Wie dem auch sei, stellt diese Arbeit die These auf, daß

Stratifikation und Ethnizität zutiefst mit Staatlichkeit verbunden ist, entweder in dem Sinn,

daß der Staat als institutionalisierter Verteilungs- und Umverteilungsmechanismus ein

wesentlicher Determinant von Schichtung ist und eine ähnliche Rolle in bezug auf Ethnizität

einnimmt, oder umgekehrt, daß Stratifizierungs- und Ethnizitätsprozesse jedenfalls in den

Institutionen des Staates ihre Spuren hinterlassen und sich ihnen einschreiben. Der Prozeß

der Staatsbildung wird hier daher als ein Schlüssel für das Verständnis von Stratifikation und

Ethnizität vorgeschlagen, wobei der Hauptaugenmerk auf die Verteilung von Macht und

Herrschaft gelegt wird, also z.B. darauf, in welchem Ausmaß Macht, oder spezifischer,

Herrschaftsausübung monopolisiert oder gestreut vorkommt usw. Die zugrundegelegte

Definition von Staat ist naturgemäß viel weiter gefaßt als die in der Literatur zu Staat

üblicherweise angewandten Definitionen. Als Staat soll in der Folge die Gesamtheit von auf

Dauer angelegten Institutionen verstanden werden, die für die Ausübung von Herrschaft,

verstanden als „systematische Wechselbeziehung von Befehlsgebung und

Gehorsamsleistung, in der eine Person, Gruppe oder Organisation anderen (zeitweilig)

Unterordnung aufzwingen und Folgebereitschaft erwarten kann,“ relevant sind und die von

den Herrschaftssubjekten als solche anerkannt werden (Claus Leggewie in Nohlen 1992-98,

Bd.1, Eintrag zu ‚Herrschaft’; Vgl. auch Harding 1994: 32f). Die Definition ist

zugegebenermaßen zirkulär und läßt insbesondere die Funktionen des Staates offen. Sie

erlaubt allerdings eine kontinuitätsorientierte Analyse von Staatlichkeit, der es zukommt, den

Wandel der Funktionen sowie den Wandel des Funktionierens des Staates – also

institutionellem Wandel im weitesten Sinn – aufzuzeigen und die nicht schon einen

bestimmten, von der Analyse moderner europäischer Staatlichkeit derivierten Begriff des

Staates und einen entsprechenden Katalog seiner Attribute und Funktionen voraussetzt.

1.4 Resümee

Die im ersten Abschnitt präsentierten theoretischen Grundlegungen der Analyse von

Staatsbildung, Stratifikation und Ethnizität in Ruanda sind tendenziell eher negativer Natur.

Aus der Diskussion gehen keine eindeutigen Begriffsdefinitionen hervor. Wenn eine solche

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32

geleistet wird, sind sie offener und weiter als es gängige Definitionen derselben Begriffe

normalerweise sind. Die vorgebrachten Argumentationslinien sollen an dieser Stelle nicht

wiederholt werden. Festzuhalten und zu betonen bleibt aber der grundsätzlich offene

Charakter der analysierten Begriffe und Konzepte. Sie sind essentiell analytischer Natur, und

beruhen auf Definitionen (die notorisch selbstbezüglich sind). Sie und die von ihr

beschriebenen bzw. gemeinten Phänomene sollen daher nicht mit der sozialen Wirklichkeit

verwechselt werden. Das der Arbeit zugrundeliegende analytische Modell ist das des

mehrdimensional gedachten sozialen Raumes, dessen Strukturen grundsätzlich komplexer

(d.h. multideterminierter, zusammengesetzter) Natur sind und sich je nach Perspektive

anders darstellen. ‚Ethnizität’, ‚Stratifikation’, ‚Geschlecht’ repräsentieren in diesem Modell

Versuche, die Systematik der Verteilung der einzelnen Subjekte/ Subjektpositionen im

sozialen Raum als Strukturdeterminanten zu beschreiben. Strukturdeterminanten wie

Stratifikation oder Ethnizität und in gewisser Weise auch Herrschaftsbeziehungen an sich

wirken nie singulär, sondern sind immer eine von mehreren Determinanten, welche die

soziale (und politische) Position eines Individuums bestimmen. Sie wirken auch nicht

notwendigerweise gleichförmig, sondern abhängig davon, in welcher Position des sozialen

Raumes sich das Individuum befindet. Ihre Wirkungsweise ist essentiell differentiell: was für

den/die eine(n) ein fundamentaler Faktor ist, der seine/ihre soziale Identität und

Lebenschancen bestimmt, kann sich für den/die andere(n) als irrelevantes Kriterium

darstellen. Welche Strukturdeterminanten in einer Gesellschaft wirksam werden erweist sich

damit als abhängig sowohl von den materiellen Bedingungen deren Existenz als auch von

den sozialen Diskursen, die über sie geführt werden. Um beide Pole: der materiellen

Grundlage und dem materiellen Ausdruck von Ethnizität, Stratifikation und Herrschaft und

ihrer symbolischen Grundlage und Ausdruck soll es in dieser Arbeit gehen.

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Kapitel II Diskurse über Stratifizierung und Ethnizität im vorkolonialen Ruanda

2.1 Zur Bedeutung der Geschichte

2.1.1 Gegenwart und Geschichte

Vieles, das in den folgenden, die vorkoloniale Geschichte zum Inhalt habenden Kapiteln

gesagt werden wird, ist meta-historischer Natur, gleichermaßen Geschichte der

Geschichtsschreibung über Ruanda wie Geschichte der betroffenen Gesellschaften selbst.

Dafür kann gleichzeitig wiederum kein privilegierter Standpunkt beansprucht werden, der

gegen die Konjunkturen und perspektivischen Verzerrungen der eigenen Zeit gefeit wäre.

‚Der Blick zurück’ : auf die Historiographie zur historischen Entwicklung Ruandas in und auf

diese selbst – ist freilich heute ein anderer, erfolgt er doch aus einer Perspektive des

‚Danach‘ – im Rahmen der bewußten oder unbewußten ‚Präsenz’ des Völkermordes in

Ruanda. Der ‚Blick zurück’ scheint daher in einem viel stärkeren Ausmaß, als dies im

Allgemeinen für jede Rekonstruktion der Vergangenheit gilt, die Suche nach den Wurzeln der

gegenwärtigen Krisen in der Vergangenheit, nach früheren Stationen der

‚Konfliktgeschichte‘, nach Antworten auf Fragen, die in der Gegenwart aufgeworfen werden,

zu beinhalten und dementsprechend stärker Gefahr zu laufen, in Anachronismen zu

verfallen. Die Gefahr ist zweifellos vorhanden und muß ernst genommen werden, um nicht in

eines der beiden Extreme zu verfallen: dem Zeichnen eines Bildes einer idyllischen

Vergangenheit, die erst durch das Hereinbrechen des Kolonialismus beendet worden ist,

einerseits35, oder dem Versuch eines Nachweis,der Konflikt sei so alt , wie der Kontakt der

beiden Gruppen, andererseits36.

2.1.2 Vergangenheit und Interpretation

Seit Beginn der europäischen, vorerst ‚geistigen‘ Landnahme des sagenumwobenen

zentralafrikanischem Raums, bildeten europäische Projektionen, angenommene (bzw.

angebotene) und ‚reale‘ gesellschaftliche Wirklichkeit, orale historische Erzählungen und

Mythen ein schier unentwirrbares und zudem leicht verfängliches diskursives Netz, das,

mehr als den Blick auf ‚die Wirklichkeit‘ zu verstellen, gewisse Diskurskonstellationen

begünstigte, und bestimmte Versionen der Wirklichkeit legitimer erscheinen ließ als andere.

Die Geschichte nicht nur Ruandas, sondern der Region als ganzer ist eine Geschichte von

Spekulationen über nähere und weitere Vergangenheit(en), Mißverständnisse,

Umdeutungen, Teleprojektionen gegenwärtiger Verhältnisse in die Vergangenheit usw. 35 J-P.Chrétien tendiert in seinen Arbeiten zur jüngeren Zeitgeschichte zu dieser Position. Für ein anderes Beispiel siehe Mullen 1995. 36 Das war die gängige Interpretation der Medien während des Ruandakonflikts 1994. Zu einer Kritik und

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Diese Geschichte in Ansätzen nachzuzeichnen – ohne freilich Anspruch auf Vollständigkeit

erheben zu wollen, geschweige denn zu können – soll zum einen etwas mehr Licht auf jene

Prozesse werfen, welche entscheidend für die Herausbildung einer die Periode des 20.Jh.

spätestens seit dem 1. Weltkrieg kennzeichnenden rigiden Stratifizierung der Gesellschaft

nach ‚ethnischen’ Kriterien waren. Es soll also einen Versuch darstellen, den geschichtlichen

Prozeß einer schließlich (aber nicht ab origine) in ethnischen Bahnen verlaufenden

gesellschaftlichen Stratifikation und dem damit einhergehenden (bzw. vorausgegangenen)

Prozeß der asymmetrischen Strukturierung der Machtverhältnisse nachzuzeichnen. Zum

anderen soll dabei die metahistorische Ebene nicht aus den Augen verloren werden –

tatsächlich wird ihr ein breiter Raum eingeräumt werden. Nur dadurch kann sich ein

Verständnis der Konjunkturen in der Historiographie Ruandas, der Vorlieben und

(unbewußten) Voreingenommenheiten von Historikern bzw. der historische-Aussagen-

Machenden, ihren Annahmen, auf die sie ihre Aussagen aufbauten und des symbolischen

Inventars der heutigen ethnischen Identitäten ergeben. In ätiologischer Hinsicht haben die

Theorien über den Ursprung der heutigen ruandesischen Gesellschaft, die in verschiedenen

historiographischen Konjunkturperioden entwickelt wurden, in ihrer popularisierter Form,

mehr zu der heutigen Form des ethnischen Bewußtseins (also dem ‚Inhalt‘ der Identität),

zum ethnischen ‚Imaginaire‘ beigetragen, als der Prozeß der ethnische Stratifizierung selbst.

Die dem letzteren zugrundeliegenden Prozesse allgemeinerer und globaler Natur

(Expansion, Staatsverdichtung, Transformation diverser gesellschaftlicher Unter- und

Überordnungsverhältnisse in ‚staatsrechtliche‘ Ungleichheitsverhältnisse, Einbindung

Ruandas in die Weltwirtschaft und einhergehende Stratifikation bzw. gesellschaftliche

Differenzierung: ‚Modernisierung‘ überhaupt etc.) bildeten jedoch die entscheidenden

Katalysatoren für die Herausbildung der formalen Kategorie der ethnischen Identität

(gesondert von ihrem jeweiligen Inhalt); anders gesagt: sie bereiteten ‚ethnischer Identität‘

den notwendigen Raum.37

2.1.3 Begründungen

Die Ausführlichkeit, mit der die außerhalb der zum Gegenstand dieser Arbeit gemachten

Periode (ca. 1750 -1962) stehende ‚Vorgeschichte‘ thematisiert wird, ist keineswegs

selbstverständlich und bedarf einer gesonderten Rechtfertigung. Dies besonders deshalb,

weil sie dazu führt, daß außer dem zeitlichen scheinbar auch den theoretischen Rahmen, der

Analyse der Medienberichterstattung siehe Kraler 1999 passim 37 Der zugegebenermaßen selbst noch viele Problem aufwerfende Begriff des ‚Raumes‘ erlaubt es, Determinierung zu denken, ohne damit ein Konzept der Notwendigkeit (einer bestimmten Form kollektiver Identität) zu verbinden. Diese, wenn man will, ‚materielle‘ Seite der Herausbildung historischer Identitätsformen, oder anders gesagt, ihre historischen Entstehungsbedungen bleiben in der Politiktheorie Laclau/ Mouffes notorisch untertheoretisiert.

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der Arbeit gesteckt wurde, durchbrochen wird. Diese doppelte Transgression ihrer Grenzen

hat zwei zusammenhängende Gründe. Erstens bildet die Thematisierung der ‚Vorgeschichte‘

Ruandas einen festen Bestandteil eines wohletablierten Diskurses, in der wissenschaftlichen

Literatur gleichermaßen wie im politischen Diskurs Ruandas wie auch im Diskurs westlicher

Medien. Ähnlich wie bei anderen, vergleichbaren Konflikten (Bosnien, Kosovo,

Tschetschenien...) wird noch eine weit zurückliegende Vergangenheit bemüht, um die

Radikalität des Konflikts und die Wogen der Emotionen zu erklären. Je unverständlicher die

Gegenwart des Konflikts, desto tiefer wird in seiner Geschichte, d.h. in der Geschichte des

betreffenden Staates oder der betroffenen Gruppen, gegraben. Der Rückgriff auf die

Vergangenheit hat freilich eine Berechtigung, die über den stets problematischen38

unmittelbaren Sinngewinn für die Gegenwart hinausgeht ( bzw. hinausgehen sollte), der

selbst wieder auf einem Verstehens- und Sinnbedarf in der Gegenwart beruht. Ich werde

darauf weiter unten zurückkommen. In gewisser Weise folge ich damit den von der Literatur

(und den Populärdiskursen über Ruanda ) vorgezeichneten Wegen.

Ein zweiter Grund – und da besteht die Berechtigung zeitlich weit zurückgreifenden

historischen Perspektive – ist der, daß gesellschaftliche Ordnung,39 Sozialstruktur,

Machtverhältnisse etc. ein gewisses Trägheitsmoment aufweisen: Gesellschaftliche Ordnung

entsteht nicht aus dem Nichts. Kein revolutionärer Moment der völligen Zerschlagung einer

alten und der Herstellung einer neuen Ordnung steht am Beginn einer Gesellschaft.

Strukturen verändern sich bisweilen drastisch, aber immer sie beziehen sich auf andere,

gleichbleibende. Dies trifft auch auf gesellschaftliche Veränderungen zu, selbst wenn sie

reale Brüche mit vorangegangenen zentralen Praktiken der betroffenen Gesellschaft

darstellen, mit längeren Zeiten relativer Anarchie oder Gewalt verbunden sind und von

Menschen als dramatischer Bruch mit der Vergangenheit – als Diskontinuität – erlebt

werden. Wird Gesellschaft als Ensemble relationaler (Struktur-) Elemente gefaßt, wird

deutlich, daß jeder ‚Umbruch‘ stets nie mehr als eine mehr oder weniger große

Verschiebungen einiger Elemente darstellt. Durch diese stets partiellen Verschiebungen

verändert sich der Charakter der Substrukturen genauso wie die (wie auch immer gedachte)

Gesamtstruktur, die gesellschaftliche Totalität.40 Die Verschiebungen mögen radikal

38 Das Anführen historischer Begründungen für eine gegenwärtige Situation hat immer eine zweite, die Proposition der Aussage überschreitende normative (oder anders, in den Termini der Sprechakttheorie gesagt: illokutionäre) Funktion. Die historischen Ursachen von x oder y erklären nicht nur, sie sollen erklären. 39 Damit meine ich das Ideal oder das Bild von Ordnung (an sich), und nicht den statischen Ordnungsbegriff des Funktionalismus der 50er und 60er Jahre. 40 Der Begriff ‚Gesellschaftliche Totalität‘ ist selbst ein Bild (nicht lediglich eine Abstraktion), dessen Inhalt nicht restlos geklärt werden kann, kein ‚Wesen‘ hat, sondern, wie es Laclau/ Mouffe (1991) eindrucksvoll formuliert haben, lediglich ein Ergebnis “der relativen und prekären Formen der Fixierung [ist], die die Errichtung einer bestimmten Ordnung mit sich bringt.” (Ebenda: 114). In ähnlicher Weise hat schon Georg Simmel den prekären Charakter des Sozialen betont, der sich aus der Unmöglichkeit einer letzten Fixierung

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erscheinen, als ob mit jeder Wurzel der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung gebrochen

worden wäre. Damit wird der in einem fundamentalen Sinne stets metaphorische Charakter

der Rede von ‚Revolution‘, ‚Umbruch‘ und ähnlichen Parolen deutlich. Eine langfristige

Perspektive vermag die Kontinuitäten aufzuzeigen, die etwa die historischen Formen der

Monarchie in Ruanda zu den verschiedenen Zeitpunkten verbindet, ohne gewisse ihrer

Erscheinungsformen in die Vergangenheit zu projizieren oder ‚radikale Brüche‘ zu erfinden.

Das Gesagte gilt gleichermaßen für die koloniale und postkoloniale Periode.

Ein Anspruch der Arbeit besteht nun darin, daß eine solche Perspektive des Longue Durée

auf die ‚interethnischen Beziehungen’, die eine Rekonstruktion der strukturellen

Bedingungen (und Weichenstellungen) für das Bedeutendwerden von Ethnizität für die

Politik leistet, die Natur des inneren Zusammenhang dieser historischen ‚Stationen‘ erhellen

kann. Gewisse Anachronismen sind dabei allerdings kaum zu vermeiden. Eine Perspektive,

die nach Ethnizität, wenn auch in ihren historischen Wandlungen fragt, muß zwangsläufig in

Kauf nehmen, bei der Rekonstruktion und Bewertung der Beziehungen von einzelnen

Gruppen zueinander einen Gruppenbegriff bzw. Gruppengrenzen an historische

Bevölkerungen heranzutragen, die streng genommen in der fraglichen Periode so gar nicht

existierten.

Die gegenwärtige Literatur zu Ruanda kann selbst als eine Art Spiegel verstanden werden:

ein Spiegel der Dominanz der funktionalistischen Ethnographie in den Vierziger, Fünfziger

und Sechziger Jahren; der ‚Durchschlagskraft‘ und dem Erfolg der mit der Hamitentheorie

verbundenen rassistischen Denkungsart; der ruandesischen Revolution und ihrer

Auswirkungen; der Ereignisse in Burundi (namentlich der Genozid von 1972) und des

ruandesischen Völkermords von 1994. Die verständliche Tendenz in der Literatur – heute

mehr denn je – ist die Aneignung einer konstruktivistischen Perspektive und die Erhebung

von Ethnizität zum ‚Leitkonzept‘ der Forschung.

Häufig wird in einer Art Schadenfreude die Konzeptualisierung von Hutu und Tutsi als

ethnische Gruppen mit gängigen Theorien von Ethnizität gegengelesen und ‚bewiesen‘, daß

die Kategorien ‚Hutu‘ und ‚Tutsi‘ den meisten Definitionen derselben widersprechen. Oder es

wird auf die vielfach vorhandenen Durchbrechungen der ethnischen Kategorien (durch

Wechsel von einer Gruppe zur anderen; vgl. zb. Vidal 1995) oder auf die generelle

Vergleichbarkeit der Lebenssituation, des Lebensstils und Lebenschancen verwiesen,

welche ‚einfache‘ Hutu und Tutsi vor der Kolonialisierung und in deren Frühzeiteinten

(C.Newbury 1998). Es wird also entweder moniert, daß sich die ethnischen Kategorien (Erkenntnis) und Relationalität der die Gesellschaft konstituierenden Elemente ergibt (Simmel 1992 [1908]:

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keineswegs mit sozioökonomischen bzw. politischen Positionen decken oder es wird auf

gesellschaftliche und politische Institutionen und Praktiken hingewiesen (‚Joking

Relationship’ zwischen Personen unterschiedlicher ‚ethnischer’ Herkunft, die Konstruktion

einer vorkolonialen ruandesischen Identität durch Kriege gegen äußere Feinde), die ein

grundsätzlich harmonisches Verhältnis zwischen den beiden Gruppen in vorkolonialer Zeit

suggerieren wollen (Vgl. Goyvaerts 2000b: 158f; Muller 1995: passim). Das führt mitunter –

bei den beispielhaft zitierten Autoren zumindest in der Perspektivierung – zu einer

tendenziellen Überbewertung der kolonialen Situation mit der für sie typischen rassistischen

Überblendung und Verstärkung sozialstrukturell angelegter und politischer Konfliktlinien.

Diese Überbewertung der in der Kolonialperiode induzierten Transformationen der

ruandesischen Gesellschaft ist insofern verständlich, als sie gegen eine populäre ‚Histoire

Ressentiment‘ (Vidal 1995) der beiden Ethnien in der Historiographie zu Ruanda und

Burundi (und in einem weniger starken Ausmaß in der Literatur zu Ankole, Bunyoro, Toro

und zu anderen, stark stratifizierten Königtümern im Großen Seengebiet) gerichtet ist, die

einerseits die Analysen westlicher Medien durchzieht, andererseits zum dominanten

Geschichtsbild in Burundi und Ruanda selbst geworden ist.41 Von letzterem leiten sich

westliche Populärdarstellungen und das Medienbild ab, die von einem Gutteil der

Gebildeten, aber auch von europäischen ‚Expats’ – Experten, Missionare, Diplomaten –

getragen wird. Diese ‚Histoire Ressentiment‘ naturalisiert den ethnischen Antagonismus,

indem sie seine Entstehung in die Phase der (als zeitlich später postulierten ‚Ankunft’ der

’Tutsi’ - der sogenanten Pastoralisten42 - datiert und ihn somit als Resultat der Einwanderung

‚fremder‘ Gruppen, als Ergebnis des Zusammentreffens einer politisch und militärisch

weniger starken Bevölkerung mit fremden, martialischen Einwanderern sieht.

Häufiger erzeugen solche kursorischen historischen Momentaufnahmen, welche die

Variabilität von Ethnizität und die historische Instituierung des ethnischen

42ff). 41 und dazu gemacht wurde. Die auf Analogien mit der Entwicklung Frankreichs beruhende Völkerwanderungs-,Besiedelungs-,Invasions- und Entwicklungsgeschichte Burundis nach Msgr. J.Gorju (1938, ‚Face au royaume hamite du Ruanda, le royaume frère de l’Urundi‘), der darin seinerseits der Geschichte Ruandas. A. Pagès (1933, ‚Au Ruanda. Un royaume hamite au centre de l’Afrique) nachgeeifert hatte, fand über Unterrichtsmaterialen und Artikeln auf Kirundi in diversen Missionszeitschriften einen breiten Eingang sowohl ins intellektuelle Milieu als auch unter die Masse der Schulabgänger. Das darin transportierte Geschichtsbild erfuhr dadurch eine merkliche Verbreitung in der Bevölkerung. Die Betonung der Konfliktualität, die in der Perspektive auf Invasion und Eroberung schon angelegt war, wurde schließlich durch die turbulenten politischen Ereignisse (und ihre im politischen Diskurs nahegelegte Interpretation) akzentuiert. Der entscheidende Punkt ist freilich, daß die Bildungseliten in Burundi in Ermangelung neuerer Unterrichtsmaterialen und einer dementsprechenden Lehrerausbildung bis weit in die Unabhängigkeitsperiode, bisweilen – sofern ein Unterricht überhaupt stattfinden konnte – bis in die Gegenwart hinein mit aus den Dreißiger Jahren stammenden Geschichtsinterpretation aufgewachsen sind, die im merklichen Kontrast zu den seit den 60er Jahren differenzierten geschichtswissenschaftlichen Diskursen über Burundi (und Ruanda) steht und die in ihrer Breitenwirkung, gerade auch unter den politischen Eliten von Burundi und Ruanda selbst, geschichtsmächtiger ist als akademische Diskurse (Vgl. Chrétien 1997b: 16; Taylor 1999: 55). 42 Zu den Herkunfts- und Wanderungsdebatten vgl. unten Seite 51ff

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Kollektivitätskonstrukts bestenfalls streifen, aber für die Bewältigung aktueller Krisen gedacht

sind, ein Gefühl von Verwirrung und Ratlosigkeit, weil der Nachweis der Forcierung der

ethnischen Strukturierung (und Stratifikation) einer Gesellschaft und des damit einher

gehenden Geschichts- und Weltbildes diese Strukturierung selbst nicht aufheben und

delegitimieren kann. Dem Rezipienten wird zwar vielfach die Geschichte Ruandas als eine

Entwicklungsgeschichte erzählt, die mit einer kaum oder nur beschränkt ethnisch geprägten

Gesellschaft beginnt und die bei der Schilderung der rigid nach ethnischen Kriterien

stratifizierten Gesellschaft endet, ohne daß jedoch diesen Stratifizierungsprozeß und die

darauf aufbauende Natur der politischen Kämpfe näher theoretisiert wird (zb. Prunier 1995

und Taylor 1999). Dadurch gehen die qualitativen Sprünge im Prozeß der Ethnogenese43

und ihr je unterschiedlicher Kontext ebenso verloren wie die Erkenntnis der

Voraussetzungen der Herausbildung ethnischer Kollektivphantasien – die sich weder auf die

geistesgeschichtliche Kraft der kolonialen Ideologie beschränken, noch in den

zugegebenermaßenen einschneidenden Reformen der belgischen Kolonialmacht in den

Dreißiger Jahren erschöpfen kann.

Damit einher geht die nahezu universelle Behandlung der Ethnogenese als mit dem Ende

der kolonialen Periode bzw. der Hutu-Revolution (1959-61) abgeschlossen. Alles weitere

erscheint dann notwendigerweise als Aufbrechen jenes Antagonismus zwischen Hutu und

Tutsi, der in der kolonialen Periode gereift war. Die stillschweigende theoretische Sistierung

der Ethnogenese erweist sich damit als konzeptuell nicht sehr verschieden vom Bild der

‚atavistischen Stammeskämpfe‘ – dem Ausbrechen ‚uralter Feindschaften‘, das vielen

westlichen medialen Betrachtungsweisen zugrunde liegt. Aus dieser Nicht- oder

Untertheoretisierung der Ethnogenese in der postkolonialen Periode ergibt sich eine

kumulationsmodellhafte Begründung für den aktuellen ethnischen Antagonismus; eine

Begründung, der nur mehr metaphorisch (‚aufgestauter Haß‘...) oder in der Verschiebung der

Perspektive auf ‚Extremisten‘ beizukommen ist. Im anderen Fall bleiben die Perioden

zwischen der Hutu-Revolution bzw. den Massakern der und der Vertreibung weiterer

Zehntausender Tutsi 1964/65, den ‚ethnischen Unruhen‘ 1973 und dem Krisenjahr 1990

schlichtweg ein schwarzes Loch. Die Verbindung, die eine solche Position zwischen den

Ereignissen herstellt, geben sich – gewollt oder ungewollt – als selbstevident und daher als

quasi-natürliche aus. Ein Verständnis ethnischer Prozesse wird dadurch nicht erzielt,

vielmehr suggeriert.

43 Der Begriff Ethnogenese, so wie ich ihn verwende, bezeichnet einen Werdegang, nicht einen Entstehungsprozeß mit einem benennbarem (und/oder zwingendem) Anfang. Er kann gefaßt werden als einen Prozeß, der nicht notwendigerweise einen Anfang (im Sinne der Schöfpungsgeschichte) hat, vor dem nichts (keine ethnische Identität: nur Mensch) war.

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39

2..2 Kein unbeschriebenes Blatt: Die Entdeckung Ruandas

2.2.1 Der zeitgenössische Hintergrund

Zunächst lag Ruanda an der Peripherie einer Region, die das Objekt einer

phantasmatischen europäischen Begierde geworden war und in der man deren als

wichtigstes Element, die Quellen des Nils vermutete. In der ‚Frühzeit‘ dieser ‚geistigen‘

Aneignung waren es zumeist ruandafremde Informanten, die kaum in direkten Kontakt mit

Ruandesen getreten waren, geschweige denn das Gebiet betreten hatten (z.B. arabische

Händler oder andere Mittelsmänner), und oft, im Fall benachbarter Herrschaftsverbände

nicht unbedingt Interesse daran hatten, detaillierte und vor allem richtige Informationen an

europäische Reisenden weiterzuleiten (Honke 1990b: 84ff). Im Zuge der ‚Kolonisierung‘

Ruandas durch die Deutschen kam es jedoch zu einem intensiven ‚Dialog‘ zwischen

bestimmten einheimischen Gruppen und europäischen Forschern, Administratoren-Soldaten

und Missionaren. Ein Dialog, der wohl das Bild Ruandas – sowohl bezüglich seiner

Vergangenheit als auch seiner Gegenwart – entscheidend geformt und dennoch nicht

einfach ‚erfunden‘ hat.

Im Mittelpunkt dieses Bildes stand freilich das Königtum und die damit verbundene

gesellschaftliche Ordnung. Sie bot sich dem europäischen Beobachter als scheinbar klare

hierarchische Gliederung der Gesellschaft in drei Klassen/ Kasten/ Stände/ ‚Rassen‘/ Ethnien

dar (so die verschiedenen Bezeichnungen für das selbe Phänomen, die hier in

anachronistischer Weise aneinandergereiht sind): die herrschenden ‚aristokratischen‘und

hauptsächlich viehzüchtenden Tutsi, von denen man vermutete, daß sie als letzte in das

Große Seengebiet gekommen waren und nach und nach die Herrschaft an sich gerissen

hätten; die ihnen untergeordneten und hauptsächlich ackerbauernden44 Hutu; und zuletzt,

die allen untergeordnete, gesellschaftlich geächtete, und nur zum Teil integrierte Gruppe der

Twa, in der man die eigentlichen Ureinwohner Ruandas vermutete und die sich als Jäger

und Sammler, Töpfer, Hersteller von Eisen und als vielfältig eingesetzte ‚Getreue‘ des

Königs an dessen Hof verdingten45 (Maquet46 1961: 10; d’Hertefelt 1962: 16f). Diese Art

44 Unter Ackerbau verstehe ich hier und im folgenden (ähnlich wie die einschlägige Literatur zum großen Seengebiet) im weiten Sinn als Landwirtschaft im Gegensatz zu Viehwirtschaft, also die Bearbeitung von Feldern gleichermaßen wie die großflächige Nutzung von Bananenbäumen etc. 45 Im Gegensatz zu einer vielerorts praktizierten (z.B. Maquet 1961: 10, d’Hertefelt 1962: 17ff, Harroy 1984: 24f u.a.) naturalisierenden Perspektive wird bei genauerer Betrachtung deutlich, daß es sich bei den Twa um kein – der Implikation nach – ‚Urvolk‘ handelt, von dem nur ein Teil in die ruandesische Herrschaft- und Gesellschaftsstruktur integriert war, während ein anderer Teil in ‚selbstgewählter Autonomie‘ ihrem ‚traditionellen‘ Lebensunterterhalt (Jagd, Fischerei, Sammlerei) nachging. Vielmehr erweist sich die Gruppe als nachhaltig gesellschaftlich (re-)produziert. Den Twa war der Zugang zu Boden (Usufrukt gleichermaßen wie Besitz) verwehrt und sie lebten mit Erlaubnis der Besitzer auf den Gehöften von Hutu oder Tutsi, denen sie zu allerlei Dienste verpflichtet waren. (Kagabo/ Mudandagizi 1974: passim) Ihre ökonomische Nischenstellung als handwerkliche ‚Spezialisten‘, Jäger und Sammler ist somit ein typischer Fall erzwungener Spezialisierung, die

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von gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung evozierte bei europäischen Reisenden, später

auch anderen (Missionaren, Kolonialadministratoren etc.) immer wieder Analogien zu

Formen sozialer Organisation der europäischen Entwicklungsgeschichte. Diese waren

Ausdruck der Faszination, die von den zwischen ihnen gesehenen Ähnlichkeiten ausgelöst

wurde: die ‚Ähnlichkeit‘ des sakralen Königtums zum ägyptischen Pharaonismus, wenn man

an die religiöse Überhöhung des Königs dachte, oder zum europäischen Mittelalter

(Feudalismus), wenn man von der hierarchischen mit gewissen Tätigkeiten und politischen

Funktionen verbundenen Ordnung der drei gesellschaftlichen Gruppen sprach. Letztere

Charakterisierung erwies sich als besonders langlebig und dominierte die Diskussion speziell

unter Anthropologen bis hinein in die Gegenwart47. Zugleich waren die so gemachten

durch soziale Stigmatisierung der ganzen Gruppe (durch rassistische Stereotypen) oder ihrer Tätigkeiten und Lebensweise (das auf der Jagd gewonnene Fleisch zu essen galt für die meisten als verabscheuungswürdig (d’Hertefelt 1962:27), ebenso der Verzehr von Schaffleisch (Kagabo/ Mudandagizi 1974: 77)) abgestützt wurde. Ganz im Gegensatz dazu, den marginalisierten Rest einer urtümlichen (und ursprünglichen) Jäger- und Sammlergesellschaft zu sein, bildeten die Twa in Ruanda und Burundi – und nicht nur sie, sondern ebenso die sogenannten Pygmäen in der Ituri Region des Kongo so etwas wie eine regionale Klasse, die sich durch die spezifische, nämlich unterordnende Integration in eine gesellschaftliche Struktur auszeichnete und durch diese als gesellschaftliche Kategorie wesentlich erst hervorgebracht wurde. 46 Es ist bezeichnend, daß die klassischen Eigenschaftszuschreibungen für die drei Großgruppen aus den fünfziger und sechziger Jahren stammen. Das Werk des Soziologen/ Anthropologen Jacques Jêrome Maquet (1954, in leicht veränderter englischer Fassung 1961), dessen Typologisierung der drei Gruppen hier als Grundlage dient, ist ein beredtes Beispiel für die komplexe Herausbildung eines Diskurses über Ruanda als Projektion eines fragwürdigen Bildes der Gegenwart in die Vergangenheit und umgekehrt. Anfang der fünfziger Jahren unter ausschließlicher Einbeziehung von ‚Herrschaftswissen‘ über Ruanda geschrieben und recherchiert, versuchte es ein möglichst widerspruchsloses und konsistentes Bild der Gesellschaft zu zeichnen. Es folgte darin dem vorherrschenden funktionalistischem Paradigma der Zeit und legte dementsprechend besonderes Augenmerk auf die ‚Kohäsion’ einer als fundamental ungleich erkannten Gesellschaft . Das Resultat war naturgemäß ein extrem verzerrtes (nämlich homogenisiertes) und entsprach dem, wie zum einen Maquet und zum anderen dessen 300 Tutsi Informanten von überwiegend hoher sozialer Stellung (Maquet 1961: 2-3) Ruanda gerne sahen, was auch die pseudoquantitative Methodologie der Studie nicht verhindern konnte. Demgegenüber erweisen sich die Aussagen einiger früher ‚Beobachter‘ (etwa jene der Offiziere der dt. Militäradministration) als weitaus komplexer, weil ihren Berichten (über bestimmte Vorfälle u.a.) sehr oft ein solcher systematisierende (und homogenisierende) Zugang fehlt. Der ‚rassistische Blick‘ scheint nur in bestimmten Kontexten wirksam geworden zu sein – etwa bei der Beschreibung der ‚griechisch‘ oder ‚römisch‘ anmutenden Gestalt der Tutsi am Königshof, oder im Zusammenhang mit den mit der Aufnahme diverser mythologischer Erzählungen verbundenen Spekulationen über den ‚wahren‘ Grund der Gründungsmythen, in deren Zentrum freilich die distinkte Herkunft der Tutsi stand. (Vgl. Chrétien 1999 passim; sowie Servaes 1990, besonders pp.102-105) 47 Die Apostrophierung von Königtümern im Zwischenseengebieten als feudal knüpft an die vielfältigen Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb der monarchischen Eliten sowie zwischen den Eliten und anderen Bevölkerungsteilen an, die an die Lehensbeziehungen zwischen Herren und Vassallen im europäischen Mittelalter gemahnen. Der Vergleich ist daher in gewisser Weise verständlich und berechtigt. Zugleich zeichnet sich der europäische Feudalismus im weiteren Sinn (einer Reihe von historischen Transformationen in Europa zwischen dem 9. und dem 13.Jh und als historisch spezifisches Herrschaftsmodell) durch ein Rearrangement von Machtbeziehungen aus, die in der Folge des Zusammenbruchs großer zentralisierter Reiche stattgefunden haben. Im Verlauf des Desintegrationsprozesses der großen Reiche konnte sich der König als mächtigster einer Gruppe von ‚Herren‘ behaupten. Dessen Erstarkung führte mittelfristig zu einer Rezentralisierung der dezentralisierten Ordnung. In diesem Sinn handelt es sich um einen historisch spezifischen Begriff für eine spezifische Entwicklung in Europa, die als Periodisierung einer spezifischen und geographischen Epoche grundsätzlich nicht auf andere Gesellschaften übertragen werden kann. In Ruanda und in anderen Königtümern des Großen Seengebietes stellte die Schaffung von Klientelbeziehungen zwischen verschiedenen Gruppen (bzw. ihren Eliten) eines der wichtigsten Modi der Staatsbildung dar. Die Aufmerksamkeit von Anthropologen richtete sich dabei lange Zeit auf postulierte Kausalitätsbeziehugen zwischen den Formen und dem Ausmaß von Abhängigkeitsbeziehungen und politischen Institutionen bzw. den Funktionen von Klientelbeziehungen für das politisches System. In den Sechziger Jahren fand der Terminus,

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Analogien zu vergangenen europäischen Vorbildern Ausdruck eines Entwicklungsdenkens,

das diese in Afrika vorgefunden ‚früheren’ Stufen der Entwicklung – mit nostalgischem Blick

– als Europa unwiederbringlich vergangen kategorisierte.

Erhöht wurde das Interesse an Ruanda noch durch eine postulierte ‚hamitische‘ Herkunft der

‚aristokratischen‘ Tutsi. Das Postulat der hamitischen Herkunft der Tutsi stellt dabei eine

wirkungsvolle Transformation einer älteren Version der Hamitentheorie im 19.Jh48 dar und

legte eine besondere (‚rassische‘) Nähe eben dieser 'Herrscherschicht' zu den Europäern

qua Zugehörigkeit zur ‚kaukasischen Rasse‘ nahe. Die rassistische Lesart des

Vorgefundenen war freilich wenig überraschend. Die Kategorie der ‚Rasse‘ gehörte zu den

gemeinhin akzeptierten wissenschaftlichen Grundbegriffen des ausgehenden 19. und der

ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in den Naturwissenschaften gleichermaßen wie in den

Geisteswissenschaften. Nicht nur war ‚Rasse‘ als Begriff akzeptiert oder wurde

stillschweigend vorausgesetzt. Die Kategorie diente als Brücke, um soziale Begebenheiten

zu naturalisieren. Phänotypische Merkmale wurden mit charakterlichen und psychischen

Eigenschaften in Verbindung gesetzt (Vgl. Gilman 1994, Kap.1), die selbst wieder als

persistente und wenig veränderliche Eigenschaften gedacht wurden. So beschränkten sich

die Analogien, die man in bezug auf Ruanda machte, nicht auf institutionelle Arrangements

reformuliert durch eine Gruppe von französischen Marxisten (Roger Botte, Claudine Vidal, Georges Balandier u.a.), erneut Eingang in die Diskussion und zwar als Charakterisierung einer Produktionsweise, deren spezifisches Arrangement die ideologische und politische Kontrolle einer Klasse von ‚Feudalherren‘ über Land und Arbeitskraft ist. In diesem Sinn verwendet auch diese Arbeit gelegentlich Begriffe aus dem Kontext der Feudalismusdisskussion (Vgl. Linden 1977: vii-x, Botte et al. 1969 passim). 48 Der Mythos geht auf die Erwähnung des Fluchs Noahs gegen Ham, seinen jüngsten Sohn, im AT Genesis 5, 22-29, zurück. Ham hatte die Blöße seines Vaters gesehen, ohne sie zu bedecken. Seine beiden anderen Brüder, Sem und Japhet, eilten dagegen herbei, um die Nacktheit ihres Vaters zu verdecken. Ham (der Vater Canaans, wie es in der Bibel heißt) und seine Nachkommen wurden daraufhin von Noah verflucht. Erst später, seit dem babylonischen Talmud (ungefähr 5.Jh n.Chr.), wurden die Söhne Hams generell mit Schwarzen und mit bestimmten (negativ bewerteten) physiognomischen und charakterlichen Eigenschaften verbunden. Während des Mittelalters, fand der Mythos Eingang in das christliche Denken, und verbreitete sich mit der Ausweitung der Sklaverei im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Spätestens ab dem 16. Jh nahm der Hamitenmythos einen festen Platz im Diskurs über Afrikaner ein. In der Aufklärung kam er jedoch in der Debatte um die Einheit der Menschheit (der Hamitenmythos implizierte, daß seine Nachkommen jedenfalls als 'Brüder' im Menschengeschlecht zu werten seien) unter Druck. Im Zuge der auf den Ägyptenfeldzug Napoleons folgenden Debatten um die Herkunft und die Natur der alten Ägypter kam es (über eine spitzfindige Differenzierung zwischen den Söhnen Hams) zu einer Reformulierung, in deren Konsequenz die Ägypter als gleichzeitig der 'kaukasischen' Rasse angehörig und als Söhne Hams konzeptualisiert werden konnten. Die damals noch junge historische Sprachwissenschaft schien diese, durch anthropologische 'Fakten' untermauerten Vermutungen mit der Erkenntnis der Verwandtschaft des Koptischen und diverser anderer nordafrikanischer Sprachen mit dem Arabischen und Hebräischen zu bestätigen. Der Afrikareisende John Hanning Speke (in seinem 'Journal of the Discovery of the Source of the Nile', Edinburgh 1863) bahnte den Weg für künftige Interpretationen der Königreiche des Großen Seengebiets, als er - von Buganda sprechend – die seines Erachtens bemerkenswerten zivilisatorischen ‚Leistungen‘ Bugandas hamitischen Galla Pastoralististen attribuierte, die irgendwann in grauer Vorzeit vom Norden her eingewandert sein sollen. Diese Hamiten hätten, dank ihrer Zugehörigkeit zur überlegenen Rasse der Kaukasier, als Träger und Überbringer von Kultur und Zivilisation in Afrika gewirkt, während zugleich ihre Mittlerstellung zum Europäer durch elaborierte Klassifizierung und Hierarchisierung eben dieser ‚Rasse' festgeschrieben wurde. Zur linguistischen und rassischen Identität der Hamiten trat damit auch noch eine weitere ‚kulturellen‘ Charakters, nämlich der Pastoralismus. Vom 'echten Neger' nahm man dagegen an, daß er seinen 'natürlichen' Broterwerb durch Landwirtschaft nachgehe. (nach Sanders 1969: 521-532)

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vergangener ‚heroischer‘ Epochen, sondern wurde den Körpern der als hamitisch

apostrophierten und hypostasierten ‚aristokratischen‘ Pastoralisten eingeschrieben: Ne voit-on pas des crânes caucasiques, des profils admirablement grecs, à côté de figures

sémites et même juives très prononcées, et enfin de vraies beautés à figure rouge-dorée au

milieu du Rwanda et de l’Urundi? (van der Burgt49, zitiert nach Mworoha 1977: 25)

Oder Gustav Adolf Graf von Götzen, den langjährigen ruandesischen Potentaten Rwabugiri

(gest.1895) beschreibend: Luabugiri (sic) und seine nächsten Verwandten sind sicherlich den größten Menschen

zuzuzählen, die es unter der Sonne gibt, und würden, nach Europa gebracht,

außerordentliches Aufsehen erregen (..) Luabugiris Gesichtszüge waren von eigentümlicher

Schönheit. Um die Stirn trug er einen Kranz von grünen Blättern, und sein sinnlich blickendes

Auge sowie ein grausamer, um den Mund spielender Zug erinnerte unwillkürlich an die Köpfe

gewisser römischer Caesaren (Von Götzen50 zitiert nach Bindseil 1992: 61).

Eine ähnliche Vorstellung wie von den charakterlichen und psychischen Eigenschaften einer

Rasse hatte man von ihren Kulturtechniken, verstanden als materieller Ausfluß von Kultur,

die als ‚wesenhafte‘ Eigenschaften den verschiedenen Gruppen anhaftete, gleich wie ihre

rassische Zugehörigkeit, ihre psychische Neigungen und ihre Charaktereigenschaften. Der

Sprachwissenschaft kam dabei in der ‚Völkerkunde‘ Afrikas eine herausragende Stellung zu.

Ähnlich wie andere Wissenschaften, die Medizin, die Biologie u.a. ihre respektiven

Gegenstände auffaßten, wurde Sprache als essentielles Gut, als quasi biologisches Merkmal

einer Gruppe verstanden, Sprache und Sprecher-in-der-Gruppe: das Volk daher als

deckungsgleich postuliert. Angewandt auf der nächst höheren Ebene bedeutete dieses

Prinzip, daß man über die Klassifizierung und historischen Spekulation über die Natur und

Genese der Sprachgruppen zu Aussagen über die Völkergruppen kommen könne. So,

indem sie Sprachgruppen identifizierte und klassifizierte und über ihre ‚Geschichte‘

spekulierte, avancierte die Sprachwissenschaft zu einer Leitwissenschaft der Rassenkunde

des späten 19.Jh. Die afrikanistische Sprachwissenschaft folgte dabei dem Vorbild der

Indogermanistik, und das historische Modell, auf dem immer wieder rekurriert wurde und

mitunter ähnlichen Entwürfen in der Afrikanistik Pate stand, war jenes der germanischen

Völkerwanderung. Die Erforschung der Sprachen Afrikas stellte somit gleichzeitig eine

Suche nach den Spuren von Völkerwanderungen51 dar – gemäß ihrem europäischen Vorbild

49 Père van der Burgt (o.J): Dictionnaire francais-Kirundi, p.LXXV 50 Gustav Adolf Graf von Götzen (1895): Durch Afrika von Ost nach West. Resultate und Begebenheiten einer Reise von der Deutsch-Ostafrikanischen Küste bis zur Kongomündung 1893/94 Berlin: 188 51 Der - wenn auch – ehrenvolle Verweis auf den lediglich ‚linguistisch’ zu verstehenden Charakter von Sprachbezeichnungen (so etwa die Polemik bei Goyvaerts 2000a) geht an der Geschichte von Begriffen wie Niloten, Bantu etc. vorbei, die stets auch Gruppen von Menschen meinten.

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– sowie das Aufspüren der ‚Herkunft‘ von Kulturtechniken und sozialen Organisationsweisen,

deren lokale Genese man nicht für möglich hielt und für die man daher fremde Einflüsse

geltend machte. Das Migrations- und damit einhergehende kulturelle Diffusionsschema, das

vor dem Hintergrund einer hierarchisch gedachten Rassensystematik zu sehen ist, bildete

den Rahmen, in dem die vorkolonialen Staaten und Gesellschaften des Großen

Seengebietes erfahren wurden.

2.2.2.Fixierungen

Mit Beginn der kolonialen Landnahme begann schrittweise die systematische Aufnahme

historischer, sozialer und kultureller Daten durch Spezialisten (v.a. Ethnologen und

Geographen) und informierte Amateurethnologen/-historiker (allen voran Missionare). Der

qualitative Unterschied der schriftlich fixierten und im gleichen Zug meist auch in jeweils

gewissen Hinsichten kommentierten und interpretierten oralen Daten zu früheren Formen der

Überlieferung darf nicht unterschätzt werden. Der Kreis der ‚Datensammler‘ war freilich nicht

nur auf europäische Akteure beschränkt. Schon früh traten europäisch gebildete Afrikaner

hinzu. In Ruanda ist es besonders ein Name, der für diese, das Verständnis der indigenen

Gesellschaften entscheidend prägenden einheimischen Eliten steht, nämlich Alexis Kagame

(1912-1981). Katholischer Priester, aus einer professionell mit der Überlieferung historischer

Oratur betrauter Familie stammend (‚Abiru‘), machte er mit seinen kurz vor dem zweiten

Weltkrieg beginnenden Forschungen den größten Teil oraler (Hof-) Literatur erstmals

zugänglich, kommentierte diese und verfaßte diverse historische Monographien. Sein extrem

einflußreiches Gesamtwerk ist geprägt durch eine subtil tendenziöse Perspektive, die die

Geschichte Ruandas im allgemeinen als eine zeichnet, in der ‚die’ Tutsi das dynamische

Element darstellen. Viele seiner subtileren, aber nichtsdestotrotz tendenziösen Folgerungen

wurden von späteren Historikern übernommen und trugen dazu bei, die Monarchie ‚ethnisch‘

seit Beginn der durch die oralen Quellen abgedeckten Periode mit den Tutsi zu verbinden,

obwohl deren ideologische und institutionelle Grundlagen trotzdem gleichzeitig als von

Bantu-Herkunft betrachtet wurden. Weit entfernt, allein ein Resultat der europäischen

Durchdringung zu sein, ist eine derartige Perspektivierung oraler Quellen ein Resultat der

kolonialen Situation als solcher (Twaddle 1975, passim).

Einen ebenso großen Stellenwert in der ‚Manipulation‘ von Geschichte wie die

angesprochene subtile Aufzeichnung-cum-Interpretation hat eine Perspektivierung, die durch

das Vorhandsein von oralen Quelle für einen eingegrenzten, als kontinuierlich gedachten

historischen Kernbereich vorgenommen wird. Im Gegensatz zu der oft stillschweigend

gemachten Annahme, daß das Vorhandensein oraler Überlieferungen einerseits Auskunft

über die historische Bedeutung eines staatlichen Gebildes gäbe und andererseits die

prinzipielle Kontinuität des betreffenden Königtums unterstreiche, weist eine so reichlich

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vorhandene orale Literatur wie in Ruanda vor allem auf die ideologische Bedeutung oraler,

von Spezialisten (den Abiru) getragener Literatur, wenn es darum geht, Legitimität durch

Bezug auf Vorläuferstaaten und -dynastien, mythischen Heroen etc. zu erzielen. (ebenda:

180) Zudem kann das Fehlen von Quellen für in den Traditionen nicht vorkommenden

Kategorien (Tutsi, Hutu, Twa etc.) nicht durch - meist sehr zweifelhafte – Umdeutungen des

oralen Materials wettgemacht werden.

Das aus dem Prozeß der Verschriftlichung und bestimmter Versionen der Geschichte und

der Gegenwart entstandene spezifische ‚Macht-Wissen‘ (Vgl. Marx 1997: 51, sich auf

Foucault beziehend) war somit kein unschuldiges, positives Faktenwissen, sondern zu einem

Gutteil Resultat historischer Spekulation und Interpretation und führte seinerseits zu einer

neuen Form und neuen Qualität der aus diesem Wissen generierten ‚Mythico-Histoire‘ der

betroffenen Gesellschaften selbst. (Malkkii 1995, Kap.2). Zum einen wurde ‚Geschichte‘ so

zu einem bevorzugten Terrain, auf dem soziale Kämpfe ausgetragen wurden, zum anderen

wurde sie zu einer Ressource, mit der der gesellschaftliche Status quo nicht nur erklärt,

sondern auch gerechtfertigt werden konnte. Gleichgültig ob legendäre oder historisch

gesicherte Ereignisse aufgenommen wurden, waren die im Kontext subtiler, aber

wirkmächtiger Verschiebungen52 entstehenden historischen Geschichten und Erzählungen

52 Gemeint ist der gewöhnlich mit dem Beginn der kolonialen Landnahme bzw. ihrem kräftigsten legalo-politischem Ausdruck, der Berliner Kongo Konferenz (1884-85) einsetzende Prozeß, in der Literatur meist Imperialismus genannt (um ihn von früheren Kolonialismen und dem seit dem Beginn der Neuzeit feststellbaren Expansionsprozeß abzugrenzen). Mehr als nur eine einfache nominelle oder effektive Ausdehnung des Herrschaftsbereich einer eingeschränkten Anzahl europäischer Staaten, und über die so erzielte Einbindung in die Weltwirtschaft hinaus, verursachte die Integration in eine Vielzahl neuer Zusammenhänge eine Vielzahl von Verschiebungen im politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen, intellektuellen usw. Terrain. Dieser Aspekt erklärt die weit auseinanderlaufenden Einschätzungen bezüglich der Auswirkungen des Kolonialismus in der Literatur. Die ‚Auswirkungen‘ und die ‚Spürbarkeit‘ des Kolonialismus lassen sich dann auch nicht an der Zahl europäischer Kolonialeliten (Missionare und Kolonialbeamte) vor Ort ablesen. (1914 betrug die Zahl der Europäer in Ruanda 96 Personen; vgl. Servaes 1990: 101; davon waren allein die Hälfte katholische Missionare, vgl. Mbonimana/Ntezimana 1990: 138; Des Forges 1969: 186; dazu kamen noch einige Protestanten der Bethelmission und lediglich 5 deutsche Beamte!; im Gegensatz dazu – die deutsche Kolonialherrschaft glich mehr einer militärischen Okkupation denn einer zivilen Administration – wuchs in der belgischen Periode sowohl die Anzahl der Verwaltungsbeamten/ Militärs, als auch das zivile Personal – Lehrer, medizinisches Personal, Landwirtschaftsexperten etc.; dazu kamen noch einige Siedler). Man kann den Einfluß des Kolonialismus auch nicht einfach an den Aus- und Einfuhren (als Indikator für die Einbindung in die Weltwirtschaft) oder sonstigen Maßzahlen ablesen. Die Bedeutung der durch den Kolonialismus des späten 19.Jh induzierten Verschiebungen kann damit nicht einfach auf einen leicht objektivierbaren Kern reduziert werden und stellt sich je nach Perspektive anders dar. Vgl. dazu den Aufsatz von Nolte 1999, der, obgleich anderes zum Thema (den Zusammenhang von Europäischer Expansion und Durchsetzung der Moderne) durchaus ähnlich argumentiert, sowie Bley 1999, der auf die komplexe innergesellschaftliche Verarbeitung solcher Horizontverschiebungen hinweist.Vgl auch Brandstetter 1997 zu einem allgemeinen Literaturüberblick über zur Debatte über die Interpretation und Bewertung des Kolonialismus in Afrika sowie zu unterschiedlichen Positionen Herbst 2000: 58-96, der eine fokussierte Betrachtung der relativen administrativen Schwäche des Kolonialstaates und seiner dadurch beschränkten Autonomie hinsichtlich externer Faktoren (Geographie, Ökonomie...) leistet; Young 1994 passim, der die nichtsdestotrotz gegenüber den beschränkten Ressourcen relativ große Durchsetzungskraft des Kolonialstaates zum Inhalt hat sowie Mamdani 1996 passim, der den Kolonialismus als kulturelles Projekt der Hegemonie beschreibt. Zu einer Übersichtsdarstellung des Kolonialismus (beider Phasen) vgl. Osterhammel 1995.

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im Kern um Ordnung in einem grundsätzlichem, kosmologischen Sinn bemüht. (Vgl.

ebenda: 55) Je nachdem, wie das Material einer Geschichte gelesen wurde, was darin

gesehen werden wollte/ sollte entstanden dementsprechend unterschiedliche Versionen und

Deutungen. Der Gehalt der Geschichten variierte darum durchaus mit der Herkunft/

Verortung der Erzähler.

Es ist wichtig zu betonen, daß diese Verschiebungen in der Geschichtsinterpretation

durchaus auf vorhandenes ‚Material’, auf Strukturen und Phänomene aufbauten, die ihre

Umdeutung, ihre Rekategorisierung innerhalb dominanter westlicher Klassifikationsschemata

möglich machten. Durch die Eingliederung in einen größeren Bedeutungsrahmen (der

‚Weltgesellschaft‘), durch die Rekontextualisierung historischer oraler Texte erstens durch

europäische geschichtsphilosophische Vorstellungen, die zum einen ein lineares,

evolutionistisches Geschichtsmodell an das Material anlegten, welches die traditionellen,

eher zyklischen Vorstellungen, die man sich in Ruanda von ‚Geschichte‘ machte ablöste (vgl.

zum letzeren Vansina 1962: 39f), und zum anderen spezifische Vorstellungen von Kultur und

Rasse mit sich brachten (die Migrations- und Diffusionsschemata etc.), sowie zweitens und

nicht zuletzt durch die politischen und gesellschaftlichen Transformationen – die nicht erst

mit dem Kolonialismus begannen – veränderte sich das Geschichtsverständnis

nachdrücklich. Mit der Zuspitzung der sozialen Ungleichheit zwischen ‚Aristokraten‘ – den

Chiefs und Subchiefs – einerseits und der einfachen Bevölkerung andererseits, und einer

damit einhergehenden aber nicht deckungsgleichen Ungleichstellung von ‚Ackerbauern‘

gegenüber ‚Pastoralisten‘ erlangte eine Interpretation nach ethnischen53 Kriterien eine

immer größere Bedeutung.

53 Das grundsätzliche Problem, und darauf wird noch öfter zurückzukommen sein, ist ein allgemein historiographisches, das in der nicht wirklich auflösbaren Opposition von Strukturgeschichte versus ‚Ereignisgeschichte‘ verborgen liegt. Das Aufspüren von langfristigen strukturellen Entwicklungen birgt immer die Gefahr in sich, Anachronismen zu unterliegen und die Geschichte einer kurzen Periode mit einem Begriffsapparat zu beleuchten, der für die je zeitgenössischen Gesellschaften selbst keinerlei oder nur beschränkte, jedenfalls aber eine andere Bedeutung hatte. Dieses Problem läßt sich auch durch den Marx’schen Kunstgriff des falschen Bewußtseins, also der Unterscheidung der ‚Klasse für sich‘ und ‚Klasse an sich‘ , die erst in einem reifen Stadium der kapitalistischen Entwicklung obsolet werde (weil dann die Klasse als Klasse ‚zu sich findet‘), nicht lösen. Bearbeitbar wird das Problem nur, wenn man die verwendeten Begriffe radikal historisiert, damit kontextualisiert und somit die transhistorische Identität der unter einer Kategorie gefaßten historischen Akteure relativiert und aufbricht. Genausowenig wie eine Geschichte der Klassenkämpfe von den Anfängen der westlichen Gesellschaften mit einem Klassenbegriff zu schreiben ist, der seine Entstehung einer historischen gesellschaftlichen Konstellation des 19.Jh. verdankt, ist eine Geschichte der ethnischen Beziehungen mit einem ideengeschichtlich auf die Kategorie ‚Rasse‘ (also dem Postulat der dem Körper eingeschriebenen substantiellen Identität; vgl. Friedman 1992: 839) zurückgehenden Ethnizitätsbegriff zu fassen.

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2.2.3 Frühe Kontakte

Der erste Europäer, der sich auf der Suche nach den ‚Mondbergen‘ (das Ruwenzori-Massiv),

an denen man nach dem antiken Geographen Ptolemäus (100 – ca.160 n.Chr.) die Quellen

des Nil vermutete, Ruanda näherte, war der britische Afrikareisende John Hanning Speke

(1827-1864). Auf seinem Weg zum nördlichen Ufer des Viktoriasees passierte er das

östliche Nachbarland Ruandas, Karagwe, wo er von arabischen Händlern und dem Mukama

(König) von Karagwe, Rumanyika, wunderliche Geschichten über das geheimnisvolle Land

erhielt. Deren nüchterne Essenz bestand in der Aussage, Fremde seien nicht erwünscht

(Vgl. Honke 1990b: 83; Marx 1997: 61). Von größerer Tragweite jedoch als die, von Speke

selbst nicht unbedingt akzeptierten und nur nebenbei erwähnten Wundergeschichten über

Ruanda, erwies sich seine Adaptierung der Hamitentheorie für die Königreiche des Großen

Seengebiets (Vgl. FN 48).

Der nächste Europäer, der mehr über Ruanda erfahren konnte (und wollte) war der

amerikanische Journalist und Reisende Henry Morton Stanley. Er hatte sich 1876 im Zuge

seiner Reise nach Buganda in Karagwe aufgehalten und erfuhr dort von den

Eroberungskriegen Ruandas, der selbstgewählten Abgeschlossenheit gegenüber den

Arabern bzw. Fremden überhaupt und von der fremden Herkunft der Herrscher. Laut den

Informationen eines arabischen Elfenbein- und Sklavenhändlers, sollten diese “Abkömmlinge

eines hellfarbigen, möglicherweise arabischen Volksstammes sein.” (Stanley54, zitiert nach

Honke 1990b: 84). Jahre später, anläßlich der Mission zur Auffindung des verschollen

geglaubten ‚Gouverneurs‘ der anglo-äyptischen sudanesischen Provinz Equatoria, Emin

Pascha (eigentlich Eduard Schnitzer), wurde ihm die ‚rassisch‘ und geographisch von den

übrigen Bewohnern Ruandas verschiedene Herkunft der Herrscherschicht noch einmal

bestätigt und auf die unendlich scheinende Macht und Kriegslust des Königtums

hingewiesen (ebenda55). Die unter dem interessierten Publikum extrem einflußreichen und

kommerziell höchst erfolgreichen Schriften der beiden Reisenden Stanley und Speke gaben

so den Rahmen für spätere Behandlungen vor, in denen als zentraler, wesentlicher Kern von

‚Ruandazität‘ eines immer wieder kehrt, nämlich die Schilderung einesmächtigen, in seiner

elaborierten Struktur als völlig ‚unafrikanisch‘ erlebten Königtums einerseits und, damit

einhergehend, die ‚rassische‘ Verschiedenheit der herrschenden Schicht von der übrigen

afrikanischen Bevölkerung. Für spätere (‚Vorbei‘-) Reisende (Oscar Bauman, Franz

Stuhlmann und Emin Pascha, Gustav Adolf Graf von Götzen u.a.) blieb diese Fixierung

bestimmend. 54 in seinem Werk “Durch den dunklen Welttheil oder Die Quellen des Nils, Reisen um die großen Seen des äquatorialen Africas” Leipzig, London 1878: Bd.1, pp.494ff

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Je enger die Kontakte wurden, desto ambivalenter wurde der Umgang mit dem Bild, das

man sich von Ruanda machte. Schon Gustav Adolf Graf von Götzen, der spätere

Gouverneur von Deutsch-Ostafrika (1901-1906), der 1894 Ruanda durchquerte, bemerkte,

daß vieles, was über Ruanda, und speziell über seinen ‚mächtigen Potentaten‘ Luabugiri56

(sic) erzählt wurde, “zum großen Theil groteske Erzählungen” waren, die sich als

“phantastische Gebilde erwiesen” (Von Götzen57 zitiert nach Honke 1990b: 89). Trotz der

widersprüchlichen Eindrücke von der tatsächlichen Macht des Königs hielt von Götzen aber

an dem schon durch frühere Reisende artikulierte und außerhalb Ruandas ihm von Händlern

präsentierte Bild des mächtigen und straff organisierten Königreiches fest, ein Glauben wozu

unter anderem wohl eine der Karawane von Götzens von Rwabugiri gestellte eindrucksvolle

Eskorte von (Tutsi) Kriegern beigetragen haben mochte (ebenda; Kabagema 1993: 12;

Bindseil 1992: 67). Entsprechend der auf seiner Reise gemachten Erfahrungen versuchte

von Götzen dann auch in seinem in Buchform veröffentlichen Bericht der Durchquerung

Afrikas, das es in kommerzieller Hinsicht mit anderen Titeln der Reiseliteratur durchaus

aufnehmen konnte, die Geschichte des Landes seit der Einwanderung der ‚hamitischen

Völker’, mit anderen Worten, die Geschichte des Landes als Geschichte des ‚hamitischen’

Königtums – das er als das eigentliche Kriterium für Historizität ansah – zu rekonstruieren,

ein Unterfangen, bei dem er die auftretenden Schwierigkeiten hauptsächlich dem

‚mangelnden Zeitgefühl’ der Banyarwanda zuschrieb (Kabagema 1993: 25).

Komplementär zur Beschreibung der ruandesischen Monarchie als relativ gefestigt,

zentralisiert und in elaborierter Weise administriert, wurden die Subjekte und Objekte von

Herrschaft in Ruanda weniger im sozialen Zusammenhang von Macht und Herrschaft

interpretiert, als in den Kontext von Rasse und ‚Charaktereigenschaften’ gestellt. Die

naturalisierende Perzeption ließ die herrschende Klasse, ganz im Sinne der Hamitentheorie,

als von Natur aus zur Herrschaft befähigt und ‚intelligent’ und die Beherrschten, als von

Natur aus unterwürfig, furchtsam und kognitiv unterlegen erscheinen. Phänotyp,

zugeschriebene persönliche Charaktereigenschaften, soziale Stellung und Wirtschafts- bzw.

Lebensweise überhaupt wurden in diesen frühen Darstellungen der ethno-sozialen Gruppen

miteinander assimiliert und zu heute befremdlich wirkenden Kategorisierungen verdichtet,

die, wenn auch nicht in der gleichen Breite, bis heute nachwirken. In einer kurzen

Bemerkung zur Herrschaftsstruktur des Landes durch den deutschen Offizier Leutnant

55 Stanley berichtet darüber in seinem “Im dunkelsten Afrika. Aufsuchung, Rettung und Rückzug Emin Pascha’s, Gouverneurs der Äquatorialprovinz” Leipzig 1890: Bd.2, p.314 56 nach heutiger Ortographie: Rwabugiri, im vollen Namen Kigeri IV Rwabugiri, Regierungszeit ca. 1860 - 1895 57 Gustav Adolf Graf von Götzen (1895): Durch Afrika von Ost nach West. Resultate und Begebenheiten einer Reise von der Deutsch-Ostafrikanischen Küste bis zur Kongomündung 1893/94 Berlin: p.188

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Fonck, einen Teilnehmer der Expedition Hauptmann Ramsays 1897, die die Landnahme

Ruandas, wenn nicht praktisch, so doch formal einleitete, steht die Beschreibung politischer

und soziales Verhältnisse unvermittelt neben der physischen Charakterisierung der

‚Herrscherklasse’ : Die Watussi haben alle Gewalt in Händen, während die Wahutu ziemlich rechtlos sind und so

gut wie keinen eigenen Besitz haben. Alles Eigentum gehört dem Landesherrscher, welcher

seinen Untertanen die Viehherden zur Nutzung überläßt. Die Watussi haben vielfach kaum

etwas Negerhaftes an sich und man trifft nicht selten geradezu schöne Leute unter ihnen an.

(Fonck58 zitiert nach Kabagema 1993: 26f)

In der Schilderung einer seiner frühen Begegnungen mit Hutu-Bauern in Zentralruanda

während seiner ersten Reise durch Ruanda 1898 durch den späteren Residenten Richard

Kandt wird implizit auf die Unterwürfigkeit der Hutu gegenüber den Tutsi und ihrer scheinbar

völligen Unbedarftheit hinsichtlich der ‚despotischen’ Herrschaftssituation Bezug genommen: Die Bahutu benehmen sich recht sonderbar. In Gegenwart ihrer Herren ernst und reserviert

und unseren Fragen ausweichend; sobald aber die Watussi unserem Lager den Rücken

gekehrt haben und wir mit Ihnen (sic) allein sind, erzählen sie bereitwillig fast alles, was wir

wünschen und vieles, was ich nicht wünsche, denn ich kann den zahlreichen Mißständen,

über die sie klagen, ihrer Rechtlosigkeit, ihrer Bedrückung doch nicht abhelfen. Ich habe sie

einige Male auf Selbsthilfe verwiesen und leicht gespottet, daß sie, den Watussi an Zahl

hundertfach überlegen sind, sich von ihnen unterjochen lassen und nur wie Weiber jammern

und klagen können. Vielleicht war dies unvorsichtig von mir, und vielleicht ist einiges davon zu

den Ohren der Häuptlinge gedrungen, die infolgedessen fürchteten, daß ein allzu intimer

Verkehr mit mir sie bei Hofe kompromittieren könnte, denn auf dem ganzen Wege hielten sie

sich abseits und übersahen meine Karawane vollkommen (...). (Kandt59 zitiert nach Bindseil

1988: 67)

Mit der zunächst symbolischen Etablierung der deutschen Kolonialherrschaft durch

Hauptmann Ramsay im März 1897 (er überreichte einen ihm als König vorgestellten Sohn

des Mwami einen kaiserlichen Schutzbrief und die deutsche Flagge), der damit schrittweise

einsetzenden Errichtung deutscher Militärstationen (ab 1898) und den ersten

Missionsstationen der Weißen Väter (ab 1900) wurden die Informationen, die aus flüchtigen

Kontakten mit der Bevölkerung und oberflächlichen Erfahrungen der Reisenden

hervorgingen durch die fundierteren Kenntnisse längerfristig ansässiger Europäer –

Missionare und Administratoren (unter denen Kandt eine herausragende Stellung einnahm) -

58 Heinrich Fonck (1910): Deutsch-Ostafrika. Eine Schilderung deutscher Tropen nach 10 Wanderjahren. Die Schutztruppe, Reisen und Expeditionen im Innern, Land und Leute, Wild, Jagd und Fischerei, Wirtschaftliche Verhältnisse. Berlin, p.300 59 Richard Kandt (1914): Caput Nili – Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils, Bd.II Berlin: Dietrich Reimer: p.2

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ergänzt und korrigiert. Das frühe, mythische Bild von Ruanda behielt indes seine

Wirksamkeit, obwohl und weil sich die Wirklichkeit als viel komplexer herausstellte: aus dem

Bild wurde ein Ideal, an dem man aus ideologischen und pragmatischen Gründen, von

denen weiter unten noch zu sprechen sein wird, festhielt. Der ethnographische Blick, dem

Ruanda unterworfen wurde und der ein systematisches Wissen über Ruanda hervorbrachte,

war selbst systematisch an der praktischen (kolonialpolitischen) Verwertung dieses Wissens

interessiert und davon geprägt.

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Teil 2 Staatsbildungsprozesse, Stratifikation und ‚Ethnizität’ im präkolonialen Ruanda

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Kapitel III: Besiedelungsgeschichte und frühe Staatsbildung

3.1 Das obsessive Zurückblicken: Wanderung, Invasion oder einfach nur Usurpation

Das Große Seengebiet, das Gebiet zwischen dem Mwitanzige- (auch Albert- bzw. Mobutu

Sese Seko-)see im Norden, Edward- (Rweru-) und dem Kivusee im Westen, dem Viktoriasee

im Osten und Tanganyikasee im Süden, wurde seit dem zweiten Jahrtausend v. Chr. von

Gruppen verschiedener Herkunft und in einem über Jahrhunderte andauernden Prozeß -

besiedelt (Wirz 1997: 46). Die Frage der Besiedlung stand stets im Zentrum der historischen

Spekulationen über die Gesellschaften der Region. Sie wird gerade auch in bezug auf

Ruanda in den meisten einschlägigen Monographien (insbesondere der einschlägigen

ethnologischen, geographischen, politologischen und der allgemeinen ‚länderkundlerischen‘

Literatur) zumindest gestreift und meist litaneiförmig abgehandelt. Die Post-Genozid-

Literatur bildet da keineswegs eine Ausnahme. Die Kernfrage war (und ist) – nicht nur in dem

hier interessierende Fall Ruandas – einerseits die Reihenfolge der Besiedlung durch die in

erster Linie nach rassischen Kriterien abgegrenzten Großgruppen (1.) “pygmoide”

Ureinwohner: Twa oder (Bana-) Kalanga; 2. „Bantus“: unter die man die verschiedenen

prädominant ackerbauenden Strata der Zwischensee-Königtümer subsumierte: Hutu/ Iru /

Nyambo/Lega und die man für diejenigen hielt, die die Region urbar gemacht und

landwirtschaftlich erschlossen haben sollen, und schließlich (3.), die “viehzüchtende” und

die Herrscherschicht stellende Gruppe der Tutsi/ Hima/ Huma / Luzi). Andererseits gesellte

sich stets die Frage nach der Qualität der jeweiligen Wanderungswellen dazu, ausgehend

von einer selbst zutiefst von der gesellschaftlichen und daher kolonialen Situation der Region

am Anfang des 20.Jh. beeinflußten Perspektive. Einer Perspektive, deren Konturen im

vorhergehenden Kapitel dargestellt worden sind (vgl. Mworoha 1977: 22).

Für das andauernde Interesse an der ‚Urgeschichte‘ des Großen Seengebiets60, das in

anderen Kontexten offensichtlich absurd wirken würde, sich hier,besonders aber in Bezug

auf Ruanda und Burundi, in todernsten Debatten äußert, gibt es mehrere Gründe. Einer

davon – der selbst nicht selbstverständlich – den Reigen des obsessiven Kramens in der

Vergangenheit immer wieder von Neuem beginnen läßt, besteht darin, daß sich das Thema,

bzw. spezieller, ein damit artikulierter Topos tief in das ethnische Imaginaire eingeschrieben

hat: nämlich die Reihenfolge der Besiedlung durch die drei unterschiedlichen Gruppen.

60 Mein Interesse gilt speziell Ruanda. Das Gesagte ist aber mit Einschränkungen auf die anderen vorkolonialen Staaten des Großen Seengebiets umlegbar. Eine ähnliche ‚Diskussion‘ fand (findet) insbesondere in bezug auf Ankole und Burundi und etwas variiert (die herrschende Gruppe wird der Herkunft nach – und wieder ist rassistisches Denken der Vater des Gedankens -gewöhnlich als ‚Luo‘ verstanden; die ‚tatsächliche‘ Identität, wie immer, aber viel komplexer vgl. dazu Ogot 1984), in bezug auf Bunyoro statt.

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Diese Einschreibung ist in Wirklichkeit eine doppelte, ein In-Bezug-Setzen der Reihenfolge

der vermuteten Ansiedlung in Ruanda mit der Rangfolge in der Gesellschaft..

Genaugenommen handelt es sich hier um mindestens zwei Diskurse, welche beide die

Vorgeschichte der Großen Seenregion zum Gegenstand haben. Zum einen um jenen der

Fachhistoriker, der sich mit Beginn der akademisch institutionalisierten

Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend von Ethnologie und

Sprachwissenschaft emanzipiert hat und der sich inzwischen durch einen hohen Grad an

Komplexität und Differenzierung auszeichnet und damit ein gewisses Eigenleben entwickelt

hat.61 Zum anderen gibt es einen ‚Populärdiskurs‘ (oder besser antagonistische

Populärdiskurse über die und von ‚Vertretern’ der jeweiligen Ethnien), der nicht nur in der

Bevölkerung (d.h. vor allem unter den Eliten) verbreitet ist, sondern sich auch in vielen

nichthistorischen sozialwissenschaftlichen Abhandlungen nach wie vor bemerkbar macht

und sich seinerseits vor allem aus älteren historischen bzw. ethnographischen Arbeiten

speist.

Im Populärverständnis, in der ‚Mythico-histoire‘ eines Hutu Ethnismus (Malkkii 1995), aber

auch in den Popversionen einer langzurückgreifenden ‚Konfliktgeschichte‘ westlicher

Medien (vgl. dazu Kraler 1999: 152ff) erscheint die ‚Festsetzung‘ der Tutsi in Ruanda als

Usurpation der Macht, die sie nur auf kriegerische Weise (Invasion und Unterwerfung der

Hutu) oder aufgrund ihres ihnen nachgesagten ‚betrügerischen’ und ‚verlogenen’ Charakters

erreichen konnten. Der darum kreisende Diskurs von Hutu-Extremisten könnte dann auch

als eine Art ‚Autochthonismus‘ (Malkki 1995: 62ff) derjenigen verstanden werden, die für sich

beanspruchen, das Land ursprünglich erschlossen und urbar gemacht zu haben.62 Der

‚Autochthonismus‘, die Frage des ‚Angestammtseins‘, nach den rechtmäßigen Inhabern des

Bodens, der als ein Aspekt ethnischer Konflikte so häufig auftritt – und nicht nur dort -,

indem er eine ‚notwendige‘ Opposition63: etabliert, den unversöhnbaren Antagonismus

61 Auffallend ist freilich, daß sich das Interesse höchst ungleich verteilt: Die Geschichtsschreibung des Großen Seengebietes ist immer noch hauptsächlich eine politische Geschichte, in deren Zentrum die diversen Traditionen vorkolonialer Königreiche und Genealogien von Herrschern im Speziellen stehen (Vgl. D.Newbury 1994 passim zu einer Kritik einer genealogiefixierten Geschichtsschreibung). 62 Es ist bezeichnend, daß den Twa trotz des einhelligen Zugeständnisses, die ‚Ureinwohner‘ zu sein, der Status der Autochthonen (i.S. von rechtmäßige Besitzer des Landes) abgesprochen wird. Autochthon zu sein erweist sich damit selbst wieder als politische Setzung (Vg. Kopytoff 1987: 57). 63 Die weiße Bevölkerung Südafrikas vs. der afrikanischen Bevölkerung; die englisch- und schottischstämmigen Protestanten Nordirlands vs. den katholischen Iren; Palistinenser gegen Israeli; Basken gegen ‚Spanier‘ usw. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen., autochthonistische Elemente finden sich in den meisten ethnischen Konflikten. Interessant (und ich werde später darauf zurückkommen) ist der Konflikt zw. so genannten ‚Autochthonen‘ (Selbstbezeichnung) und sogenanten ‚Banyarwanda‘ – Menschen ruandesischer Abstammung - in der Kivu-Provinz in der Demokratischen Republik Kongo (ehemaliges Zaire/(Belgisch)Kongo), weil sich die ethnischen Konfliktlinien je nach Kontext, aber durchaus nicht willkürlich, und innerhalb schon angelegter Parameter verschoben. Der so genannte ethnische Konflikt in der Kivuprovinz ist somit ein gutes Beispiel für die kontextuelle Formbarkeit ethnischer Kollektivkonstruktionen und der darauf aufgebauten und als Antagonismus

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zwischen den Autochthonen, den “Aus-der-Erde-Entsprungenen” (so eine Deutung des

griechischen Ausdrucks) und den später ‚zu Unrecht‘ (so die Implikation) gekommenen,

macht selbst wiederum nur Sinn bzw. erlangt seine spezifische Bedeutung im Kontext

dessen, was Liisa Malkii so zutreffend mit ‚the national order of things‘ bezeichnet hat, also

im Kontext eines zutiefst mit essentialistischen Identitätsvorstellungen verbundenen

Nationsparadigmas: ‚the nation form‘ (Balibar 1991). ‚Die Nation’ steht allerdings,

genausowenig wie ‚die ethnische Gruppe‘ zu ihren historischen Vorläufern in einem

einfachen genealogischen Verhältnis (ebenda: 88). Vielmehr geht das Modell der

Identitätskonstruktion dem eigentlichen Konstruktionsprozeß voraus und ist selbst angepaßt

den jeweiligen ‚Notwendigkeiten‘ der politischen, sozialen und ökonomischen Umstände. Es

ist also nicht ganz zufällig, wenn gerade seit dem 19.Jh. die Bedeutung des Nexus Boden-

Volk-Staat sprunghaft angestiegen ist, und sich diese spezifische Identitätsform in der

Formung der ethnischen Identitäten eingeschrieben hat. Indem Volk und Territorium, und in

weiterer Folge: der Staat als Einheit gedacht werden, erweist sich der ethnische

‚Autochthonismus‘ als Schöpfung der Moderne und wird damit unterscheidbar von früheren –

auf anderen Modellen (im Falle Ruandas wohl Verwandtschafts- und Herrschaftsverbänden)

basierenden Identitätskonstruktionen.

Der zweite Grund der Obsession für die Vorvergangenheit des Großen Seengebiets liegt

selbst – jedenfalls zum Teil - wieder in der Vergangenheit, nämlich in der schon oben

beschriebenen Interessenslage der Reisenden und Forscher zur Zeit der ‚Entdeckung‘ und

Kolonialisierung der Region. Die geographische Lage des Großen Seengebiets, einer

Kontaktregion zwischen mehreren (mindestens drei, vielleicht vier64) großen afrikanischen

Sprachfamilien, ebenso wie zwischen mehreren, damit zusammenhängenden, aber nicht

notwendigerweise identen Gruppen verschiedener sozialer, politischer und ökonomischer

Organisation, mit unterschiedlichen Agrartechniken und –weisen, und unterschiedlichen

religiösen Vorstellungen, bot dem von Seiten der Europäer dargebotenen Interesse an der

‚Völker(wanderungs)geschichte‘ ein ideales (Betätigungs-) Feld, das es förmlich nur zu

beackern galt. Wie am Anfang der Entdeckungsgeschichte des Großen Seengebietes die

Aufspürung der Quellen des Nil stand, waren es in weiterer Folge die Quellen, die Wurzeln

der angetroffenen Gesellschaften, deren Verzweigungen und Verästelung man bis zu ihren

Ursprüngen zurückverfolgen wollte. Im Kontext der zeitgenössischen Theorien über

Kulturkontakt, Sprachenverwandtschaft und über Tradierung von Kulturgütern und -techniken

konnte freilich nur ein verzerrtes Bild entstehen. zwischen Kollektiven konzeptualisierten Konfliktvorstellungen. Gleichzeitig dürfen die mitunter pragmatisch eingegangen Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen nicht als Zeichen dafür gesehen werden, daß Ethnizität und ethnische Zugehörigkeiten plötzlich obsolet seien. 64 (Osthochland) Bantu, Zentralsudanisch, Sog Ostsudanisch, Tale Südkuschitisch (Schoenbrun 1993: 2; und ebenda: 9)

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3.2 Politische Autorität in der Frühzeit der Geschichte des Großen Seengebietes, ca.1000-1650

3.2.1. Die Region

Karte 1: Königtümer im Bereich des Großen Seengebietes

aus: Heinrich 1978; Original Luc de Heusch (1966): Le Rwanda et la Civilisation Interlacustre,

Bruxelles: Université Libre de Bruxelles

Das Gebiet der Großen Seen wird nicht ohne Grund als eine historisch gewachsene und

Region gesehen, die zudem an einem geographischen Schnittpunkt von Ost, Zentral und

Nordafrika situiert ist und die in einer historisch formativen Phase der Besiedelung und

frühen Staatsbildung ganz im Gegensatz zu der Abgeschlossenheit mancher politischer

Einheiten zur Zeit des Scrambles for Africa eine offene Region war, in der verschiedene

Einflüsse und die langfristige, bisweilen intensive Interaktion zwischen verschiedensten

Gruppen zur Hervorbringung neuer synkretistischer Praktiken und Institutionen in allen

Lebensbereichen führte. Linguistisch dominieren in der Region Bantu-Sprachen, die

deutliche Spuren eines gemeinsamen Entstehungskontexts aufweisen und die

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Sprachwissenschafter aufgrund von Gemeinsamkeiten im (Grund-) Wortschatz zu einer

Gruppe, dem ‚Great Lakes Bantu’ zusammenfassen, das sich im ersten Jahrtausend v.Chr.

zu einer eigenständigen Sprachgruppe entwickelt haben soll und aus dem sukzessive die

heute vorherrschenden rund 45 Sprachen entstanden sind. Auf einem mittleren

Abstraktionsniveau verraten Cluster von nahe verwandten Sprachen bzw. Cluster von

Sprachen, denen spezifisches Vokabular gemeinsam ist (etwa politisches Vokabular: Worte

und Konzepte politischer Institutionen), Muster von Interaktionen zwischen verschiedenen

Gruppen und verweisen, insofern sie ‚geronnenes Soziales’ (Laclau) repräsentieren, auf

Prozesse sozialen Wandels (Schoenbrun 1998: 41ff). Abseits der linguistischen Spuren

geben gemeinsame, oder zumindest (in je verschiedener Hinsicht) ähnliche religiöse

Vorstellungen und Praktiken65 und vor allem bestimmte soziale und politische Institutionen

und die damit einhergehenden politischen und sozialen Ideologien der Region und denen in

ihr situierten Königtümern (Ruanda, Burundi, Nkore, Bunyoro, Toro, Buganda u.a.) ein

spezifisches Gesicht, die das Große Seengebiet als von angrenzenden Gebieten

unterscheidbar macht.

Dazu gehört zum einen die Institution eines ritualisierten, quasi-sakralen Königtums, deren

Form und Bedeutung wesentlich durch die Spannung hervorgebracht wird, die zwischen

zwei analytisch unterscheidbaren Formen von Macht66 herrscht und die der Historiker D.

Schoenbrun (1998: 12ff) als ‚instrumental Power’ einerseits und ‚creative Power’

andererseits charakterisiert. Während instrumentelle Macht den Aspekt von Macht

kennzeichnet, der bei der Schließung von Klientenbeziehungen im Austausch von

Geschenken oder beim Erzwingen einer Handlung (durch militärische Drohung etc.) wirksam

wird, hat ‚kreative Macht’ mehr mit dem Aufrechterhalten, Aufbrechen und Hervorbringen von

Hegemonie zu tun, mit Diskursen über Macht und ihre Ausübung, über ihre Grenzen und

über ‚Machbarkeit’ und Gestaltbarkeit (z.B. hinsichtlich der physischen Umwelt oder von als

naturwüchsig empfundenen Phänomenen) schlechthin. Schoenbrun – der die

Unterscheidung zwischen den beiden Qualitäten von Macht aufgrund der Analyse 65 Eine – allerdings generell weitverbreitete – Lineage-Ahnenreligion, dessen regionalspezifische Ausprägung (oder religiöse Gegenvorstellung) der kubandwa-Kult darstellte, der seinerseits wieder mit dem Chwezi-Komplex und den verbundenen Mythologien und religiösen Praktiken zu sehen ist. Kubandwa (‚bessessen werden‘) kann als eine Art Heroenkult, der in Geheimgesellschaften organisiert ist, gesehen werden, bei dem über speziell initierte Mitglieder (Medien) mythiko-historische Heroen (Maandwa) – frühere Herrscher oder Rebellen oder andere Personen angerufen werden. Im Mittelpunkt des Kultes in Ruanda steht der Heros Ryangombe, in anderen Teilen des Großen Seengebietes verschiedene Bachwezi (Name für eine Dynastie mythologische Könige), Heroen wie Wamara oder andere. In der Literatur wird ein Zusammenhang des Kubandwa.-Kultes mit n Formen politischer Herrschaft postuliert, welcher Natur dieser ist (Zeichen subversiver und sublimen Protests der Beherrschten oder herrschaftsstützender Unterwerfungsglauben) ist freilich umstritten, plausibel aber seine Ausbreitung in der Folge der Expansion des ruandesischen Staates bzw. der Konsol Sidierung von Staatlichkeit in Region überhaupt (Vgl. Mworoha 1977: 105ff; Freedman 1974: 170 und Linden 1977: 14). 66 in der berühmten Weber’schen Formulierung: „[J]ede Chance innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen

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semantischer Konzepte von ‚Macht’ getroffen hat und auf den diese zurückgeht – sieht

letzteren Aspekt von Macht, ‚creative Power’ vor allem im Diskursiven verwirklicht, also dann,

wenn es um ‚Sinnproduktion’ geht – bei der rhetorischen Überzeugung einer Versammlung

von dem Sinn einer Sache oder den Beschwörungen von Heilern bei der Verabreichung

eines Medikamentes. Die ‚reifen’ Königtümer der Region standen in beständiger Spannung

zwischen beiden Aspekten von Macht – dem Instrumentellen einerseits und dem Kreativen

andererseits. Im Prinzip ist diese Spannung freilich allem Politischen inhärent, in dem Maße,

in dem alle politischen Akte sowohl instrumentell als auch expressiv sind, konkrete

Handlungsziele betreffen, als auch über den spezifischen Handlungszusammenhang

hinausweisen, in dem sie an das weltanschauliche Wissen der Akteure anknüpfen und

Handlungen und Handlungsziele in einem breiten weltanschaulichen und ideologischen

Kontext einordnen (lassen) (Edelman 1990:10). Im Kontext der Königtümer des Großen

Seengebietes war‚creative Power’ zutiefst verbunden mit religiösen Praktiken und

Vorstellungen, innerhalb derer Konzepte wie Gerechtigkeit, Angemessenheit, Kausalität etc.

artikuliert wurden und die in einem gewissen Sinn einen Gegenpol zum Instrumentellen des

Profanen darstellten und nie vollständig von den herrschenden Eliten angeeignet und

kontrolliert werden konnten. Gleichzeitig waren die Monarchien auf die ‚außeralltäglichen’

Legitimation, auf ‚creative Power’ angewiesen und bezogen von außeralltäglichen Praktiken

ein erhebliches Maß ihrer Legitimität (Vgl. D. Newbury 1991:Introduction, bes.p.19 in bezug

auf das Inselkönigtum Ijwi im Kivusee). Die Institution des Königtums wies in der Region ein

dementsprechend reichliches rituelles Element auf und rituelle Spezialisten (Abiru in

Ruanda) eine dem gemäße wichtige Position in ihrer institutionellen Ausgestaltung und ihrer

Ideologie.

Eine andere Gemeinsamkeit der Region liegt in der herausragenden Bedeutung, die das

Rind in der Geschichte (und Gegenwart) der Gesellschaften eingenommen hat, im

Politischen (in der Architektur der Königtümer) gleichermaßen, wie in der Struktur der

Gesellschaften der Region insgesamt. Anschließend an der dem Rind eingeräumten

Bedeutung als gleichzeitig materielles und symbolisches Kapital, dessen Akkumulation zum

Maßstab für Reichtum ebenso wie für politische Potenz wurde, entwickelte sich eine

Differenzierung zwischen ‚Pastoralisten’ und ‚Ackerbauern’ (richtiger eigentlich: Bauern mit

‚gemischter’ landwirtschaftlicher Basis und Schwerpunkt auf dem Anbau von diversen

Feldfrüchten und Bananen), die im Ruanda der spätvorkolonialen, und in einer

systematischen Weise während der kolonialen Periode zum Angelpunkt einer ausgeprägten

Stratifikation im eigentlichen Sinn geworden ist.

Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“; Weber 1980: 28

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3.2.2. Soziale und politische Prozesse in der Frühzeit der Region67

Historisch läßt sich diese Differenzierung jedoch nicht eins zu eins mit (‚herkunfts-‚)

ethnischen Kategorien in Einklang bringen, zumal es ja zum einen nicht um zwei oder drei

miteinander in Interaktion tretende und klar abgrenzbare Gruppen geht, sondern um eine

Vielzahl von kleineren, hauptsächlich in Verwandtschaftsgruppen68 organisierten Gruppen,

die zu jeweils verschiedenen Zeitpunkten eingewandert waren. Ihre Geschichte war weniger

durch eine ursprüngliche Einwanderung von einem weit entfernten anderswo, als durch das

schrittweise Hinausschieben der Grenzen bestehender Gemeinschaften in unerschlossene

Gebiete sowie in neue Habitate (Savanne im Unterschied zu Waldgebieten etwa) und andere

Prozesse sozialen Wandels geprägt. Eine am Besitz von Vieh anschließenden soziale

Differenzierung gab es, so scheint es zumindest, schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt.

Sie ist im Kontext der Konsolidierung der durch die Kontakte der verschiedenen

eingewanderten Gruppen – wahrscheinlich vor allem durch Bantusprecher69

hervorgebrachten Synthese des agrarischen Wissens (die jedenfalls in den Bantusprachen

ihre Spuren hinterließ) und dem damit entstehenden Agrarregimes zwischen 500 und 1000

n.Chr. anzusiedeln. Das Agrarregime brachte ein System einer gemischten Landwirtschaft

(also diverse Feld- und Baumfrüchte ebenso wie Vieh), das zu einer Produktivitätssteigerung

und gleichzeitig zu intensiveren Formen der Umweltaneignung führte. Seine Eckpfeiler

waren die Einführung von Bananen, die vermehrte Bedeutung des Rinds und die Aneignung

von Hirse-Anbau durch weite Teile der Bevölkerung. Die so entstandene Synthese

ermöglichte bzw. verlangte es, unerschlossene Gebiete, insbesondere die

Savannenlandschaften zu erschließen (Schoenbrun 1993 passim). Die Ausweitung der

67 Auf die Problematik der Rekonstruktion der Geschichte von schriftlosen Gesellschaften soll und kann hier nicht eingegangen werden. Die Rekonstruktion, wie sie hier versucht wird und die hier mehr oder weniger als bruchloses Narrativ präsentiert wird, speist sich aus im wesentlichen vier Disziplinen bzw. -Quellen, nämlich der historischen Sprachwissenschaft, vergleichender Ethnographie, Archäologie und Ökologie [Environmental Studies] von denen nur zwei im engeren Sinn historisch sind (insofern die betreffenden Disziplinen mit genuin historischen Spuren arbeiten), während die beiden anderen aus dem Vergleich synchroner Daten auf historische Vorformen der betreffenden Phänomene (Sprache, Institutionen...) schließen. Zu den methodologischen Problemen siehe Schoenbrun 1998: 28-57 und Sigwalt 1975: passim. 68 soll heißen: in einem Verwandtschaftsidiom artikulierte ‚Organisation’. Kopytoff (1987: 40ff) begründet die Dominanz des Verwandtschaftsidioms mit der spezifischen Form der Staatsbildung in Afrika, nämlich dem ‚Frontierprozeß´’ und der non-territorialen Basis von Herrschaft. Solange Herrschaftsmittel und die Ausdehnung von Herrschaft beschränkt sind, kann das Verwandtschaftsidiom den Zusammenhalt der Gruppe besser gewähren als Allianzen oder anderes. Klientelbeziehungen verlangen dagegen ein Mindestmaß an sozialer Stratifikation und differentiellen Zugang zu Ressourcen – seien diese nun materiell (Land, Vieh oder anderes Kapital) oder immateriell (Status, Sicherheit). Innerhalb des Verwandtschaftsdiskurses bleibt freilich ein breiter Raum für Variationen in der Bestimmung des Verhältnisses der einzelnen ‚Verwandten’. Schoenbrun (1998: 94ff) zeigt, daß die Idee von Linearität in den intergenerationellen Verwandtschaftsbeziehungen eine Innovation war, die er in der Mitte des 1.Jt. v.Chr. ansiedelt. In den darauffolgenden Jahrhunderten kam es laut Schoenbrun zur Herausbildung eines damit verbundenen Vokabulars von Verwandtschaftsbezeichnungen, deren formale Kerneigenschaft in der potentiellen Verwendbarkeit als Ausschlußoperator bestand, also in ihrer Fähigkeit, zwischen ‚uns’ (nahe, sprich: linear Verwandten) und ‚sie’ (die ‚Angeheirateten’) zu unterscheiden. 69 ‚Bantusprecher‘ bezeichnet die Sprecher von Bantu-Sprachen, nicht mehr und nicht weniger. Der Terminus sowie die Verbreitung der Bantusprachen im Großen Seengebiet sagt nichts aus über die Art des Spracherwerbs (oder –besitzes): ob über Herkunft oder durch Übernahme.

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Viehwirtschaft und die Differenzierung zwischen Ackerbauern und Pastoralisten ist vor

diesem Hintergrund der erweiterten Möglichkeiten, sich die Umwelt anzueignen zu

verstehen. Die Öffnung von Waldgebieten für die Landwirtschaft erlaubte es ‚Pastoralisten’,

die entstandenen Grenzbereiche zwischen den Kulturlandschaften und den Trockenzonen

als Weiden für das Vieh zu nutzen. Die Ausweitung des Pastoralismus ging

dementsprechend parallel zur landwirtschaftlichen Erschließung der Region (Schoenbrun

1998: 76f). Ende des 1.Jt., nach etwa 800 n.Chr., führte der (durch menschlichen Einfluß)

lichtere Waldbewuchs in den Hauptsiedlungsgebieten in der Region, die Herausbildung

technischer Expertise hinsichtlich von Rinderzucht und die verstärkte Nutzung von Getreide

dazu, daß verschiedene Bedingungen gegeben waren, welche die Besiedelung der

Savannenzonen (z.b. Nkores und des nördlichen Karagwe) förderten, wenn nicht erst

erlaubten. Die Erschließung der Savannenzonen für einen spezialisierten Pastoralismus

ergibt sich aus dem Ineinandergreifen verschiedener Faktoren, wobei das Vordringen von

Pastoralisten in die Savannenzonen gleichzeitig als der entscheidende Faktor für die

Herausbildung spezialisierter Pastoralisten gelten kann. Die Ausbreitung des Pastoralismus

erreichte die Ränder des westlichen Hochlandes (Burundi, Ruanda) um eben diese Zeit und

begann sich in der Entwicklung einer dementsprechenden pastoralistischen Ideologie70 zu

äußern.

Ebenfalls in diese Zeit fällt die Herausbildung einer hochspezialisierten Eisenindustrie, die,

getragen von spezialisierten und überregional aufgesuchten Spezialisten, wohl auch ihren

Teil zur Verdichtung der sozialen und politischen Verhältnisse beigetragen hat (Ehret 1988:

634f; Twaddle 1975: 152).

Die Periode intensivierter Besiedlung der Region, des verstärkten Kontakts und Interaktion

der verschiedenen eingewanderten und bereits ansässigen Gruppen und nicht zuletzt die

durch das verbesserte landwirtschaftliche Wissen bedingte Produktivitätssteigerung

spiegelten sich linguistisch in der Ausbreitung der Bantusprachen in die Region und politisch

in der Herausbildung umfassenderer politischer Einheiten: politische Entitäten, die über die

vorherrschende Organisationsweisen, basierend auf Lokalität (als Koresidenzialität) und/oder

auf einem Deszendenzprinzip, sei es in der Form der engeren Lineage (inzu) oder der

umfassenderen Patrilineage (umuryango71), ansatzweise hinausgingen und die in

70 zum Beispiel in der Entwicklung eines entsprechenden Vokabulars (an Viehtypen, Farbschattierungen des Viehs etc.), mit dem gleichzeitig nicht nur faktisches Wissen, sondern ästhetische und andere Ideale artikuliert wurden (Schoenbrun 1998: 79). 71 Die folgenden Begriffe sind die heute bzw. in rezenter Zeit gebrauchten Bezeichnungen und repräsentieren daher nur beschränkt die Verhältnisse in der fraglichen Periode. Im Gegensatz zu ‚umuryango’ scheint ‚inzu’ lediglich ein Terminus für ein Verwandtschaftsverhältnis gewesen zu sein, ohne damit notwendigerweise einen kollektiven Charakter einzunehmen. Jedenfalls wies die Funktion (und die Benennung) diverser Verwandtschaftseinheiten zur Zeit der Kolonialisierung innerhalb Ruandas erhebliche Unterschiede auf, die u.a.

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unterschiedlichem und für diese frühe Periode nur schwer rekonstruierbaren Ausmaß

Bevölkerungsgruppen verschiedener Herkunft und Lebensweise inkorporierten (Ehret 1988:

636f). Gleichzeitig waren die Zugehörigkeitsideologien selbst einem beträchtlichen Wandel

unterworfen, insofern durch sie verstärkt (Patri-)Linearität herausgestrichen und soziale

Beziehungen und Einheiten in einem patriarchalen Idiom rekonzeptualisiert wurden

(Schoenbrun 1998: 134ff). Die von der lineagemäßigen Organisationsweise (die nichts

anderes bedeutet als eine (patri-)lineare Deszendenzideologie) gebildete Sozial- und

politische Struktur beruhte im wesentlichen auf den als Zugriffsrechte zu verstehenden

‚Besitz‘ über die Produktionsmittel – Vieh und Land (sowie Frauen und Kinder), also den

Besitz der Kontrolle über als essentiell wahrgenommene ‚Güter’ innerhalb der eigenen

Deszendenzgruppe, gleichwie er sich in der Realität gestaltete (Vgl. Linden 1977: 11). Ihr

Vorhandensein beruht auf das Verlangen bzw. die empfundene Notwendigkeit, zwischen

‚Uns’ und ‚Sie’ zu unterscheiden, andersgesagt, über Mechanismen zu verfügen, die andere

vom Genuß der von der Mitgliedschaft in einer Lineage implizierten Vorteile (allen voran

materielle und Statusvorteile) ausschlossen bzw. die gewährleisten konnten, daß es

wirksame Kontrollen gab, die bestimmten, wer und zu welchem Preis jemand Mitglied einer

etablierten Gemeinschaft werden konnte.

Solange Land reichlich vorhanden war – in manchen Gegenden Ruandas bis ins 19.Jh. –

hatten die von der Deszendenzgruppe ausgeübten Rechte über essentielle Ressourcen

einen hauptsächlich symbolischen Charakter, welche die materielle Überlebensfähigkeit der

so reglementierten Individuen nicht oder nur unwesentlich einschränkte. Die Bedeutung der

Zugriffsrechte auf Land, Vieh und Frauen lag dann auch weniger im materiellen Bereich,

anders gesagt: in ihrer instrumentellen Kapazität, als in ihrer symbolischen (oder in

Edelmans Worten: expressiven) Funktion als Symbolisierung von Macht und Status.

Landrechte spezifizierten nicht nur, wer ein Stück Land legitimerweise nutzen konnte/durfte,

wer es erschlossen hatte und wer als sein Besitzer gelten konnte, sondern bezeichneten

dadurch gleichzeitig Status und Zugehörigkeit, mithin das Verhältnis des Individuums zu

seiner Gemeinschaft, sei es die Lineage, die Nachbarschaft oder andere. Im Falle von

Konflikten einzelner Lineagemitglieder mit den lineagepolitischen Führern konnte immer

noch auf unerschlossene Gebiete ausgewichen oder der Anschluß an eine andere Gruppe

bzw. einem neuen Patron gesucht werden. Das implizierte eine segmentäre Tendenz der so

gebildeten Einheiten. Die ‚Tiefe‘ der Lineages (gemeint ist: umuryango) konnte dennoch,

zumindest wo sie die primäre politische Einheit bildete, über 6 Generationen hinausgehen

und repräsentierte zugleich so etwas wie Lokalität (Vgl. d’Hertefelt 1962: 41f).

mit der differentiellen Inkorporation der verschiedenen Regionen in den ruandesischen Staat zu tun haben . (Vgl.

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‚Klans’ (ubwoko), die mehrere (tausend) Lineages umfaßten72 – in Ruanda gab es 18

derartige Klans73 -, hatten dagegen, wenngleich sie auch eine beschränkt territorialen (im

Sinne von regionalen) Konnotation aufweisen konnten, (mit Ausnahmen) keine unmittelbare

soziale oder politische Bedeutung, sondern spielten lediglich als religiös-rituelle Einheiten,

denen durch ein gemeinsames Totemtier und jährlichen Riten Ausdruck verliehen wurde,

eine gewisse Rolle.

Eine Grundlage der Herausbildung überregionaler politischer Einheiten lag in der

veränderten und über den pastoralistischen Komplex ausgedehnten Haltung zum Rind,

nämlich in seiner Verwendung als ‚Machtmittel‘, die über jene als ‚Überlebensmittel‘, als

bewegliches Kapital74 hinausging, aber doch damit zusammenhing und in einer

symbolischen und quasi-religiösen Wertschätzung des Rinds, der ‚Ideologie de la Vache‘

(Vidal 1969) ausgedrückt wurde. Diese Hypostasierung des Rinds als Symbol des Sozialen

hatte ihren Ursprung bei rinderzüchtenden, nomadisierenden Gruppen, deren politische

Organisation um einen Chief bzw. eine ‚oberste‘ politische Autorität, den Mwami kreiste, der

zunächst aber nicht mehr war als ein primus inter pares unter mehreren viehreichen Chiefs.

Daß Vieh zu einem Machtsymbol wurde und einen instrumentellen Charakter annahm,

verweist auf eine ausgeprägte pastoralistische Ideologie, innerhalb derer zunehmend mehr

Bereiche des Lebens in Relation zur wichtigsten Ressource der Gruppe – dem Rind –

gesetzt wurde und umgekehrt dieses in Relation zum Mensch und mit sozialen und anderen

anthropomorphen Attributen (etwa Namen, Vgl. Gravel 1968: 169) ausgestatte wurde. Vieh

diente gleichzeitig dazu, soziale Transaktionen, mithin das Schließen sozialer Beziehungen

überhaupt zu symbolisieren und zu besiegeln. Der weitgehende Ausschluß von Frauen aus

dem produktiven Bereich, d.h. ihre weitgehende Trennung vom Vieh nahm in dem Maße zu,

in dem Vieh als Symbol und Mittel von Herrschaftsbeziehungen zwischen Führern und

Gefolgschaft an Bedeutung gewann (Schoenbrun 1998: 226ff).

Die Ausweitung der Bedeutung des Rinds als primäres soziales Gut (und Symbol) ist

gleichwohl im Kontext der herausragenden Bedeutung der militärischen Organisationsweise

bei den viehzüchtenden Nomaden und dem Charakter der militärischen Aktionen zu sehen, d’Hertefelt 1962: 41f) 72 Nach einer plausiblen Hypothese des Historikers D.Newbury (1980) ist die geringe Zahl der ruandesischen Klans selbst eine Erscheinung relativ jungen Datums. (Vgl. zu einer ausführlicheren Diskussion FN 89) 73 Die seriöseste Einschätzung stammt von d’Hertefelt (1971: passim, bes.: 49). Er identifiziert 17 Klans (amoko; pl. von ubwoko). Seine 18. Kategorie ist eine Residualkategorie für alle Gruppen, die für sich eine andere Zugehörigkeit als zu den 17 gängigen Klans beanspruchen. Wie d’Hertefelt (ebenda: 3) betont, handelt es sich bei den ruandesischen Klans eigentlich nicht um Klans in der üblichen soziologischen bzw. anthropologischen Definition (als Abstammungsgemeinschaft, mit einem namensgebenden, mithin fiktiven oder mythischen von allen anerkannten Vorfahren), sondern eigentlich um eine soziale Kategorie, die aus pragmatischen und historischen Gründen als Klan bezeichnet wird.

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die – gleich ob sie auf eine Machtausweitung zielten oder lediglich den Charakter von

Razzien hatten – immer den Raub von Vieh in großem Ausmaß beinhalteten. Die Chiefs der

rinderzüchtenden Lineages bzw. der Mwami als primus inter pares eines assoziationshaften

Konglomerats mehrerer Lineages verfügten über das in Razzien und Kriegszügen erbeutetes

Rind. Sie verteilten es zur Belohnung von ‚Tapferkeit‘ im Kampf oder unterschiedslos an die

Mitkämpfer – an die Mitglieder der Armeen (ingabo), deren kämpferische Kern von den

‚Pagen‘ (intore)75 des Mwami gebildet wurde – und be- und verstärkten damit auch

Loyalitäts- und Abhängigkeitsbeziehungen.

Die Ausdehnung des Viehkomplexes über den militärisch-räuberischen Zusammenhang

hinaus bildete aber die Voraussetzung für seine Generalisierung (Vgl. Ehret 1988: 637).

Doch darf man die Zugriffsmacht der politischen Führer auf das Vieh (und damit in gewisser

Weise, auch auf die mit ihnen verbundenen Menschen) für den größten Teil der Geschichte

der Region, und im Speziellen für die ruandesische Geschichte (zumindest bis ans Ende des

18.Jh.), nicht überschätzen. Religiös-rituelle oder andere ‚Besitztitel‘ waren nicht einfach in

politische oder ökonomische Zugriffsrechte übersetzbar und zudem beschränkt auf Gruppen,

für die die jeweilig zum Objekt vielschichtiger Beziehungen gemachten Güter relevant waren.

Bei den prädominant ackerbauenden Bevölkerungsgruppen nahmen andere Symbole –

religiöse Haine, Schreine, Grabstätten usw., die allesamt mit der Fruchtbarkeit von Land

zusammenhingen, jene Stelle ein, die das Rind für die Rinderzüchter besetzte. Die Basis

politischer Macht stand dann auch in einem engen Nahverhältnis zum Religiösen. Das Gros

der vorkolonialen ackerbäuerlichen Staaten war um die dem Oberhaupt (Umuhinza76)

nachgesagte rituelle Macht als Regenmacher77 (wie etwa das Oberhaupt von Bukunzi), um

seine rituellen Funktionen im landwirtschaftlichen Bereich (Erste Früchte – Fest...)

organisiert. Als politischer Führer besaß er allerdings kaum über andere als symbolische

Sanktionsmöglichkeiten und war im hohem Ausmaß von der Loyalität seiner Anhänger

74 Darin, in der hohen Mobilität und Flexibilität bestand der zumindest theoretische, entscheidende Vorteil der Viehzucht gegenüber dem Ackerbau. 75 wörtlich: ‚die Erwählten’. Die Bezeichnungen entstammen einem späteren Kontext. Vieles deutet aber darauf hin, daß das Intore nicht nur den Kern der späteren Armeeorganisation bildete, sondern auch ihren historischen Kern darstellt. Vgl. zum Charakter der Armeen (d.h. ihre Ausgerichtetheit auf Viehraub und Brandschatzung; vgl. Maquet 1961: 117) 76 Die Bezeichnung Umuhinza entstammt wahrscheinlich dem höfischen Milieu Ruandas und ist den ‚Königen’ der betreffenden Kleinkönigtümer nach der Eroberung und Inkorporation in den ruandesischen Herrschaftszusammenhang übertragen worden. Darauf deutet auch die Bedeutung ‚Rebell’ hin, die das Wort Umuhinza in anderen Kontexten annimmt. Die Selbstbezeichnung der Herrschaftsträger in den Kleinstaaten entlang der Nil-Kongo Wasserscheide war, so ist zumindest anzunehmen, ‚Mwami’. Zu den bekanntesten Staaten gehörten Bukunzi und Busozo (beide in der Region Kinyaga im Süden Ruandas) und Bushiru im Westen. In den historischen Traditionen des Hofes findet sich eine Vielzahl an Referenzen auf derartige politische Führer. Einer der bekanntesten ist Mashira, Umuhinza von Nduga, dessen Königtum von Mibambwe Mutabazi erobert und selbst ermordet worden sein soll (Vgl. D.Newbury 1987: EN26; Vansina 1962: 77ff und 85) 77 d.h. er spielte für Rituale, die Regen bringen sollten, eine herausragende Rolle, ohne sich auf diese Rolle als ‚Regenmacher zu beschränken’.

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abhängig (Vgl. Linden 1977: 11f). In der Region finden sich damit zwei unterschiedliche

Typen von Herrschaftsformen, die in gewisser Weise mit der dominanten Produktionsweise

der sie hervorbringenden Bevölkerungsgruppen verbunden sind. Mit der Expansion

bestimmter politischer Einheiten ging eine Aneignung verschiedener Institutionen der jeweils

anderen Herrschaftsform und –legitimierung einher. Die Institution der Königinmutter etwa

entstammt aus dem Kontext der Umuhinza – Königtümer. In Ruanda wurde der rituellen und

religiösen Herrschaftslegitimation durch die Institution der Abiru – rituellen Experten

Rechnung getragen (Vansina 1962: 66)78.

Der Staatsbildungsprozeß verlief allerdings subregional in durchaus unterschiedlichen

Bahnen, sowohl was die Dichte der Herrschaft, ihre institutionelle Ausformung und

ideologische Repräsentation, als auch die Adressaten von Herrschaft betraf. Der

semiterritoriale Charakter von Herrschaft – Herrschaft war nie territorial in dem Sinn, in dem

moderne Nationalstaaten ihre jeweils eigenen Territorien besitzen, über die sie spezifische

Rechte haben und systematisch Herrschaft ausüben; nichtsdestotrotz hatten die

vorkolonialen Staaten der Region definierte Zentren und waren in diesem Sinn verortet –

führte dazu, daß sie häufig einen ‚multiethnischen’ Charakter aufwiesen, insofern sowohl

spezialisierte Viehzüchter als auch Ackerbauern innerhalb des engeren Territoriums des

Herrschaftsverbandes lebten oder als Klienten zu ihm oder einer seiner Repräsentanten in

Beziehung standen. Diese Tatsache allein bedeutete allerdings noch wenig:

Die Unterschiede in Form und Reichweite des Königtums , sowie der Charakter der sozialen

und politischen Beziehungen der zwei sich nach Produktionsweise unterscheidenden

Gruppen hing von mehreren Faktoren ab: von der Bevölkerungsdichte, dem Charakter des

Staates (mono- vs. pluriethnisch, territorial vs. verbandsmäßig, zentralisiert vs.

dezentralisiert, reichweitemäßig), der sozialen Distanz zwischen den beiden Pastoralisten

und Ackerbauern, dem Ausmaß der Interaktion über ‚ethnische’79 Grenzen hinaus, das

Ausmaß der politischen Autonomie der jeweiligen ‚ethnischen’ Gruppen und zuletzt, das

Ausmaß der Integration in einen gemeinsamen ökonomischen Zusammenhang, im

Unterschied zum relativ autonomen Verfolgen unterschiedlicher ökonomischer Tätigkeiten

mit lediglich begrenzten Austauschbeziehungen (Siehe Doornbos 1978: 21).

78 Twaddle ist skeptischer als Vansina bezüglich der historischen Tiefe der Institution, die ihre endgültige Form erst am Ende der präkolonialen Periode angenommen hat. Egal wann sie geschaffen wurde, fest steht, daß mit der rituellen Expertise der Abiru eine Festigung der Herrschaftsansprüche und –relevanz des Mwami bezüglich Land und der damit verbundenen rituellen Autorität über Land (und bezüglich der Riten des landwirtschaftlichen Kalenders) einherging (Vgl. Linden 1977: 15) 79 Ethnisch meint hier eine von außen an Bevölkerungsgruppen hineingelesene Qualität, mithin “objektiv ethnisch” und impliziert nicht notwendigerweise ethnische Identifikationen. “Ethnisch” heißt in diesem Kontext in erster Linie die intergenerational relativ stabile vorwiegende ökonomische Tätigkeit (Ackerbau vs. Viehzucht).

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Der Übergang von Herrschaftssystemen beruhend auf lokale Bezugseinheiten, seien diese

nun eher ko-residentiell im Charakter, oder in einem patriarchalen Idiom gehalten (der

Lineage) zu der Form von pluralen (i.S. von sich nicht als Abstammungsgemeinschaften

konzeptualisierenden) Monarchien erfolgte gleichwohl allmählich und auf ideologischem

Terrain unter Inkorporation diverser religiös-ritueller Vorstellungen und über den Bezug auf

alte, und Schaffung neuer kollektiver Bezugseinheiten in den Zonen intensivsten Kontakts

und habitueller Austauschbeziehungen zwischen ‚Pastoralisten‘, ‚Ackerbauern‘ und

‚Spezialisten‘(Ehret 1988: 637, Ogot 1984: 509f; D.Newbury 1980 passim). Das Ausmaß der

gegenseitigen Interaktion war gleichwohl nicht homogen. In Nkore, einem für

seminomadisierende, extensive Viehzucht perfekt geeignetes Habitat, mit einem gegenüber

anderen Königtümern im Großen Seengebiet viel höheren Anteil an Pastoralisten (zwischen

40% und 60% der Bevölkerung des Kernlandes vor der Expansion Nkores in der zweiten

Hälfte des 19.Jh; Doornbos 1978: 67), bezog sich die Organisation des Staates beinahe

ausschließlich auf die pastoralistischen Gruppen (Bahinda und Bahima). Dies spiegelte den

geringen Grad an gegenseitiger Interaktion zwischen Ackerbauern (Bairu) und Pastoralisten

(Bahinda und Bahima) wider, die sich auf wenige Austauschgüter, wenige soziale

Situationen und wenige davon betroffenen Menschen beschränkte (ebenda: 40f). Eine

ähnliche Einschränkung ist für Ruanda zu treffen, wobei es hier (noch) weniger um die

Interaktionsdichte zwischen Pastoralisten und Ackerbauern geht, als um die eingeschränkte

Rolle des ‚Staates’ an diesem Punkt der Staatsbildung überhaupt.

Die ‚neue’ Klasse, die Chiefs wurden allmählich, im Zuge der Verdichtung der sozialen und

politischen Verhältnisse zu Mittlern zwischen den Interessen verschiedener Lineages,

Klans80 oder ‚ethnischen’ Gruppen und damit zu einem verbindenden Knoten eines sich

entwickelnden politischen Netzwerkes. Für Ruanda erscheint es plausibel, frühe

Staatsbildungsprozesse als eine janusköpfigen Prozeß zu interpretieren, der einerseits auf

militärischer Eroberung beruhte, in dessen Folge dann neue Legitimationsformen und –

funktionen in die Institution des Königtums inkorporiert wurden. Andererseits beruhte die

Transformation eines primär pastoralistisch-militärischen Herrschaftsverbandes wie Kern-

Ruanda zu ausgedehnten, territorial mehr oder minder eingegrenzten ‚Staaten‘ zum Teil auf

die Attraktivität, die die Anbindung an eine primär militärisch organisierte Entität (im

Gegensatz zu der eher rituellen und religiösen Herrschaftsform der Abahinza-Staaten) für 80 Die Verwendungsweise des Terminus ‚Klan’ im Text ist, wo sie sich nicht ausdrücklich auf ‚ubwoko’ bezieht, eine pragmatische und meint eine größere Verwandtschaftsgruppe, und im besonderen derartige größere Verwandtschaftsgruppen in Nordruanda. Meine pragmatische Verwendungsweise des Terminus korrespondiert mit ihrem Vorkommen in der Literatur, die dort eine lange Tradition hat (der deutsche Ethnologe Jan Czekanowski, der 1907/8 im Rahmen der Expedition des Herzogs von Mecklenburg in Ruanda forschte, spricht in bezug auf den Norden und seiner von Zentralruanda abweichenden politischen Organisation von

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externe Gruppen besaß. Mit der Ausweitung der Armeen (ingabo), in die ab dem 16.Jh

zunehmend ganze Lineages inkorporiert wurden, wurde die Mitgliedschaft in einer Armee zu

einem hervorragenden Mittel, das Bedürfnis nach Schutz befriedigen zu können, während

dadurch gleichzeitig der Machtbereich des Mwami (dem die Armeen ultimativ unterstanden)

ausgedehnt wurde (Vgl. Linden 1977: 13). Umgekehrt bedeutete die Verschiebung des

politischen Brennpunktes von den Lineages und Lineage-Führen zu anderen

Herrschaftsträgern – den diversen Chiefs und ultimativ, zum Mwami –, daß Lineages als

politische Organisationsform wie auch als Brennpunkt kollektiver Identität langsam aber

sicher ihre Bedeutung verloren. Dieser Prozeß war Anfang des 20.Jh. noch nicht

abgeschlossen.

3.3. Von Herrschaftsverband zum Staat: Ruanda, ca.1500 bis 1750.

Der Kern des ruandesischen Staates lag in den Ebenen des östlichen Ruandas, in der Nähe

des Mohasisees, in offenem Savannengebiet. Die Region bot exzellentes Weideland, war

aber schlecht geeignet für die weiter im Westen, in den hügligen Regionen Zentral- und den

bergigen Regionen Nordruandas sowie im äußersten Westens des Landes, entlang des

Kivusees, vorherrschende gemischte Landwirtschaft, deren Feld- und Baumfrüchte eines

feuchteren Klimas bedurften.

In den Savannenlandschaften des Ostens, zu denen innerhalb Ruandas noch Ndorwa,

Bugesera und Gisaka zu zählen sind, an die sich weiter nach Osten die Savannen Karagwes

und im Norden die Nkores anschließen, bestanden eine Reihe von Herrschaftsverbänden

pastoralistischer Gruppen. Ruanda (bzw. der Herrschaftsverband der Abanyiginya81)

entstand aus einem dieser Herrschaftsverbände, die im wesentlichen aus Allianzen zwischen

verschiedenen Gruppen bestanden haben und einen eher losen Charakter aufwiesen. Die

Beziehungen zwischen den Gruppen waren, glaubt man den Traditionen, turbulent und

geprägt von komplizierten Heiratsarrangements, Intrigen und gewalttätigen

Auseinandersetzungen. Im Kontext dieser Auseinandersetzungen verschob sich der Kern

des ruandesischen Staates schrittweise gegen Westen, ein Prozeß, dem die höfischen

Traditionen einen breiten Raum einräumen und die dafür vier Bami (Kigeri Mukobanya

(1506-1528) , Mibambwe Mutabazi (1528-1552), Ndahiro Cyamatare (1576-1600) und

‚Klangemeinden’ ; Vgl. d’Hertefelt 1971: 10). 81 Eigentlich handelt es sich um eine Lineage, die zum Nyiginya-Klan gehört. Angesichts der Funktion von Klans in Ruanda ist es strenggenommen falsch, von einem königlichen Klan zu sprechen (oder von einem matridynastischen Klan hinsichtlich der Königinmutter). Wie bei den anderen Klans Ruandas sind die Mehrheit der Nyiginya Hutu oder Twa, deren Zugehörigkeit zum selben Klan wie die königliche Lineage keinen Einfluß auf ihre soziale Position hatte. Ausschlaggebend für die soziale Position war die Lineage (inzu bzw. umuryango; letzteres galt speziell für aristokratische Familien), der man angehörte. Gleichzeitig war es im gewöhnlichen Sprachgebrauch durchaus üblich, sich auf ‚die Nyiginya’ zu beziehen, wenn man von der königlichen Familie sprach, also die konkret gemeinte Lineage mit dem Klannamen zu bezeichnen (d’Hertefelt 1971: 4).

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Ruganzu Ndori (1600-1628) 82 als wegbereitend ansehen.

Tabelle 1: Genealogie ruandesischer Könige (Bami) nach verschiedenen Quellen

Mwami (voller

Name)

Kagame

(Generationendauer

33 Jahre)

Vansina

(Generationendauer

24 Jahre)

Rennie

(Generationendauer

27 Jahre)

Nkurikiyimfura

(Generationendauer

23)

I Gihanga 959-992

II Kanyarwanda

Gahima

992-1025

III Yuhi Musindi 1025-1058

IV ? Rumeza 1058-1091

V ? Myarume 1091-1124

VI ? Rukuge 1124-1157

VII ? Rubanda 1157-1180

1 Ndahiro

Ruyange

1180-1213 ?-1386 1424-1451

2 ?Ndoba 1213-1246 1386-1410 1451-1478

3 Samembe 1246-1279 1410-1434 1478-1505

4 Nsoro

Samukondo

1279-1312 1434-1458 1505-1532

5 Ruganzu

Bwimba

1312-1345 1458-1482 1532-1559 1468-1470

6 Cyilima Rugwe 1345-1378 1482-1506 1559-1586 1470-1520

7 Kigeri

Mukobanya

1378-1411 1506-1528 1586-1588 1520-1543

82 Die angegebenen Eckdaten (nach Vansina 1962: 56; vgl. Tabelle 1) sind in Wirklichkeit hochgradig spekulativ. Dementsprechend kommen unterschiedliche Autoren in ihren unterschiedlichen Annahmen zu deutlich verschiedenen Daten für die frühesten, als historische Personen anerkannten Bami von Ruanda und damit der damit als verbunden angenommenen Gründung der Monarchie. Allen Versuchen von Historikern, eine Chronologie der ruandesischen Monarchie zu entwerfen, ist gemeinsam, daß sie von einer im Jahr der Thronbesteigung Mibambwe Seentaabyos beobachteten Sonnenfinsternis ausgehen (1792 nach Vansina ; 1742 die frühere Schätzung des ruandesischen Historikers und Priesters Kagame, der allerdings sichtlich daran interessiert war, den Beginn der Monarchie möglichst weit zurückzuverlegen), und überall dort, wo keinerlei Hinweise auf eine genauere Angabe zur Herrschaftsdauer der betreffenden Bami vorliegen eine feste Anzahl von Jahren als durchschnittliche Generationendauer annehmen (24 Jahre etwa bei Vansina 1962; 27 bei Rennie 1972; 33 bei der Periodisierung Kagames und 23 in einer neueren Arbeit des ruandesischen Historikers Nkurikiyimfura). Das ‚feste Vertrauen’ in die Korrektheit der ruandesischen Genealogie wurde in der Folge zum Ausgangspunkt genommen, die Genealogien vieler anderer benachbarter oder in Ruanda inkorporierter vorkolonialer Staatsgebilde (Burundi, Ankole, Ndorwan, Gisaka, Buhavu u.a.) an die ruandesische anzupassen und in der Berufung auf sie zum Teil drastisch zu ‚korrigieren’, was wiederum die Reputation der ruandesischen oralen Traditionen zusätzlich zu steigern vermochte. D.Newbury hat jüngst (1994) in einer kritischen Analyse der ruandesischen und anderer Genealogien die postulierte Präzision und Korrektheit insbesondere der ruandesischen Königsliste, die vor allem durch den Charakter der Überlieferung (siehe dazu Vansina 1962: 25f) begründet wurde, als Schimäre entlarvt. Die Genealogien, insofern sie formalen und ideologischen Zwecken genügen sollten (der zyklischen Abwechslung der dynastischen Namen; die Eliminierung von gestürzten Königen etc.), erwiesen sich als immer bis zu einem gewissen Grad manipulierbar. Aus Newburys Analyse geht hervor, daß die historische Existenz der Bami zwischen Ruganzu Ndori (Nr.11 in der in Tabelle 1 p.65 wiedergegenen Genealogie) und Cyilima Rujagira (Nr.17) bzw. Rwaaka (Nr.16) stark anzuzweifeln ist und sich die Datierung ihrer Vorgänger, deren histoirsche Existenz plausibler erscheint, dementsprechend um hundert Jahre nach oben verschiebt.

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8 Mibambwe

Mutabaazi

1411-1444 1528-1552 1588-1593 1543-1566

9 Yuhi Gahima 1444-1477 1552-1576 1593-1603 1566-1589

10 Ndahiro

Cyaamatare

1477-1510 1576-1600 1603 1589-1600

11 Ruganzu

Ndoori

1510-1543 1600-1624 1603-1630 1600-1623

12 Mutara

Seemugeshi

1543-1576 1624-1648 1630-1657 1623-1646

13 Kigeri

Nyamuheshera

1576-1609 1648-1672 1657-1684 1646-1669

14 Mibambwe

Gisanura

1609-1642 1672-1696 1684-1711 1669-1692

15 Yuhi

Mazimpaka

1642-1675 1696-1720 1711-1738 1692-1715

16 Karemeera

Rwaaka

------- 1720-1744 1738-1756 1715-1731

17 Cyilima

Rujugira

1675-1708 1744-1768 1756-1765 1731-1759

18 Kigeri

Ndabarasa

1708-1741 1768-1792 1765-1792 1759-1792

19 Mibamwe Seentaabyo

1741-1746 1792-1797 1792-1797 1792-1797

20 Yuhi Gahindiro 1746-? 1797-1830 1797-1830 1792-1830

21 Mutara

Rwoogera

?-1853 1830-1860 1830-1860 1830-1860

22 Kigeri

Rwabugiri

1853-1895 1860-1895 1860-1895 1860-1895

23 Mibambwe

Rutarindwa

--- 1895-1896 1895-1896 1895-1896

24 Yuhi Musinga 1897-1931 1867-1931 1897-1931 1897-1931

25 Mutara

Rudahigwa

1931-1959 1931-1959 1931-1959 1931-1959

Quellen: Kagame (1959): La notion de génération appliquée à la généalogie dynastique et à l’histoire

de Rwanda dès la Xe-Xie siècle à nos jours, Bruxelles; Nkurikiyimfura J-N. (1989): La revision d’une

chronologie: le cas du royaume du Rwanda, in Perrot C-H. et al. (Hsg): Sources orales de l’histoire de

l’Afrique, Paris beide zitiert nach Takeuchi 2000: 202 sowie Vansina 1962 und Rennie 1972. I – VIII

werden von Rennie und Vansina nicht als historische Personen gesehen. Offiziellen Genealogien zu

Folge soll Mutara Rudahigwa (1931-1959) der 40 Mwami Ruandas gewesen sein (Maquet 1961: 125).

Von der Regierungszeit Ruganzu Bwimbas (zwei Regierungszeiten vor Mukobanya) bis

Cyilima Ndahiro wurde der Großteil Zentralruandas erobert und nach diesen (bis zur

Herrschaftszeit Yuhi Mazimpakas) der Rest des heutigen Zentralruandas in das

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Kernkönigtzm inkorporiert (Vgl. Newbury 1991: 82; Vansina 1962: 84). Der Kontakt und die

Qualität des Kontakts mit einer politischen Kultur, die in vielerlei Hinsicht eine Mittlerstellung

zwischen Ost und West83 einnahm und mit politischen Traditionen westlich der Nil-Kongo-

Wasserscheide im Waldgebiet des Kongo ähnlich viel gemeinsam hatte wie mit politischen

Traditionen der Savannengebiete und der Uferregionen des Viktoriasees, hinterließ deutliche

Spuren, institutionelle und hinsichtlich der symbolischen Repräsentation von Herrschaft und

ihrer Ideologie. Die Expansion Ruandas in sein heutiges Zentrum veränderte die Qualität von

Herrschaft an sich. In dieser Periode wurde einem bestehenden Ursprungs- und

Gründungsmythos, welcher deutlich einem pastoralistischen Kontext entspringt, eine zweite

Version beigestellt, die auf verschiedene Charakteristika der Bergregionen anspielt (etwa der

Jagd) und die heroische Gründerfigur Gihanga („der Gründer“ vom Verb ku-hanga -

beginnen) als Zivilisationsbringer84 (Feuer, Eisenverarbeitung...) und ersten Mwami Ruandas

darstellt, der das Symbol königlicher Autorität, die Trommel85, eingeführt haben soll. Dieser

soll auch den ersten ‚Trommler’ (Rwoga) eingesetzt haben und enge Beziehungen mit jenen

Familien gepflegt haben, die in späteren Stadien wichtige rituelle Rollen im ruandesischen

Staat einnahmen. Auf ihn, so der Mythos, soll auch die Einführung des rituellen Codes der

Monarchie und die Ernennung königlicher Ritualisten zurückzuführen sein. Seine Söhne, so

der Mythos weiter, seien die Gründer der benachbarten Königtümer gewesen – Bushi,

Burundi u.a. – ein Anspruch, der deutlich aus einer späteren Phase der Expansion stammt

und diese als Mission der ‚Heimbringung’ darstellt (Vgl. Newbury 1991: 84; Chrétien 1999

passim). Eine große Anzahl von Orten, die mit den Namen von Ritualisten verbunden sind

oder Schreine u.a.. beherbergen, die im Zusammenhang mit dem Königtum stehen, befindet

sich an der äußersten Peripherie Ruandas. Diese Orte lagen zum Teil außerhalb seines

effektiven Herrschaftsbereichs und weisen auf die komplexen Beziehungen Ruandas zu der

den Staat umgebenden Region und spätere diskursive Interventionen, die daraus eine

Rechtfertigung eines ruandesischen Expansionismus ableiten wollten (Chrétien 1999: 294).

Die Herkunftsregion einige der bedeutendsten Ritualisten des Hofes scheinen in dieser

Periode, nämlich unter Kigeri Mukobanya, in Ruanda inkorporiert worden sein (Vansina

1962: 47).

Die geographische Verschiebung des politischen Zentrums von Ost nach West ging mit

bedeutenden religiösen Veränderungen einher: in der Verbreitung des Ryangombe – Kultes,

83 Das ist das zentrale Argument in der Studie David Newburys zum Inselkönigtum Ijwi (Newbury 1991). 84 Die zweite Gründerfigur, ein Zivilisationsbringer wie Gihanga in der ruandesischen Mythologie ist Kigwa („der vom Himmel Gefallene“). 85 ‚ingoma’, die Trommel bezeichnet gleichzeitig das Königtum, für das der Mwami das Medium darstellt. In dieser Repräsentation von Macht und Herrschaft erweist sich der Mwami als vom Diesseitigen abgehobenes Einheitsymbol des Landes. Die ostentative Sakralisierung von Politik stammt wohl aus einer späteren Phase Ruandas, nimmt aber gleichzeitig Bezug auf die stark rituelle Grundlage der Institution des Mwami/Umuhinza in der politischen Tradition der Kivu Rift ‚Tales’ (Vgl. Chrétien 1999: 294)

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der ruandesischen Variante des Kubandwa/ Bachwezi- Komplexes. Wie auch immer seine

konkrete Relation zur Institution des Königtums sein mag, besteht ein deutlicher

Zusammenhang mit ihr und der in den Traditionen gepflegten heroischen Sichtweise

vergangener Bami (pl. von Mwami) als Krieger und Jäger. Mitte des 18.Jh., unter Cyilima

Rujugira, wurde die Verbindung des Königtums zum Kult – in einem Versuch, diesen zu

kontrollieren – in der Gestalt des umwami w’imandwa, einem Repräsentanten des Mwami,

der an seiner Statt in den Kult eingeweiht wurde, institutionalisiert (D. Newbury 1991: 87).

Tabelle 2 gibt einen Überblick über die institutionellen Veränderungen im Zuge der

Verschiebung des Zentrums des ruandesischen Staates von Osten nach Westen, wie sie in

den Quellen, den königlichen Traditionen erzählt werden.

Tabelle 2: Institutionelle Entwicklungen bis ca. 1750

Periodisierung Mwami, dem die institutionelle Innovation zugesprochen wird

Innovation

Vor dem 16.Jh. bereits vorhanden - Formen von Klientelbeziehungen (d.h. Beziehungen zwischen Ungleichen, die tpyischerweise semi-politischer/-privater Natur sind)

- Pagenarmee - Ernennung von Chiefs auf Basis der

Verwandtschaft zur königlichen Lineage

- magisch-religiöse Ideologie (hinsichtlich der Institution des Königtums

- System ‚freier Orten’ (ibwami – Residenzen; bzw. ingarigari, das die Residenzen umgebende Land bezeichnete), die von einer Frau bzw. Konkubine des Königs ‚regiert’ werden später: Orte ähnlichen Status unter der Kontrolle von Abiru (Ritualisten der Monarchie) oder Protegés des Hofes

16.Jh. Cyilima Rugwe, Kigeri Mukobanya und Mibambwe Mutabazi

- ubwiru (‚Ritueller Code der Monarchie’), ausgeführt von (erblichen) Abiru (mit der Eroberung Bumbogos, und des nördlichen Rukomas (Herkunfts- und Wohnort der wichtigsten Ritualisten) insbes. ‚Nominierung’ einer Lineage von Abiru, der die Wahl der Lineage der künftigen Königinmutter oblag.

- Einführung der ‚Wächter des Hammers’ (rituelle Funktion hinsichtlich von Schmieden)

Wende 16./17.Jh.. Mibambwe Mutabazi, Yuhi Gahima

- Armeebildung auf der Basis ganzer Lineages

- Herausbildung der Erblichkeit der Armeezugehörigkeit

- Mit der Armeeorganisation Herausbildung der Assoziation von Armeen mit Provinzen

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Anfang 17.Jh Ruganzu Ndori - zusätzliche Abiru-Familie - älteste dynastische Heldenlyrik, die

besonders die übermenschlichen Eigenschaften der Bami herausstrichen; Privilegien für Dichter

Mitte 17.Jh. Mutara Semugeshi - Testament des Mwami (durch das u.a. die Erbfolge geregelt wurde) nicht mehr nur einem, sondern drei Abiru anvertraut; damit verringerte Bedeutung einzelner Abiru – Lineages

- Festlegung des Viererzyklus an dynastischen Namen (Mutara, Kigeri, Mibambwe, Yuhi); Assoziation der Namen mit bestimmten magisch-religiösen Eigenschaften und Tabus (Yuhi der Hirte, Kigeri der Krieger...) und Ablegen jener Namen, deren Träger ihre Aufgabe nicht erfüllt bzw. im Kampf versagt hatten

- älteste Heldenlyrik Mitte 18.Jh. Cyilima Rujugira - Mwami w’imandwa (Königlicher

Ritualist, der in den Ryangombe [kubandwa] Kult eingeweiht war) = Versuch der Kooptierung des Ryangombe Kultes in die Ideologie des Königtums

- Unterstellung der Grenzprovinzen unter die Autorität von Armeechiefs; permanente Stationierung von Armeen in den Grenzregionen

Quellen: Vansina 1962: 62ff: D.Newbury 1991: 84ff;

3.3.1 Kontinuität oder Innovation? Staatsbildungsprozesse

Eine Kernfrage der Historiographie können die vorhandenen oralen Quellen nicht

beantworten: jene nach der (ethnisch verstandenen) Herkunft der Monarchie als Institution.

Die vorhandenen oralen Quellen weisen zwar altersmäßig durchaus jenseits des 15./16. Jh.,

bleiben in bezug auf die Herkunft der verschiedenen Bevölkerungsteile bzw. hinsichtlich von

‚Ethnizität’ und Stratifkation qua ihres mythologischen Inhaltes weitgehend stumm (Twaddle

1975: 167). Es ist anzunehmen, daß der Staatsbildungsprozeß weiter zurückreicht und

älteren Datums ist als es das Alter der ältesten oralen Traditionen (meist Gründungsmythen)

vermuten ließ. Mit anderen Worten, Staatsbildung als solche waren nicht unbedingt das

radikal Neue, als welches sie in der Literatur vielfach dargestellt werden (Ebenda: 179; Ogot

1984: 498). Die Staatsbildungen stehen auch nicht in einem unmittelbaren, oft postulierten

kausalen Zusammenhang mit Immigrationen von Pastoralisten, seien diese nun ‚Niloten‘

(Luo) aus dem heutigen Südsudan, im Falle Bunyoros, oder ‚Hamiten‘ (Tutsi/ Hima)

umstrittener Herkunft86 in den südlicheren Königreichen des Großen Seengebiets. Die Frage

86 Das Fehlen substantieller historischer Spuren (sprachhistorischer oder anderer Natur), womit ihre Herkunft als Gruppe rekonstruierbar oder zumindest andeutbar wäre, entlarvt die Rede von Immigrationswellen als weitgehend leere Hülse, selbst wenn, und es ist plausibel anzunehmen, daß dies der Fall war, es ständig Migrationen aus dem Norden (i.e.: dem Nilbecken) durch verschiedene Pastoralistengruppen gab. Das Problem

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nach den Staatsbildungen bzw. nach der Institution der Monarchie in ethnischen Termini zu

stellen, heißt die Frage nicht nur in anachronistischer Weise zu formulieren, sondern die

Natur des Staates bzw. den Prozeß der Staatsbildung mißzuverstehen. Die als

Unterwerfungsthese sozusagen materialisierte Diffusionshypothese wirft grundsätzliche

Probleme einer an Institutionen interessierten Sozialwissenschaft auf: Zum einen suggeriert

sie eine durch Eroberung und Unterwerfung erreichte ‚Festsetzung’ von Herrschaft, als deren

Protagonisten nicht nur eine irgendwie begrenzte herrschende Dynastie, sondern ganze

‚ethnischen’ Gruppen identifiziert werden. Zum anderen ist die Idee eines

Institutionentransfers, zumal in einer Situation, in der die ‚Means of Destruction’ beschränkt

sind und die politische Durchsetzungskraft daher sehr stark mit der wahrgenommenen

Legitimität korreliert, grundsätzlich problematisch. Die zumeist nur oberflächliche Ähnlichkeit

mit institutionellen Arrangement anderswo läßt darüber hinaus auch nicht zu, eine ‚Quelle’

der Institutionendiffusion angeben zu können, geschweige denn den Prozeß zu

nachzuvollziehen, in dem die institutionellen Arrangements – ‚der Staat’ – auf die eroberte

Gesellschaft übertragen worden sind.

Igor Kopytoff (1987) hat in seiner komparativ angelegten Arbeit vorgeschlagen,

Staatsbildungen in Afrika als eine Folge und im Kontext von ‚Frontierprozessen’ zu sehen –

als einen Prozeß der Segmentierung von Gruppen von einer metropolitanen Einheit und der

sukzessiven Metropole-Werdung des peripheren Grenzlandes (‚Frontier’). Die Anwendung

des aus dem kolonialgeschichtlichen bzw. aus dem erschließungsgeschichtlichen Kontexts

Nordamerikas entlehnten Begriffs der ‚Frontier’ (die Westgrenze), deren Bedeutung für die

kulturelle, soziale und politische Entwicklung der USA von dem Historiker Frederick Jackson

Turner in mehreren Essays87 herausgearbeitet worden ist, impliziert nicht notwendigerweise

die spezifischen, von Turner betonten Besonderheiten der amerikanischen Westgrenze: die

Kolonisierung von Neuland jenseits des metropolitanen Einflußbereiches einer erstarkenden

Metropole (die den Siedlern immer Schritt auf Tritt folgte) und damit das Verschieben der

metropolitanen Grenzen nach Außen sowie die distinktive – nach Turner progressive –

politische Kultur der Grenzlandsiedler. Vielmehr repräsentiert das auf Afrika umgelegte

Konzept des ‚Grenzlands’ die Peripherie bestehender, relativ gefestigter politischer

Einheiten, wobei die Frontier durch ihre Eigenschaft als das institutionelle Vakuum der

Metropole bestimmt ist. Im Kontext der geringen sozialen und politischen Dichte

afrikanischer Gesellschaft ist die ‚Frontier’ nicht eine ‚Tidal Wave’, wie im amerikanischen

Fall, sondern die immer präsente ‚Grauzone’ einer Gesellschaft, in der die von ihr ist also nicht, daß Migrationen stattgefunden haben, sondern, daß sie die weitreichenden und profunden Folgen gehabt haben, die man ihnen gemeinhin attestiert hat. 87 namentlich (1893): ‚The Significance of the Frontier in American History’ in ‘Frontier and Section: Selected Essays; ed. by Ray Allen Billington, Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall und (1922): ‘Sections and Nations’ in: The Yale Review, 12 (October): pp.1-21

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produzierten ‚Frontiersmen’ – Ausgestoßene, zu kurz Gekommene, Unzufriedene – den

Keim neuer Herrschaftsverbände und Gesellschaften legen. Unter dem vorherrschende

Herrschaftsmodus88 hatten die afrikanischen Grenzbereiche immer einen stark lokalen

Charakter, was Kopytoff dazu veranlaßt, von ‚internen Grenzbereichen’ zu sprechen.

Idealtypisch kann die Herausbildung eines neuen politischen Fokus aus dem Grenzland als

die Festsetzung von in Gruppen migrierenden Siedler in einer (selten völlig leeren)

Grenzregion vorgestellt werden, in der überwiegend die mitgebrachten Vorstellungen einer

legitimen sozialen Ordnung reproduziert werden. Den Nukleus der politischen Einheit bildet

die Verwandtschaftsgruppe, und das Verwandtschaftsmodell (das in der Praxis dann auf

sehr unterschiedliche Weise realisiert wird) fungiert als das Modell politischer Integration.

Zugleich werden mit anderen mächtigen Gruppen oder dem bisherigen Fokus politischer

Zugehörigkeit Allianzen geschlossen. Mit Anwachsen des Herrschaftsverbandes kommt es

zu Hierarchisierungen, die nicht mehr durch das von dem Verwandtschaftsidiom suggerierte

Gleichheitsmodell verdeckt werden können, es kommt zu einer Dichotomisierung zwischen

Herrschern und Beherrschten, während die Idee des Herrschaftsverbandes als Patrimonium

der ‚Gründerverwandtschaftsgruppe’ beigehalten wird. Die Bindung der Angehörigen des

Herrschaftsverbandes an die herrschende Gruppe bzw. an die Figur des Herrschers bleibt

aber lose, und in der Ideologie der Untertanen erweisen sich die Herrscherfiguren als

Kreation der Untertanen. Diesen Legitimitätsvorstellungen wird dann in ‚reifen’ politischen

Verbänden mittels integrativer königlicher Rituale Rechnung getragen, während Herrschaft –

zumindest in den Kernbereichen des reifen politischen Verbandes – zunehmend ihren

kontraktuellen Charakter verliert (Kopytoff 1987: passim). In ihrem Außenbereich expandiert

der ‚reife’ Herrschaftsverband qua Kontrolle des militärischen Apparats, der ‚Means of

Destruction’ (Goody 1971: Kap. 3).

3.3.1.1Kontinuität und Diskontinuität denken: Herrschaftsverbände und ihre ethnische Färbung

Der britische Historiker Michael Twaddle (1975) hat in einer eingehenden Kritik der

Historiographie des Großen Seengebiets auf die bei der Interpretation der oralen Quellen zu

wenig beachteten inhärenten ideologischen Aspekten postulierter Kontinuität bzw.

Diskontinuität hingewiesen, sei dies nun in der Form von Kontinuität in bezug auf heroische

Gründerfiguren oder in der Form manipulierter Kontinuität der Institution des Königtums als

solcher, indem etwa dynastische Wechsel durch sie systematisch verschwiegen oder

euphemistisch gewendet werden. Daß im 19.Jh. – zumindest in Zentralruanda – Chiefs und

der Mwami aus Tutsi-Lineages und einigen wenigen Klans von angeblicher ‚ursprünglicher‘

Tutsi-Zugehörigkeit (etwa Ogot 1984: 518) stammten, bedeutet nicht, daß dies früher der 88 - als Herrschaft über Menschen. Damit verbunden waren die für Afrika so typische ‚Gefolgschaftsprozesse’ und die beschränkten Reichweite von Herrschaft, die in größeren Herrschaftsverbänden typischerweise zur Elaborierung von ‚Technologies of Reach’ - zu Ausdifferenzierung der politischen Inkorporationsverhältnisse

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Fall gewesen sein müßte, noch wirft die in den höfischen Traditionen zu findende mythico-

genealogische Rückführung der Monarchie (und der Dynastie) auf die mythologische Figur

Kigwa (“Der vom Himmel Gefallene“), gleichzeitig Stifter der Zivilisation wie Erster in der

Linie der ruandesischen Könige) – dessen Abstieg aus einem himmlischen Jenseits

übrigens als metaphorischer, gleichsam kryptischer historischer Beleg für eine Tutsi-Invasion

gelesen wurde (vgl. zu frühen Interpretationen Chrétien 1999: 300f) bzw. wird (etwa Feltz

1971) Licht auf die tatsächlichen ethnischen Verhältnisse der fraglichen Periode, zumal in

den Traditionen selbst nie oder erst für spätere Perioden von den heutigen ethnischen

Gruppen (Hutu, Tutsi, Twa) die Rede ist. Die wahrscheinlich geringe ätiologische Bedeutung

von Immigrationen fremder Gruppen für die politische Landschaft des Großen Seengebiets

ergibt sich – wenn auch nur spekulativ – aus dem Fehlen signifikanter technologischer oder

sozialorganisatorischer Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen, dem Charakter

des natürlichen Habitat und der Natur möglicher politischer Herrschaft, die allesamt

jedenfalls nicht ausreichen, die Invasions- bzw. Usurpationsthese zu begründen. Die

Präokkupation der Literatur mit einer rassischen bzw. ethnischen Interpretation von

Kontinuität und Diskontinuität kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese mit den

vorhandenen oralen Quellen selbst nicht eindeutig zu belegen sind. Neuere Hypothesen

über den Prozeß der Herausbildung von ethnieübergreifenden Klanidentitäten89 (D.Newbury

1980) legen einen Zusammenhang nahe zwischen der Ausweitung des Einflußbereichs des

ruandesischen Hofes und der durch Auflösung früher dominierender lokaler

Identifikationsformen und Verschmelzung zu neuen, übergreifenden und überregionalen

Identitäten erfolgten Bildung der heute vorherrschenden Klanidentitäten. Analog dazu

erscheint es plausibel, daß ‚Hutu‘ und ‚Tutsi‘, vielleicht in geringerem Ausmaße die ‚Twa‘,

entsprechend der Nähe oder Distanz zum Zentrum bestimmt (Vgl. Herbst 2000: 40ff; Kopytoff 1987: passim) 89 In Ruanda finden sich – je nach Autor – 15 bis 18 Klans, die jeweils, wenn auch zu unterschiedlichen Anteilen, Mitglieder aller ethnischen Gruppen umfassen. Tatsächlich bestehen außer den 15-18 großen Klans, deren Charakter Historiker und Anthropologen angesichts der zeitgenössischen ethnischen Gegensätze vor gehörige Erklärungsprobleme stellten, noch einige weitere, möglicherweise bis zu 50 (D.Newbury 1980: 396).In der Historiographie Ruandas wurden die multiethnischen Klans als Schlüssel zum Verständnis der Besiedlungsgeschichte Ruandas gesehen. Dazu wurde versucht, die ursprüngliche ethnische Identität der einzelnen Klans herauszufinden (über den relativen Anteilen von Tutsi bzw. Hutu an einem Klan) und daran anschließend, Hypothesen über die Einwanderung der Tutsi und über die anschließende Interaktion mit vorgefundenen Gruppen sowie über den Mechanismus der Ausbreitung der Klanmitgliedschaft auf alle ethnischen Gruppen aufzustellen (Vgl. zur Historiographie d’Hertefelt 1971: 21ff). Die stark unterschiedlichen Angaben über die Zahl der Klans weist freilich auf tieferliegende Probleme hin, die in bezug auf Klans bestehen, nämlich hinsichtlich der sozialen oder überhaupt semantischen Bedeutung der Klanidentität (in Kinyarwanda ubwoko (sg.), amoko (pl.)) und hinsichtlich der ‚Einheit’ von Klanattributen (etwa Totemtier oder ähnliches). Die Semantik von Ubwoko (‚Ubwoko’ kann neben dem, was gemeinhin als Klan übersetzt wird, ‚Rasse’ , ‚ethnische Gruppe’, ‚Spezies’, Art, Klasse bedeuten, woraus sich eine allgemeine Bedeutung als ‚Begriffsklasse’ herauskristallisiert, anders gesagt, ubwoko gruppiert/ordnet Begriffe/Phänomene hinsichtlich spezifischer Gemeinsamkeiten; Vgl. Takeuchi 2000: 188) weist jedenfalls darauf hin, daß es sich beim ruandesischen Klan um etwas anderes als um eine fiktive Verwandtschaftsgruppe, sozusagen um eine Verlängerung der Lineage, artikuliert in einem patriarchalen Idiom, handelt, sondern im besten Fall um eine soziale Kategorie (so etwa d’Hertefelt 1971: 3), von der in vielerlei Hinsicht heute nicht viel mehr als der Klanname selbst geblieben ist, der allerdings eine gewisse soziale Wirkmächtigkeit nicht verloren hat, sei es auch nur in der Form der einem Fremden gleicher Klanzugehörigkeit dargebotenen besonderen Gastfreundschaft (ebda: 7).

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sich erst als solche: als Großkollektive aus vormals ebenso vorwiegend lokal definierten

Gruppen konstituieren mußten (bzw. konstituiert wurden). Einige empirische Befunde, auch

aus rezenter Zeit – wie die Existenz von autonomistischen Rindernomaden (Bagogwe und

Bahima im Norden Ruandas), die in Fremddefinitionen gewöhnlich als Tutsi gesehen

werden, dem Selbstverständnis nach sich zuerst anders definieren – scheint in diese

Richtung zu deuten. Die der Frage nach der ethnischen Identität der ‚Staatsgründer‘ bzw. der

mytho-historischen Herrscher eingeschriebene Frage nach der rassischen Identität der

betreffenden Gruppen bleibt davon freilich in gewisser Hinsicht unberührt. Diese beruht

allerdings ihrerseits auf der Prämisse der Präkonstitution der ethnischen Gruppen, die sich

schon aus theoretischen Gründen als unhaltbar erweist. Einerseits verschiebt sie das

Konstitutionsproblem in eine nicht erkennbare Vergangenheit, hebt dieselbe im gleichen

Moment in den Status einer mythischen, vorhistorischen Epoche, in der die Welt als von

einer Vielzahl kleiner, isolierter, ethnisch homogener Gemeinschaften bevölkert gedacht

wird. Zum anderen wird in Anbetracht der politischen Zersplitterung der Region in der durch

die angebliche Invasion- bzw. Usurpation geprägten Epoche ein tieferliegendes

Einheitsmoment unterstellt, das letztlich auf nichts anderem beruht als die den jeweiligen

Gruppen unterstellten Blutsbande: auf der Idee der ‚Rasse’.

Während die oralen Quellen zur ‚Identität’ der von ihnen behandelten Gruppen weitgehend

schweigen, vermögen sie, werden sie ernst genommen einem besseren Verständnis der

Machtverschiebungen und damit der Kontinuitäten und Diskontinuitäten der betroffenen

Herrschaftsverbände zu dienen. Der Inhalt weiter Passagen vieler dynastischer Traditionen

dreht sich um Eroberungen, Raubzüge und interne Konflikte, aus denen das Königreich, das

diese Traditionen zum Inhalt hat, ‚siegreich‘ hervorgeht, zumindest seine Kontinuität wahren

kann. Twaddle hat nun auch die Natur der Konflikt- und Kriegsgeschichte als wesentlichstem

Teil eines politischen Prozesses, worüber die oralen Quellen Auskunft geben, einer Kritik

unterworfen, in der er einerseits die leichtfertige Akzeptanz von behaupteten Eroberungen

durch Historiker und andererseits die gleichzeitige Annahme einer bestimmbaren ethnischen

Identität des Königtums bzw. der zuerst vom ruandesischen Ursprungsgebiet annektierten

Gebiete kritisiert. Weder kann einfach angenommen werden, daß alle von ‚Ruanda‘

bekriegten Staaten in einem linearen Prozeß annektiert, integriert und ihnen (quasi zeitlose)

ruandesische Strukturen übergestülpt worden sind, noch, daß sie alle von Tutsi beherrscht

worden wären, noch, daß die modernen ethnischen Kategorien (Opposition von Hutu und

Tutsi) die selbe Bedeutung in der Vergangenheit gehabt hätten. Der durch häufige

kriegerische und semi-kriegerische Aktivitäten geprägte politische Prozeß in der Periode, die

bis mindestens in das 18.Jh hinein andauerte, dem Beginn der eigentlichen Expansion

Ruandas mit der Annexion der (heutigen) südlichen Teile Ruandas und großer Teile Gisakas

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(im Osten), spielte sich nicht zwischen ethnischen Gruppen oder ethnisch geprägten Staaten

ab, sondern zwischen Herrschaftsverbänden, die von einzelnen Klans oder Lineages

dominiert wurden. Der Aufstieg eines einzelnen ‚Klans’90 (der Abanyiginya) zum Königsklan

und damit zur dominierenden Kraft in Ruanda, war – im Kontext der Machtkämpfe – ein

durch Eroberungen geprägter Prozeß, in dem dieser wohl erst relativ spät Schritt für Schritt

benachbarte Territorien vormals unabhängiger politischer Einheiten annektierte (in dem er

die an der Macht befindliche Lineage bzw. Klan vertrieb oder absetzte) und in dem die

Ausdehnung des ruandesischen Herrschaftsbereiches nicht, wie häufig angenommen wird,

ein Ergebnis der ‚Vereinigung’ bzw. Assimilation von Tutsistaaten gewesen sei, bevor sie

unabhängige Hutu-Staaten einbezog (Twaddle 1975: 176f).

3.4 Der Charakter früher Herrschaftsverbände

Die politischen Einheiten der Frühzeit (bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert) kann

man sich wohl am besten als eher lose Herrschaftsverbände vorstellen, mit deren

Herrschern die Bevölkerung einerseits durch Tributzahlungen und Klientelverhältnissen

materiell und andererseits, über eine mehr oder weniger starke Herrschaftsideologie

ideologisch verbunden war. In einer Zeit, in der es für die Angehörigen eines

Herrschaftsbereiches beträchtliche Möglichkeiten gab, Druck auf die Herrschenden

auszuüben (durch Emigration in ein anderes Gebiet oder Aufkündigung der Loyalität), in der

die Bevölkerungsdichte noch gering genug war (im Vergleich zum 19.Jh.), um auf noch

unbesiedeltes Land zurückgreifen zu können und in der die militärisch-technischen Mittel

der Herrschenden zu beschränkt waren, um mit Gewalt die Bevölkerung unter Druck zu

halten, konnte politische Herrschaft nicht ohne geeignete ideologische Mittel, politischer

Zustimmung der Herrschaftssubjekte gemeinsam mit militärischem Druck aufrechterhalten,

geschweige denn vergrößert werden (Twaddle 1975: 178). Dauerhafte Expansion eines

‚Staates’ bzw. anderer Gebiete beruhte auf stets prekärem militärischen Erfolg

gleichermaßen wie auf ideologisch-mystischer Manipulation. Die primäre Konfliktlinie hierfür

verlief nicht zwischen ‚Hutu‘ und ‚Tutsi‘, sondern zwischen verschiedenen lokalen Gruppen,

deren Herrschaftsanspruch über ein Gebiet von jeweils anderen mit militärischen Mitteln

strittig gemacht wurde, nicht selten über die Ausnutzung reichlich vorhandener interner

Machtkämpfe zu diesem Zweck (Twaddle 1975: 178). Land war zunächst noch reichlich

vorhanden91 und blieb außerhalb der durch den ruandesischen Herrschaftsverband

repräsentierten Herrschaftsstruktur (aber nicht völlig außerhalb politischer Organisation). Es 90 Gemeint ist die königliche Lineage aus dem Klan der Nyiginya, vgl. vorhergehende FN und FN 81. 91 Die Rede von ‚Landknappheit’ beinhaltet immer auch ein subjektives Element, und die Rekonstruktion institutioneller Innovationen in der Studie der Frühgeschichte der Region von D.Schoenbrun (1998) weist sehr frühe institutionelle Arrangements nach (z.b. der Aufstieg der patriarchalen Ideologie und der zunehmenden Dominanz von Linearität in den Verwandtschaftsmodellen, die ursächlich mit Land bzw. seiner Vererbung (und

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ist wahrscheinlich, daß sich erst seit Ende des 18.Jh., im Zuge der zunehmenden

Verknappung landwirtschaftlich noch unerschlossener Gebiete, permanent seßhafte Land-

und Viehwirtschaft gegenüber einem durch Brandrodung gekennzeichneten

Wanderackerbau bzw. einer nomadisierenden Viehzucht durchgesetzt hat. Die Periode

davor kannte demnach wohl auch kaum ein Bodenrecht im engeren Sinn (Vgl.

Rwabukumba/ Mudadagizi 1974: 10-12). Wahrscheinlich nicht vor dem 18.Jh., nahm es

zunächst die Form des Erstbesitzrechts an. Die Lineage, die ein Stück Land urbar gemacht

hatte, war der eigentliche (kollektive) Besitzer92 desselben. Später Gekommenen wurde

Land vom Lineage Chief in einem pachtähnlichen System zugeteilt (Feltz 1975: 148).

Innerhalb der (engeren oder weiteren) Lineage wurde es als Familienbesitz aufgeteilt, wobei

die nächstfolgende oder übernächste Generation für die weitere Aufteilung des Landes

zuständig war. In dieser Weise nahm das Bodenrecht schon früh einen weitgehend

individuellen Charakter an, sodaß in Erb-, Weitergabe und Besitzangelegenheiten lineage-

oder klanbezogene Mechanismen kaum mehr in Anspruch genommen werden konnten (Vgl.

Meschi 1974: 44).

Insgesamt boten die sozialen, politischen und ökonomischen Beziehungen vor dem Ende

des 18.Jh. kaum das Bild eines systematischen Herrschaftszusammenhangs und ‚eng

geknüpften Netzes‘, als das es im 20. Jh. erschien und beschrieben wurde (siehe für eine

derartige Interpretation etwa die klassische Studie von Maquet 1954/1961: Kap.VII passim).

Wesentliche Elemente in der politischen Entwicklung der frühen Herrschaftsverbände waren

dagegen Kriege und Razzien, welche primär aus ökonomischen Gründen (Viehraub) geführt

wurden, mitunter in Zusammenhang mit internen Machtkämpfen standen (welche ein ebenso

permanentes Charakteristikum der frühen Periode darstellten) oder unmittelbar zur

Ausweitung des Machtbereichs (üblicherweise durch Tributverpflichtung, nur sehr selten

durch Annexion) dienten. Bis ins 18.Jh. und parallel zur schrittweise erfolgenden

Transformation von Pagen-Armeen (also dem Mwami verpflichteten bewaffneten Gruppen

junger Männer aus dem Umkreis des Hofes) hin zu ‚erblichen‘ Armeen basierend auf der

Inkorporation ganzer Lineages ab Mitte des 16.Jh. (Vansina 1962: 66f) sollen die effektiven

Mittel der Kriegsführung und militärisch gestützte Dominanz nicht überschätzt werden. Die

durch diese militärische Innovation gewonnene höhere Schlagkraft wurde selten in

systematische Expansionspolitik übersetzt. Sie zeigte sich in erster Linie in der

Vervielfachung von Razzien und in deren größeren Entfernungen vom Zentrum des Landes

(ebenda). Der Charakter des Krieges als immer auch ökonomisch motiviertes politisches

Instrument hat sich durch die Ausweitung des Kämpferkreises nicht geändert, wohl aber die

Bedeutung des Krieges als Umverteilungs- und daher als potentieller Machtmechanismus deren Kontrolle) zu tun haben).

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(Vgl. Heinrich 1978: 27). Über die unmittelbare Bedeutung von Kriegen für Gebietsgewinne

und Machtkämpfe hinaus, erweisen sich Kriege, damit verbundene militärische

Organisationsweisen und militärisch-organisatorische Innovationen für Ruanda als

Leitmuster allgemeinerer gesellschaftlicher und politischer Organisation überhaupt. Dies fand

seinen Ausdruck, noch im engeren militärischen Kontext, in der dualen Struktur der

ruandesischen Armeen: Kämpfer und Viehherden (und ihre Hirten) waren gleichermaßen in

Armeen organisiert. Damit hatten die Armeen über ihre kriegerischen Funktionen hinaus

einen dezidiert ökonomischen und sozialen Zweck, dienten als Ressource für die politische

Elite und wurden zunehmend zu einem wichtigen Element der politischen bzw. der sozialen

Organisation. Der Krieger, der sich durch Tapferkeit, Treue und Großzügigkeit auszeichnete,

galt nicht nur als Idealbild von Männlichkeit93, sondern als (für manche nie erreichbare) Ideal

des Menschen an sich (Heinrich 1978: 136).

Exkurs: Militärische (Re-)Organisation und militärischer Ethos

Höfischen Überlieferungen nach kam es in der Folge eines oder mehrerer Einfälle von

Verbänden aus dem erstarkenden Königtum Bunyoro94 (heutiges Uganda) zu einer Reihe

von Neuerungen in der Organisationsweise der Armeen (ingabo) während der Regentschaft

der Bami Kigeri Mukobanya (1506-1528), Mibambwe Mutabazi (ca. 1528-1552) und Yuhi

Gahima (ca. 1552-1576). Unter dem Eindruck der strafferen Organisation (insbesondere der

einheitlichen Kommandostruktur während eines Feldzuges bei den Armeen Bunyoros)

scheint das Kommando über die Armeen vereinheitlicht und diese dem Mwami unterstellt

worden zu sein. Ab der Regierungszeit Mibambwe Mutabazis oder Yuhi Gahimas wurden

schließlich, so sagen es zumindest die höfischen Traditionen, die existierenden

Pagenarmeen auf der Basis von Lineages rekrutiert und aus diesem Grund Armeen in

Kompanien (itorero) gegliedert.

Die Zugehörigkeit zu einer Armee aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Lineage brachte mit

sich, daß die Mitgliedschaft zu einer Armee schließlich ‚erblich’ wurde – sofern man nicht als

jugendlicher ‚Intore’ (‚Erwählter’) für eine neugegründete Armee ‚auserwählt’ wurde.

Während also neue Rekruten einer Armee auf individueller Basis beitraten, gehörten ihre

Nachkommen der Armee qua Zugehörigkeit zur engeren Familie (‚Inzu’ – ‚Haus’) des

rekrutierten Intore aus der Vorgängergeneration an (d’Hertefelt 1962: 65).

92 Zu lineageinternen landbezogenen Vererbungsusancen siehe Meschi 1974: 40f 93 Ein Indikator dafür geben das semantische Feld der Wortwurzel –ngabo und die daraus abgeleiteten Termini, z.b.: umu-gabo – männlicher Erwachsener, mutiger Mann; Imi-gabo – männlich feste Entscheidung, Projekt, Absicht; I-gabo – Herausforderung, Tapferkeit, Mannhaftigkeit, Tüchtigkeit, Arroganz, Haltung; Ubu-gabo – Virilität, Heldenhaftigkeit (Ndejuru 1983: 103) 94 Die historische Validität dieser Aussage soll dahingestellt bleiben. Hinsichtlich der Benennung anderer als der jeweils eigenen Gesellschaft sind die historischen Überlieferungen (ibitekerezo) notorisch unpräzise.

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An der Spitze der Armeen standen Notable, die gegenüber anderen Ämtern eine relativ

autonome Position einnahmen, sogenannte ‚Armee-Chiefs’ (umutware w’ingabo oder

umugabo). Doch schloß sie ihre Befehlsgewalt über eine Armee keineswegs von anderen

Ämtern aus, im Gegenteil, die Verfügungsmacht über eine der zahlreichen Armeen wurde zu

einem wesentlichen Element der Machtkämpfe rund um die höchsten Positionen des

Herrschaftsverbandes (Vansina 1962: 65ff; Weinstein 1977: 48f). Die neue

Militärorganisation, die sich in mehreren konkurrierenden Armeen mit Armee-Chiefs an ihre

Spitze manifestierte, war damit zugleich eine wesentliche eine Quelle von Konflikten dieser

Armeen untereinander sowie einzelner oder Koalitionen von Armee-Chiefs mit dem Mwami

(Vansina 1962: 67). Gewöhnlicherweise war ein Armee-Chief ein Notabler, der große Herden

und besaß und eine hohe Position innehatte und der das ihm übertragene Amt und die damit

verbundenen Armeeangehörigen und Armeeherden dazu nutzte, sich Klientel zu schaffen

und zu verfestigen. Gegenüber seinem Klientel – den Armeeangehörigen – fungierte ein

Armee-Chief als Fürsprecher und Protektor, kam es zu Konflikten mit territorialen Chiefs oder

anderen ‚Big Men’ (Vgl. d’Hertefelt 1962: 66f).

Die Armeen waren freilich mehr als reine Kampfverbände, vielmehr (in den Worten Alexis

Kagames) ‚soziale Armeen’ (Kagame 1961). Jede von ihnen hatte einen eigenen (Preis-)

Namen, unter denen sie bekannt wurden und der den Mitgliedern eine kollektive Identität

jenseits der Lineage (inzu bzw. umuryango) oder der ‚Lokalität’ verlieh und infolge des

nonterritorialen Charakters der Armeezugehörigkeit Personen im ganzen Herrschaftsgebiet

(und später, mit der Generalisierung der Armee als Patronagemechanismus auch darüber

hinaus) miteinander verband. Ihnen waren eigene Herden zugeordnet und manchmal die

Betreuung königlicher Herden besonderen Viehs (‚inyambo’ – ein Typus von Rindern mit

besonders langen Hörnern[Sangha-Rind]) überantwortet. Neben den eigentlich Kämpfenden

(deren Kern stets die ‚Intore’ bildeten), taten andere als ‚Hirten’ Dienst. Diese rekrutierten

sich aus jungen Männer vor ihrer Kampftauglichkeit, teils aus Söhnen von Klienten des

Armee-Chiefs oder aus diesen selbst. Die Armeen fungierten gleichzeitig als wichtiger Kanal,

über den Tributzahlungen95 an den Hof gelangten, vornehmlich in der Form des Prestigeguts

‚Rind’. Allerdings verwandten Armeeangehörige (gewöhnlicherweise aus der ‚Hirtensektion),

die aus vieharmen Lineages kamen, durchaus andere Güter, um ihrer Tributpflicht

nachzukommen. Ende des 19.Jh. waren weite Teile der ruandesischen Bevölkerung

Mitglieder der einen oder anderen ‚Armee’, womit die Armeeorganisation einen wesentlichen

Teil des Extraktionssystems darstellte, das die Basis (und einen wesentlichen Sinn) der

administrativen Struktur Ruandas darstellte (siehe auch unten Kap. 4.1 Expansion und

Militär).

95 Zu den verschiedenen Typen von Tribut siehe Kagame 1961: 8ff

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Die Armee als soziale Institution und Organisationsweise war auch der Ort, an dem

gesellschaftliche Unterschiede artikuliert wurden, Oberschichtsverhalten erlernt wurde. Und

sie gehörte zweifellos zu den vorkolonialen Institutionen, innerhalb derer die Kategorien Hutu

und Tutsi die spezifisch hierarchische Bedeutung – die später generalisiert wurde -

annahmen, sozusagen ‚mit Leben erfüllt’ wurden. Die Artikulation eines hierarchischen

Verhältnisses zwischen ‚Hutu’ und ‚Tutsi’ innerhalb der Armee wurzelte selbst wieder in der

Distanz zwischen Aristokratie und gemeinem Volk, zwischen (Macht) Zentrum und (der)

Peripherie (der Macht; in der Wahrnehmung des Hofes und der mit ihm verbundenen

Personen und Gruppen natürlich dieser selbst), dem Distanzverhalten, das die Aristokratie

an den Tag legte.96 Die Armee wurde so entsprechend der Ausweitung und Generalisierung

des militärischen Modells zu einer der wichtigsten sozialisatorischen Instanzen im

vorkolonialen Ruanda überhaupt, innerhalb derer gesellschaftlicher Status vermittelt wurde.

Ursprünglich regional rekrutiert, verloren die Armeen dieses Attribut mit der Erblichkeit der

Armeezugehörigkeit zunehmend. Mit der Ausweitung der Armeezugehörigkeit auf größere

Teile der Bevölkerung wurde schließlich der Unterschied zwischen denjenigen, die als intore,

als junge Männer vor der Pubertät, am Hof gedient und dort eine umfassende Ausbildung

erhalten hatten und denjenigen, die lediglich einer Armee angehörten, zu einem effektiven

Symbol von ‚Klassenzugehörigkeit’ (D.Newbury 1991: 90). Am Hof, genauer in ihrem itorero

(‚Ort der Auswahl’; zugleich als Synonym für Kompanie gebraucht), rezitierten die intore

Heldengedichte (ibisigo), die zu Ehren besonders ‚heldenhafter’ Mwami gedichtet worden

waren, lernten selber ibyivugo zu komponieren (sg. icyivugo; eine Art von Gedichten, in

denen der Vortragende seine eigenen Heldentaten verherrlicht und zukünftige umschreibt),

erhielten eine Ausbildung im Speerwurf und Bogenschießen in Verbund mit einer

umfassenderen körperlichen Ertüchtigungspraxis und lernten die aristokratische Etikette zu

befolgen (Ndejuru 1983: 108ff). Die Armee stand somit im Mittelpunkt eines ideologischen

Apparats, der für die Reproduktion zentralruandesischer Normen und Sichtweisen eine

essentielle Funktion einnahm und der mit der Transformation der Herrschaft infolge der

Expansion Ruandas – der Verschiebung seines Zentrums in den Westen – die

transportierten Wertvorstellungen zum dominanten Normsystem in der Gesellschaft erhob.

Gleichzeitig wurden diese Normen, die selbst wieder Ausdruck einer sich herausbildenden

Identität Ruandas als Metropole, als kulturelles, soziales und politisches Zentrum waren,

wesentlich von dem Charakter der Staatsbildung geprägt, d.h. in dem Prozeß der

Schwerpunktverschiebung von Ost nach West und der dadurch bedingten Transformation

der Herrschaft. Als (negativer) Bezugspunkt für die Formulierung der spezifischen

96 Siehe zu der Beziehung zwischen Politik, Distanz und Repräsentation von Herrschaft Edelman 1990: 5

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ruandesischen Werte diente das jenseits des ruandesischen Grenzlandes verortete Andere

(kollektiv benannt als ‚Bushi’ oder ‚Bunyabungo’), Synonym für Barbarei, Unkultiviertheit und

Unzivilisiertheit (Vgl. D. Newbury 1987: passim). Viele der Implikationen der

Armeeorganisation – sei es hinsichtlich der Inkorporation eroberter bzw. beanspruchter

Gebiete und Gesellschaften, sei es hinsichtlich ihrer ideologischen Funktion und Katalysator

von Stratifikation und der Restrukturierung Ruandas nach einem Zentrum (=Hof) –

Peripheriemodell fallen außerhalb der in diesem Kapitel behandelten Periode und zusammen

mit der Expansion Ruandas ab Mitte des 18.Jh., die im folgenden Kapitel behandelt werden

soll.

3.4.1 Herrschaftsdichte

Die Verfügungsmacht des Mwami bzw. der Chiefs betraf in einer Situation noch vorhandener

Landressourcen und der vorherrschenden Weise der Kriegsführung vor allem Rinder. In

diesem Kontext die Genese der Form der von einer Aristokratie von Tutsi-‚Pastoralisten‘97

regierten Monarchie ist wahrscheinlich anzusiedeln. Mindestens ebenso wichtig wie die

Umverteilungsmacht über Vieh war die charakteristische Veränderung der Beziehungen

zwischen Pastoralisten und Ackerbauern, wie sie durch Dürren und Subsistenzkrisen

induziert wurde. Solche Subsistenzkrisen infolge von Dürre waren namentlich in der ersten

Hälfte des 17.Jh. und der zweiten Hälfte des 18.Jh. häufig. Ackerbauern waren davon

tendenziell betroffener als die mobileren Pastoralisten (Webster/ Ogot/Chrétien 1992: 822ff).

Subsistenzkrisen im Kontext von ökologischen und mittel- und langfristigen klimatischen

Veränderungen hatten wahrscheinlich schon in einer früheren Periode wesentlich zur

Ausbreitung pastoralistischer Lebensweisen in der Region beigetragen.98 Die verstärkte

Kontrolle über Zugang und Verteilung von Rind durch Chiefs und den Mwami und

Subsistenzkrisen, die das agrarische Äquilibrium veränderten, führten im Verbund mit der

Verknappung von Land und einer wachsenden Bevölkerung dazu, daß der Mwami bzw. die

Chiefs während des 18.Jh. die Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktion bzw. das

Land selbst erlangten und sukzessive ausweiteten, ein Prozeß, der zweifelsohne am Beginn

des Zentralisierungsprozesses des 19.Jh. steht und ihn erst ermöglicht hat. Die

Zentralisierung und gleichzeitige Verdichtung der Herrschaft war schließlich der

entscheidende Faktor in der Verstärkung und Erstarrung des schon aufgrund der erwähnten

Entwicklungen in Ansätzen vorhandenen Ungleichgewichts zwischen Bauern und

97 Genaugenommen war keiner der Tutsi im engeren Umkreis des Hofes, ebensowenig wie die wichtigen Chiefs mehr Pastoralisten, sondern Grundherren und Viehbesitzer. Die Berechtigung für den Terminus ‚Pastoralisten‘ liegt in der ideologischen Bedeutung des Rinds für ebendiese Aristokratie. 98 Aufgrund des Rodah Nilometers (d.h. Aufzeichnungen über Pegelminima und –maxima des Nils, die seit dem 7.Jh. von ägyptischen Verwaltern gemacht wurden) lassen sich zwei ausgedehnte Trockenperioden im Großen Seengebiet ausmachen, eine von etwa 950 bis 1100 und eine zweite von ca. 1200 bis 1450. Besonders in der letzten breitete sich der Pastoralismus im westlichen Hochland des Großen Seengebietes (i.e.: Ruanda, Burundi, Nkore) besonders stark aus (Schoenbrun 1998: 221)

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Pastoralisten und dem damit einhergehenden Bedeutungsaufschwung von ‚Hutu‘, ‚Tutsi‘ und

‚Twa‘ als kollektive Identifikatoren.

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Kapitel IV Zentralisierung und Expansion

Um 1800 umfaßte Ruanda noch weniger als die Hälfte des heutigen Staatsgebietes. Als

1898 die erste deutsche Militärstation – das erste sichtbare Zeichen der deutschen

Inbesitznahme der Kolonie – auf ruandesischem Boden errichtet wurde, war die das 19.Jh.

prägende Expansion keineswegs abgeschlossen. Einige kleinere rituell-monarchische

Staaten (Bushiru, Buhoma, Bukonya, Bugamba-Kiganda, Itare, Cyingogo, Ruhengeri, Kibali,

Rwankeri und Bwananmwali im Norden; Mubali im Osten sowie Busozo und Bukunzi im

Süden) behielten teilweise bis in die Zwanzigerjahre ihre Unabhängigkeit und wurden erst

mit kolonialer Unterstützung bzw. auf kolonialer Initiative hin der Monarchie eingegliedert.

Andere Regionen, insbesondere in den nördlichen Gebieten, standen zwar mitunter unter

nomineller Kontrolle zentralruandesischer Chiefs, de facto wurden die meisten

Angelegenheiten aber innerhalb von Lineages mittels eher diffuser Arrangements geregelt.

Dazu kamen im Norden noch lokale ‚Warlords‘ und Nyabingi-Medien – PriesterInnen einer

‚Gottheit’ namens Nyabingi (bzw. Biheko)99-, die im Gebiet ihrer spirituellen Tätigkeit quasi

autonome Herrschaftszonen etablierten und, in einer Widerspiegelung der monarchischen

Situation in Ruanda, zwischen mehreren Residenzen nomadisierten und Klienten an sich

banden (Linden 1977: 19 und 36f). Die administrativen Strukturen bzw. die Art und Weise

der Integration in den ruandesischen Herrschaftszusammenhang bestanden zu Beginn der

kolonialen Okkupation aus einem Puzzle verschiedenster Arrangements, an deren

Ausgestaltung man das Datum der Annexion und das Ausmaß der zentralgewaltlichen

Durchdringung ablesen konnte (Ntezimana 1990 passim). Gleichfalls war die Herrschaft des

ruandesischen Mwami in den erst in jüngerer Zeit erworbenen Gebieten nicht unbestritten

und äußerte sich in Konflikten zwischen der Monarchie bzw. den zentralruandesischen

Notablen und den jeweiligen ‚angestammten‘ Eliten (Honke 1990a: 120 ;

Mbonimana/Ntezimana 1990: 135). Zugleich war der ungleichmäßige und ungleichförmige

Expansionsprozeß begleitet von einer qualitativen Veränderung der Herrschaftsstrukturen

bzw. der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt, die in den ruandesischen Kerngebieten

99 Die Nyabingi Bewegung hat ihre Anfänge im frühen 19.Jh. und ist möglicherweise als Verehrung einer historischen Person – Biheko oder Kiheko – entstanden. Nyabingi bzw. Biheko/Kiheko wird nach einer Tradition als eine Frau aus der Herrscherdynastie Ndorwas (Nordzentral-Ruanda) stammend (‚Königin von Ndorwa’) betrachtet. Nach einer anderen Tradition kam der Kult vor 1900 aus dem Westen nach Ruanda. Das Phänomen, von ‚Geistern’ hervorragender historischer Personen besessen zu werden, ist jedenfalls in der gesamten Region des Großen Seen-Gebietes ein häufiges und hängt mit den weitverbreiteten religiösen Vorstellung bezüglich Sterben und Tod, d.h. mit der für diese Region spezifischen Kosmologie zusammen. Während es sich beim Nyabingi-Kult, so wie bei kubandwa um einen Besessenheitskult handelt, ist Nyabingi, im Gegensatz zu kubandwa, das mit der Figur Ryangombes verbunden wird, ‚privater’ Natur, in dem Sinn, als daß ein Hilfesuchender allein eine(n) Priester(in) der Gottheit aufsucht und die Sitzung wenig formalisiert organisiert ist. Diese Form einer religiösen Bewegung ist zudem ausschließlich in Gebieten, die traditionell über keine zentralisierten politischen Strukturen verfügten, zu finden (Dorsey 1994: 314; Freedman 1974: 170f; Lemarchand 1970: 100)

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ihren Ausgangspunkt hatte. Unter den Bami (pl. von Mwami) Yuhi IV. Gahindiro (1797-1830),

Mutara II. Rwogera (1830-1860) und Kigeri IV. Rwabugiri (1860-1895) wurden viele jener

Institutionen und Herrschaftsarrangements eingeführt, die später als typisch für die

oppressiven Verhältnisse in Ruanda gesehen wurde. Sie betrafen im wesentlichen drei

Bereiche:

- das Landregime

- Klientelverhältnisse

- Kontrolle der Arbeitskraft

Die Veränderungen in den drei Bereichen sind zutiefst miteinander verbunden und selbst

wiederum Ausdruck der Verdichtung der Herrschaftsbeziehungen. Vor dem 19.Jh setzte sich

die Verwaltung des Reiches im groben aus drei Ebenen zusammen:

- dem König und seinen Beratern bzw. den Ritualisten (Abiru)

- Provinz- bzw. Armeechiefs

- Distrikt-Chiefs

- lokalen Chiefs (Hügel-Chiefs oder Lineage-Chiefs).

Außerhalb dessen standen die königlichen Residenzen, die von den Konkubinen des Königs

verwaltet wurden und ihm insofern direkt unterstanden. Sie befanden sich theoretisch in

jeder Provinz und beschränkten somit die Macht der Provinz- und der Distrikt-Chiefs (vgl.

Abbildung 7: Schema der Herrschaftsbeziehungen in Ruanda ca. 1750 auf der folgenden

Seite)

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Abbildung 7: Schema der Herrschaftsbeziehungen in Ruanda ca. 1750

Umwami Umugabekazi

(Königinmutter)

Abiru (sg.Umwiru, ‚rituelle Experten und Berater des Königs

Abiru-‚Lehen‘ Konkubinen d. Königs (Umuja)

Garigari: königliche Residenzen

Abatware b‘intebe Privilegierte Lokale Notablen

(Rat der Würdenträger, schwach instutionalisiertes Königliche Grabstätten, rituelle Haine

beratendes Gremium) etc.

Abatware b’amacibiri

Korps der Provinzchiefs

Abatware b‘ingabo

Armee-Chiefs

‚Armee Sociale‘ ‚Armee Bovine‘

Distrikt-Chiefs,

Hill-Chiefs; Lineage-Chiefs etc.

(vgl. d’Hertefelt 1962: 62f; Heinrich 1978: 36f; Kabagema 1993: 44ff; Feltz 1971: 80)

Ende des 19.Jh hatte Ruanda an die 80 Provinzen. Ihre Zahl und ihre Grenzen waren

instabil, da jeder neue Mwami neue Armeen schuf – und mit ihnen neue Provinzen -, die

dem Chief einer neugeschaffenen Armee oder anderen Notablen (umutware w’umukenke;

umutware w’ubutaka) zur ‚Verwaltung’ übertragen wurde. Die in der Literatur gewöhnlich

‚Provinzen’ genannten Einheiten waren allerdings keine territorial-administrativen Einheiten

im engeren Sinn. Ihr Name bezeichnete eine geographische Region, eine Gegend:

Ruanda besteht aus einer Anzahl von Provinzen, deren Namen geographische Begriffe, nicht

aber administrative Einheiten bezeichnen. (...). Die einzelnen Provinzen weisen keine

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zentralisierte Verwaltung auf und haben keine Statthalter. (Czekanowski100 zitiert nach

d’Hertefelt 1971: EN 28)

Im Jahresbericht der Residentur Kigali von 1911 heißt es ähnlich: „In sich geschlossene,

abgegrenzte Häuptlingschaften (...) gibt es nicht.“ (zitiert nach ebenda).

Ende des 18.Jh. hatte sich aus dem Amt des Armee-Chiefs das des Provinz-Chiefs, das

praktisch erblich war, entwickelt. Lediglich Grenzregionen bzw. jüngst eroberte Gebiete

unterstanden einer militärischen Verwaltung (Vgl. Vansina 1962: 71). Die Aussagekraft des

Organigramms über die tatsächliche Ausgestaltung der Herrschaft ist freilich beschränkt. Sie

hing von einer Vielzahl von Faktoren ab, unter anderem von der Macht eingesessener

lokaler Eliten bzw. Lineages, von der Nähe zum Zentrum und anderem. Quer zu diesen

hierarchischen Strukturen der Herrschaft lagen Klientelbeziehungen, die über die territorialen

Grenzen der Provinzen und selbst des ruandesischen Machtbereiches hinausgehen

konnten. Gegenüber späteren bzw. später generalisierten Formen (ubuhake, uburetwa...)

unterschieden sie sich durch größere Freiwilligkeit und wahrscheinlich größere

Heterogenität. Im groben gab es drei Typen von Klientelbeziehungen:

(1) Solche, die ein direktes Verhältnis mit dem Mwami begründeten. Ihre konkrete

Ausformung und Bedeutung ist allerdings schwer zu rekonstruieren. Mit einem solchen

direkten Verhältnis zum Mwami war jedenfalls ein Statusgewinn auf lokaler Ebene

verbunden, ebenso wie ‚Klient-des-Mwami-Seins‘ ein deutliche Affirmation der Autonomie

gegenüber lokalen und regionalen Chiefs war. Die häufig gemachte Behauptung lokaler

Lineages, ein nicht so weit zurückliegender Vorfahre sei Klient des Königs gewesen,

kann zugleich als rückwärtsgewandter Ausdruck verlorener Autonomie gelesen werden,

setzt man sie in den Kontext der Verdichtung und Expansion der zentralruandesischen

Verwaltungsstrukturen in periphere Gebiete (Vgl. C.Newbury 1974: 27).

(2) Eine weitverbreitete Form der Abhängigkeitsbeziehung bestand in dem Klientelverhältnis

mit einem ‚Umuheto‘-Patron. Sie wurde zwischen einer (viehbesitzenden) Lineage

(vertreten durch ihren Lineage-Chief) als ‚Klient‘ und einem Armee-Chief (umutware

w’ingabo, auch umutware w’umuheto, daher die Bezeichnung) als Patron

abgeschlossen, brachte einen gewissen Schutz und Statusgewinn und war an die

Mitgliedschaft in einer Armee (ingabo) gebunden (vgl. C.Newbury 1988: 75). Schon ab

einem frühen Zeitpunkt, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Ausweitung der

ursprünglichen ‚Pagen-Armeen‘ zu der reformierten Form der Armeen, waren die

ruandesischen Armeen stets mehr als rein militärische Körper. In gewissen Sinn 100 Jan Czekanowski (1917): Forschungen im Nil-Kongo-Zwischengebiet. Bd.1: Ethnographie. Leipzig: Klinkhardt und Biermann p.266

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repräsentierten sie schon in der Frühzeit eine potentiell generalisierbare soziopolitische

Organisationsweise, die sich in der typischen Verdopplung als Kämpfer- und

Hirtenverband bzw. als Kampfeinheit und Herdeneinheit (den Armeen waren Viehherden

zugeordnet) äußerte. Ebenso waren Armeen schon früh Abgaben- und

Umverteilungsinstrumente, von denen die jeweils höhere Patronasgeebene profitierte

(d’Hertefelt 1962: 66). Im Kernbereich Ruandas (Nduga u.a.) umfaßten die Armeen

große Teile der Bevölkerung, zum größeren Teil viehbesitzende Lineages. In den

Grenzregionen bzw. in Regionen außerhalb des nominellen Herrschaftsgebietes

Ruandas bestanden Umuheto-Bindungen zwischen Gruppen von höherem Status und

ruandischen Armee-Chiefs, erstere oft Tutsi-Emigranten aus dem Zentralbereich der

ruandesischen Herrschaft.

(3) An Land gebundene Klientelbeziehung waren ein dritter Typ formalisierter

Abhängigkeitsbeziehungen. Ihr Vorhandensein war vor 1800 auf wenige Gebiete

beschränkt. Sie trat dort auf, wo Landknappheit auftrat bzw. wo Pionier-Lineages qua

ihrer Niederlassung an einem bestimmten Ort, diesen oder große Teile davon als eigene

Domäne betrachteten und an später kommende Lineages im Rahmen des Ubukonde –

Systems ‘verpachteten‘ (ebenda: 79).

4.1 Expansion und Militär

Das Ursprungsgebiet Ruandas lag am Mohasi-See, in offenem Savannengebiet. Das

natürliche, für Viehhaltung (aber für wenig anderes) geeignetes Habitat läßt es plausibel

erscheinen, daß dieser Staat tatsächlich ein ‚Tutsi‘-Staat war, in dem Sinn als daß er auf

pastoralistische Gruppen fußte und Organisationsweise und Institutionen auf den

pastoralistischen Charakter der Bevölkerung beruhten. Sein Zentrum verschob sich

schrittweise nach Westen, in fruchtbareres, teilweise stark bewaldetes. Sein

Herrschaftsbereich dehnte sich über Jahrhunderte, in mehreren Phasen und in einem

diskontinuierlichen Prozeß, langsam aus (Vgl. Rennie 1972, Map.4; sowie Vansina 1962:

Kap.5). Mit der Ausweitung und Ausdehnung des ruandesischen Herrschaftsbereiches und

der Inkorporation der betreffenden eroberten Bevölkerungen veränderte sich auch der

Charakter des Staates. Vorgefundene Normen und Institutionen eroberter Gebiete fanden

Eingang in Ideologie und Organisation der Monarchie. Im Gegensatz zum statischen

Eindruck, den die höfischen oralen Traditionen von Ruanda geben wollen, befand es sich

während der Periode seiner bekannten Geschichte in einer Situation permanenten und nicht-

linearen Wandels.

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Die Periode, die hier interessiert, ist jene unter der Herrschaft Cyirima II Rujugira (Mitte des

18.Jh.101) begann. Unter seiner Regentschaft expandierte Ruanda in den Osten (Gisaka),

den Norden (Ndorwa) und in den Süden bis an die (gegenwärtigen) Grenzen Burundis.

Rujugira konnte gegenüber seinen östlichen und nördlichen Nachbarn die regionale

Hegemonie Ruandas festigen, ohne jedoch die betreffenden Regionen in den ruandesischen

Staat zu inkorporieren. Die Regierungszeit Rujugiras läutete außerdem die Expansion in die

westlichen Gebiete ein und fiel mit einer Periode der Erstarkung der königlichen Macht nach

innen zusammen (Vansina 1962: 88). Rujugira erhöhte die Zahl der Armeen um ein

Vielfaches (ein Drittel aller bekannten Armeen wurden unter ihm bzw. seinem unmittelbaren

Vorgänger bzw. Nachfolger gegründet; D.Newbury 1991: 89) restrukturierte ihre interne

Organisation und führte ein spezielles Verwaltungssystem für Grenzregionen ein, wonach

diese von Armeen administriert werden sollten. Armeemitglieder wurden aus allen Regionen

Ruandas rekrutiert, um einige Jahre in Grenzregionen Dienst zu tun. Die

Bedeutungserhöhung der Armeen, die, weil nicht auf territorialer Basis organisiert102, immer

schon auf die Institution des Königtums konzentriert und orientiert war, war so bedeutendes

Instrument der Machtausweitung der Monarchie und für Rujugira, der auf illegitime Weise

den Thron erworben hatte, seine eigentliche Machtbasis (D.Newbury 1987: EN3 und ders.

1991: 89). Gleichzeitig reflektiert die Positionierung der Armeen unter Rujugira und seinem

Nachfolger Kigeri Ndabarasa die Expansion des erstarkenden Staates. Ursprünglich von

militärischen Überlegungen motiviert, brachte die neue Verwendung der Armeen in den

Grenzregionen grundlegende Veränderungen ihrer Funktionsweise. Ihre sozialisierenden

und verwalterischen Funktionen wurden immer wichtiger. Damit einher ging das Verwischen

der Unteerscheidung zwischen Kriegsbeute und der von den Lineages der Armeemitgliedern

(der umuheto-Gruppe) abgenommenen Abgaben. Ursprünglich hatte die Sendung eines

Rinds oder anderer Lebensmittel den Charakter von Unterstützungsleistungen für die

Armeen in der Zeit der Kriegsführung. Mit der Permanenz des Aktivzustandes nahmen die

Abgaben an die Armee einen Tributcharakter an. Die Organisation der Armeen als

permanente Kollektivorganisationen führte gleichfalls – in großem Ausmaß nach 1850 unter

Mutara II Rwogera und Kigeri IV Rwabugiri – viele Lineages ungeachtet militärischer

Notwendigkeit in Armeen inkorporiert wurden (D.Newbury 1987: 169). Wenngleich die

militärische Funktion weiterhin bestehen blieb (Lineages waren verpflichtet, für militärische

Unternehmungen, bei der die entsprechende Armee mobilisiert wurde, jemanden aus ihren

Reihen zur Verfügung stellen), war der eigentliche Sinn der so eingegangenen Beziehung

101 Wahrscheinlich handelt es sich bei der Rugugira zugesprochenen Regierungszeit um die Regentschaft zweier Personen, nämlich um die Rujugiras selbst und die seines Bruders Rwaka. Gleichzeitig, wahrscheinlich, weil Rujugira den Thron usurpiert hatte, wurde er in den Traditionen zu einem Symbol verschiedener Innovationen, die vermutlich schon vor bzw. erst nach seiner Regentschaft begonnen haben (D.Newbury 1991: 276, EN17). 102 Die nonterritoriale Organisation machte sich ebenfalls verstärkt unter Rujugira bemerkbar (D.Newbury 1987: 169).

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ein qualitativ anderer. Gleichzeitig war die differentielle Inkorporation weiter Teile der

Bevölkerung in die hierarchische Struktur der Armee Widerspiegelung und zugleich

Katalysator einer Stratifikation, die von der Unterscheidung zwischen (politischem) Zentrum

und (politischer) Peripherie ausging. Ein Indikator für die Ausweitung der Rekrutenbasis und

ihrer differentiellen Inkorporation bzw. Hierarchisierung und der gleichzeitigen

Bedeutungsveränderung der Armeeorganisation ist die erstmalige Formierung von Truppen,

die hauptsächlich aus ‚Hutu’ bestanden während der Regentschaft Rujugiras (D.Newbury

1987: 90). Im Kontext der Expansion Ruandas in der Ära Rujugiras sind die entscheidenden

Entwicklungen eines Konzepts von Klasse oder, wenn man so will, von Ethnizität zu

verorten, die in der Bewußtwerdung der Herrschaftselite des expansionistischen Staates

gründeten. ‚Hutu’ hieß in diesem Kontext jeder, der ursprünglich außerhalb der politischen

Strukturen des Staates stand, nicht Pastoralist war (was gleichzeitig wenig mit Viehbesitz an

sich zu tun hatte, sondern mit einem gewissen Lebensstil) und keine intimen Beziehungen

mit der Herrschaftselite aufweisen konnte (ebenda: 277, EN20). Die Ambiguität der

Klassifizierung ‚Hutu’ und ‚Tutsi’ und ihre Relativität hinsichtlich der vom Hof propagierten

Normen und Werte zeigt auch die Konzeptualisierung von Bevölkerungen peripherer Gebiete

und v.a. des westlichen Grenzlandes unter einer Kategorie des Nicht-Ruandesischen

(Bashi oder auch Banyabungo), gleich wie sehr sie etwa als Pastoralisten innerhalb Ruandas

durchaus als Tutsi wahrgenommen worden wären, während dieselben Personen, mithin

auch ‚Hutu’ ex post in ruandesischen Traditionen als ‚Tutsi’, d.h. als Agenten des Hofes

auftauchen, wenn sie als Wegbereiter der ruandesischen Expansion wahrgenommen werden

(Vgl. C.Newbury 1988: 51; D.Newbury 1987: 171f).

Ein wichtiger Faktor in der Ausweitung der Armeefunktionen und in der Expansion des

Staates waren (Tutsi) Emigranten aus Kriegszonen (unter Rujugira besonders aus Ndorwa

und Gisaka) oder aus den ruandesischen Kerngebieten, die meist, um eine größere

Autonomie zu erhalten bzw. zu bewahren, als ihnen im Kern Ruandas möglich gewesen

wäre, in Grenzregionen ausgewandert waren, und, um ihr Vieh vor dem Zugriff von

militärischen Razzien zu schützen, aber auch aus Statusüberlegungen und kulturellen

Gründen umuheto-Bindungen mit zentralruandesischen Chiefs geschlossen hatten und

damit in Armeen ‚rekrutiert‘ wurden. In den Grenzregionen war das Schließen von Umuheto-

Bindungen und damit die ‚Mitgliedschaft‘ von Lineages in Armeen ein Akt von ambivalentem

Charakter, der den Status der Klienten steigerte und scheinbar die Autonomie der Klienten

stützte, indem sie in gewisser Weise vor den Zugriff lokaler Notablen geschützt wurden.

Tatsächlich war Umuheto verbunden mit einem vorerst nur beschränkten, aber

nichtsdestoweniger signifikanten Autonomieverlust, der von der dadurch erwirkten

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Einbindung in die hierarchischen Struktur der Armeen, einen entstehenden Teil der

ruandesischen Herrschaftsstruktur herrührte. (C.Newbury 1988: 76f; D.Newbury 1987: 170).

Die Armeen wurden somit zu entscheidenden Instrumenten der Inkorporation peripherer

Gebiete. Umgekehrt festigte ihre erhöhte Bedeutung die Macht des Mwami auch im

ruandischen Kerngebiet, indem die alternative Struktur der Armeen dem Mwami erlaubte,

über die Interessen traditioneller, lokaler und ‚nationaler’ Machteliten hinwegzusehen.

Tutsi-Emigranten, die über umuheto-Bindungen mit dem Hof verbunden waren, wenn auch

nur indirekt und vermittelt über die Armeechiefs, wurden so in gewisser Weise zu

Kolonialisten des Hofs, ‚führten’ sie doch zentralruandesische Normen und Strukturen in die

Grenzregionen mit sich, zumal sie – obwohl sie ursprünglich oftmals politische Flüchtlinge

waren – von höfischen Traditionen als veritable Ruandesen gesehen wurden, welche die

Zivilisation in eigentlich immer schon in ruandischen Herrschaftsbereich fallende ‚aufmüpfige‘

und zugleich kulturell ‚unterlegene’ Regionen brachten (D.Newbury 1987: 170). Dadurch

unterschieden sich diese Tutsi-Emigranten von früher gekommenen pastoralistischen

Gruppen von Pastoralisten, deren Verhältnis zu den lokalen Ackerbauern in erster Linie ein

Ergebnis der konkreten lokalen Interaktion war und nicht oder kaum von Verbindungen mit

dem ruandesischen Hof beeinflußt war. Auf ideologischem Terrain bedeutete die durch die

Expansion Ruandas implizierte Ausdehnung zentralruandesischer Normen und politischer

Verhältnisse in vom Hof als unkultiviert und barbarisch betrachtete Regionen eine verstärkte

Artikulation von sozialer Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten, Pastoralisten und

Agrikulturalisten (z.B. in oralgeschichtlichen Texten). Die wahrgenommene soziale und

kulturelle Distanz gegenüber der Bevölkerung an den Grenzen und darüber hinaus erfuhr so

eine Übertragung auf innerruandesische Verhältnisse. In einem gewissen Sinn spiegelte dies

die stattfindende soziale Differenzierung und Stratifizierung in den ruandesischen

Kerngebieten. Vielmehr allerdings als eine bloße Widerspiegelung bzw. Artikulation von

realen Prozessen waren diese ideologische Reformulierungen und idealisierte

Stereotypisierungen ruandesischer Institutionen selbst wieder ein Motor ideologischer,

politischer und sozialer Veränderungen, indem die veränderte Wahrnehmung der sozialen

Distanz zu den differentiell inkorporierten und im unterschiedlichen Ausmaß in den Staat

eingebundenen Gruppen die Art und Weise der Transformation ihrer Beziehungen zu der

herrschenden Klasse bestimmte (D.Newbury 1987: passim).

Die Expansion des ruandesischen Staates, die Ausweitung der Armeeorganisation und die

einhergehende expansionistische Ideologie und Politik stärkten den Zusammenhalt unter

pastoralistischen Gruppen, indem sie einigen Personen neue Machtpositionen und Zugang

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zu materiellen sowie immateriellen ‚Gewinnen’ aus der Angehörigkeit zu einer Armee

erschloß. Parallel dazu verstärkte sich der militaristische Ethos der Hof-Ideologie, der seinen

Ausdruck in der Verherrlichung militärischer Unternehmungen in historischen Erzählungen

und der höfischen Poesie103 fand (D.Newbury 1991: 89).

Die Inkorporation eroberter Gesellschaften im Rahmen der Armeen verlief keineswegs

homogen. Die durch die hierarchische Ordnung innerhalb und zwischen den Armeen

bedingte Hierarchisierung der als umuheto-Klienten inkorporierten Gruppen war ein Faktor

verschärfter sozialer Differenzierung. Die Tatsache, daß weite Bevölkerungsteile von dieser

Art der direkten Inkorporation ausgespart und nur indirekt (über Klientel- oder

Unterordnungsverhältnisse zu umuheto-Klienten) und damit wiederum differentiell in das

entstehende Herrschaftsgefüge eingebunden wurden, ein anderer. Ein dritter Faktor für die

zunehmende soziale bzw. ‚ethnische’ Differenzierung infolge umuheto bzw. armeemäßiger

Integration peripherer Gebiete betraf die unterschiedliche Art der Abgaben (amakoro

y’umuheto) und Dienste für pastoralistische Lineages bzw. ackerbauernde Lineages. Die

‚normalerweise‘ erwartete Verpflichtung der Klienten gegenüber dem Patron beinhaltete die

jährliche Überweisung eines Rindes. Von (viehbesitzenden) Hutu-Lineages wurden

zunehmend, und anfangs wohl zunächst vereinzelt, darüber hinaus landwirtschaftliche

Produkte wie Bohnen und anderes verlangt. Der Schwerpunkt der Abgabenlast verschob

sich sukzessive immer stärker auf Naturalabgaben aus der landwirtschaftlichen Produktion

(C.Newbury 1974: 35). Der Charakter der Beziehung veränderte sich dadurch für Hutu-

Klienten entscheidend in Richtung ‚Besteuerung’ durch die politische Klasse. Aus der

Perspektive der Elite wurde die Armee dadurch zu einem essentiellen Teil des extraktiven

Apparats – allerdings nie in dem Ausmaß und mit der Rigidität, die ubuhake in der

Spätphase des Kolonialismus auf der bäuerlichen Bevölkerung lastete. Die Statusvorteile,

welche die Klientelbeziehung normalerweise mit sich brachte, wurde dadurch gemindert,

wenn nicht verkehrt. War höherer Status im Prinzip schon eine Voraussetzung gewesen, um

eine umuheto-Bindung eingehen zu können, wurde sie (und andere Formen der Klientel-

bzw. Patronage und ‚Freundschaftsbindungen‘) zunehmend zu einer Voraussetzung, um den

unabhängig von dem Eingehen von speziellen Beziehungen zu Chiefs oder dem Mwami

103 Im Besonderen in der Form von Preisgedichten (ibisigo). Das Muster der Überlieferung aus den verschiedenen Perioden reflektiert die Entwicklung des ruandesischen Expansionismus. Die Anzahl der überlieferten Preisgedichte ist wie folgt:

Ruganzu Ndori 2 Kigeri Ndabarasa 4 Mutara Semugeshi 0 Mibambwe Sentabyo 21 Kigeri Nyamushera 3 Yuhi Gahindiro 12 Mibambwe Gisanura 6 Mutara Rwogera 30 Yuhi Mazimpaka 11 Kigeri Rwabugiri 41 Cyirima Rujugira 30

(D.Newbury 1987: EN11)

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zuvor schon eingenommenen höheren Status überhaupt bewahren zu können. Der

Charakter von Umuheto bzw. anderen Formen von Klientelbeziehungen, das Ausmaß,

indem den innerhalb der Beziehung an die Klienten gemachten Forderungen widersprochen

oder umgangen werden konnte, das Verhältnis von ‚Vorteilen‘ und ‚Nachteilen‘ der

Beziehung für die machtloseren Klienten, und daher der relativen (und absoluten)

Machtposition der Patrone hing von zwei miteinander verbundenen Faktoren ab, einerseits

von der rein physischen Nähe/Distanz der Klienten zu ihren Patronen, andererseits von der

Verdichtung der Herrschaftsverhältnisse, die mit der Einsetzung von aus Zentralruanda

stammenden Chiefs als Administratoren in peripheren Gebieten einherging sowie von der im

Zuge dessen von ihnen stärker eingenommen Rolle des Patrons für lokale

Klientelbeziehungen. Waren letztere in den peripheren Regionen normalerweise mit mehr

oder minder mächtigen Chiefs in Zentralruanda und damit außerhalb der eigenen Region

abgeschlossen worden, fanden sich die Klienten mit der Verdichtung der administrativen

Strukturen mit der unmittelbaren Nähe und damit auch mit einer Erhöhung der unmittelbaren

Bedeutung der Patrone konfrontiert – inmitten eines delikaten Systems von Machtbeziehung

und Machtkämpfen, denen nicht mehr im gleichen Ausmaß wie früher entkommen werden

konnte (Vgl. C.Newbury 1988: 73-90).

4.2 Land

Land blieb bis zum 19.Jh weitgehend außerhalb des politischen bzw. durch den ‚Staat’

unmittelbar ‚geregelten‘ Bereichs. Viehzucht fand in einer seminomadisierenden Weise statt.

Als Weide dienten unerschlossenes Busch- oder Waldland und die allgemein von den

Ackerbauern nicht beackerten Niederungen und Tälern, die sich zwischen den für Ruanda so

charakteristischen Hügeln erstreckten sowie an deren Abhängen. Die Hügelplateaus stellten

den eigentlichen Fokus der Besiedlung und der Bebauung durch die (Hutu) Ackerbauern dar

(Rwabukumba/ Mudadagizi 1974: 10). Lokal hatten sich semi-politische

Abhängigkeitsverhältnisse zwischen ‚Pionier‘-Lineages aund später gekommenen Lineages

entwickelt, die auf der oben schon näher ausgeführten Landpacht (ubukonde) beruhten. In

der Herrschaftszeit von Yuhi IV. Gahindiro (etwa 1797-1830) kam eigentliches Urbarmachen

(und dadurch die faktische, wenn auch normativ anderen Gesichtspunkten unterliegende

Inbesitznahme von neuem Land) kaum mehr vor. Die endgültige Seßhaftwerdung der

Bevölkerung, zweifelsohne ein Resultat der größeren Bevölkerungsdichte und der

intensiveren Nutzung des Bodens, war zum einen ein Faktor in der Ausweitung und

schrittweisen Transformation der Funktion der Armeen im ruandesischen Zentralgebiet, wo

sie zu einem generalisierten Abgabeninstrument wurden und sich die Rekrutierung der

Mitglieder einer Armee nicht mehr auf einige wenige, noble Lineages beschränkten, sondern

auch ‚gewöhnliche‘ Tutsi zu umfassen begannen und zu einem geringeren Ausmaß, reiche

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oder andere Hutu höheren sozialen und politischen Status (ebenda). Gleichzeitig stabilisierte

sich in der Armeeorganisation eine Form der politischen Herrschaft, die um einen

entsprechenden Armee-Chief organisiert wurde (ebenda: 13). Dadurch gerieten die seßhaft

gewordenen Gruppen beider ethnischer Herkunft auch verstärkt in den Machtorbit der Chiefs

und des Mwamis. Die Armee-Chiefs kontrollierten allerdings lediglich Mensch und Vieh. Die

Kontrolle des Landes befand sich nach wie vor in den Händen von Lineage- oder Hügel-

Chiefs (umutware w’umusozi), deren Autorität höchstwahrscheinlich lokal generiert war und

sich nicht auf extralokale Autoritäten (i.e.: den Mwami) bezog (vgl. Vidal 1969: 395). Nominell

(und ideologisch) indes bezog sich jede Machtposition, wenn auch in unterschiedlichem

Ausmaß, auf den Mwami als den eigentlichen Herren über alles Land. Unter Yuhi IV.

Gahindiro kam es zu zwei entscheidenden institutionellen Innovationen, welche die

Diskrepanz, die zwischen dem nominellen Machtanspruch und der faktischen

Verfügungsmacht des Mwami und anderer, mehr oder weniger im engeren Umkreis des

Hofes situierter Chiefs (die mit Einschränkungen als Repräsentanten und Instrumente des

ersteren betrachtet werden) herrschte, radikal verringerte. Die erste und sich lediglich auf

Zentralruanda beschränkende bezog sich auf die politischen Institutionen auf Provinzebene.

Das Amt des Provinz-Chiefs wurde in zwei neue Ämter aufgeteilt, in den Landchief

(umutware w’ubutaka) und den Weidechief (umutware w’umukenke), möglicherweise in

Reaktion auf die zunehmend sich in Konflikten äußernde Knappheit an Weideland (Vgl.

Vansina 1962: 70). Diese Neuerung resultierte in der Einführung eines starken

Konkurrenzelements auf der Provinzebene, dessen ultimativer Nutznießer der Mwami selbst

war. Gleichzeitig ist sie ein Indiz dafür, daß der ‚Staat’ in der Form der Monarchie

zunehmend für beide ethno-sozialen Gruppen an Bedeutung gewann, insofern die wichtigste

Ressource für die ackerbauernde Bevölkerung, Land, einen gesonderten institutionellen

Regulierungsmechanismus erhielt. Mit anderen Worten: die Trennung der Verantwortlichkeit

für Weideland einerseits und Ackerland andererseits war ein Ausdruck der Ausweitung der

‚Regelungskompetenz’ des ruandesischen Herrschaftsverbands.

Die zweite Neuerung, die jedenfalls auf Gahindiro zurückführbar ist, aber möglicherweise

schon früher in Ansätzen ausgebildet war, bezog sich auf die direkte Vergabe von

‚Lehen‘durch den Mwami und später auch durch andere wichtige Chiefs an persönliche

Favoriten (Rabukumba/ Mudandagizi 1974: 13). Diese ‚ibikingi‘ (pl. von igikingi) genannten

Territorien104 fußten ihrerseits auf der Reinterpretation eines existierenden Rechts (inkungu),

das es den politischen Amtsinhabern erlaubte, leerstehendes Land oder Land, für das es

104 Igikingi/Ibikingi bezeichnete eigentlich das Recht bzw. die Qualität qua dessen/ der ein Recht über Land erworben und ausgeübt wurde. In Ausweitung der ursprünglichen Bedeutung wurde schließlich auch das Territorium selbst damit bezeichnet. Ein alternativer Name war imisozi y’ibwami (‚Hügel des Königtums’, vgl. Rumiya 1992: 219)

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keine Erben gab, zu ‚öffentlichem’ Land (i.e.: Weideland) zu erklären. Ibikingi – dessen

eigentliche Bedeutung ‚Weideland’ war – wurden auch jene Gebiete genannt, die jeweils der

einer Armee zugehörigen Rinderherde als Weideland zugewiesen worden war, ohne jedoch

damit ein exklusives Recht auf das Land, noch exklusive Weiderechte zu instituieren

(Kagame 1961: 5f). War die Gabe von Ibikingi-Land an Notable zunächst nicht viel mehr als

die Gewährung von exklusiven Weiderechten und als solches eigentlich kein ‚Besitzrecht’,

sondern eine politisch instituierte Bestimmung der Nutzungsart des Landes und das

gewährte Vorrecht eines Einzelnen, das vom Nutznießer für seine Herden in Anspruch

genommen wurde, erfuhr der Begriff eine entscheidende Bedeutungsveränderung und

bezeichnete später tatsächlich so etwas wie Besitzverhältnisse im europäischen Sinn,

verstanden als weitgehende Verfügungsrechte über Land.

Zum einen gewährten die ‚Abanyabikingi‘ ( Inhaber des igikingi-Titels) ihrerseits Weiderechte

an andere Herdenbesitzer, die dadurch zu einer Art Klienten wurden, was aber den

grundsätzlichen Charakter von Igikingi als Einräumung einer Nutznießung nicht berührte.

Zum anderen siedelten dieselben Hutu-Bauern auf den Territorien, welche dadurch zu einer

Art Grundpächter wurden (Feltz 1975: 149f). Das igikingi-Territorium wurde dazu in

‚amasambu‘ (pl. von isambu) geteilt und unter den ‚Pächtern‘ (Abagererwa) aufgeteilt.

Formal ähnelte dieses System sehr dem landbezogenen, klientelähnlichem

Abhängigkeitsverhältnis zwischen Pionierlineages und später Gekommenen, das sich unter

‚Hutu’ Bauern im Rahmen des Ubukonde-Landklientelsystem ausgebildet hatte, in einigen

nördlichen Teilen Ruandas bis ins 20.Jh. existierte und dort auch in der postkolonialen

Periode noch weit verbreitet war. Die strukturelle Ähnlichkeit ermöglichte bzw. begünstigte

die Generalisierung des Systems im Rahmen der neuen dualen politischen Struktur auf

Distriktebene. Das ‚normale’ Ackerland (Isambu) unterstand hingegen dem Umutware

w’ubutaka und das Weideland der Autorität des Umutware w’umukenke. Parallel dazu gab

es einen Typus von Abanyabikingi, denen ibikingi-Land auf persönlicher Basis vom Mwami

gewährt worden war. In den Grenzprovinzen, die von einem Armeechief kontrolliert wurden,

traten diese als ibikingi-Grundherren auf (Vidal 1969: 393). De facto beinhaltete mit dem

19.Jh. jedes politische Amt zunehmend einen grundherrischen Aspekt, während die

Beziehung zum Bodenherren zugleich eine persönliche war, die durch die Erbringung von

Diensten oder Gütern durch den Klienten aufrecht erhalten wurde. Der Prozeß der

Ausdehnung der bodenbezogenen Verfügungsmacht der Chiefs verlief aber langsam.

Abgaben und die Verpflichtung bestimmter Landnehmer, an zwei von fünf Tagen für den

Landpatron/Chief (meist der Inhaber eines Igikingi-Titels) zu arbeiten (Uburetwa), wurden

etwa erst gegen 1885, noch unter der Herrschaft Kigeri IV. Rwabugiris (ca.1860-1895) zu

einer generalisierten Praxis (Rwabukumba/Mudandagizi 1974: 21).

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Die amasambu-Parzellen auf Ackerland, das vom Umutware w’ubutaka kontrolliert wurde,

waren im Prinzip erblich. Konflikte zwischen dem Land-Chief und dem Inhaber der Parzelle

und andere Gründe (Abwesenheit, Krankheit) konnten aber zur Rücknahme der Parzelle

durch den Chief führen. Die ‚juristische‘ Möglichkeit dazu war nichts neues und gründete

letztlich im ideologischen Anspruch des Mwami, Herr über alles Land zu sein. Die

tatsächliche Rücknahme eines Stücks Land weist indes auf die Erstarkung politischer

Autoritäten im ländlichen Raum, die ihre grundrechtliche Rolle erst ermöglicht hatte (Meschi

1974: 48). Der Charakter der Machtposition des Landchiefs und anderer, als Grundherren

auftretender Chiefs wurde durch die isolierte Position der einzelnen Landnehmer vis-à-vis

dem Landpatron zusätzlich verschärft. Dieser, auch in anderen Beziehungen wirksame

ungünstige strukturelle Rahmen für die bäuerlichen Massen begünstigte die Transformation

komplexer Herrschaftsbeziehungen zu einem zunehmend durch Ausbeutung durch die

politische Elite geprägten Herrschaftsverhältnis. In dem Maße, in dem das Netz der

Landklientelsysteme immer dichter wurde und Wegziehen und Suche nach neuem Land

(was früher das wirksamste und einfachste Mittel des Widerstandes dargestellt hatte) keine

Option mehr darstellten verschärfte sich die strukturelle Asymmetrie zwischen der Masse der

Bevölkerung und der Klasse der Chiefs, die immer zugleich auch Patrone und Landherren

waren (vgl. C.Newbury 1988: 113f). Die im System der Landklientelbeziehungen erwarteten

Dienste unterschieden sich für Tutsi und Hutu auf der Basis ihrer unterschiedlichen

ökonomischen Aktivitäten und waren der Ansatzpunkt für eine tendenzielle Mehrbelastung

der Hutu (qua Ackerbauern). Ein gewisser Teil der Bauern, vor allem diejenigen, die sich auf

dem nominellen Weideland eines (reichen) Tutsi (nicht notwendigerweise ein Träger eines

politischen Amtes) niedergelassen hatten, aber zum Teil auch solche, die von einem

politischen Amtsträger als seine Landklienten in dem von ihm kontrollierten Gebiet

angesiedelt worden waren, unterlagen einem gewissermaßen extrapolitischem Regime, das

sich ausschließlich auf das durch die ‚Pacht‘ begründete landbezogene Verhältnis gründete

(Vidal 1969: 393f). Ein Teil von ihnen war zu einem Arbeitsdienst (Uburetwa; zwei von fünf

Tagen) gegenüber ihrem Landherren verpflichtet. Uburetwa wurde erst gegen 1885 als

generalisierte Arbeitsverpflichtung eingeführt, wenn auch die Praxis, für materielle oder

immaterielle Leistungen eines Patron Arbeitsdienste zu leisten, sicherlich schon früher

bekannt war. Sie ist ein beredtes Indiz für die verschärfte Landknappheit und der weit

fortgeschrittenen Institutionalisierung der politischen Kontrolle über Land, die es den Chiefs

und Abanyabikingi ermöglichte, von ansiedlungswilligen Klienten immer mehr Abgaben oder

Dienste einzufordern. Uburetwa wurde, obwohl sie Anfang des 20.Jh. eine äußerst

bescheidene Anzahl von Personen betraf, in den späteren Auseinandersetzungen der

Dekolonisierungsphase zu einem besonders gehaßten Symbol für die Ausbeutung durch die

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Klasse der Chiefs und, insofern sie nur oder vor allem Hutu (qua Ackerbauern) betraf, zu

einem Symbol des ethnischen Antagonismus an sich (Vidal 1974: 54).

Tabelle 3: Zahl der Ibikingi nach Region (ca.1900)

(geograph.) Großregion ‚Provinzen’ Zahl der Ibikingi Regionale Summe

Nordwesten Bugoyi

Buberuka

3

1

4

Westen Bwishaza

Budaha-Nyantango

1

5

6

Norden und Nordosten Rukiga

Bumbogo

Mutara

Mubari

Gisaka

1

1

1

1

3

6

Osten Buganza

Buriza

Bwanacyambwe

19

4

5

28

Zentrum und Süden

(‚Kernruanda’)

Ndiza

Rukoma

Marangara

Kabagari

Nduga

Busanza

Bulima + Muyaga

Bufundu

Bunyambiliri

Bwanamukali

4

14

4

3

9

12

16

3

11

76

Quelle: Nkurikiyimfura, J-N. (1994): Le gros bétail et la société rwandaise: évolution historique

Paris: L’Harmattan p.95 zitiert nach Takeuchi 2000: 203

4.2.1 Arm und Reich: Tagelöhner

Quer zu der zunehmenden Asymmetrie zwischen Hutu einerseits und der Klasse der Chiefs

und Patrone andererseits, und zu einem geringeren Ausmaß, zwischen Hutu und Tutsi

infolge der differentiellen Betroffenheit durch oppressive Klientel- und

Herrschaftsverhältnisse, war die bäuerliche Schicht selbst hochgradig differenziert und

spaltete sich in jene, die genug Land besaßen und die Arbeitskraft anderer in Anspruch

nehmen konnten, und in den Rest der bäuerlichen Bevölkerung, die aus Mangel an Land

oder anderen Ressourcen, gezwungen war, den reicheren ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu

stellen. Vergleichbar mit Uburetwa (im Kontext von Igikingi-Land), hatte sich eine Form der

Klientelbeziehung entwickelt, die auf der Leihgabe einer Hacke gegen ein bestimmtes

Ausmaß von Arbeitsdiensten durch den Klienten beruhte (Ubuharo). Diese Form von

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Abhängigkeitsbeziehung, die eine Form von Klientelbeziehung auf unterstem Niveau

darstellte und sich von anderen auf höherem Niveau dadurch unterschied, daß sie keine

Statusvorteile brachte, sondern im Gegenteil die eigene Armut herausstrich, war oft der erste

Schritt dazu, andere, prestigeträchtigere einzugehen (Vidal 1974: 60ff). War die Leihgabe

einer Hacke und die darauf beruhende Abhängigkeitsbeziehung noch wenig formalisiert und

in gewisser Weise kaum von Freundschaftsdiensten unterscheidbar (als welche sie kaschiert

wurde105), waren andere verarmte Personen, denen es unmöglich war eine Isambu-Parzelle

auf igikingi-Land zu akquirieren und bestenfalls ein winziges Stück Land besaßen, auf denen

sich eine Hütte und ein kleiner Acker befand, gezwungen gegen Lebensmittel und Saatgut

auf permanenter Basis für andere zu arbeiten. Extreme Landknappheit und darauffolgende

Verarmung könnte die Hälfte der bäuerlichen Bevölkerung dazu gezwungen haben,

permanent, aber in unterschiedlichem Ausmaß für andere zu arbeiten (ebenda: 63).

Landknappheit allein war freilich kein ausreichender Grund für die Herausbildung eines

derartig großen Anteils einer semiproletarianisierten Masse an der bäuerlichen Bevölkerung.

Der ökonomische Individualismus, der die Wirtschaftsweise und die Sozialstruktur der

ruandesischen ländlichen Bevölkerung in Gebieten mit chronischer Landknappheit

kennzeichnete, aber dessen Wurzeln weiter zurückreichen und in der die (Kern) Familie als

basale Produktionseinheit figurierte, war ein Grund für die Stratifikation, der parallel dazu

fortschreitende ‚Individualismus’ (bzw. vertikale Orientierung auf Patrone und politische

Amtsträger) im politischen Bereich, d.h. die Entgegensetzung des Einzelnen106 (anstatt etwa

der Lineage) gegenüber der jeweiligen politischen Autorität und der daraus resultierenden

grundsätzlichen, strukturellen Schwäche des Individuums im Falle von Konflikten, ein

anderer (Vgl. Meschi 1974: 39).

4.3 Die Ausweitung von Klientelbeziehungen

In bezug auf Armee und Land wurden verschiedene Formen von Klientelbeziehungen

(Umuheto; Uburetwa; Ubukonde) schon diskutiert. Sie sollen hier in einen systematischen

Zusammenhang mit dem Prozeß der Verdichtung des Staates und der gewissermaßen

‚ethnischen’ Stratifikation gestellt werden. Die Klientelstrukturen standen von früh an im

Mittelpunkt des Forschungsinteresses von Historikern und Ethnographen der ruandesischen

Gesellschaft. Die Abhängigkeitsbeziehung zwischen dem Klienten und seinem Patron, die

als persönliches und daher auch affektives Verhältnis einen strikt ökonomischen Sinn

transzendiert, wurde dann auch als der eigentliche ‚Kitt‘ der ruandesischen Gesellschaft

105 Die so eingegangene Beziehung wurde euphemistisch mit dem Satz ‚einen neuen Freund gefunden zu haben’ umschrieben (Gravel 1968: 163) 106 Die männliche Form ist bewußt gewählt. Frauen – je nachdem, ob sie der Tutsi-Aristokratie angehörten oder Hutu bzw. einfache Tutsi waren – fanden sich in einer zwar variierenden, aber immer in einer gewissen Distanz zum politischen System, repräsentiert durch die Chiefs.

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dargestellt, als das Medium der Integration von Staat und Gesellschaft, das soziale Kohäsion

stifte, während es die Aufrechterhaltung der ungleichen Statuspositionen der drei ethnischen

Gruppen und des Kastensystems, das darauf aufbaue, garantiere (Maquet 1961: 138). Die

Klientelstrukturen waren auch der eigentliche Anknüpfungspunkt für die Charakterisierung

der ruandesischen Gesellschaft als feudale – eben durch ein systematisches und

hierarchisches Gefolgschaftssystem gekennzeichnete Gesellschaft . Die anthropologische

Aufmerksamkeit galt im Speziellen einer hier bislang unerwähnt gebliebenen Form der

Klientelbeziehung: Ubuhake. Ubuhake begründete, wie andere Klientelbeziehungen, ein

persönliches Verhältnis zwischen ungleichen Partnern, allerdings, im Unterschied etwa zu

Umuheto, zwischen individuellen Partnern, wobei der mächtigere und reichere, der Patron,

seinem Klienten gewöhnlich ein Stück Vieh abtrat, über das jener das Nutzungsrecht hatte.

Im Gegenzug war der Klient zu einer Bandbreite von Diensten verpflichtet, die der Patron

von ihm verlangte. Für Tutsi – und Ubuhake war zu aller erst wohl eine Beziehung zwischen

reicherern und ärmeren Pastoralisten, deren breite Institutionalisierung und Generalisierung

wahrscheinlich erst in der ersten Hälfte des 19.Jh. stattgefunden hat und dessen Hochzeit

nicht ganz zufällig in die koloniale Periode fiel – bedeutete das, daß sie oder ihre Söhne eine

gewisse Zeit am Hof des Patron (als Hirten, Tabakträger bzw. um die Gehöfte des Patrons

instand zu halten etc.) dienen mußten (Vidal 1969: 396). ‚Hutu’ – d.h. Personen, die sich

hauptsächlich durch Ackerbau verdingten, erbrachten zusätzliche Dienst- bzw.

Abgabenleistungen in Form eines Teils der Ernte oder handwerklicher Arbeiten (d’Hertefelt

1962: 68f). Die extreme Bedeutung, die Ubuhake seitens der anthropologischen Literatur

beigemessen wurde, speist sich aus der Bedeutung, die der Leihgabe eines Stück Viehs

zugesprochen wurde, die selbst wieder von der Bedeutung, die das Vieh für die

Symbolisierung sozialer Grenzen und politischer Macht in Ruanda hatte, abgeleitet wurde.

Das Rind bedeutete allerdings viel mehr als ein rein ökonomisch relevantes Kapital, an

dessen Zahl man den Reichtum des Besitzers ablesen konnte. Sein Besitz symbolisierte

ökonomischen Reichtum gleichermaßen, wie soziales Ansehen und politische Macht und

war das Mittel, mit der Klientelbeziehungen geschlossen wurden: “Fetischisiert durch die

Gesellschaft, repräsentierte sein Besitz das Erreichen eines erfüllten Lebens.” (Vidal 1974:

73, m.Ü.) Der Besitz von Vieh – fern von seiner wirtschaftlichen Bedeutung, die von

Ackerbau und Dauerkulturen (Bananen) bei weitem übertroffen wurde – markierte so auch

eine Grenze zwischen denjenigen, die durch das System der Herrschafts- und

Klientelbeziehungen privilegiert, und jenen, die darin zunehmend marginalisiert wurden.

Tatsächlich erstreckte sich das Netz von Ubuhake-Klientelstrukturen, im Gegensatz zu dem,

was die allgemeine Literatur zu Ruanda glauben machen wollte, nicht in universeller Manier

über ganz Ruanda. Selbst in Zentralruanda, dem Gebiet der am längsten etablierten

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Machtstellung von Tutsi-Aristokratien, ging meist nur das Familienoberhaupt eine Bindung

mit einem Patron ein, ganz zu schweigen von Regionen, mit einem geringerem Anteil von

Tutsi an der Bevölkerung bzw. mit späterer zentralruandesischer Durchdringung107.

Forschungen in Südruanda (in der gegenwärtigen Präfektur Butare, also südlich der Region

Nduga) haben gezeigt, daß in vorkolonialer Zeit weniger als 10% der erwachsenen

männlichen Bevölkerung Klienten im Rahmen einer Ubuhake-Beziehung gewesen sind.

Unter Musinga (1897-1931) verdoppelte sich die Zahl der Klienten auf 17%, unter denen

Tutsi weitaus stärker repräsentiert waren als Hutu (Saucier 1974108 zitiert nach C.Newbury

1988: 134). Für viele Klienten war der Patron zugleich der relevante politische Amtsträger

und das Eingehen von Ubuhake-Bindungen somit nicht freiwillig, sondern ein Schutz gegen

allzu große Forderungen durch politische Amtsträger – durch den Patron ebenso wie andere

Chiefs. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Annahme, Hutu hätten nur über Ubuhake Zugang

zu Vieh gehabt, konnten diese auch außerhalb dieses Rahmens – etwa im Tausch gegen

Lebensmittel – eigenes Vieh akquirieren. Selten erlangten die Klienten, Hutu ebenso wie

‚gewöhnliche‘ Tutsi109, selbst nach mehreren Jahren des Dienstes am Hof des Patron mehr

als ein Stück Vieh. Viehreichere Klienten (also gewöhnlich Tutsi) übergaben ihrem Patron

manchmal nach mehreren Jahren Ubuhake ihrererseits ein Stück Vieh, eine nicht unübliche

Praxis, die die Bedeutung von Ubuhake für die Zirkulation von Vieh stark relativiert (Vidal

1974: 73).

Die eigentliche Bedeutung von Ubuhake lag daher in dem Schutz, den die Klientelbeziehung

vor willkürlichem Zugriff auf Eigentum110 bot. Entscheidend für das Eingehen von Ubuhake

war die Nähe und die potentielle Zugriffsmöglichkeit von Herrschaftsträgern auf das

Eigentum des Klienten. Zusätzlich war das durch das Eingehen einer Klientelbeziehung mit

einer reichen und mächtigen Person erlangte Prestige seinerseits eine ausreichende

Motivation, solche Bindungen zu suchen. Ersteres – die Protektion durch den Patron –

erklärt auch das Muster der Ausweitung von Ubuhake als sowohl intra- als auch

interethnische formalisierte Beziehung; ein Muster, das mit dem Ausmaß der politischen

Durchdringung des Landes korrelierte (Vidal 1974: 389ff). In dem massiven Maße, in dem

unter der Regentschaft Rwabugiris Klientelbeziehungen ausgeweitet wurde, kam es zur

107 In Kinyaga (Südwestruanda) wurden Ubuhake und Uburetwa (verbunden mit igikingi) erst unter Rwabugiri eingeführt (C.Newbury 1988: 82) 108 Jean-François Saucier (1974): The Patron-Client Relationship in Traditional and Contemporary Southern Rwanda, Diss. Columbia University, pp.73 und 88 109 Die Kluft, welche die wenigen extrem reichen Viehbesitzer, die einige Tausend Stück Vieh besitzen konnten und immer noch relativ reichen, erfolgreichen Tutsi-Pastoralisten mit mehreren Hundert Stück Vieh von den ‚gewöhnlichen‘ Tutsi sowie viehbesitzenden Hutu mit einigen Dutzend und verarmten Tutsi (bzw. Hutu-Bauern) mit ein bis 10 Stück trennte, war extrem tief. 110 Es ist hier nicht der Ort, um die ruandische Vorstellungen von Eigentum zu diskutieren, die von europäischen, auf römischem Recht beruhenden natürlich abweichen. Für eine Diskussion von Eigentum siehe d’Hertefelt 1962: 36ff.

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Herausbildung von hybriden Formen, deren konkrete Ausgestaltung lokal variierte. Umuheto-

Bindungen (d.h die ‚Rekrutierung‘ von Männern als Soldaten oder Hirten/Träger für eine

Armee), die ursprünglich nur mit viehbesitzenden Lineages eingegangen waren, wurden

verstärkt mit viehlosen Lineages geschlossen und der Charakter der Abgaben

(normalerweise war ein Rind jährlich an den Patron vorgesehen, eine Praxis, die

ursprünglich wohl die militärische Versorgung der Armeen sicherstellen sollte) änderte sich

dementsprechend. Ebenso hing der Charakter der Klientelbeziehung gleich welchen

Namens von der oder den Herrschaftsposition(en) ab, die der Patron einnahm. Gemeinsam

ist den späten vorkolonialen Klientelstrukturen, daß sie im Unterschied zu früheren (mit

Ausnahme von landbezogenen Beziehungen, auf die dies nie zutraf) nicht mehr den

Charakter einer Allianz zwischen Angehörigen einer sich als Elite verstehenden Klasse

(wenn auch zwischen ungleichen Partnern) aufwiesen. Vielmehr wurden sie zu einer

Notwendigkeit – einer ‚notwendigen’ Bedingung – für das Überleben in der politischen Arena

bzw. aus der Perspektive der gewöhnlichen Bevölkerung, zumindest hilfreich für die

Resistenz und den Schutz gegenüber den extraktiven Forderungen der politischen Eliten, die

in diesem Kontext verstärkter asymmetrischer Machtverhältnisse zunehmend ausbeuterische

Züge trugen (C. Newbury 1988: Kap.V). Überdies hatten verschiedene ökologische und

epidemische Katastrophen (v.a. die Rinderpest 1890-92, durch die Rinderherden um

wahrscheinlich 50%, möglicherweise aber bis zu 70-80% dezimiert wurden und auf Kleinvieh

und Mensch übertragen wurde, sowie die Maul- und Klauenseuche von1892)111, in Verbund

mit den Auswirkungen der Nachfolgekrise nach dem Tod von Kigeri IV. Rwabugiri 1895, die

im Coup von Rucunshu112 (1896) und der Inthronisation des noch minderjährigen Yuhi V.

Musinga (1897-1931) ein Jahr später resultierte (vgl. Botte 1985), und mit den Auswirkungen

des beginnenden europäischen Zugriffs auf Ruanda (insbesondere das Einfallen belgischer

Verbände und Deserteure an der ruandesischen Grenze, Vgl. Ntezimana 1990: 80f und

C.Newbury 1988: 55f zu den Implikationen des Einfalls für Kinyaga) eine einschneidende

Wirkung auf die Ausweitung und für die Akzeleration der Transformation der

Klientelstrukturen. Die Knappheit an Vieh bewog viele Banyarwanda, Ubuhake-Bindungen

einzugehen, um dadurch verlorenes Vieh wiederaufzustocken. Zugleich fiel es manchen

Umuheto-Klienten, die durch die Epidemien einen Großteil ihres Viehs verlustig gegangen

waren, schwer, ihre Verpflichtung (die Gabe eines Rindes jährlich) gegenüber ihrem Patron

111 Beide Epidemien, von denen übrigens ganz Afrika betroffen war, und die sich von Norden in den Süden ausweiteten, waren in Ruanda unter dem summarischen Namen umuryamo bekannt. Angesichts der Bedeutung des Rinds in erster Linie als eine Art soziales Kapital bzw. ‚Zahlungsmittel’, mit denen soziale und ökonomische Transaktionen getätigt wurden, aber, wenn auch für einen geringeren Teil der Bevölkerung, als ökonomische Ressource, kann die Epidemie und ihre Auswirkungen auf die soziale, politische und wirtschaftliche Struktur des Landes durchaus mit einer Depression in kapitalistischen Volkswirtschaften verglichen werden (Vgl. C.Newbury 1988: 118f). 112 Rucunshu war einer der königlichen Residenzen (ibwami) und Schauplatz des Coups, von dem hier die Rede ist. Vgl. zu den Residenzen auch FN 140 sowie zum Palastcoup Kap. 5.1.4 Der Coup von Rucunshu).

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zu erfüllen. Dementsprechend verwundbarer waren sie gegenüber alternativen oder

zusätzlichen Forderungen ihres Patrons, oder sahen ihr Heil gleichfalls im Eingehen von

Ubuhake-Beziehungen. Zum anderen requirierte Mwami Kigeri IV.Rwabugiri, dem nominell

alles Land und alles Vieh gehörte (Vgl. d’Hertefelt 1962. 36ff), einen nicht geringen Teil des

von den Seuchen verschonten Viehs für die königlichen Herden113, was de facto einer

Umverteilung von ‚Kapital‘ zu den Getreuen des Mwami gleichkam (C.Newbury 1988:119).

Dadurch stieg einerseits der ökonomisch-politische Druck, der auf die so Enteigneten

ausgeübt werden konnte, andererseits stärkte der Mwami damit die Macht der Zentralgewalt,

indem er aus unbedeutenden Familien stammende Personen als ausschließlich ihm loyale

Amtsträger einsetzte (Ntezimana 1990:78) und mit genügend ‚Kapital‘ ausstattete, um sich

über Klientelbeziehungen eine Gefolgschaft zu schaffen und zu halten (vgl. C.Newbury 1988:

83ff). Die verschiedenen Transformationen in der Gesellschaftsstruktur des

spätvorkolonialen Ruanda waren entscheidend für die Ausweitung von Klientelstrukturen.

Letztere brachte aber nur kaum spürbare Veränderungen in deren Qualität. Die

immateriellen Vorteile der Bindung an Mächtigere/ Reichere überwogen weiterhin die ‚Last’

der Verpflichtungen innerhalb einer solchen Beziehungen. Quantitativ betrafen Bindungen

auf einem mittleren und hohem Niveau (Umuheto, ubuhake) weiterhin einen kleineren Teil

der Bevölkerung, wobei ein mittlerer oder höherer Status weiterhin eine Voraussetzung blieb,

um überhaupt als Klient akzeptiert zu werden. Die dramatischen Transformationen der

Klientelverhältnisse (deren inhärente Ungleichheitsbeziehung und damit Abhängigkeit ja von

der ihnen typischen paternalistischen Sprache maskiert wird), die sie zu einem Symbol für

Unterdrückung werden ließen, sind daher in der kolonialen Periode anzusiedeln und fanden

verstärkt erst ab den Zwanziger und Dreißiger Jahren mit der Homogenisierung und

Verrechtlichung der traditionellen Verwaltungsstrukturen und der traditionellen Institutionen

statt (Vgl. Lemarchand 1981: 17; Vidal 1985: 183).

Die dynamische und für Klienten letztlich ungünstige Situation, welche die Ausweitung von

Klientelstrukturen begleitete, führte zu verstärkten sozialen Unterschieden und Spannungen,

mehr als sie jene (um im Jargon funktionalistischer Autoren der Fünfziger und Sechziger zu

sprechen) zu ‚kitten‘ half. Die Klientelbeziehungen, allen voran die Bauern besonders

betreffenden Abhängigkeitsverhältnisse, die in welcher Weise auch immer die Erbringung

von Arbeitsleistungen oder Naturalabgaben beinhalteten, wurden sukzessive zu einem

wichtigen Katalysator einer ‚ethnisch’ gefärbten Stratifikation, anstatt diese vorauszusetzen,

aber auch ohne quer zu ethnischen Trennlinien verlaufende Unterschiede, die ein

wesentliches Element in dem Stratifikationssystem sowohl des vorkolonialen als auch des

113 Das Recht des Mwami, verloren gegangenes Vieh wiederaufzustocken, hieß umurundo.

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kolonialen Ruanda darstellten, in ihrer Wirkmächtigkeit zu untergraben, im Gegenteil. Die

Stratifikation des vorkolonialen Ruanda erweist sich als wesentlich komplexer als sie sich,

betrachtet mittels eines durch die drei gängigen sozialen Kategorien – Tutsi, Hutu und Twa

gebildeten Kategorienrasters – darstellen läßt. Aus der Zugehörigkeit zu einer der sozialen

Kategorien konnte folglich auch nicht die Position eines Individuums im sozialen Raum

abgelesen werden, wenn auch die Zugehörigkeit zu einer der Kategorien in der späten

vorkolonialen Periode im ruandesischen Kernland einen zunehmenden Einfluß auf die

Lebenschancen eines Individuums hatte und die Kategorien außerhalb des Kernlandes

(etwa in Kinyaga oder im Norden) Eingang in den öffentlichen Diskurs fanden, ohne dort

jedoch dieselbe Bedeutung zu tragen.

4.4 Resümee: Ruanda am Vorabend der Kolonisation

Die Regentschaft Kigeri IV. Rwabugiris (1860-1895), der als Mwami auf Mutara II. Rwogera

(1830-1860) und Yuhi IV. Gahindiro (1797-1830) gefolgt war, zeichnete, obwohl von einer

Reihe von militärischen Kampagnen in benachbarte Königtümer begleitet (D.Newbury 1974),

allen voran eine nach innen gewandte Konsolidierung aus, die die Macht ‚traditioneller‘

mächtiger Familien und Chiefs erheblich minderte, neue, dem Mwami verpflichtete Eliten

schuf und dadurch die Macht des Hofes stärkte (Ntezimana 1990: 78). Die Vielzahl der von

Rwabugiri gegründeten königlichen Residenzen war selbst wieder ein Ausdruck des

verstärkten Wunsches, den ruandesischen Staat zu konsolidieren. Die Verdichtung der

Herrschaftsbeziehungen und ihre Zentralisierung im 19.Jh. wurden durch äußere Umstände

begünstigt, wie den überdurchschnittlich langen Regentschaften der Bami Gahindiro,

Rwogera und Rwabugiri (jeweils über drei Jahrzehnte an der Macht). Die relativ lange

Regentschaften ermöglichte es, dauerhaftere und stärkere, auf persönlicher Loyalität

aufbauende administrative Strukturen zu schaffen und das Problem der jeweils zum Beginn

einer Regentschaft umstrittenen Legitimität und schwache Autorität des Throninkubenten

überwinden zu können, zumal die zwei späteren Regenten auf eine eingespielte Praxis und

bestehende Koalitionen aus der jeweils vorausgegangenen langen Regentschaft

zurückgreifen konnten (Cohen 1989: 274f).

Eine zentrale Bedeutung für die Architektur der Machtbeziehungen im Ruanda der späten

vorkolonialen Periode nahmen die sich ausweitenden diversen Klientelbeziehungen ein, die

auf den ungleichen Zugang zu und der ungleichen Kontrolle über begehrte oder notwendige

Ressourcen (Land, Vieh, Sicherheit...) beruhten und zugleich ein Extraktionssystem

etablierten, durch das die Minderheit der politischen Amtsträger bzw. reicher Personen im

Umkreis der politischen Elite Zugriff auf die von einer Mehrheit produzierten Güter und

Dienste erlangte (Vidal 1974: 53ff). In Verbindung mit den auf Beute und Requirierung von

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Tribut ausgerichteten militärischen Kampagnen entstand so ein politiko-ökonomisches

System, an dessen Spitze eine zunehmend enger definierte politische Elite stand und auf

Extraktion des produktiven Bereichs innerhalb des eigenen Machtbereichs und, in der Form

von Razzien, darüber hinaus ausgerichtet war. Die dramatische Machtausweitung des

monarchischen Zentrums führte dazu, daß in den letzten Jahrzehnten des 19.Jh. der ‚Staat‘

bzw. die Monarchie Gegenstand eines breiten populären Diskurses wurde. Somit wurde für

das politische Bewußtsein ein Brennpunkt etabliert wurde, dessen Stelle in früheren

Perioden verschiedene Brennpunkte lokaler, regionaler und überregionaler Natur mit jeweils

unterschiedlicher politischer und symbolischer Bedeutung eingenommen hatten, und dessen

personale Inkorporation, der Mwami, in früheren Perioden für die meisten ‚Untertanen’ von

nachrangiger und eher symbolischer Bedeutung war (Cohen 1989: 291).

Ruanda am Ende des 19.Jh. kann als ein in drei geopolitische Räume auseinanderfallender

Herrschaftszusammenhang betrachtet werden, innerhalb dessen sich die einzelnen

geopolitischen Räume durch den unterschiedlichen Grad der zentralruandesischen

Durchdringung und dem damit verbundenen unterschiedlichen Grad an Integration in die

politischen und administrativen Strukturen der Monarchie voneinander unterscheiden lassen:

(1) der Kern um die Regionen Nduga, Marangara und Bwanacyambwe und bestimmte

Regionen im Westen des Landes (Rusenyi und Bwishaza, in der gegenwärtigen

Region Kibuye) entlang des Kivusee, deren weitgehende Integration in den

Herrschaftszusammenhang des Zentrums sie weitgehend ununterscheidbar vom

Zentrum machte;

(2) die seit dem späten 18. bis zur Mitte des 19.Jh. inkorporierten Regionen wie

Bugesera, Gisaka (östlich Zentralruandas), Ndorwa (nördlich des Zentrums) und

Kinyaga im Südwesten; sowie

(3) die lediglich in einem Tributverhältnis stehenden oder lediglich nominell inkorporierten

kleineren politischen Einheiten im äußersten Südwesten (Bukunzi, Busoozo) und die

zahlreichen Kleinstaaten im Norden und Nordwesten.

Letztere waren zwar schon ab den 17.Jh. ruandesischen Inkorporationsversuchen

ausgesetzt, aber nie vollständig unterworfen worden. Vertreter des Hofes, die in die Region

entsandt wurden, um Tributzahlungen der Bevölkerungen zu organisieren, wurden

regelmäßig vertrieben, was ebenso regelmäßig zu militärischen Niederwerfungsversuchen

durch zentralruandesische Verbände führte. Paradoxerweise waren einige Regionen

außerhalb der 1910 mit dem Kivu-Grenzvertrag festgelegten Grenze Ruandas im

Nordwesten (bis Rutshuru und Masisi in der nördlichen Kivuregion des Kongo) stärker

integriert, als es die geographisch dem Zentrum näheren ‚Klanländer’ der sogenannten

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Bakiga bis in die Kolonialzeit hinein jemals waren (Vgl. Gasana et al. 1999: 143f). Die

geopolitische Strukturierung Ruandas bedeutete gleichzeitig, daß sich das Verhältnis

zwischen Hutu und Tutsi von Region zu Region stark unterschied, je nachdem, wie sehr

Tutsi als soziale Kategorie mit der Nähe/ Distanz zum Hof korrelierte, und je nachdem, wie

die wahrgenommene Nähe/ Distanz der sozialen Kategorien zum Zentrum sich im Zugang

zu (bzw. Verlust von) Herrschaft – Kontrolle über Land, Mensch und Vieh – äußerte. In

Bugoyi etwa, an der Nordspitze des Kivusees, ging die Präsenz von Tutsi (aus Nduga)

hauptsächlich auf Kolonisierungsbewegungen unter Rwabugiri zurück. Sie wurden damit als

Agenten des Hofes gesehen, der für sie auch der eigentliche Fokus ihrer politischen

Aufmerksamkeit und ihres politischen Handelns darstellte. Die schwache Integration der

Region in den ruandesischen Herrschaftszusammenhang, d.h. die Irrelevanz der

zentralruandesischen Strukturen und das Vorherrschen einer Struktur, in deren Zentrum eine

eingesessene Aristokratie von reichen/ mächtigen Lineages stand (sogenannte Abakungu)

bedeutete aber, daß die beiden politischen Strukturen – die regionalen lineagezentrierten,

und die hofzentrierten eingewanderter Pastoralisten – nebeneinander bestanden und kaum

miteinander verbunden waren. Damit einhergehend koexistierten auch die damit

verbundenen Menschen hauptsächlich nebeneinander, also ohne, daß tiefere soziale oder

politische Bande sie miteinander verknüpften, oder anders, gesagt, ohne ein soziales

System im engeren Sinn zu konstituieren (Vgl. Vidal 1985: 178).

Von der Existenz ethnischer Gruppen als selbstbewußte kollektive Einheiten kann daher

nicht die Rede sein. Hutu und Tutsi114 waren zuallererst soziale, zumal sehr breite und

ambivalente Kategorien, deren Bedeutung kontextuell höchst verschieden war. Während in

einigen peripheren Gebieten (z.B. Kinyaga) das kollektive Bewußtsein, ‚Hutu’ zu sein vor

dem späten 19.Jh. kaum vorhanden war und sich erst mit der Kolonisierung langsam

verbreitete (Vgl. C.Newbury 1978: 17), waren die Bewohner der nördlichen schwach bis gar

nicht integrierten Gebiete auch und gerade in Zentralruanda eher als Bakiga denn als Hutu

bekannt und als solche verschrien. In manchen Kontexten war Tutsi ein Synonym mit

‚Patron’ oder politischer Amtsträger, während gleichzeitig die Bezeichnung auch solche

bezeichnen konnten, die nicht überdurchschnittlich reich waren und nicht der politischen Elite

angehörten. Zwischen der Masse der Hutu und Tutsi – die auch in dieser Arbeit bisweilen

synonym als ‚Ackerbauern’ bzw. ‚Viehzüchter’ bezeichnet werden – bestand jedenfalls, sieht

man von der politischen Elite zunächst einmal ab, kein wesentlicher Unterschied hinsichtlich

der Lebensweise – Menschen beider Gruppen lebten hauptsächlich von Erträgen der

Landwirtschaft, wenn auch mit allerdings nur leicht unterschiedlichen Akzenten in der

114 Anders verhält es sich mit der Außenseiterkategorie der Twa, deren Konstitution als selbstbewußte Gruppe aufgrund ihrer systematischen Marginalität bei gleichzeitiger Integration in die ruandesische Gesellschaft, der u.a. im relgiös-rituellen, aber auch im politischen Bereich Ausdruck verliehen wurde.

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Auswahl der Nutzpflanzen sowie in der Größenordnung und Bedeutung der Rinderhaltung

(d’Hertefelt 1971: EN 1; Gravel 1968: 68ff). Gegen Ende der vorkolonialen, aber erst in der

kolonialen Periode in vollem Ausmaß, wurde das im politischen Zentrum des Landes

verortete Klassifikationssystem, nachdem Hutu die von der Herrschaft ausgeschlossenen,

und Tutsi, die Elite des Landes stellte, zunehmend wichtiger. Dieser Prozeß der Ausdehnung

einer hegemonialen Kategorisierung war begleitet von einer Valorisierung der

entsprechenden Attribute in einem elitär-kulturellem Idiom und somit von einem typischen

Prozeß ‚ethnischer’, zunächst aber wohl eher ‚klassenspezifischer’115 Grenzziehung. Die

damit verbunden Bedeutungsmuster für Hutu und Tutsi als jeweils radikal Andere waren ein

Grund für die verzerrte Darstellung der vorkolonialen Gesellschaft Ruandas, wie sie z.B.

Maquet (1961) vorbrachte.

Ihren eigentlichen Ort hatte die Entgegensetzung von Hutu und Tutsi in der zahlenmäßig

relativ beschränkten Elite politischer Amtsträger und bezieht sich daher auf diese Klasse und

nicht auf alle unter Tutsi gefaßten Personen. Am Ende des 19.Jh. – nimmt man eine

Gesamtbevölkerung von 1-1,7 Millionen an116 - gab es entsprechend der ethnischen

Zusammensetzung Mitte der Fünfziger117 – zwischen 175.00 und 300.000 ‚Tutsi’, allerdings

nur rund 2.500 politische Ämter (Linden 1977: 18)118. Diese Schätzung korrespondiert gut mit

einer von dem Missionar Léon Classe in einem Bericht119 für die belgische Besatzungsmacht

1916 angegebenen Zahl von 20.000 Tutsi, mit der er offensichtlich die politische und soziale

Elite des Landes und nicht die ‚rassische’ oder ‚ethnische’ Gruppe gemeint hatte. Sie ist

gleichzeitig ein beredtes Zeichen für die Ambiguität der sozialen Kategorie ‚Tutsi’ im

spätvorkolonialen Ruanda – selbst noch in der frühen Kolonialzeit -, die erst mit der

Durchsetzung einer ethnischen bzw. rassistischen Lesart der Kategorie und ihrer 115 Wenn hier von Klassen gesprochen wird, dann wird damit ein politischer und sehr breiter Klassenbegriff favorisiert, der im Prinzip auf die Dichotomie zwischen Herrschaftselite und breiter Bevölkerung zielt. 116 Schätzung des Ethnologen Jan Czekanowski 1907 (zitiert nach Maquet 1961: 13). Die Bevölkerungszahlen für diese Zeit sind höchst unsicher. Die Bevölkerung wurde von den Belgiern 1920 und 1930 auf 1 Million bzw. 1,5 Millionen geschätzt. Eine Bevölkerungsabnahme ist zwar nicht völlig unwahrscheinlich, aber in dieser Größenordnung etwas unplausibel. 117 Die Berechnung (nicht notwendigerweise aber der Autor) akzeptiert damit natürlich das genealogische Prinzip von Ethnizität, d.h. wer anfang der 50er Jahre, als die Erhebung stattfand (Victor Neesen [1956]: Aspects de l’économie démographique du Ruanda-Urundi, bulletin de l’Institut de recherches économiques et sociales, 22, 5: 481 zitiert nach Gravel 1968: 21) als Tutsi klassifiziert wurde, dessen Vater war notwendigerweise auch Tutsi usf. Mit Ausnahme dieses freilich höchst fragwürdigen Punktes gibt es keinen Grund, eine Veränderung in der Relation von Tutsi und Hutu anzunehmen. 118 Es ist unklar, wie Linden zu seiner Schätzung kommt. Linden schätzt an anderer Stelle (1977: .IX), daß es Ende des 19.Jh. etwa 50.000 erwachsene Männer gab ‚who never tilled the soil’ und ‚Rwandan society was thus ruled by a minority of about 5% of the Tutsi, men with herds counted in the tens of thousands and corresponding ownership of vast tracts of land’ (ebenda: 18). Während die Einschätzung der Größe der politischen Elite mehr oder weniger mit der im Text angestellten Berechnung (aufgrund einer angenommenen Bevölkerungszahl von 1,7 Mio und einer Tutsi-Population von 300.000) konform geht, ist die vorangestellte Aussage jedenfalls keine zutreffende Beschreibung der Situation, auch wenn es stimmt, daß die Hauptlast der landwirtschaftlichen Arbeit (Jäten, Ernten usw.) in Frauenhänden lag (Gravel 1968: 52) Vgl. auch Codere 1973: 20 mit einer ähnlichen Schätzung der Zahl von Tutsi vis-à-vis der Zahl politischer Ämter.

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sukzessiven Ausdehnung beseitigt wurde. Die eigentliche politische und soziale Elite des

Landes, folgt man den Angaben von Classe, hatten etwa einen Anteil von 6 bis 11% der

später als Tutsi klassifizierten Gruppe von Personen.

Diese Minorität an Herrschaftsträgern und Patronen konstituierten allerdings, zutiefst durch

chronische und blutige politische Konflikte gespalten, den paradoxen Fall eines

selbstbewußten Kollektivs von Akteuren, das nur in der akzidentiellen Konvergenz von

Interessen (Orientierung auf den Hof, Klientelbeziehung mit mächtigeren usw.) zu

kollektivem Handeln fand. Der grundsätzlich prekäre Charakter von Herrschaft angesichts

der Begrenztheit der traditionellen Herrschaftstechnologien war einer, das Vorhandensein

tiefgehender politischer Konfliktlinien innerhalb der Herrschaftselite ein anderer Grund dafür,

daß de facto die politische Macht (und somit die Verfügungsmacht über die Produktivität der

Bevölkerung) einzelner relativ beschränkt blieb und längerfristige Allianzen von Gruppen

kaum zustande kamen.

Die Konvergenz von Interessen beschränkte sich freilich nicht auf materielle, sondern

gleichfalls auf symbolische Güter und hatte einen dementsprechenden ‚Standesethos’ zur

Folge, auf das oben eingegangen wurde.120 Das Bewußtwerden von unter einer sozialen

Kategorie gefaßten Gruppe von Personen als Kollektiv – und das ist einer der zentralen

Thesen dieser Arbeit – ist ein differentieller Prozeß, der in einem konkreten sozialen Umfeld

und in beschränkten sozialen Gruppen verortet ist, deren Artikulation einer gewissen

Weltsicht (und Kategorisierung bzw. Klassifikation) hegemonial wird. Das bedeutet nicht, daß

die hegemoniale Kraft notwendigerweise von der Elite in einem wie immer gearteten

politischen Zentrum ausgeht (sie kann auch, wie weiter unten deutlich werden wird, auch von

Eliten von subalternen Gruppen der Gesellschaft ausgehen oder überhaupt von der

Peripherie des politischen Zentrums). In Ruanda aber wurde die politische Kollektivität der

Minorität von Herrschaftsträgern und Patronen zum Modell von politischer Kollektivität in

Ruanda an sich, an deren Beispiel zunächst die verallgemeinerte Kategorie der Tutsi, und

sukzessive die Hutu als entgegengesetzte Kategorien konstruiert worden sind. Dabei spielte

allerdings der koloniale Faktor eine fundamentale Rolle. Der koloniale Faktor wird im 3. Teil

analysiert werden. Hier bleibt zu sagen, daß in der Bewußtwerdung in der Elite, in ihrem

Distanzverhalten und in der zum Teil schon in der vorkolonialen Periode zu findenden

strukturellen Entgegensetzung von Elite und Masse der Bevölkerung die Potentialität einer

Kollektivwerdung angelegt war, die über eine Homogenisierung der betroffenen sozialen

Kategorien und der sukzessive Transformation der sozialen Kategorien in Kollektive

vonstatten ging (was sich damals zumindest, wenn auch nur schimärenhaft, andeutete). 119 unter dem Titel : L’organisation politique du Ruanda au début de l’occupation belge’

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Karte 2: Ruanda am Ende des 19.Jh.

Quelle: Rumiya 1992: 24

120 Vgl. oben ‚Exkurs: Militärische (Re-)Organisation und militärischer Ethos’ p.76ff

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Abbildung 8: Schema der Machtbeziehungen und Grundverhältnisse im spätvorkolonialen Ruanda

Umwami Umugabekazi

(Königinmutter)

Abiru (Ritualisten und Berater des Königs

Konkubinen d. Königs

(Garigari: königliche Residenzen)

Abiru-‚Lehen‘

Privilegierte Lokale Notablen)

(Königliche Grabstätten, rituelle Haine etc.)

Provinz-Chiefs Grenzprovinzen

Armee-Chiefs

ibikingi

umuheto ubuhake

amasambu-Parzellen Abanyabikingi (Hügel-Chief,

direkt abhängig vom Mwami)

Land-Chief Weide-Chief

Umutware w’ubutaka (umutware w’umukenke) ibikingi

ibikingi ubuhake Abgaben amasambu-Parzellen

Abgaben ubuhake Abgaben

amasambu-Parzellen amasambu Parzellen (uburetwa)

Hügel-Chiefs; Lineage-Chiefs etc. Anmerkung: Ubuhake-Beziehungen wurden durch alle hier aufgelisten Amtsträger in mehr oder großem Ausmaß

eingegangen, sie sind aber nur dort explizit herausgestrichen worden, wo sie in Verbinung oder im

Zusammenhang mit dem Grundsystem auftreten. Für Umuheto gilt ähnliches, da die meisten wichtigen

politischen Amtsträger auch Chief einer Armee waren und als solche Umuheto-Bindungen eingehen konnten. (vgl. d’Hertefelt 1962: 62f; Heinrich 1978: 36f; Kabagema 1993: 44ff; Feltz 1971: 80; Feltz 1975: 154)

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Teil 3 Kolonisation und Herrschaft

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Kapitel V Die Deutsche Periode

5.1 Die Kolonisierung und ihr Kontext

5.1.1 Einleitung

Erst dreizehn Jahre, nachdem auf der Berliner Kongo-Konferenz erstmals für den

zentralafrikanischen Raum eine grobe Aufteilung in die Interessenssphären der maßgeblich

am Scramble beteiligten europäischen Mächte – Deutschland, Frankreich, Großbritannien ,

vertreten größtenteils durch meist kurzlebige privilegierte Gesellschaften sowie jener

‚privaten‘ Unternehmung des belgischen Königs Leopold II, dem Freistaat Kongo, dessen

Existenz den unmittelbaren Grund für die Konferenz darstellte – beschlossen wurde, zeigte

Deutschland mit der Gründung der Militärstation Ishangi (Shangi) am Kivusee (in der Nähe

des heutigen Cyangugu) im November 1898 eine physische Präsenz in Ruanda (vgl.Honke

1990a: 117). Bereits zwei Jahre zuvor war die Militärstation Usumbura (Bujumbura) am

Tanganyikasee an der Peripherie des Königtums Burundi als Nebenstelle des ebenfalls 1896

gegründeten Militärposten Ujiji (am Usumbura gegenüberliegenden Ufer des

Tanganyikasees gelegen) gegründet worden. Mit der Gründung des Postens Ujiji wurde

gleichzeitig der Militärbezirk gleichen Namens ins Leben gerufen. Der bisher nur theoretische

Besitzanspruch, den Deutschland durch Verträge mit einheimischen Chiefs bzw. Abkommen

mit dem Sultan von Zanzibar, dessen Herrschaftsanspruch über die meisten dem Sultanat

zugerechneten Gebiete ebenfalls eher theoretischer Natur war, sowie einer Reihe von

völkerrechtlichen Verträgen zwischen den Kolonialstaaten andererseits abgesichert war,

wurde durch physische Präsenz und Inkorporation in das noch junge Deutsch-Ostafrika121

und dessen embryonale bezirksförmige Verwaltungsstruktur materiell Ausdruck verliehen.

Zunächst war der Stations- und Bezirkchef des Militärbezirkes Ujiji für Usumbura und die

deutschen Aktivitäten in Ruanda und Burundi zuständig. 1901 wurden die beiden Territorien

schließlich in den neugeschaffenen Militärbezirk Usumbura (1962 in Bujumbura umbenannt)

einverleibt (Honke 1990a: 115; Kabagema 1993: 86; Louis 1963: 128). Von Ujiji und

Usumbura nahmen die Expeditionen der deutschen Vertreter vor Ort in die zu

erschließenden Königtümer Ruanda und Burundi ihren Ausgang. Diese bestanden aus

einigen wenigen Offiziere und ‚Askari‘ (afrikanische Soldaten) der deutschen Schutztruppe,

deren Aufgabe es war, das Gebiet sowohl zu kartographieren als auch 'Kontakte' mit den

beiden Königshöfen zu knüpfen und dadurch die faktische Kolonisierung der künftigen

Schutzgebiete einzuleiten bzw. erst zu ermöglichen. Aus einer Kombination von Faktoren -

121 1885 hatte Kaiser Wilhelm I der ‚Gesellschaft für deutsche Kolonisation’, der späteren Deutsch-ostafrikanischen Gesellschaft, einen Schutzbrief ausgestellt. 1890 wurden aufgrund des Bankrotts der Gesellschaft – es war nicht der einzige – die Hoheitsrechte über Deutsch-Ostafrika auf das Reich übertragen. Im selben Jahr (April 1890) war mit der Gründung der Kolonialabteilung im Außenamt der neuen kolonialen Rolle Deutschlands institutionell Rechnung getragen worden.

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die relativ geographisch isolierte Position Ruandas122 infolge des vulkanischen Massivs im

Norden und Westen, dem weitausgedehnten Sumpfgebiet am Kagera-Fluß im Osten und der

Reputation für Xenophobie und militärische Stärke - war die Region Ruanda-Urundi einer der

letzten noch weitgehend unerforschten Gebiete Afrikas (Louis 1963: 103). Erst in den 1890er

Jahren, mit der fortschreitenden Aufteilung Afrikas, mit der Notwendigkeit, Grenzverläufe

exakter zu bestimmen und dem damit einhergehenden Informationsbedarf, was die

geographischen Charakteristika der beanspruchten Gebiete betraf, wurden Ruanda und

Burundi im Verlauf des fortgeschrittenen 'Scrambles' zunehmend erschlossen. Waren den

europäischen Mächten durch frühe Reisende (Richard Burton, John Hanning Speke, Henry

Morton Stanley), welche seit Ende der 1850er Jahre die Region bereist hatten, die ungefähre

Nord-Süd Ausdehnung Ruanda und Burundis sowie einige wenige markante geographische

Charakteristika (wie das Virunga-Massiv) bekannt, so fanden die für die Ausübung der

Herrschaft so fundamentalen Explorationen der lokalen Geographie, Demographie und

Politik hauptsächlich in den fünfzehn Jahren nach 1892 statt - dem Datum, als der

österreichische Geograph Oskar Baumann als erster Europäer Ruanda an seiner Südspitze

betreten hatte. Die zunehmende Erschließung der Region fand ihren Ausdruck und

umgekehrt, ihre Inspiration im Kontext des 'Scramble for Africa'. In einer Reihe von Verträgen

und anderen völkerrechtlichen Akten (1884, 1885, 1890, 1894, 1909, 1910123) definierten die

regionalen kolonialen Akteure (Deutschland, der Kongo-Freistaat bzw. Belgien sowie

Großbritannien) das als Ruanda-Urundi von Deutschland und später, von Belgien verwaltete

Gebiet und wurden so, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, selbst zu Akteuren in dem

Staatsbildungsprozeß, der bedingt durch die koloniale Präsenz und durch vielfältige koloniale

Interventionen in einem völlig veränderten Kontext stattfand.

Zwei Jahre nach Baumanns Expedition (1894) bereiste Gustav Adolf Graf von Götzen, der

spätere Gouverneur von Deutsch-Ostafrika (1901-1906), im Rahmen seiner, die Wege der

großen 'Entdecker' nachahmenden und größtenteils privat finanzierten Durchquerung

Afrikas, Ruanda. Dort vermaß er die Nordspitze des Kivusees und nahm die Virunga-Kette

geographisch auf. Auf seiner zwar in diffuser kolonialpolitischer Absicht gemachten Reise

traf er Ende Mai 1894 mit Mwami Kigeri IV Rwabugiri zusammen (Honke 1990b: 87ff;

Bindseil 1992:57ff). Die Größe der Karawane und die überlegene Bewaffnung der Europäer

122 Dasselbe, allerdings in einem weniger großem Ausmaß, galt für Burundi, das einerseits nach Westen durch den Tanganyikasee getrennt war (der zugleich aber auch einen ‚Verkehrsweg’ darstellte, also auch in einem gewissen Sinn auch verband), dessen Grenzen nach Osten und Südosten aber im Vergleich zu den Westgrenzen Ruandas weniger markante pyhsisch-geographische Charakteristika aufwies, also durchlässiger war. 123 Deutsch-kongolesisches Abkommen von 1884; Neutralitätserklärung des Kongo-Freistaates 1885; Helgoland-Sansibarvertrag zwischen Deutschland und Großbritannien; Britisch-kongolesisches Abkommen von 1894 (zum Grenzverlauf am oberen Nil); Deutsch-Britischer Vertrag über die Mfumbiro-Frage 1909; Brüsseler Konferenz zwischen Belgien, Deutschland und Großbritannien 1910.

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bestimmten den Charakter des Kontaktes, in dem beide Seiten versuchten, sich über die

jeweils andere so umfassend wie möglich zu informieren und ihre relative Macht zu testen.

Die Natur und die Implikationen des europäischen Vordringens nach Ruanda wurden freilich

weder erkannt, noch waren sie offensichtlich, noch spielte die Kolonisation eine direkte Rolle

in der Reise von Götzens (Kabagema 1993: 21ff). Die unmittelbare politische Bedeutung der

von Götze’schen Expedition lag daher weniger in dem Zusammentreffen mit dem Mwami als

in den durch die geographischen Erhebungen aufgeworfenen Grenzfragen, die nach einer

Klärung zwischen den betreffenden Staaten – Deutschland, dem Kongo-Freistaat und

Großbritannien – verlangten. Als von Götzen nach seiner Rückkehr nach Deutschland mit

einem kaiserlichen Orden ausgezeichnet werden sollte, würdigte das Auswärtige Amt –

damals noch für die deutschen Schutzgebiete zuständig – die Ergebnisse der Expedition

dementsprechend, nicht aber, ohne auf das koloniale Potential Ruandas anzuspielen: [Seine Ermittlungen erbrachten, daß das] Bergland von Ruanda auch für eine europäische

Ansiedlung günstige Aussichten bietet.(...) Die Feststellung der Expedition sind nicht nur in

geographischer Hinsicht, sondern namentlich auf für die Vereinbarung einer natürlichen

Grenze (...) gegenüber dem Kongostaat von hervorragender Bedeutung (...). (zitiert nach

Bindseil 1992: 77)

Drei Jahre nach der Expedition von Götzens, im März 1897, führte eine weitere Expedition

unter der Leitung des deutschen Offiziers, Hauptmann Hans Ramsay, nach Ruanda und

zum Königshof, diesmal mit dem expliziten Ziel, das Gebiet für die Kolonisierung zu öffnen.

Am Hof traf Hauptmann Ramsay mit einem für den Mwami (Yuhi Musinga, der zur

Jahreswende an die Macht geputscht wurde) gehaltenen Angehörigen des Hofes (‚Pseudo-

Mwami‘) zusammen, übergab ihm den deutschen Schutzbrief und die deutsche Flagge und

‚besiegelte‘ den Bund mit einem Blutspakt. In der lakonisch kurz gehaltenen Beschreibung

dieses Aktes durch Ramsay liest sich das so: (...) In dem äußerst sauber und neu gebauten Dorf, das von einer schönen gepflasterten

Strauchboma [Schutzwall] umgeben war, waren mehr als 1.000 bewaffnete Männer

versammelt, die uns hockend, stillschweigend und mißtrauisch aufwarteten. In seiner

Staatshütte empfing mich Juhi [der vermeintliche Mwami, Yuhi Musinga], umgeben von seinen

ersten Beratern. (....)124 Nachdem ich ihm den Zweck meiner Reise und meine Absichten

durch den Dolmetscher hatte erklären lassen, erwiderte er, daß er ein Freund der Deutschen

sein wolle und bat um einen Schutzbrief und eine Flagge (die er auch erhielt). Er führte

lebhafte Beschwerde über das Eindringen der Belgier. Darauf sagte ich ihm, daß er mir ein

Zeichen seiner aufrichtigen Freundschaft geben und mit mir Blutsfreundschaft machen

möchte. Er war damit einverstanden, sagte jedoch, daß sich nur gewöhnliche Leute in die

Hand schnitten, um gegenseitig das Blut zu trinken. (...) Ein riesiger Mtussi (...) holte darauf

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einige lange, seidenartige Grashalme. Ich mußte darauf einen Faden Juhi um den Leib

binden, und er band mit einige Fäden um; dann schüttelten wir uns energisch die Hände, und

die Blutsfreundschaft zwischen dem König und mir war geschlossen. Damit war ein

Hauptzwecke der Expedition in friedlicher Weise erreicht. (Ramsay125 zitiert nach Bindseil

1992: 97)

Die relativ unproblematische, in einem ‚amikablen‘ Klima zwischen Deutschen und dem

ruandesischen Hof vonstatten gehende Inkorporation Ruandas in das Protektorat Deutsch-

Ostafrika kam zum Zeitpunkt einer tiefen politischen Krise, die ihrerseits die Bereitschaft, den

Schutzvertrag (soweit er verstanden bzw. explizit gemacht wurde) und damit die Deutschen

als permanente Größe im politischen Feld zu akzeptieren, merklich steigerte. Gleichzeitig

darf die Expedition, die im wesentlichen den Etablierungswillen der deutschen Kolonialmacht

zum Ausdruck brachte, nicht überschätzt werden. Wenig unterschied die Expedition Hans

Ramsays von der Adolf Graf von Götzens. Für die ruandesische Seite erschien die von

Götzen’sche Expedition als ebenso ‚offiziell’ (i.S. von politisch bedeutsam) wie jene

Ramsays, die nun tatsächlich kolonialpolitische Ziele hatte. Spürbare Auswirkungen für

Ruanda zeitigte sie erst drei Jahre später (1900), als die kolonialen Interventionen immer

zahlreicher wurden, die Präsenz spürbarer und dauerhafte wurde und mit der von der

Kolonialregierung unterstützten Niederlassung von Missionaren der ‚Gesellschaft der

Missionare für Afrika’ (‚Weiße Väter’) eine neue Gruppe von Akteuren relevant wurde. Mit der

Ankunft der Weißen Väter war der für die Kolonialperiode charakteristische Herrschaftsnexus

von Hof, Kolonialadministration und Mission – die koloniale Triade – komplett, gleichzeitig

aber weit davon entfernt, einen organischen und harmonischen Herrschaftsapparat

darzustellen. Das Verhältnis der einzelnen Säulen zueinander blieb während der ganzen

deutschen Periode prekär und von Konflikten begleitet, die in punktuellen bis hin zu mehr

strategischen Allianzen zweier Parteien gegen eine dritte ihren Ausdruck fanden. Die

Situation einer stets prekären, von Schwankungen und Unsicherheit gekennzeichneten

‚Cohabitation’ änderte sich erst in der belgischen Periode, als zunächst die

Kolonialverwaltung mit der (von den Weißen Vätern) verkörperten Kirche eine enge

Partnerschaft einging, die dann, nach der Ausschaltung Musingas 1931 zum kolonialen

‚Triumvirat’ – Hof, belgische Kolonialmacht und Kirche ausgebaut wurde.

124Es folgt eine kurze Beschreibung der Berater und des vermeintlichen Königs. 125 Hans Ramsay (1898): Über seine Expedition nach Ruanda und dem Rikwa See in: Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 25, p.313f

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5.1.2 Koloniale Erschließung und Erbfolgestreit: Ruanda in den 1890er Jahren

5.1.3 Ruandas neue Grenzen: Begegnung mit dem Kongo

Die Krise, in der sich die ruandesische Monarchie befand, hatte zwei von einander

unabhängige, aber sich gegenseitig beeinflussende Ursachen, deren respektive

Auswirkungen das Königtum auf Jahre hinaus schwächten und seine Legitimität auf längere

Zeit hinaus untergruben, ja bleibend beschädigten. Zum einen hatte die europäische

Präsenz in der Region die ersten spürbaren Auswirkungen auf Ruanda. Im Juli 1896 stießen

kongostaatliche Truppen (von der Bevölkerung in Kinyaga – der Region, in der der Einfall

stattfand – ‚Abapari’ genannt) in ruandesisches Gebiet vor. Juristisch durchaus im Rahmen

der Kongo-Akte und nachfolgender Verträge126, aber ohne Notifizierung der deutschen

Behörden, und insofern außerhalb diplomatischer Usancen, fand die militärische Besetzung

des kongostaatlichen Teils Ruandas just zu jenem Zeitpunkt statt, an dem das Außenamt in

Berlin dank der von der Expedition von Götzens erworbenen geographischen und politischen

Kenntnisse, seiner Fehler bei der Festsetzung der Westgrenze Deutsch-Ostafrikas gewahr

wurde. In einem großangelegten Versuch, die kongostaatlicher Truppen zurückzudrängen,

erlitten die ruandesischen Verbände eine vernichtende Niederlage, auf die mit der de facto

Aufgabe des betroffenen Gebiets (Kinyaga im Südwesten Ruandas) reagiert wurde. Die

Truppen des Freistaates gründeten zwei Militärposten auf der ruandesischen Seite des

Kivusees, waren aber Ende 1897, nach dem Einfall meuternder kongostaatlicher Verbände

gezwungen, ihre Stationen wieder aufzugeben und sich nach Usumbura in deutschen Schutz

zu begeben. Die Anwesenheit von Rebellen bot dem deutschen Verantwortlichen vor Ort,

dem Bezirkchef von Ujiji und Nachfolger Hauptmann Ramsays in dieser Position, Hermann

Bethe, die Gelegenheit, Schutztruppen in der betreffenden und völkerrechtlich

kongostaatlichen Region zu stationieren. Die Gründung der Militärposten Shangi im

November 1898 und Gisenyi (an der Nordspitze des Kivusees) im darauffolgenden Jahr ist in

diesem Kontext zu sehen (Vgl. Honke 1990b: 116). 1899 schlugen die kongostaatlichen

Gruppen die meuternden Truppen, die deutschen Stationen wurden allerdings nicht

aufgegeben. Der damit akut gewordene Grenzstreit mit dem Kongo-Freistaat wurde vorläufig

in einem Ad-Hoc Vertrag (Bethe-Hecq-Abkommen) entschärft, der im wesentlichen den

126 Die Grenzen zwischen dem Freistaat Kongo und den von Deutschland beanspruchten Gebieten wurden im Rahmen der Berliner Konferenz mit der Anerkennung des Kongo Freistaates durch Deutschland im November 1884 festgelegt, jedoch vom ebenfalls im Rahmen der Berliner Konferenz getätigten Abkommen signifikant verändert. Die in der von Deutschland im August 1885 ratifizierten Neutralitätserklärung des Kongo-Freistaates festgelegten Grenzen waren dann (wenn auch vorläufig) die juristisch gültigen. Sie verliefen vom Nordwest-Ufer des Tanganyikasees in einer geraden Linie quer durch Ruanda-Urundi, während das ursprünglich deutsch-kongostaatliche Abkommen die Grenzen zugunsten Deutschlands weiter westlich hatte liegen lassen (Vgl. Louis 1963: 3ff).

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durch die deutsche Besetzung erzielten Staus Quo festfror (Louis 1963: 43). 1900 gründeten

kongostaatlichen Truppen unweit der deutschen Militärstation Ishangi zwei als ‚Protest‘

gegen die versuchte Verdrängung der kongostaatlichen Truppen durch den verantwortlichen

deutschen Offizier gemünzte Militärstationen. Die Grenzfrage wurde formell auf der

Brüsseler Kivu-Mfumbiro Konferenz von 1910 zwischen Deutschland, Belgien und

Großbritannien geregelt und mit der Demarkation der Grenzen, die ein Jahr später erfolgte,

endgültig abgeschlossen (Ebenda: 79ff und 194).127

Mit dem Vordringen kongostaatlicher Truppen auf vom Mwami beanspruchtes Territorium

wurden europäische Gruppen und Akteure merklich und in steigendem Ausmaß zu einer

relevanten und daher einzurechnenden Größe im komplizierten Macht- und

Herrschaftsgefüge Ruandas. Die unmittelbare Auswirkung des Einfalls der Force Publique

(der notorischen Armee des Kongostaates) war eine zusätzliche Destabilisierung des durch

den Tod Rwabugiris aus dem Gleichgewicht128 gebrachten politischen Systems. Gleichzeitig

brachte er eine grundsätzliche Reorientierung der wesentlich auf Expansion basierenden

Politik aller rezenten Regenten Ruandas – jene Rwabugiris und seiner Vorgänger im 19. und

18.Jahrhundert. Die Bereitschaft, eine Allianz mit ihnen einzugehen, die sich in der

Akzeptanz des Schutzbriefes und der kaiserlichen Flagge, den symbolischen Zeichen für

den Etablierungswillen der Deutschen, zeigte, versteht sich aus dieser profunden

Erschütterung eines der Fundamente des ruandesischen Staates. Nach dem Bericht

Hauptmann Ramsays129 über die Audienz am Hof, bei der er dem vermeintlichen Mwami

Schutzbrief und Flagge überreichte, scheint der belgische Einfall ein wichtiger

Diskussionspunkt gewesen zu sein und die ‚Bitte’ um den Schutzbrief (so im Bericht

Ramsays), möglicherweise der bewußte Versuch, einen Bündnispartner gegen die Belgier zu

gewinnen. Den deutschen Schutzbrief ließ der Hof jedenfalls als Zeichen, einen starken

Partner zu besitzen, den Belgiern zukommen (Honke 1990a: 116). Ein Jahr später, 1898,

überreichte Hermann von Bethe Musinga (bzw. dem Pseudo-Mwami) deshalb neuerlich

Flagge und Schutzbrief, nicht ohne dabei die Etablierung einer deutschen Station in Shangi

als die beiden Seiten vorteilige Option zu erörtern und vom ruandesischen Hof die

127 Ein Teil des durch die Brüsseler Konferenz Großbritannien zugesprochenen Gebietes, Kigezi (das den unklaren Terminus Mfumbiro bzw. Bufumbiro als offizielle Bezeichnung des Distrikts ablöste), bekannt auch als ‚Britisch-Ruanda‘, hielt qua eines von den Briten als ‚Paramount Chief‘ anerkannten Halbbruders Musingas und Vertreters des ruandesischen Hofes, Nyindo, bis zum ersten Weltkrieg (als Nyindo gegen die Briten revoltierte und abgesetzt wurde) eine Zwitterstellung inne und führte zum, wenn auch kurzfristigen und infolge der Distanz zu Zentralruanda eher theoretischen, aber nichtsdestotrotz kuriosen Paradoxon, daß ein indirekt regiertes und zugegebenermaßen vergleichsweise gut bzw. zentralistisch organisiertes, mächtiges afrikanisches Königtum koloniale Grenzen transzendierte (Vgl. Louis 1963: 196) 128 damit soll keinem funktionalistischen Gleichgewichtsmodell das Wort geredet werden. Gleichgewicht heißt in diesem Kontext nur so viel, daß in einem hochgradig personalisierten politischen System der Tod einer der physischen Person des Herrschers zugleich eine institutionelle Krise des Herrschaftsverbands impliziert. 129 Hans Ramsay (1898): Über seine Expedition nach Ruanda und dem Rikwasee, in Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 25, p.313-135

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stillschweigende Unterstützung für die Landnahme der zwischen dem Kongofreistaat und

dem deutschen Reich strittigen Gebiete erhalten zu haben (Vgl. Bindseil 1992: 103ff).

Gleichzeitig bestand die ‚Allianz’ für den ruandesischen Hof in wenig mehr als im Abwarten

und Dulden der ohnedies schwachen deutschen Präsenz, die sich außerdem auf die

Peripherie des Herrschaftsgebietes beschränkte und offen gezeigtes Mißtrauen und

Versuche, die Aktivitäten der Deutschen zu untergraben, nicht ausschloß. Hauptmann

Ramsay hielt im selben Bericht den belgischen Einfall für den Hauptgrund für die feindselige

Haltung, die er von Seiten des Hofes zu spüren glaubte: [In der Folge des Einfalls] war es zu bösen Kämpfen zwischen den Kongolesen und den

Wanyaruanda gekommen. Schließlich ließ König Yuhi die Gegend am Kivu-See von seinen

Untertanen räumen. Die Folge von diesem Kriege, in dem die Wanyaruanda (...) zum ersten

Mal einen Vorgeschmack von der Gewalt der Feuerwaffen erhielten, war jedoch die, daß

König Juhi uns mit Mißtrauen und Angst empfing und daß die Watussi später versuchten, uns

so schnell wie möglich aus dem Land herauszukomplementieren (...). (Ramsay130 zitiert nach

Bindseil 1992: 93)

In der von dem Einfall der kongostaatlichen Truppen betroffenen Region Kinyaga, die erst

unter Rwabugiri effektiv in den ruandesischen Herrschaftsbereich integriert worden war und

bis zu seiner Herrschaft als typische Grenzregion131 unter der Autorität von Armee-Chiefs

stand, bedeutete die über zweijährige Präsenz der Belgier (reguläre Truppen sowie ‚Dhani‘-

Rebellen) zunächst den vorläufigen Rückzug der ‚Banyanduga‘ aus Kinyaga und ermöglichte

anderen, das entstandene Machtvakuum aufzufüllen und in Ausnützung ihres Verhältnisses

zu Europäern Abgaben einzuheben, Viehherden aufzubauen und Klientelbeziehungen zu

schließen. Der Vorfall und seine Konsequenzen machten den prekären Status der

130 ebenda 131 Die Region Kinyaga war zur Zeit der Kolonisierung in drei Provinzen geteilt – Abiru, Impara und Bugarama, wobei letztere eine ‚Halbprovinz’ und Impara (und seinem Provinzchief) untergeordnet war. Weiters befanden sich die unabhängigen Kleinkönigtümer Bukunzi und Busozo innerhalb der Region Kinyaga. Rwabugiri ernannte in seiner Herrschaftszeit Provinzchiefs (abatware b’ubutaka bzw. abatware b’intebe) für die beiden Provinzen Impara und Abiru und setzte damit einen weiteren Schritt in der Inkorporation der Region in Ruanda. Gleichzeitig bestanden die Armeen der beiden Provinzen weiter, und Autoritätsstrukturen waren dadurch relativ komplex (C.Newbury 1988: 40ff). In der Provinz Impara war beispielsweise der erste bekannte Provinzchief ein gewisser Ntizimira, der von Rwabugiri ernannt worden war. Unter ihm standen drei regionale Vertreter (für die Kernprovinz, den nördlichen Teil, der später (1935) als Cyesha eine eigenständige Provinz wurde und für Bugarama. In der Nachbarprovinz Abiru beschäftigte sich der Provinzchief direkt mit den vom ihm eingesetzten Hügel-Chiefs (abatware b’umusozi), die Ntizimira, wie sein Konterpart in Abiru, innerhalb seiner Provinz ebenfalls ernannte, wobei er gleichwohl auf anerkannte Männer (Lineage-Häupter u.a.) zurückgriff. Gleichzeitig war Ntizimira Chief der Impara Armee (umutware w’umuheto w’Impara), zu der allerdings nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung seiner Provinz gehörte. Parallel dazu waren einige Lineages Mitglieder anderer (sozialer) Armeen außerhalb Kinyagas. Nach der Ablöse (und dem Tod) Ntizimiras wurde ein Notabler aus der Lineage der Königinmutter Chief der Impara-Armee, und nach dessen frühen Tod, sein Sohn Rwidegembya. Die daraus folgende Teilung der Herrschaft unter zwei wesentlichen Amtsinhabern glich in vielem der Teilung zwischen Land- und Weide-Chief in Zentralruanda, wobei aber die Funktion des Armee-Chiefs nicht auf Belange, die in irgendeiner Weise mit Vieh oder Weiden zu tun hatten, beschränkt war (ebenda: 45f).

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zentralruandesischen Herrschaftsarrangements angesichts überlegener militärischer Macht

deutlich, deuten zugleich aber auch auf die Art und Weise, wie die Festsetzung der Europäer

in der Aneignung von und Anpassung an lokale Idiome der Politik (Klientelismus) vonstatten

gehen könnte und es teilweise auch tat (Vgl. C.Newbury 1988: 54ff).

5.1.4 Der Coup von Rucunshu

Die Sukzessionskrise nach dem Tod Rwabugiris bildete die zweite, endogene Seite der

politischen Krise, in der sich Ruanda zum Beginn der deutschen Kolonialherrschaft fand. Die

Gelegenheit, den von Rwabugiri eingesetzten Nachfolger, Mibambwe IV. Rutarindwa (1895-

1896), abzusetzen, hatte sich nach dem Schlag gegen die Monarchie durch den Einfall

kongostaatlicher Truppen ergeben. Beim Gegenschlag ruandesischer Verbände gegen die

einfallenden kongostaatlichen Truppen wurde der Anführer der ruandesischen Truppen,

Bisangwa, getötet. Er war neben seinen Brüdern Sehene und Mugugu einer der drei

führenden rituellen Spezialisten (Abiru). Sie waren, hatten sie doch maßgeblich bei der

Bestimmung des Nachfolgers Rwabugiris maßgeblich mitgewirkt, gleichzeitig seine

prominentesten Unterstützer und Gefolgsleute. Der Tod Bisangwas bildete den Auftakt zu

dem Coup gegen Rutarindwa Ende 1896 in Rucunshu (nahe Kabgayi in Zentralruanda),

hinter dem eine Gruppe von Abega-Notablen stand, zu deren bedeutendsten Kanjogera, die

von Rwabugiri zu Rutarindwas Königinmutter gemacht worden war, ihre Brüder Kabare und

Ruhankiko sowie deren Neffe Rwidegembya gehörten. Mit der Ermordung der beiden

überlebenden Abiru, Sehene und Mugugu, durch Gefolgsleute Kabares und der Übertragung

der respektiven Kommandos über die von ihnen befehligten Armeen war das Lager

Rutarindwas erheblich geschwächt, der Erfolg des Coup praktisch sicher und nur mehr eine

Frage der Zeit. Als die Verschwörer schließlich gegen den isolierten Rutarindwa vorgingen –

er verkehrte nur mehr indirekt mit den Abega einschließlich der Königinmutter -, wurde sein

etwa siebzehnjährigen Halbbruder Musinga zum neuen Mwami ausgerufen, nachdem

Rutarindwa samt seiner engsten Familie in den Selbstmord gedrängt wurde, noch bevor das

Symbol der Monarchie, die Trommel Kalinga aus den beim Coup gelegten Flammen gerettet

werden konnte und nicht nur deswegen im Bruch aller Tradition (C.Newbury 1988: 58f;

Ntezimana 1990: 80).

Sukzessionskämpfe nach dem Tod eines Mwami waren an sich nicht außergewöhnlich, und

der Coup von Rucunshu steht in einer Reihe von gleichartigen Machtwechseln. Die

Sukzession bildete, trotz elaborierter ritueller und ideologischer Praktiken, einen strukturellen

Schwachpunkt in der Kontinuität der Herrschaft, zumal die Zahl der potentiellen

Thronprätendenten stets groß war und die anfängliche relative Machtposition des neuen

Mwami von dem Ausmaß der Unterstützung abhing, die er von den etablierten Chiefs im

Umkreis des Hofes erhielt. Gleichzeitig fanden Sukzessionskämpfe im Kontext von

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Familien-, Lineage-, oder Klanrivalitäten statt, die den Konflikten ihren kollektiven Charakter

verliehen. Paradoxerweise führten die chronischen Sukzessionskämpfe langfristig zu einer

Stärkung der Institution des Königtums an sich, zur dogmatischen Bekräftigung der

Kontinuität der dynastischen Linie und zur Erhöhung des Prestiges der Institution des

Königtums, gleichgültig wer den Thron einnahm; zur pragmatischen Akzeptanz der im Kampf

um den Thron siegreichen Partei und gegebenenfalls zu einer ex post Manipulation der

historischen Traditionen und rituellen Praktiken, wenn auch kurz- und mittelfristig

Sukzessionskämpfen zunächst meist eine Schwächung des Hofes und damit einhergehend,

eine Stärkung der Position der Chiefs vis-à-vis dem Hof brachten (Vansina 1962: 73).

Der Nachfolgekampf nach dem Tod von Rwabugiri unterscheidet sich allerdings von früheren

Sukzessionskämpfen durch die veränderten Rahmenbedingungen, innerhalb derer die

Sukzession und die darauffolgende Konsolidierung der Herrschaft zu sehen ist: nämlich

durch den bei der Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs Musingas maßgeblichen

kolonialen Faktor, der schließlich auch zur Emanzipation Musingas von den treibenden

Kräften hinter dem Coup von Rucunshu beitrug einerseits und durch die infolge der

Expansions- und Zentralisierungspolitik Rwabugiris bewirkte veränderte Qualität von

Herrschaft in Ruanda andererseits. Beim Coup gegen Rutarindwa ging es letztlich nicht um

die Person des Mwami selbst, sondern um die Wiederherstellung alter, von Rwabugiri in

seiner Politik der Entmachtung eingesessener Chiefs und Lineages genommenen oder

eingeschränkten Privilegien der matridynastischen Lineage132 der Abega-Abakagara,133 was

gleichzeitig die Entmachtung der patridynastischen Lineage Abanyiginya-Abahindiro

bedeutete. Dem Machtwechsel fehlte die soziale Basis – er beruhte im wesentlichen auf den

parochialen Interessen einer kleinen, wenn auch einflußreichen Gruppe des Adels. Die

Gruppe um die Königinmutter Kanjogera versuchte die fehlende soziale Basis und die

fehlende Legitimität Musingas durch klientelistische Politik und Ausschaltung der Gegner –

und schließlich auch mittels der Kooperation mit den Deutschen134 zu kompensieren. Am

spürbarsten waren die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen des Machtwechsels an der

Spitze der Monarchie, die in einer Serie von (erzwungenen) Selbstmorden, Morden (an dem

im Machtkampf Unterlegenen sowie bisweilen auch an seiner kompletten engeren

Gefolgschaft) und der Vertreibung einzelner und ganzer Gruppen von ‚Feinden‘ des Hofes

132 Die Königinmütter (abagabekazi) waren im 19.Jh. in der Regel aus dem Abega-klan, die Bami selbst Abanyiginya. Im 19.Jh.hatten insbesondere Abega-Abakagara und Abanyiginya-Abahindiro das Recht, untereinander bevorzugt Heiratsallianzen zu schließen. Diese bildeten ein bedeutendes Mittel, Interessen der Lineage durchzusetzen. Vgl. Ntezimana 1990: 79 133 Abega (Abayniginya) ist der Name des Klans, Abakagera (Abahindiro) derjenige der Lineage. 134 Gegenüber den katholischen (überwiegend frankophonen‚Weißen Vätern‘) bzw. den weniger zahlreichen evangelischen Missionaren (der Bethelmission) war der Hof zu mißtrauisch und feindselig, um eine Kooperation einzugehen und beschränkte sich darauf, sie soweit wie möglich zu instrumentalisieren, ohne ihnen Zugeständnisse machen zu müssen.

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ihren Ausdruck fand und damit eine längere Periode politischer Instabilität einläutete (Vgl.

Ntezimana 1990: 80; Vidal 1985: 176). Abanyiginya, bzw. eigentlich Angehörige der

Abahindiro Lineage, die unter Rwabugiri eine Reihe von wichtigen Positionen besetzt hatte,

wurden systematisch verdrängt, durch Abega ersetzt oder marginalisiert. Auf der höchsten

Stufe der Hierarchie war die Position der Amtsinhaber stets prekär gewesen. Nach

Rucunshu war sie aber prekärer denn je und betraf in unterschiedlichem Ausmaß auch die

untersten Ebenen der Hierarchie. Klienten von Patronen, die in Rucunshu auf der

Verliererseite gestanden waren, sahen sich gezwungen, neue Patrone unter dem von dem

Coup begünstigten Personenkreis zu suchen. Klienten von Abega aus der Kagera-Lineage

erfuhren umgekehrt eine Erhöhung ihres eigenen Prestiges und Status, ein Phänomen, das

die lokale Bedeutung von Abega in ganz Ruanda sprunghaft ansteigen ließ. Die

Säuberungen machten auch vor religiösen Würdenträgern nicht halt. So fand der Mwami

w’imandwa, der königliche Delegierte für den Imandwa (Ryangombe)-Kult, bei dem der

Mwami selbst nicht teilnehmen durfte, und also einer der wichtigsten, prestigeträchtigsten

religiösen Funktionäre am Hof, nachdem er als Unterstützer Rutarindwas denunziert worden

war, ebenso den Tod wie viele andere Notable.

Allerdings blieb sich die Gruppe um Kanjogera, die den jungen Musinga auf den Thron

gehievt hatte, nicht lange einig und intrafaktionelle Kämpfe folgten. Kabare, der Bruder der

Königinmutter Kanjogera und Ruhankikos, kam in Konflikt mit letzterem und wurde im Jahr

1900 vom Hof verbannt und kehrte erst drei Jahre später aus seinem Exil Bugesera zurück.

Nach seiner Rückkehr konnte er seine Position wieder festigen und seinen Bruder

Ruhankiko vom Hof verdrängen (Mbonimana/Ntezimana 1990: 131). Ähnliche Bruchlinien

taten sich zwischen dem sich von den Architekten des Coups von Rucunshu

emanzipierenden Musinga und seiner Mutter Kanjogera, auf. In der komplexen und

instabilen Situation wechselten die Fronten fortlaufend. Musinga verstand es mit der Zeit

zunehmend besser, die verschiedenen Parteien gegeneinander auszuspielen:

Einzelpersonen gleichermaßen wie die Abega gegen die Missionare, oder umgekehrt, oder,

mit Hilfe der Deutschen gegen sowohl Abega und Missionare oder eine der beiden Gruppen.

1907, als der Mwami durch seine geschickte Diplomatie im wesentlichen die Situation

kontrollierte, kommentierte Pater Léon Classe, stellvertretender Vikar und einflußreichster

Missionar, die neue Lage: „Er (Musinga) ist kein Minderjähriger mehr; er ist nun ein Mugabo

ukomoye (ein mächtiger Mann).“ (Linden 1977: 81; m.Ü.)

5.1.4.1 Sukzession, Königtum, Widerstand und Legitimität

Der Sturz des schon 1889 zum Mitregenten ernannten Rutarindwa, dessen dem rituellen

Code der Monarchie (Ubwiru) entsprechende Sukzession ihn wenn auch nicht mächtiger

machte, ihm jedenfalls Legitimität verschuf, eröffnete zugleich den Raum für indirekten,

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latenten sowie für offenen Widerstand gegen den Hof, der in einem Fall zu einer

breitgetragenen, regionalen Rebellion auswuchs. Der Widerstand gegen die neuen

Verhältnisse – der nicht leicht zu unterscheiden ist von Versuchen, die eigene Machtposition

oder die einer Gruppe in Ausnutzung der Umstände zu festigen und auf Kosten des Hofes

auszudehnen – fand seinen Ausdruck im Widerstand einzelner Chiefs (und ihrer Klienten)

und in breiteren, regionalen Protestbewegungen. Gemeinsam war ihnen ein legitimistischer

Diskurs – d.h. die Anspielung auf und Anknüpfung an die fehlende Legitimität der Person des

Mwami. Mit der Verweigerung von Abgaben und ähnlichem oder mit der offen artikulierten

Forderung nach seiner Absetzung blieb der Widerstand innerhalb eines festetablierten

Diskurses, der die Wiederherstellung des als verletzt betrachteten Königtums forderte. Unter

dem legitimistischen Diskurs verbargen sich aber grundsätzlichere Anliegen, die nicht in

erster Linie von der Sorge um das Königtum und der Denunziation der Illegitimität der

Person Musingas getragen war. Sie knüpften vielmehr an den spürbaren sozioökonomischen

und politischen Veränderungen auf lokaler Ebene an – Auswirkungen der Verdichtung der

Herrschaft und ihre Zentralisation unter Rwabugiri und der verstärkten, unkontrollierten

Kolonisation des Nordens unter Musinga –und können so als eine tendenziell

rückwärtsgewandte Verteidigung von als durch die Herrschaftsträger verletzt betrachtete

‚traditionelle’ Rechte bzw. als Verteidigung der in Gefahr geglaubten ‚traditionellen’ Ordnung

überhaupt gelesen werden (Vgl. Des Forges 1986: 325ff). Die ‚Verteidigung des Königtums’

im legitimistischen Diskurs bildete sozusagen den symbolischen Rahmen, in dessen

Mittelpunkt das Königtum stand, und der die Artikulation tieferliegender Anliegen parochialer

oder regionalspezifischer Natur erlaubte. Der Diskurs weist zugleich auf ein in vielen

afrikanischen politischen Systemen vorhandenes Verständnis von Herrschaft als

beschränkte Unterwerfung der Untertanen – der Gefolgschaft – unter die Autorität des

Herrschers hin, als eine Art ‚nützlichkeitsorientierter’ Gestus der Untertanen, in Erwartung,

daß der Herrscher die rituelle, soziale, wirtschaftliche und politische Integrität des Landes

und seiner Bewohner bewahre können werde. Die rituellen Tabus , die der Herrscher

einzuhalten hatte, und die rituellen Praktiken, die er im Falle von Kalamitäten (Ernteausfall...)

auszuführen hatte, können als ein elementarer Bestandteil einer politischen Ideologie

betrachtet werden, in deren Perspektive die Herrschaftsausübung als in letzter Hinsicht von

den Untertanen abhängig erscheint (Vgl. Kopytoff 1987: 66). Die ideologisch postulierte

Reziprozität der zugleich asymmetrischen Beziehung zwischen Herrschern und

Beherrschten weist auf eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit der Organisation von politischer

Herrschaft in der Form des Königtums mit der Struktur und Organisationsweise von Patron-

Klientenverhältnissen auf, wobei allerdings im a-personalen Charakter der Loyalität zum

Königtum, der mit einer religiösen Überhöhung der Institution einhergeht, ein gewichtiger

Unterschied besteht (Vgl. Eisendstadt/Roniger 1981; Lemarchand 1981). In gleichen Maßen

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wie letztere die Legitimität der Herrschaft als mit der Fähigkeit der Person des Herrschers,

die Integrität des Landes und seiner Bewohner zu gewährleisten, korrelieren ließ, beinhaltete

sie eine grundsätzliche Wertschätzung der Institution des Königtums qua deren Bedeutung

für das Wohl des Landes. Die Institution des Königtums figurierte damit selber als eine

wichtige Quelle von Legitimität, ein Faktum, das – wo keine anderen vergleichbaren Quellen

von Legitimität bestanden – von den Praktiken der gegen Musinga rebellierenden oder

widerständigen Führer eindrucksvoll belegt wird. Tatsächlich traten immer wieder Personen

wirklicher oder fiktiver königlicher Herkunft (d.h. als Söhne oder Brüder Rwabugiris) gegen

den Hof auf, unter denen einer, Ndungutse, 1912, ausgehend von den nördlichen peripheren

Regionen Ruandas, die größte und zugleich letzte große antikoloniale (im doppelten Sinn

des Wortes: sowohl gegen Europäer als auch gegen den Hof gerichtete) Rebellion lostrat.

5.2 Das System kolonialer Herrschaft

5.2.1 Materielle Zwänge und indirekte Herrschaft

(...) den despotischen König Juhi Musinga und den hochmütigen mächtigen Batussi-Adel

allmählich an die Oberhoheit des deutschen Kaisers zu gewöhnen, ohne jeden

Machtaufwand, ohne Kriegsführung, nur mit unerschütterlicher ruhiger Konsequenz geistiger

Beeinflussung, mit [großer] Einfühlung in die Mentalität dieser afrikanischen Menschen, mit

großer diplomatischer Geschicklichkeit. (Hans Meyer135 über die kolonialpolitische Strategie

des deutschen Residenten Richard Kandt in Ruanda, zitiert nach Kabagema 1993: 120)

Die Beschreibung der politischen Strategie Richard Kandts gegenüber dem Mwami durch

den deutschen Geographen und Afrikareisenden Hans Meyer weist über ihren deskriptiven

Gehalt hinaus, und kann gleichermaßen als Beschreibung wie als normative Aussage

gelesen werden und ist damit ein beredter Ausdruck des Herrschaftsmodus und der

Herrschaftsideologie der deutschen Kolonisatoren, welche die belgische Kolonialmacht,

wenn auch wider Willen, zunächst übernahm – ein Prozeß, der zeitgleich mit der

Formalisierung des belgischen Mandatstitels über Ruanda-Urundi Mitte der Zwanziger Jahre

weitgehend abgeschlossen war und letztlich zu einer direkten Ausübung kolonialen

Herrschaft führte. Eine Folge und Begleiterscheinung der in der deutschen Periode

vorherrschenden Herrschaftspraxis war eine Kolonialverwaltung, deren Verhältnis zu den

bestehenden Strukturen, die in der Theorie als ihr subsidiär behandelt wurden, wenig

formalisiert und kaum geklärt war.

135 Hans Meyer (1928): In Ruanda bei Richard Kandt 1911 in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Sonderband zur Hundertjahrfeier der Gesellschaft, Berlin p.154-155

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Bis 1906, als in Usumbura (Bujumbura) die Residentur Ruanda-Urundi eingerichtet und

damit die Militärverwaltung, repräsentiert durch zwei Kompanien der Schutztruppe, von einer

nominell zivilen Verwaltung (die allerdings wenig vom Charakter einer Militärokkupation

verlor) abgelöst wurde, blieb die deutsche Präsenz in Ruanda eine rudimentäre und bestand

im wesentlichen aus zwei Militärstationen (Ishangi und Gisenyi), wobei nur der Posten

Ishangi dauernd besetzt gehalten wurden (Kabagema 1993: 99; Louis 1963: 178 FN 8). Die

so gezeigte Präsenz zielte, mehr noch als auf den Aufbau einer veritablen

Kolonialverwaltung, auf die Symbolisierung und Bekräftigung der deutschen Ansprüche

gegenüber dem Kongostaat. Die Lage der beiden Stationen Gisenyi und Ishangi unmittelbar

an der Grenze zum Kongo war daher nicht zufällig gewählt und gibt Aufschluß darüber, wo

die eigentlichen Schwerpunkte der frühen deutschen Kolonialpolitik lagen (Vgl. Bindseil

1992: 141). Mit den Ausnahmen eines jeweils nur zeitweilig besetzt gehaltenen, ebenfalls im

Norden und ebenfalls an der Grenze zum Kongostaat gelegenen Postens (Ruhengeri) und

der Errichtung einer ‚Hauptstadt’, dem Residentursitz in Kigali, blieben weitere Investitionen

in die kolonialstaatliche Infrastruktur im engeren Sinn aus. Die deutsche Präsenz und

Aktivität verteilte sich in der Folge ungleichmäßig über Ruanda: der Schwerpunkt deutscher

Interventionen lag in jenen Gebieten, wo sie zumindest eine rudimentäre Präsenz besaßen:

im Südwesten und in den nordwestlichen Gebieten, sowie im Zentrum um Kigali. Der

Charakter der deutschen Präsenz läßt es nicht weiter verwunderlich erscheinen, daß kaum

Ansätze zu einer systematischen Entwicklung des Schutzgebietes entwickelt bzw. solche

Ideen (wie die Kommerzialisierung der Landwirtschaft durch die Kultivierung von Kaffee und

ein Eisenbahnprojekt) erst sehr kurz vor dem ersten Weltkrieg in konkrete Vorhaben

umgesetzt – und – vom Weltkrieg unterbrochen – nie oder erst viel später von der belgischen

Kolonialmacht verwirklicht worden sind. Tatsächlich gelang es den deutschen Behörden in

Ruanda nie, den Übergang von einer an Erschließung von Gebieten und Konsolidierung der

Ansprüche orientierten Militärverwaltung zu einer die wirtschaftliche Nutzbarmachung – der

effektiven Einbindung der ruandesischen landwirtschaftlichen Ökonomie in die nationale

Volkswirtschaft, und ultimativ, in die Weltwirtschaft – vorantreibenden und garantierenden

Kolonialverwaltung zu schaffen. Allerdings gelang es der deutschen Kolonialverwaltung,

Ruanda mit einem Minimum an Ressourcen zu erschließen und zu ‚regieren’, wie es der an

die Umstände äußerer Zwänge angepaßten Vision eines in die Zukunft verschobenen

kolonialen Projekts systematischer Herrschaft entsprach, nämlich in der Form der graduellen

Inkorporation Ruandas und seiner politischen Strukturen in den kolonialen Staat, an deren

Ende eine von indigenen Strukturen und kolonialer Verwaltung gebildete organische

Verwaltungseinheit stehen sollte, mit dem Mwami als Beamten und Vertreter des Kaisers.

Der eigentliche Schwerpunkt der deutschen kolonialen Aktivität in Ruanda lag im Politischen,

in der graduellen Transformation der Strukturen der Herrschaft. Ihre Bedeutung bemißt sich

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zum einen am relativen Erfolg der kolonialen Interventionen hinsichtlich der Ausweitung und

Konsolidierung der Monarchie, zum anderen an dem Ausmaß, in dem die vorhandenen

Herrschaftsstrukturen (u.a. durch ihre Konsolidierung) zu Instrumenten ‚kolonialer

Verwaltung’ gemacht wurden, mit denen Ressourcen – vor allem Arbeitskraft und

Nahrungsmittel für Truppen, Karawanen und Arbeiter – in der Bevölkerung aufgebracht

werden konnten.

Exkurs: Burundi

Die deutsche Kolonialisierung Ruandas steht in bemerkenswertem Gegensatz zu der

Burundis. Burundis unklare und instabile politische Situation unterschied sich deutlich von

der klaren Herrschaftssituation in Ruanda. Während die Deutschen in Ruanda als

Konsolidierer und Unterstützer der königlichen Macht auftraten, konnten sie in Burundi nicht

auf eine vergleichbare, gleichermaßen als legitim empfundene wie mächtige Instanz

zurückgreifen und wurden in den politischen Kämpfen zwischen den verschiedenen

regionalen und lokalen Kräften um Macht und Einfluß als Akteure unter anderen gesehen,

von allen Seiten extrem mißtraut. Die politische Instabilität, die zum Teil auf den

permanenten kriegerischen Konflikte im Zuge des Versuchs Mwezi Kissabos (Mwami von

Burundi, gest.1908) beruhte, seine Macht zu konsolidieren und auszuweiten, zum anderen in

dessen feindseligen Haltung den Europäern gegenüber und schließlich auf der

Nachfolgekrise nach dem Tod Kissabos und dem kurzen Interregnum seines Nachfolgers

Mutara (1908-1915) begründet war, dauerte über die gesamte Periode der deutschen

Kolonialherrschaft an und machte ein permanentes militärisches Engagement deutscher

Kolonialtruppen nötig, während sie zugleich die Entwicklung und Konsolidierung einer

konsistenten Kolonialpolitik nicht erlaubte. Die hohe Fluktuation des deutschen Personals

(zwischen 1908 und 1914 allein hatte Burundi sechs Residenten; Vgl. Louis 1963: 201), das,

aus dem Militär – der Schutztruppe – rekrutiert, das Amt des Residenten wie jede andere

Armeeposition ausübte – d.h. mit großer Gewissenhaftigkeit, aber mit wenig Interesse an

politischen Konzepten und Entwicklung -, tat das seinige dazu. Nicht nur war die Position des

Mwami in Burundi ungleich schwächer als jene seines gleichnamigen Gegenstücks in

Ruanda, auch die Politik spielte sich in einem völlig anderen Kontext ab, der zentrifugale

Kräfte stärkte und jeglichen Versuch der Zentralisierung scheitern ließ. Anders als in

Ruanda, rekrutierten sich der Mwami und der Großteil der Provinzchiefs aus einer strikt

definierten quasi-ethnischen Gruppe, den Baganwa unter denen der Mwami nicht mehr als

ein ‚Primus inter pares‘ darstellte und seine tatsächliche Macht im Laufe seiner

Herrschaftszeit erst erwerben und durchsetzen mußte. Die Gruppe spaltete sich wiederum in

vier Deszendenzgruppen, die jeweils den Namen eines der vier letzten Bami (Batare, Bezi,

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Batanga und Bambutsa136, von den dynastischen Namen Ntare, Mwezi, Mutara und

Mwambutsa) trug und zwischen denen sich im wesentlichen politische Konflikte abspielten.

Die einzelnen Chiefs aus den vier Gruppen faßten ihnen unterstehende Provinzen als eine

Art persönlichen Besitz, der zugleich als Machtressource im Konkurrenzkampf mit Chiefs aus

den anderen dynastischen Abstammungsgruppen bzw. mit dem Mwami diente. Der hohe

Grad der Dezentralisierung und die damit einhergehende Bedeutung regionaler Eliten und

relative Schwäche des burundischen Mwami, dessen Macht durch eine Reihe von anderen

Institutionen137 zusätzlich beschränkt wurde, trug paradoxerweise zu einer hohen Legitimität

des Mwami unter der einfachen Bevölkerung – sowohl Hutu als auch Tutsi – bei, die auf

seinem Ruf als ‚unparteiischer‘ Akteur inmitten der politischen Konflikte beruhte und die –

noch ein Paradox – vermutlich erst in der Kolonialzeit, nach dem Tod von Mwami Kissabo,

zum Tragen kam und zu einem relevanten Faktor wurde (Vgl. Louis 1963: 111ff;

Lemarchand 1970: 29f). Die schwierige Situation in Burundi bestärkte lokale deutsche

Beamte und Offiziere und das Gouvernement der Kolonie in Dar es Salaam in der

Überzeugung, die relativ fest etablierte und zentralistische Monarchie in Ruanda unter

keinen Umständen zu gefährden, sondern im Gegenteil zu unterstützen und zu

konsolidieren. Burundi und Ruanda waren somit im kolonialstaatlichen Denken eng

miteinander verbunden, was durch die gemeinsame Verwaltung innerhalb eines Bezirkes

bzw. einer Residentur bis 1906 und dem zumindest engen personellen und ideellen Kontakt

der beiden Residenturen danach noch verstärkt wurde. Burundi war sozusagen das

Negativbild Ruandas, und Ruanda diente als das eigentliche, positiv verstandene Leitmodell

für die deutsche Praxis indirekter Herrschaft im Großen Seengebiet. Wirkmächtig wurde das

normative Modell aber gerade in der Gegenüberstellung, d.h. in der polarisierenden

Betrachtung der beiden Länder.

5.2.2 Die objektiven Voraussetzungen indirekter Herrschaft

Das politische ‚Chaos in Burundi‘ kontrastierte stark mit der dagegen vergleichsweise

unterkomplexen Situation in Ruanda. Wenn auch die Ansprüche des ruandesischen Hofes

auf gewisse Regionen eher theoretischer Natur waren und die Unabhängigkeit der Chiefs mit

der Distanz zum Hof zunahm, erleichterten und ermöglichten Faktoren wie die Kooperativität

des Hofes und die zentralisierte Struktur der Herrschaftsbeziehungen erst die Durchsetzung

136 Nach einem vollständigen Zyklus, also nach 4 Generationen wurden sie zu ‚Bafasoni‘, und damit zu weniger bedeutenden Akteuren (Vgl. Louis 1963: 111). Die zeitliche Tiefe dieser zyklischen Struktur darf allerdings nicht zu hoch eingeschätzt werden. Während die Identifizierung von Zyklen eine ideologische Intervention war, die im Falle Ruandas relativ früh stattgefunden haben mag und in Burundi sicherlich später erfolgt ist, ging die entscheidende Homogenisierung der scheinbar zyklisch organisierten Genealogien auf Intervention in kolonialer Zeit zurück, die es u.a. erlaubten, eine scheinbar stimmige Chronologie für regionale Königtümer (inkl. ihrer kopräsenten Nachbarn) zu erstellen. Vgl. dazu D.Newbury 1994, zu Burundi speziell ebenda: 196ff 137 Etwa dem Tabu vor dem Betreten bestimmter Regionen, was die Machtausübung über diese Regionen sicherlich nicht einfacher machte sowie den ‚Bashigantahe‘ – lokale Notable, die im wesentlichen bei Konflikten zwischen einfachen Barundi und Chiefs bzw. dem Mwami vermittelten.

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kolonialer Kontrolle und die Errichtung einer Kolonialadministration, während sie zugleich die

Art, wie diese Herrschaft ausgeübt werden sollte, nämlich durch die größtmögliche

Unterstützung des Hofes und der Festigung und Ausweitung der Macht Musingas, mit

anderen Worten: durch ein System indirekter Herrschaft, entscheidend beeinflußte. Die

Entwicklung eines Konzepts von (nie so genannter) ‚Indirekter Herrschaft‘ orientierte sich

nicht an ähnlichen Konzepten im britischen Bereich Afrikas (Nigeria und Uganda), deren, auf

die spezifischen Probleme Britisch-Afrikas gemünzte Theoretisierung mit dem Namen

Frederick Lugards verbunden ist, sondern stellte eine genuine und zugleich ‚logische‘

Anpassung der ‚Aufgaben’ (der koloniale Administration) an die lokalen Bedingungen dar,

das, wenn überhaupt, von den Architekten der Kolonialdoktrin in Ruanda mit dem System

kolonialer Herrschaft in Niederländisch-Indien (Indonesien) verglichen wurde (Louis 1963:

200). Damit war das Indirekte System der deutschen Kolonialherrschaft in Ruanda und

Burundi weniger ein Konzept, denn eine kommentierte Praxis, die weniger systematisch als

ad-hoc, und widersprüchlicher und brüchiger war, als es die Rede von einem System

indirekten Herrschaft erwarten ließe.

Die Praxis indirekter Herrschaft, die in der Verwaltung von Ruanda-Urundi als Residenturen

ihren institutionellen Ausdruck fand und damit ein Amt (den Residenten) schuf, das die

institutionelle Verklammerung der in der Theorie unangetasteten Souveränität des Mwami

mit dem Kolonialregime gewährleisten sollte, war bedingt von mehreren Faktoren:

- die (wahrgenommene) Zentralisierung der etablierten politischen Systeme;

eine Wahrnehmung, die für Ruanda einigermaßen zutreffend war, das

politische System Burundis aber schlecht charakterisierte;

- der zu erwartende Widerstand, sollte versucht werden, eine davon

unabhängige Kolonialverwaltung aufzubauen;

- die notorische Unterbesetzung der deutschen Kolonialadministration;138

- der Klientelkomplex, die Überschneidung von politischem Amt und

ökonomischer Macht, die im wesentlichen auf Zugriffs- und

Extraktionsrechte der Chiefs (bzw. anderer reicher und mächtiger Männer,

also, wenn man so will, der politischen Klasse) beruhte. Der

Klientelkomplex war damit gleichermaßen ein Teil der politischen, als auch

der ökonomischen und sozialen Struktur des Landes; das eine könne, so

138 Deutschland war in dieser Beziehung nicht einzigartig und ähnliche ‚indirekte‘ Herrschaftsarrangements anderswo entsprangen den selben strukturellen Zwänge der respektiven Kolonialverwaltungen. Nichtsdestotroz war die deutsche Kolonialverwaltung eine der personell am schlechtesten ausgestatteten. 1913 verfügte Deutsch-Ostafrika über 70 Beamte (aus meist militärischem Hintergrund), während das in etwa gleich große Nigeria zur selben Zeit über etwas weniger als 200 Mann europäisches Verwaltungspersonal verfügte. Im Vergleich dazu verfügte der Kongo Freistaat über eine Armee von Europäern – 756 zivile Beamte und 482 Militärs. Die Residentur Ruanda war mit 10 (Verwaltungs-)Offizieren ‚bestückt’, die Residentur Usumbura mit nur 6 (Lemarchand 1970: 48-49 und 63; Young 1994: 107).

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die überwiegende Meinung der Kolonialverwaltung, nicht ohne das andere

zu gefährden, angetastet werden.

- der aristokratische Hintergrund und die dementsprechenden Sympathien

der deutschen Vertreter vor Ort gegenüber den einheimischen

Herrschaftsträgern, die in der Missionsdoktrin der Weißen Väter – bis 1907

die einzige relevante missionierende Gruppe in Ruanda, und von

herausragender Stellung über die Dekolonisierung hinaus – ihre

dogmatische Entsprechung fand (Vgl. Lemarchand 1970: 48f)

Eine seiner frühesten Formulierungen in Bezug auf Ruanda fand das Prinzip gleichzeitig mit

dem Beginn ernsthafter koloniale Präsenz in Ruanda in einem Bericht, den Hauptmann

Werner von Grawert 1901 für das kaiserliche Gouvernement in Dar es Salaam verfaßte.

Grawert war Stationschef des Postens Usumbura und Mitte 1901 auf einer Dienstreise zum

Kivusee unterwegs, auf der der Bericht, in dem Grawert sich für ein indirektes Modell von

Herrschaft ausspricht und gleichzeitig für die Beibehaltung der Einheit Ruandas plädiert,

entstand:

Über das Land kann ich nur schon Anderen Oft-Gesagtes wiederholen. Ruanda

gehört weder zu den übermäßig reichen, noch armen Ländern. Überall macht sich

eine gewisse Wohlhabenheit geltend, das Land ist im Großen und Ganzen gut, häufig

dicht bevölkert und bebaut. Die Leute sind leicht zu lenken, der herrschende

Volksstamm der Watussi ist hoch intelligent und begabt und wird später ganz sicher

ein wichtiger Kulturfaktor werden, wenn es gelingt, ihn ohne große Kämpfe unseren

Diensten nutzbar zu machen. Daß dies möglich ist, halte ich für sicher, wenn man die

Leute ihrer jetzigen Gewalt über die Wahutu (die beherrschten Volksklassen, die sich

aus mehreren Stämmen zusammensetzen und den Hauptteil der Bevölkerung

Ruandas bilden) nur allmählich entkleidet, aber scheinbar sie in vollem Besitz

derselben läßt. Ich denke dabei an eine Verwaltung mit Eingeborenen-Organen und

europäischen Residenten, ähnlich der in Niederländisch-Indien, natürlich aber den

hiesigen weit weniger entwickelten Verhältnissen entsprechend angepaßt. (...)

Ruanda ist eines der wenigen großen zentralafrikanischen Negerreiche, die sich bis

auf die Jetztzeit herübergerettet haben, in unserer Kolonie steht es bezüglich der

Straffheit seiner Organisation einzig da. Es ist deshalb durchaus wünschenswert, daß

das gesamte Ruanda unter deutsche Herrschaft fällt (...). (Grawert zitiert nach

Bindseil 1992: 143f)

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In einer ausführlichen Instruktion an den Interim-Nachfolger Hauptmann von Grawerts in

Usumbura (1902-1904), Robert von Beringe, bezog sich der 1901 zum Gouverneur Deutsch-

Ostafrikas ernannte Graf Götzen ausdrücklich auf die bisherige Praxis der Kollaboration mit

Musinga durch Beringes Vorgänger: (...) So lange die Verhältnisse und unsere geringen Machtmittel eine unmittelbare Einwirkung

der Station auf die Details der Verwaltung nicht gestatten, erscheint es mir in

Übereinstimmung mit der bisher erfolgten Praxis als zwingende Nothwendigkeit [sic], die

Autorität der Sultans Msinga von Ruanda zu stützen, das Land durch ihn regieren zu lassen

und ihn dadurch der deutschen Sache zugethan [sic] und für die Durchführung diesseitiger

Verwaltungszwecke geneigt zu erhalten (...). (Götzen (1902) zitiert nach Bindseil 1992: 151ff)

In einem späteren Bericht, ebenfalls an das kaiserliche Gouvernment in Dar es Salaam vom

November 1905 monierte Grawert, wieder als Stationschef von Usumbura, daß die

“uneingeschränkte Anerkennung der Autorität der Sultane durch uns” das Ideal sein müsse,

die durch die Einhebung von Steuern oder durch andere Mittel, die für sie mit der geringst

möglichen Belastung verbunden sein müssen, erzielt werden könne, weil so ihre Interessen

mit ‚unseren‘ verknüpft werden könnten (zitiert nach Louis 1963: 119f). Institutionell

formalisiert wurde das System indirekter Herrschaft mit der per Verordnung verfügten

Einrichtung von Residenturen in den Bezirken Bukoba, Urundi und Ruanda 1906 (Bindseil

1992: 153). Mit der Einrichtung der Residenturen wurden gleichzeitig die bisher als

Militärbezirke verwalteten Gebiete in eine zivile Verwaltung übergeführt. Zunächst wurde

Ruanda von Usumbura aus unter dem Residenten und Autor des obigen Zitats, Hauptmann

Grawert mitverwaltet. Im Spiegel der Praxis – in erster Linie an der ruandesischen, die nicht

nur in deutscher Periode zum Modell für Burundi wurde – definierte die Kolonialmacht das

Verhältnis zwischen dem Vertreter der deutschen Kolonialmacht, dem Residenten, und dem

‚Sultan‘ zunehmend genauer. Die Aufgabe des Residenten, präzisiert ein Text des

Gouverneurs Deutsch-Ostafrikas von Götzen, der im in weiten Teilen das Konzept von

Kolonialverwaltung des seit 1897 in der Region weilenden ‚Privatmannes‘ und späteren

Residenten Ruandas Dr. Richard Kandt, widerspiegelt, sollte darauf beschränkt sein [....], eine angemessene Abgabe durch Vermittlung des Sultans

einziehen zu lassen, zwischen diesem und dem europäischen Handel, sowie den Missionen

zu vermitteln, schrittweise auf eine einigermaßen zivilisierte Rechtsprechung zu dringen und

allmählich der deutschen Herrschaft das Vertrauen bis zu einem Grade zu gewinnen, daß

schließlich, nach Verlauf von einem oder mehreren Jahrzehnten, der Übergang zu einem

Zustand, in dem der Sultan zu einem vom Gouvernment bezahlten Verwaltungsbeamten wird,

keine Schwierigkeiten mehr begegnet. (Götzen zitiert nach Honke 1990a:121)139

139 Gustav Adolf Graf vonGötzen (1909): Deutsch Ostafrika im Aufstand Berlin 1909

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1907 wurde die Mitverwaltung Ruandas von Usumbura aus beendet.

Tabelle 4: Errichtung der deutschen Verwaltung

Jahr Zuständige Verwaltungseinheit (Sitz)

Zuständiger Vertreter d. Kolonialverwaltung

Ausgewählte lokale Gründungen (Moderner

Name) [Postenchef]

1896 Militärbezirk Ujiji (Ujiji) Hauptmann Hans Ramsay

1897 Hauptmann Hermann Bethe Außenposten Usumbura

(Bujumbura) [Von Grawert]

1898 Hauptmann Werner von Grawert Außenposten Ishangi

(Shangi, Südwest-

Ruanda)und Tschiwitoke

(Cibitoke, Nord-Burundi)

1899 Kissenyi (Gisenyi,

Nordwest-Ruanda)

1900

1901 Militärbezirk Usumbura (Usumbura) Ständige Besetzung von

Shangi [von Krieg]

1902 Hauptmann Robert von Beringe [neuer Postenchef in

Shangi von Parish]

1903 [neuer Postenchef in

Shangi Pfeiffer]

1904 Hauptmann Werner von Grawert Verlegung des

Schwerpunkts dt. Präsenz

nach Gisenyi?;

Ruhengeri?

1905

1906 Residentur f. Ruanda und Urundi

(Usumbura)

Hauptmann Werner von Grawert

1907 Residentur f. Ruanda (Usumbura) Richard Kandt

1908 Residentur f. Ruanda (Kigali)

1911 Residentur für Ruanda (Kigali) Richard Kandt Aufhebung des Postens

Schangi

1914 Residentur f. Ruanda (Kigali) Resident ad interim Hptm. Max

Wintgens

Neugründung des milit.

Postens mit

Verwaltungsaufgaben

Cyangugu

Gleichzeitig erhielt Ruanda mit Richard Kandt seinen eigenen Residenten und 1908, mit dem

zentral und damit in der Nähe von Nyanza, dem 1899 gegründeten und praktisch

permanenten Sitz des Hofs140 gelegenen Kigali seinen eigenen Residentursitz, dessen

Ausbau 1913 im wesentlichen fertiggestellt war.

140 Bis um die Jahrhundertwende wechselte der Sitz des Mwami periodisch zwischen verschiedenen königlichen Residenzen (ibwami). Einige Bami(so Rwabugiri) richteten Residenzen gehäuft dort ein, wo ihre Macht schwach

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5.3 Herrschaft und Herrschaftsidiom: Kolonialadministration und Mission im gesellschaftlichen Kontext

Anfänglich waren die äußerst sporadischen Besuche deutscher Militär-Expeditionen nach

Ruanda auf die weitere Exploration des Landes und der Informationsbeschaffung über seine

politische Landschaft und auf gelegentliche Kontaktaufnahme mit dem Hof beschränkt. Noch

bevor mit der Besetzung mit einem permanent anwesenden Offizier der Schutztruppe

(Leutnant Robert von Krieg) samt der ihm unterstellten Truppe (ein deutscher Unterleutnant

und 25 Askari) im Juni 1901 die Station Shangi den ersten ständigen Vertreter der deutschen

Kolonialmacht in Ruanda erhielt, waren andere Europäer – Missionare, aber auch einzelne

Forschungsreisende – nach Ruanda gekommen, die die schwache kolonialstaatliche

Präsenz zumindest, was die Informationsbeschaffung und den Kontakt mit den

einheimischen politischen Amtsträgern betrifft, teilweise kompensierten. Die

herausragendste Einzelperson unter den parallel zur fortschreitenden militärisch-politischen

Kolonialisierung nach Ruanda gekommenen Personen war der privat 1898 nach Ruanda

einlangende und dabei von der kaiserlichen Regierung in Berlin unterstützte

Forschungsreisende und 1907 zum Residenten der von der Residentur Ruanda-Urundi

abgetrennten und zur eigenständigen Verwaltungseinheit erhobenen Residentur Ruanda

ernannten Richard Kandt. Er hatte sich 1899 im Süden Ruandas in der Nähe von Ischangi

niedergelassen, wo er bis 1902 blieb. Dort widmete er sich, hauptsächlich aus eigener

Tasche finanziert, umfassenden geographischen, ethnologischen, linguistischen,

botanischen und zoologischen Studien, betrieb landwirtschaftliche Kulturversuche und war

so etwas wie ein informeller Vertreter der deutschen Kolonialherrschaft, als der er intensiven

Kontakt mit einheimischen Chiefs und dem Königshof pflegte, Beschwerden entgegennahm,

Informationen sammelte und zuweilen auch in Konflikten vermittelte. Zudem wurde er als

Sachverständiger für die Kivu-Grenzkommission hinzugezogen. (Bindseil 1988:83ff und ders.

1992: 141f). 1905 wieder nach Ruanda zurückgekehrt, setzte er seine Studien in Gakira

(heutiges Bakwira, in der Nähe von Gitarama in Zentralsüd-Ruanda) fort. Wie andere

Europäer der beiden wichtigsten europäischen Gruppen141 auch – die Vertreter der

war. Die Einrichtung einer ibwami war gleichzeitig symbolische Affirmation des Herrschaftsanspruchs faktisch verbunden mit der verstärkten Kontrolle lokaler Autoritäten und im Falle rebellischer Gebiete, mit stärkerer Präsenz von Repräsentanten des Mwami aus dem Zentrum des Landes. Das Abgehen von der Praxis wechselnder königlicher Residenzen hängt einerseits mit der politischen Instabilität nach dem Coup von Rucunshu sowie wohl auch mit dem im Zusammenhang mit der kolonialen Präsenz aufgekommenen Konzept von ‚Hauptstadt’ zusammen. 141 Außer Missionaren, Offizieren der Kolonialmacht und Wissenschaftern (zb. Geometer, Geographen...) im Auftrag der Kolonialmacht und einzelnen Forschungsreisenden (wie R.Kandt) gab es vereinzelte, allgemein als Händler charakterisierte Personen europäischer Herkunft, die (damals) einen eher zweifelhaften Ruf genossen.

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Kolonialmacht und, im weitaus stärkeren, aber zugleich lokaleren Maße die Missionare –

wurde Kandt tief in das für Ruanda charakteristische Netz politisch/ ökonomischer

Abhängigkeitsbeziehungen hineingezogen. Nicht nur wurde er zu einer Art ‚Fürbittperson’,

von der man Unterstützung in diversen Angelegenheiten erhoffte, sondern er wurde qua

seines privilegierten Zugangs zu kolonialstaatlichen Ressourcen – allen voran, zu den

Schutztruppen, aber auch materiellen Ressourcen, wie in Strafaktionen erbeutetes Vieh – zu

einem direkten Bestandteil des Klientelsystems als Patron. Chiefs, die mit ihm befreundet

waren, konnten durch die Verbindung zu ihm ihre Macht festigen und ausbauen, und zwar

gegenüber lokalen Konkurrenten gleichermaßen wie gegenüber ihren Konkurrenten oder

Patronen am Hof in Zentralruanda (Vgl. C.Newbury 1988: 121ff). Herrschaft war

gleichermaßen weder beschränkt auf die formalen Träger von Herrschaft, die ‚traditionellen’

Autoritäten – die verschiedenen Chiefs und den Hof mit dem Mwami, der Königmutter und

den königlichen Beratern – noch auf die deutschen Kolonialbehörden. In dem Maße, in dem

Macht in Ruanda von der Position im Klientelsystem bestimmt war, die letztlich wiederum mit

dem Zugang zu Ressourcen zu tun hatte, aber sich nicht darauf beschränkte142, waren

Herrschaftsattribute ein Prärogativ derjenigen, die sich eine vorteilhafte Position im

Klientelsystem erkämpft hatten, oder von jenen, denen wegen ihrem Naheverhältnis zu

mächtigen Gruppen, eine solche zugesprochen wurde, selbst wenn sie (als Europäer) sich

dieses Status als Patrone nicht bewußt waren. Allerdings sollte der Patron-Klienten-Nexus

nicht dazu verleiten, diesen für eine umfassende und erschöpfende Beschreibung des

Systems von Herrschaftsbeziehungen in Ruanda zu nehmen. Andere Quellen von Macht

entsprangen auf religiösem Terrain. Das Charisma, über das viele Nyabingi-Geistermedien

in Nordruanda verfügen konnten, bestand zu einem Gutteil in deren Fähigkeit, spirituelle und

politisch-soziale Bedürfnisse ihrer Anhänger zu befriedigen und dies in einem religiösen

Idiom, das gleichermaßen Historisches, Politisches und Persönliches umfaßte, zu

artikulieren. Eine ähnliche religiös-charismatische Herrschaftsbegründung läßt sich für die

‚Regenmacher-Könige’143 (abahinza) ausmachen, von denen oben schon die Rede war -

wobei sich Charisma und Patronage keineswegs ausschlossen. Das Verhältnis der

deutschen Kolonialverwaltung beinhaltete gleichfalls Elemente von Klientel-

Patronageverhältnissen, ging aber, in dem Maße, in dem die koloniale Herrschaft

konsolidiert und der Gestaltungsraum der deutschen Behörden ausgeweitet wurde, weit

darüber hinaus.

Die Mehrzahl der Händler waren aber Inder, Araber, Belutschen und Swahili (d.h. swahiliphone Händler von der Küste bzw. Zanzibar). 142 Da der Zugang zu Ressourcen (Amt, Vieh, Klienten) innerhalb des Rahmens politischer und ökonomischer Abhängigkeitsbeziehungen, dem Klientelsystem, verhandelt wurde. 143 Vgl. Fußnoten 76 und 77

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5.3.1 Christliche Mission und Herrschaft

5.3.1.1 Die Niederlassung der Weißen Väter in Ruanda

1896, gleichzeitig mit der Errichtung des deutschen Militärbezirkes Ujiji und ein Jahr vor

Gründung des Außenpostens Usumbura, waren ‚Weiße Väter‘- Missionare der 1868 in

Algiers von dem dortigen Bischof und späteren Kardinal Charles Lavigerie gegründeten

Gesellschaft der Missionare von Afrika – bereits zum zweiten Mal144 nach Burundi

gekommen und hatten eine Station unweit Usumbura gegründet. Zwei weitere ständig von

europäischen Geistlichen besetzte Stationen wurden 1898 weiter im Norden, in der Nähe der

Grenze zu Ruanda gegründet. Zugleich hatten sich die Weißen Väter unter der Ägide des

Bischofs der 1894 geschaffenen Diözese Nyanza-Süd, dem Elsässer Jean-Josef Hirth, mit

der Gründung der Station Katoke 1897 von Osten her (Bukoba am Viktoriasee) an Ruanda

angenähert (Linden 1977: 31f). Hinter der strategischen Annäherung (und von

entsprechenden, im militärischen Jargon vorgebrachten strategischen Überlegungen) an die

sowohl kolonial als auch missionarisch noch weitgehend unerschlossenen Königtümer

Ruanda und Burundi stand der unbedingte Wille, allen anderen – ‚dem Islam’ und den

protestantischen Missionaren – zuvorzukommen; ein Wille, der bei den Protagonisten der

Missionierung durch die persönlichen Erfahrungen während der politischen Wirren nach dem

Tod des Kabaka Mutesa I. in Buganda geprägt war. Diese beruhten ihrerseits auf den Kampf

verschiedener, jeweils mit einer Glaubensrichtung (Protestantismus, Katholizismus, Islam)

verbundener Gruppen am Hof um Einfluß und um den Thron. Die teils blutigen

Auseinandersetzungen wurden letztlich, nicht zuletzt durch imperiale Intervention, zugunsten

der ‚Bangereza‘ – der Protestanten in Form der anglikanischen Church Missionary Society –

entschieden und die Weißen Väter (die ‚Bafransa‘ genannt wurden und die Partei der

Katholiken vertraten), mit den Baganda-Konvertiten zunächst an die Peripherie Bugandas,

und schließlich in deutsches Gebiet verdrängt (vgl. Mbonimana/Ntezimana 1990: 128f). Der

Wunsch nach einer Stärkung der Kirche in den kolonialen Neugründungen, in Zeiten, wo die

Kirche in Europa unter dem Druck der Säkularisierung zunehmend in die Defensive gedrängt

wurde, bildete den Hintergrund der Gründung der Gesellschaft der Missionare von Afrika, die

im breiteren Kontext der starken antimodernistischen Strömungen innerhalb der Kirche zu

sehen ist, die kirchenpolitisch im Ersten Vatikanum und theologisch an einer an Thomas von

Aquin orientierten Neoscholastik ihren Ausdruck fanden. Nicht zufällig wandten sich die

Weißen Väter den zentralisierten politischen Gebilden im Großen Seengebiet zu, die sie in

christliche Königreiche zu transformieren trachteten (Linden 1977: 30). 1898 und 1899 traten

144 Die Ermordung eine Gruppe von Weißen Vätern 1881 hatte den ersten Versuch einer Ansiedlung in Burundi vereitelt.

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die Weißen Väter erstmals in Kontakt mit dem ruandesischen Hof, 1900 erhielten sie, nicht

ohne dabei Unterstützung von den deutschen Behörden zu erhalten, schließlich die

Erlaubnis, zwei Missionstationen, Issavi (Save; im Südosten) sowie Zaza (in Gisaka, im

Osten) zu gründen (Kabagema 1993. 65f). 1901 kam die Station Nyundo (in Bugoyi, im

Norden) dazu, 1903 Rwaza (in Mulera, ebenfalls im Norden) und im selben Jahr, Mbilizi in

der Region Kinyaga und damit in der Nähe des damals einzigen ständig besetzten

deutschen Militärpostens. Wie schon die Etablierung der Weißen Väter in Ruanda stark

strategischen Überlegungen gefolgt war, so waren auch die Neugründungen von derartigen

Plänen – und der Angst vor ein Zuvorkommen protestantischer Missionare – inspiriert.

Allerdings waren die Missionare dem Gutwillen Musingas und des Hofes ausgeliefert, der

verständlicherweise alles daran setzte, die Missionen außerhalb des Kernbereichs des

Königtums zu halten. Die Bereitwilligkeit Musingas, den Missionaren Land für ihre Missionen

bereitzustellen, erklärt sich umgekehrt auch aus der Schwäche der königlichen Herrschaft in

den betreffenden, für Missionstationen vorgesehenen Gebieten; und daraus, daß er wohl

damit rechnete, in den Missionaren Werkzeuge zur Festigung der Herrschaft des Hofes bzw.

zur Festigung seiner eigenen Position gegenüber den Abega (seiner Mutter Kanjogera, ihren

Brüdern Kabare und Ruhinankiko und Rwidegembya) zu erhalten (Vgl.Rutayasire 1987:

19ff). Das von den Missionaren als eines der vorrangigsten Ziele eingestufte Projekt einer

Mission am Hof sollte allerdings am Widerstand des Hofes scheitern, nur über den Umweg

einer ‚Schule’ am Hof in Nyanza ab 1907, in der Form sporadischen Unterrichts für Musinga

und seinen Intore (königlichen Pagen) durch den Katechisten Wilhelmi (‚Guten Willens’,)

konnten die Missionare überhaupt eine Form von Präsenz am Hof erreichen (Linden 1977:

80). Selbst für die Verwirklichung des Ersatzstandorts in Kabgayi (25km vom Hof in Nyanza

entfernt) im Jahr 1905 mußten die Missionare den deutschen Bezirkschef von Grawert um

Hilfe bitten, der vom Mwami die Erlaubnis für eine Missionsstation in Nduga erzwang

(Rutayasire 1987: 22). Weitere Missionen folgten in Kigali (1908), der Residenturhauptstadt,

in Rulindo (1908, in der Provinz Buliza, im Norden) und in Nyaruhengeri (Kansi) 1910 (an der

Südgrenze zu Burundi).

Tabelle 5: Missionsgründungen vor 1919

Jahr Katholische Gründung/ Weiße Väter

(Region)

Evangelische

Gründungen/Bethelmissionare

1900 Save (Bwanamukari)

Zaza (Gisaka)

1901 Nyundo (Bugoyi)

1903 Rwaza (Mulera)

Mibirizi (Kinyaga)

1905 Kabgayi (Nduga)

1907 Kilinda (Bwishaza)

Zinga/Nsinga (Gisaka)

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1908 Kigali (Bwanacyambwe/Nduga)

Rulindo (Buliza/Nduga)

1909 Murunda (Kanage); kurzfristig

aufgegeben und neugegründet 1912

Rubengera (Bwishaza)

1910 Kansi (Bwanamukari)

1912 Remera (Rukoma/Nduga)

1913 Rambura (Bushiru)

1914 Rukira (Gisaka)

5.3.1.1.1. Grundbesitz, Arbeitskraft und Ausbeutung

Die Missionsstationen waren, um wirtschaftlich autark sein zu können, großzügig mit Land

ausgestattet. Die 1900 gegründeten Stationen Save und Zaza umfaßten 700ha bzw. 750ha

Ein in vieler Hinsicht beachtlicher Landbesitz, der auf Drängen des kaiserlichen

Gouvernements in Dar es Salaam allerdings auf 220ha bzw. 164 ha zurückgestutzt werden

mußte. Mit Stationen, die selbst gegenüber den ursprünglich geplanten Größen noch

großzügig mit Land ausgestattet waren, wurden die Weißen Väter (im Unterschied zu den

protestantischen Missionaren der Bethelmission, die für ihre ersten Stationen Zinga und

Rubengera 25ha bzw. 36ha erworben hatten) zu beachtlichen Großgrundbesitzern, die sie in

gewisser Weise auf eine Stufe mit der Tutsi-Elite stellte, für die – in der Form von Ibikingi-

Land – Landbesitz ebenfalls zu einem sie auszeichnenden Charakteristikum geworden war.

Tabelle 6: Grundbesitz der katholischen Mission

Missionstation Fläche (in Hektar) an Musinga bezahlter Preis (in

Rupien)

Save (1900) 230 450

Zaza (1900) 160 300

Nyundo (1901) 105 250

Rwaza (1903) 135 250

Mibilizi (1903) 130 300

Kansi (1910) 116 ?

Rulindo (1908) 30 30

Murunda (1909) 30 30

Rambura (1913) 40 ?

Quelle: Rutayasire 1987: 395f

Die auf Missionsland ansässige Bevölkerung fand sich als eine Art Pächter wieder, über

deren Arbeitskraft die Missionare im Rahmen der als traditionell verstandenen Uburetwa

verfügten und über die sie Jurisdiktion ausübten, deren Reichweite erst nach mehreren

schweren Konflikten mit von dem Verlust von Klienten, Arbeitskräften, Untertanen

betroffenen Chiefs spezifiziert worden ist (Vgl. Mbonimana/Ntezimana 1990: 132f;

Rutayasire 1987: 37f). Die Missionare griffen überdies auch auf Arbeitskräfte

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ausumliegenden Gebieten zurück, die freilich nicht angeworben und angestellt wurden,

sondern die ihre Arbeit im Rahmen von Uburetwa-Verpflichtungen gegenüber einem Chief

verrichteten, für deren Zur-Verfügung-Stellen der Chief, nicht aber die Arbeiter bezahlt

wurden. Solcher Art Arbeitskraft war überaus billig und wurde zu einer bevorzugten Methode

kolonialer Arbeitsbeschaffung (Vgl. Linden 1977: 37). Die Mission wurde damit, neben dem

kolonialen Staat, der sich in noch größerem Ausmaß auf Uburetwa-Arbeitskraft stützte,

indirekt zu einem wichtigen Faktor in der Herausbildung einer ländlichen Klasse von Hutu-

Bauern, die keinen unabhängigen Zugang zu Land besaßen, regelmäßig ihre Arbeitskraft zur

Verfügung stellen und überdies einen mehr oder weniger großen Teil ihrer

landwirtschaftlichen Produktion an ihren Chief abgeben mußten. Von vornherein fungierten

die Chiefs als logischer Angelpunkt, über den die Beschaffung von Arbeitskräften für

koloniale Zwecke – für die Mission oder den kolonialen Staat – abgewickelt wurde. Die

komplexen Verfügungsrechte über Personen, die verschiedene Chiefs (Abatware b’umuheto,

Abatware b’ubutaka, Abatware b’umukenke, Abanyabikingi etc.) für sich reklamierten, ließen

Mehrfachverpflichtungen keine Seltenheit sein. Chiefs, die in Verträgen mit den Weißen

Vätern Landansprüche aufgaben, forderten die verschiedenen Verpflichtungen der

Bevölkerung ihnen gegenüber, Arbeitsleistungen gleichermaßen wie Abgaben in Naturalien,

weiterhin ein, während die Patres selbst Arbeitsdienste und Pachtabgaben von den

Missionsbewohnern einzufordern begannen. Wer über welche Zugriffsrechte auf welchen

Personenkreis verfügen konnte, war letztlich das Ergebnis komplizierter

Aushandlungsprozesse zwischen Missionaren, Chiefs, den strittigen Personen selbst und

der Kolonialmacht, wobei in der Regel das Ergebnis zuungunsten der Bauern ausfiel, die

zunehmend, auch wenn sie ‚traditioneller Weise’ davon nicht betroffen waren, zu Uburetwa-

Zwangsarbeiten verpflichtet wurden (Vgl. ebenda: 98).

5.3.1.2 Katholische Mission unter deutscher Herrschaft 1900-1916

Die erste Periode der Mission (bis 1912) war geprägt von einer Expansion der

Missionsstationen. Erst nach 1912 begann eine Phase der Konsolidierung, in der der

Heranbildung einheimischer Katecheten (mit der schon nach 1906, als der Großteil der

berüchtigten Baganda- und Basukuma-Katecheten von den Stationen entfernt wurde,

begonnen worden war) und der Errichtung von Zweigstellen der Missionsstationen in den

umliegenden Gebieten eine verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde (Rutayasire 1987:

64). Die frühe Missionsarbeit wurde hauptsächlich von den die Weißen Vätern begleitenden

Baganda- und Basukuma- Katecheten ausgeübt, in einer Mischung aus Zwang und

materiellen Anreizen für die potentiellen Konvertiten. Die Missionierung wurde durch die

prekären sozio-ökonomischen Bedingungen um die Jahrhundertwende erleichtert, die von

einer Reihe von ökologischen Krisen, insbesondere den Auswirkungen einer seit 1897

andauernden Hungersnot (‚ruyaga’ – der schlechte Wind) bedingt und durch die

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Auswirkungen der politischen Krise und der Kolonisation verstärkt worden waren. Die

Subsistenzkrise, die die Konversion für die verarmte bäuerliche Bevölkerung zu einer

attraktiven Option machte, hatte auch zu einem merklichen Anstieg des ansonsten in

Ruanda unüblichen Sklavenhandels geführt (Mbonimana/Ntezimana 1990: 132). Die

Missionstätigkeit beschränkte sich, nicht unähnlich mit der Situation anderswo, aber im

Widerspruch mit der Missionsdoktrin der Weißen Väter, auf die einfache Bevölkerung im

Umkreis der Stationen, bzw. darüber hinaus, auf marginalisierte Gruppen. Die Weißen Väter

hatten dagegen, inspiriert von der Lektüre der patristischen Literatur und der Beschäftigung

mit der Missionierung Europas im frühen Mittelalter, gehofft, zuerst den ‚Adel’, und mit ihm

das ganze Land rasch zum Christentum zu bekehren. Tatsächlich zeigten sich die Chiefs

und der Hof jeden Bekehrungsversuchen extrem widerständig. Der Kontakt der Missionare

mit dem Hof blieb zunächst auf Höflichkeitsbesuche oder auf Gelegenheiten beschränkt,

wenn es darum ging, sich für jemanden einzusetzen oder die Erlaubnis für neue

Missionsstationen einzuholen. Erst später traten dazu edukative Maßnahmen, die aber an

der grundsätzlichen ablehnenden bzw. indifferenten Haltung gegen das Christentum nichts

änderte (Vgl. Des Forges 1969: 179f).

5.3.1.2.1 Die Weißen Väter und Nordruanda

Der Schwerpunkt der Missionsarbeit lag bis in die belgische Periode hinein im Norden, was

angesichts des speziellen Status der nördlichen Regionen sowohl hinsichtlich ihrer

schwachen Integration in den ruandesischen Herrschaftsverband als auch hinsichtlich ihrer

zu Zentralruanda deutlich unterschiedlichen politischen Tradition, die im segmentären

Charakter politischer Herrschaft ihren Ausdruck fand, und nicht zuletzt angesichts des

erklärten ‚Bias’ der Missionare oder, präziser, der Sympathie der Missionsführung145 –

Bischof Hirth und Leon Classe – für die ‚legitimen Führen’ des Landes, den Tutsi-Chiefs,

eine delikate Angelegenheit war und nicht unerwartbarer Weise zu schweren Konflikten

innerhalb der Kirche, mit der deutschen Kolonialadministration und mit dem Hof führte. Die

Mission im Norden war zerrissen zwischen dem Wunsch, der einheimischen Bevölkerung,

und speziell den Christen unter ihnen, Schutz vor Banyanduga Tutsi zukommen zu lassen,

welche die Region nach 1900 als Vertreter des Mwami, de facto aber ohne dessen Kontrolle

und in Erfüllung eigener Interesse kolonisierten und damit eine beträchtliche Unruhe speziell

145 Die Struktur der Missionsgesellschaft Kardinal Lavigeries für die Missionierung Afrikas spiegelte die Realitäten europäischer Klassengesellschaften wider: Die Spitzen der Missionshierarchie – Hirth und Classe – waren stets ausnahmslos Aristokraten oder entstammten gutbürgerlichem Haus und pflegten in der Regel gute Beziehungen zu ihren Vis-à-Vis’s in der Kolonialadministration. Die Mehrheit der Missionare dagegen kam aus einfachen Verhältnissen und entwickelte mit der Dauer ihrer (häufig physischen) Arbeit in ihren Einsatzorten eine tiefe Identifikation mit der gewöhnlichen Bevölkerung der Umgebung. Selten erlangte ein gewöhnlicher Missionar eine höhere Autoritätsposition innerhalb der Missionshierarchie, ebenso selten verkehrte er mit kolonialen Amtsträgern anders als beruflich (Vgl. Linden 1977: 66f)

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unter den ‚Grundherren’ ,den Abakonde146 gestiftet hatten, einerseits und andererseits der

unter Federführung von Léon Classe forcierten Unterstützung für den Hof (Vgl. Des Forges

1986: passim; Linden 1977: 66f). Mittelfristig, mit der Durchsetzung der offiziellen

Missionsdoktrin, wurden die Missionare zu Werkzeugen der Kolonisation des Nordens und

der Durchsetzung eines Gesellschaftsmodells à la Nduga, in der eine Gruppe von

immigrierten Tutsi-Chiefs zunehmend die einheimischen, auf Klans und dem Ubukonde-

Klientelsystem beruhenden Autoritätsmodell untergrub und zur neuen Herrschaftselite

avancierte. Zugleich wurde der Schwenk in der Missionspraxis als Entpolitisierung kaschiert,

als Rückzug der Missionare aus einem Bereich, der außerhalb ihres Handlungsbereiches

sein sollte, auch wenn er es de facto nie war. Die Konsequenz dieser Haltung, die im übrigen

konsistent mit dem Politikverständnis und Weltbild der katholischen Kirche war, die

Gesellschaft als unweigerlich, und in Übereinstimmung mit metaphysischen Prinzipien,

hierarchisch gegliedert sah, war ein Opportunismus der Macht, der bestimmte

Machtverhältnisse a priori akzeptierte, solange die Position der Kirche darin als gesichert147

gelten konnte. Das machte die Kirche (oder die Mission) zumindest in der Doktrin zu einer

prinzipiell konservativen Kraft. Bischof Hirth formulierte den Rückzug auf das Spirituelle, dem

ureigensten Rayon der Kirche in einem Appell an die Missionare in Rwaza ( in Mulera), die

sich der oktroyierten Unterstützung des Hofes am meisten widersetzt hatten: Hâtez-vous de vous débarrasser aussi complètement que possible de tous ces procès et

litiges qui n’ont rien à réclamer de votre juridiction toute spirituelle. Renvoyez à César et à

Musinga tout ce qui peut revenir à César et à Musinga. Vous en serez d’autant plus libres de

remplir les devoir du prêtre et d’autant plus sûrs de vous faire aimer et de gagner la confiance

de tous pour le salut des âmes. (Hirth (1911) zitiert nach Rutayasire 1987: 52)

5.3.1.2.2 Gewalt, Macht und Herrschaft im Geiste und jenseits des Evangeliums

Die Baganda und Basukuma, die mit den Missionaren nach Ruanda gekommen waren,

fungierten in den ersten Jahre der Mission als Katechisten, Soldaten, Hausangestellte der

Missionare, als Verbindungsmänner zu den Chiefs, als Poliere, Tischler u.v.a. In der

Missionsarbeit waren sie weitgehend auf sich allein gestellt, zumal die Sprachkenntnisse der

Missionare in den ersten Jahren eine stärkere Teilnahme der Missionare an der

Evangelisierung verhinderte. Die Katecheten griffen dabei systematisch zu physischer

Gewalt oder anderen Zwangsmitteln, mit denen sie ‚Gläubige’ warben, und vergaßen dabei

nicht auf ihren eigenen Vorteil zu achten.

146 Ubukonde bezeichnet ein Bodenrechtsarrangements, das vor allem in Nordruanda bekannt war, aber auch in anderen Regionen seine Anwendung fand (etwa im Südwesten, in Kinyaga). Die Träger dieses Grundrechts werden Abakonde genannt, die ihrerseits in der Weiterverpachtung ihres Ubukonde-Landes ein beträchtliches Klientel an sich binden konnten. 147 Ideologisch wurde diese Position in der späten Phase der katholischen Erneurung nach dem 1.Vatikanum als

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Eine beliebte Technik der Katechisten bestand darin, Kinder ‚auszuwählen’, denen dann der

aus höfischen Zusammenhang bekannte Titel ‚Intore’ ( die ‚Erwählten’) gegeben wurde. Sich

der Erwählung zu entziehen, war für die so Auserkorenen freilich keine Option. Die durch

solche Methoden erzielten Erfolge waren jedenfalls quantitiv beachtlich und die Missionare

begannen schon von einer Bekehrungswelle zu sprechen (Vgl. Linden 1977: 35). Der

Militarismus beschränkte sich freilich nicht auf die hauptsächlichen Proponenten der

Evangelisierung, die Katechisten, sondern kennzeichnete auch das Verhalten der

Missionare. Wenn sich auch die Vorgehensweise der Katecheten der Kontrolle der

Missionare weitgehend entzog und die Evangelisierung mit Gewalt – so wie Bischof Hirth –

aus grundsätzlichen Gründen148 mißbilligen mochten, unterschieden sie sich in der

Bereitschaft, Zwang und Gewalt anzuwenden, nicht grundsätzlich von den Baganda- und

Basukuma-Katecheten. Selbst Chiefs konnten nicht auf ihre Position vertrauen, wenn die

Patres sich im Recht wähnten. Der Chronist von Save schreibt anläßlich der Maßregelung

eines Chiefs, der vom Mwami aufgefordert worden war, den Missionaren Baumstämme zu

liefern, dieser Aufforderung aber nur zögerlich und nur teilweise nachgekommen war: [T]u resteras chez nous, lui dit le Père, jusqu’à ce que nous ayons le nombre complet. Les

arbres ne tardèrent pas à venir (...).Ce n’était pas une petite joie pour les Bahutu de voir leurs

chefs, toujours si fiers ennemis de la peine et de la contrainte, porter des briques du matin au

soir comme celui qui travaille pour avoir des étoffes. (Diaire de Save, Juillet/Aôut 1901, zitiert

nach Rutayasire 1987: 28)

Chiefs, denen nachgewiesen wurde oder denen man einfach nachsagte, Christen zu

diskriminieren, wurden gleichfalls von den Patres mit Zwangsarbeit oder Schlägen bestraft.

Im Einklang mit dieser Praxis, aber durchaus im Widerspruch zu den Idealen der Mission

erweckten die Missionsstationen insgesamt eher den Eindruck von Militärposten als von

spirituellen Zentren. Mit Missionsstationen von quasi-exterritorialem Status, in deren Gebiet

die Patres Recht sprachen, Strafen verhängten und zu deren Bewohner die Missionare ein

Patronageverhältnisse pflegten, wurden die Missionare schnell zu einem Machtfaktor, mit

dem sowohl die deutsche Kolonialmacht, als auch der ruandesische Hof zu rechnen hatten;

und den beide nach Möglichkeiten zu beschränken trachteten.

So präzisierten die deutschen Behörden die Jurisdiktion der Missionare, die über die

Missionsstationen nicht hinausgehe und die Bevölkerung der Missionsstationen nicht von der

Verpflichtung gegenüber ihren Chiefs außerhalb der Stationen entbinde, und forderten die

Missionare mehrmals auf, sich in der Ausübung von herrschaftlichen Tätigkeiten zu „Kampf um die Freiheit der Kirche“. Vgl. Mayeur/Bauberot 1992: 9) 148 Idealiter sollte die Konversion aus freien Stücken erfolgen und das Ergebnis einer bewußten

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beschränken, insbesondere, was das Herausnehmen von Rechten gegenüber den Chiefs

betraf und sich an den von den Behörden vorgeschlagenen ‚Instanzenweg’ für

‚Rechtssachen’ der Banyarwanda zu halten. Gleichzeitig konnten sie den Eindruck nicht

verhindern, daß der deutsche Militärposten in Shangi wenig mehr als den exekutive Arm der

Mission darstellte, der die Empfehlungen auf Rechtsprüche (wobei der Unterschied zu einem

Rechtsspruch für Ruandesen irrelevant war) der Missionare auszuführen hatte (Vgl.

Rutayasire 1987: 37f; Linden 1977: 52 und 98).

5.3.1.2.3 Mission und Elitenpolitik

Die Missionare nutzten ihre Machtposition, die selbst wiederum auf einer Reihe von Faktoren

aufbaute – der Stellung, die sie als Europäer innehatten; der Stellung, die ihnen von der

schwachen Kolonialmacht anvertraut wurde und die auf sie angewiesen war; als Personen,

die Zugang zu beträchtlichen Ressourcen hatten und in der Eigenschaft sie zu Patronen

wurden – auch durchaus aus. Der Einfluß der Missionare und die Auswirkungen ihrer

Anwesenheit beschränkten sich nicht auf die unmittelbare Lokalität ihres Wirkens, auf die

Missionsstationen (was der Hof gehofft hatte, als er den Missionaren Land für

Missionsstationen in peripheren Gebieten zugewiesen hatte), sondern berührte von

Anbeginn ihrer Anwesenheit in Ruanda den delikaten Bereich der Elitenpolitik. Die

Missionare wurden in Machtkämpfe verwickelt, mithin ohne es zu wollen oder dessen

gewahr zu werden. Anläßlich ihrer Niederlassung in Save wurden der Karawane der

Missionare zwei Begleiter zugeteilt, ein königlicher Berater (Umwiru), den die Königmutter

ermordet haben wollte, und Cyitatire, ein Bruder Musingas, der ebenfalls beseitigt werden

sollte. Die Abega am Hof versuchten anfangs, indem sie Notable in Verbindung mit den

Missionaren brachten, sie dadurch zu kompromittieren, der Illoyalität zu bezichtigen und

darauf leichter entmachten zu können. Cyitatire konnte sich Anschlägen entziehen, indem er

den Hof für eine Weile mied. Statt dessen gestattete er den Missionaren, sich in Save

niederzulassen, versorgte sie mit Arbeitern und konnte sich künftig der Unterstützung der

Missionare sicher sein (Vgl. Linden 1977: 33f). Ein Jahr später revoltierte ein gewisser

Lukara (Rukara), der für sich die Abstammung vom Königshaus in Gisaka reklamierte (das

Anfang des 19.Jh. von Ruanda erobert worden war) gegen den Hof und wandte sich um

Unterstützung an die Missionare (und an deutsche Offiziere) in Zaza. Ein Pater, der Lukara

sichtlich Sympathien und Unterstützung entgegenbrachte, mußte daraufhin versetzt werden.

Seine Mitbrüder waren dagegen vorsichtiger gewesen und erhielten von Musinga

dementsprechende Anerkennung (Vgl. Ebenda: 35f; Rutayasire 1987: 34). Den Hintergrund

dafür bildete eine (wiedererwachte) Nostalgie in Gisaka für das in Ruanda inkorporierte

Königtum Gisaka, die in wiederholter Folge zu Restaurationsversuchen führte und zum Teil

Glaubensentscheidung sein.

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auf der prekären sozioökonomischen Lage infolge der seit 1897 andauernden Hungersnot

(‚ruyaga’), die erst 1903 abzuflauen begann und auf den als um so schwererwiegender

empfundenen Forderungen der die alte Königslinie ersetzenden Tutsi-Chiefs beruhte. Ein

Jahr nach der Aufstandsbewegung Lukaras demonstrierte ein Konflikt zwischen einem

Mitglied der alten Königsfamilie und Chief des Gebietes um die Missionsstation Zaza,

Muhumbika, und Musinga, die Unmöglichkeit, dem professionellen Ethos der katholischen

Kirche, neutral zu sein und strikt zwischen Politik und Kirche zu unterscheiden, zu folgen.

Muhumbika hatte einen kleineren Chief, der einen Taufwerber ermordet hatte, abgesetzt.

Musinga sah darin ein nicht zu vertretbares Entgegenkommen gegenüber den Missionaren

und enthob Muhumbika seines Amtes. Der Superior von Zaza, P.’Terebura’ Brard, der für

sein autoritäres Auftreten und seine Gewalttätigkeit bekannt war, erzwang darauf seine

Wiedereinsetzung. Muhumbikas Vieh, das der Superior vom Missionshügel entfernen ließ,

stellte sich als von Musinga geliehenes Ubuhake-Vieh heraus und mußte wieder auf seine

ursprüngliche Weide geführt werden. Musinga hatte sich indessen an die Deutschen

gewandt, die die Missionare zwangen, Muhumbika den Soldaten des Mwami zu übergeben,

die diesen, samt einer Gefolgschaft von zwei Dutzend Männern zum Hof brachten, wo 20

seiner Männer niedergemetzelt wurden. Die Folgen für Zaza kamen prompt. Die Absetzung

Muhumbikas wurde den Missionaren angelastet, und die Missionare fühlten sich erst wieder

sicher, als eine deutsche Strafaktion die Region zu einem Zoll von 30 Toten wieder befriedet

hatte (ebenda).

Nach den ersten Jahren ihrer Präsenz und deutscher Kolonisation waren die Missionare zu

einem festen Bestandteil der kolonialen Architektur geworden. Anders als in frühen Jahren,

vertraten sie zunehmend die Doktrin der indirekten Herrschaft, eine Entwicklung, der auch

vom Hof Rechnung getragen wurde. Dieser hatte zwar seine prinzipielle Einstellung

gegenüber den Missionaren nicht wesentlich geändert, wohl aber seine praktische Politik,

mußte er doch das Faktum ihrer Anwesenheit und ihrer beträchtlichen Macht berücksichtigen

und in gewisser Weise auch akzeptieren. Das bedeutete allerdings nicht, daß das Verhältnis

konfliktfreier wurde. Krisen im beiderseitigen Verhältnis brachen regelmäßig aus. Anlässe

gab es genug: der Wunsch nach neuen Missionsstationen, der wie bei den Gründungen

Kabgayi (1905) bzw. Rulindo (1908) mit deutschen Zwang realisiert worden war; die

wahrgenommene Störung des Kräfteverhältnis von Hof, Mission und Deutscher

Kolonialmacht zueinander (wie etwa anläßlich der Expedition von Herzog Adolf Friedrich zu

Mecklenburg 1907-8, mit etwa 700 permanenten Teilnehmern, darunter 9 Europäer sowie

weiteren 2.230Trägern, die für die Anlage von Lebensmittel- und Materialdepots, sowie dem

Rücktransport der gesammelten Gegenstände engagiert worden waren); sowie periodisch

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aufbrechende antieuropäische Stimmung und mit ihr zusammenhängende

Verschwörungstheorien (Vgl. Servaes 1990: 93; Linden 1977: 81ff).

5.3.2 Deutsche Militärokkupation und Herrschaft

5.3.2.1 Die Errichtung des Kolonialstaats(1) ca.1900-1907

Bis 1907/1908, als mit der Errichtung der Residentur Ruanda der Kolonialstaat

institutionalisiert wurde, beschränkte sich die deutsche Herrschaft auf mehr oder weniger

regelmäßige militärische Aktionen in ganz Ruanda. Lediglich in der näheren Umgebung der

Militärposten (v.a. in Shangi, in Südruanda, wo sich der Schwerpunkt der deutschen Präsenz

befand, sowie Gisenyi am Nordufer des Kivusees) waren die Aktivitäten der deutschen

Kolonialmacht umfassender und bestanden in der Übernahme regulärer staatlicher Aufgaben

(Judikatur, Normierung, ‚Infrastrukturentwicklung’), die – gemäß der Doktrin indirekter

Herrschaft und soweit es die Rechtsetzung und Judikatur betraf – in erster Linie dem

Verhältnis von Europäern (Kolonialstaat, Kolonialtruppen, Mission, Händler) und Ruandesen,

galten. Der Bau von Infrastruktur beschränkte sich hauptsächlich auf den Bau der Posten

und der Verbesserung einiger weniger Wege. Alle Formen kolonialstaatlichen Handelns,

insbesondere aber die ‚Polizeiaktionen’, meist gegen ‚Rebellen’ (oder als solche

denunzierte), die sich der Autorität des Hofes nicht beugen wollten149, dienten ultimativ der

Absicherung der indirekten Herrschaft, ohne zunächst weitergehende Ziele zu verfolgen. Ab

1901/1902, als die Deutschen mit einem Offizier und 21 Askari in Shangi und einem weiteren

Offizier mit vier Askari in Gisenyi eine permanente Präsenz in Ruanda etablierten, begann

die Kolonialverwaltung – zunächst allerdings noch in eingeschränktem Ausmaß –

Arbeitskräfte für koloniale Unternehmungen zu organisieren. Dazu griffen sie – wie auch die

Weißen Väter – auf die Chiefs zurück, die über Uburetwa, und manchmal auch über andere

Formen von Klientelbeziehungen (Ubuhake, Umuheto) leichten Zugriff auf die Arbeitskraft

eines Teils ihrer Untertanen hatten. Zunächst waren der Arbeitskräftebedarf der

Kolonialverwaltung, entsprechend dem geringen Grad an Institutionalisierung und dem ad

hoc Charakter der Verwaltung gering. Wenige Arbeiter genügten, um die in den

Anfangsjahren errichteten Stationen Shangi und Gisenyi zu errichten. Schwieriger war die

Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung der mit den Jahren immer zahlreicher

werdenden Militär- und Forschungsexpeditionen sowie der Handelskarawanen, da die

bäuerliche Bevölkerung häufig vor den durchziehenden Karawanen, aber auch vor

ruandesischen Chiefs, die Nahrungsmittel von der Bevölkerung einsammeln sollte, flohen.

149 Vgl. etwa den oben zitierten Fall Mhumbikas und Lukaras in Gisaka. Gegen letzteren unternahm der damalige Bezirkschef von Grawert im Mai 1901 eine Strafexpedition, bei der Lukara gefangengenommen und deportiert und überdies an die tausend Rinder, hauptsächlich für den Mwami konfisziert worden waren (Honke 1990a: 120)

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Wurde die Versorgung der Militär- und Forschungsexpedition150 im wesentlichen über die

Deckung des Bedarfs durch Chiefs gedeckt, sollten kommerzielle Karawanen ihren

Lebensmittelbedarf (ebenso wie die von ihnen gehandelten Güter) – entsprechend einer der

drei Säulen151 der kolonialen Ideologie im imperialistischen Zeitalter, der Öffnung der

kolonisierten Gebiete für den Handel – theoretisch marktförmig decken. Das erhebliche

Ausmaß an Gewalt und Zwang bei letzteren veranlaßte die Kolonialverwaltung 1905

allerdings dazu, Ruanda und Burundi vorläufig für den hauptsächlich von Indern, Arabern

und Swahili durchgeführten Handel zu sperren, ließ Nahrungsmittel für Karawanen künftig

von Chiefs für den Verkauf sammeln und erwartete davon eine gerechtere Remuneration der

Bauern. In Wirklichkeit stärkte eine Organisationsweise von Handel, die auf der Tätigkeit von

Chiefs beruhte, deren Position in einem System politischer Ökonomie, in dem die Zirkulation

von Gütern von vornherein überwiegend ‚administrativ’ (bzw. extraktiv) organisiert war,

indem sie die Autonomie der bäuerlichen Produzenten beschränkte und die Chiefs mit einem

vitalen Interesse in das Funktionieren des Systems qua ihrer prinzipiellen extraktiven

Kapazität ausstattete (Vgl. Honke 1990a: 118f; Kabagema 1993: 149ff).

Ähnlich wie die Missionsstationen waren die Militärposten embryonale multifunktionale

Zentren, in deren Umgebung Bauern Nahrungsmittel für die Stationen produzierten, die

Handel anzogen und die für Teile der Bevölkerung – den Eliten – einen alternativen

Machtfokus bereitstellte, dessen Beziehung mitunter eine Garantie gegen Repressionen des

Hofs darstellen konnte, manchmal sie aber auch provozierte. Ebenso wie die Missionare,

wenn auch vielleicht in geringerem Ausmaße, wurden deutsche Offiziere zu Patrone, indem

sie Chiefs, mit denen sie gute Beziehungen pflegten, das bei Strafexpeditionen – für die sie

oftmals die Unterstützung eben dieser Chiefs erhielten - konfiszierte Vieh überließen (Vgl.

C.Newbury 1988: 122ff; Honke 1990a: 120). Die Strafexpeditionen unterschieden sich

insofern nicht wesentlich von den traditionellen Razzien ruandesischer Armeen gegen

äußere und innere Feinde, bei denen die Teilnahme durch die Beteiligung an der Beute

belohnt wurde und für deren Durchführung die Aussicht auf Beute ein wesentliches Motiv

dargestellt hatte. Der Personenkreis, der von der Patronage der deutschen Posten profitierte,

war allerdings nicht auf die Chiefs beschränkt. Für einige andere taten sich so Gelegenheiten

auf, als Mittler zwischen Deutschen und Ruandesen sozial aufzurücken und eine Position zu

erlangen, die sie zuweilen mächtiger werden ließ, als die Chiefs selbst. In Ruhengeri

beispielsweise wurde für die Gewährleistung von Arbeitsleistungen und

Lebensmittellieferungen ein Hutu namens Rubashi als Mittelsmann zwischen Deutschen und

dem betroffenen Land-Chief Ruhanga (in Mulera) eingesetzt. Seine Position – er bestimmte

die Familien, die Arbeitsleistungen zu erbringen hatte und bestrafte diejenigen, die seinen 150 die auch remuneriert wurde, oft aber nicht durch direkte Bezahlung der Bauern, sondern der Chiefs.

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Forderungen nicht nachgekommen waren, zuweilen in gemeinsamen Aktionen mit Askaris

der Schutztruppe, konfiszierte Vieh etc. – erlaubte ihm einen Teil der von der Bevölkerung

abverlangten Leistungen (Arbeitsdienste, Teil der landwirtschaftlichen Produktion) selbst zu

lukrieren, zusätzliche Leistungen zu fordern und gleichzeitig sich einen Namen als Patron zu

machen (Kabagema 1993: 137ff).

Während das ultimative Motiv der deutschen Kolonialbehörden in der Sicherung ihres

Herrschaftsanspruchs und der des Mwami bestand, waren andere Motive materieller und

machtpolitischer Natur stets präsent, wenn es um die Beteiligung oder um die Bitte um eine

Strafexpedition ging. Und diese waren durchaus parochialen Charakters. Die parochiale

Orientierung war selbst wieder im extremen Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen

Amtsträgern begründet, die in der Zersplitterung der Zuständigkeitsbereiche und

Verfügungsrechte über die ruandesische Bevölkerung ihren institutionellen Ausdruck fand

und sich in der Unsicherheit eine einmal erlangte Position, zumal einer höheren, längere Zeit

innezuhaben widerspiegelte. Als Herrschaftssystem kennzeichnete Ruanda ein politischer

Solipsismus der einzelnen politischen Akteure, die das kollektive Handeln der Chiefs,

Patrone und Landbesitzer mehr ein Ergebnis der Logik des Systems sein ließ, als eine Folge

kollektiver Willensfindung und kollektiver Identität. Sie produzierte Widersprüche, die die

scheinbare Simplizität der Doktrin indirekter Herrschaft, der „uneingeschränkten

Anerkennung der Autorität des Sultans durch uns“ Lügen strafte152. In der Region Kinyaga

versuchten deutsche Offiziere der Station Shangi, auf Anraten der Provinzchiefs der drei

Provinzen Kinyagas, Biru, Impara und Cyesha, Nahrungsmittel und Arbeitskräfte aus dem

Kleinkönigtum Bunkunzi zu beziehen, das zu Ruanda in einem symbolischen Tributverhältnis

stand und rituell (der Mwami Bukunzis, Ndagano, war ein bekannter ‚Regenmacher’ ) in

Ruanda integriert war. Ndagano zeigte sich den deutschen Anforderungen widerständig und

weigerte sich, Lebensmittelleistungen und Arbeitskräfte aus Bukunzi zu stellen. Gleichzeitig

war sein Verhältnis zu den Missionaren der nahegelegenen Missionstation Mibirizi gespannt,

inbesondere zum Superior von Mibirizis, Pater Zuembiehl, der das Eingreifen deutscher

Truppen forderte, um die Ermordung behinderter Kinder sowie die ‚Prostitution’ junger

Mädchen (als Konkubinen des Mwami von Ruanda) zu unterbinden. Im April 1907 entschloß

sich Resident Grawert, gegen Bunkunzi vorzugehen, trotz der Bitten Musingas, der der

rituellen Bedeutung Ndaganos für Ruanda und seine damit zusammenhängende

151 den drei C-s in englischer Formulierung: Christianity, Commerce, Civilization. 152 Die Politik Rwabugiris im 19.Jh.,die Rechts-, Besitz- und Amtstitel der führenden Tutsi Lineages aufzusplittern und Amtstitel an Nicht-Elite Personen, die ihm dann persönlich verpflichtet waren, zu vergebem. bestand aus einer bewußten Ausnutzung und Akzentuierung des Politikmodus extremer Konkurrenz unter den etablierten Lineages und ermöglichte zugleich Gruppen ohne entsprechendes politisches oder soziales Kapital den sozialen und politischen Aufstieg. Die durchschnittliche Verweildauer eines Notablen im ‚Amt’ lag bei etwa 10 Jahren. Die Volatilität von Elitenpolitik unter Rwabugiri brachte letzterem den Ruf ein „bon pour le peuple, terrible pour les Batutsi“ (Diaire de Kabgayi, Février 1906) zu sein (Linden 1977: 20

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Anerkennung als legitime Autorität über Bunkunzi hinaus herausstrich, davon abzusehen.

Ndagano konnte sich allerdings den wiederholten deutschen Strafexpeditionen erfolgreich

entziehen, welche – wiederum auf Betreiben Musingas –, aber wohl auch in Anbetracht der

beschränkten personellen Ressourcen der Kolonialmacht, bald darauf eingestellt wurden

(Kabagame 1993: 97ff). Seine formelle Absetzung blieb daher weitgehend wirkungslos,

führte aber zu Spannungen mit der Bevölkerung, was in erster Linie die Missionare Mibirizis

durch das Ausbleiben der Taufwerber zu spüren bekamen (Linden 1977: 82). 1909 und 1914

wiederholten die Deutschen ihre Expeditionen gegen Bukunzi, wiederum ohne Ndagano

selbst zu fassen (C.Newbury 1988: 62). Hinter den wiederholten Angriffen auf die

Unabhängigkeit Bunkunzis standen zum einen lokale bzw. parochiale Interessen –

Missionare und Chiefs (wie die ‚Banyanduga’ Rwidegembya und sein Sohn Rwagataraka) -,

zum anderen stellten die kleineren politischen Einheiten wie Bunkunzi und Busozo in

Kinyaga und andere im Norden einen Widerspruch zur Kolonialpolitik indirekter Herrschaft

und zu den deutschen Vorstellungen und Zielen kolonialer Verwaltung dar, insofern diese

erforderten, daß die Autorität des Mwami von Ruanda in allen Regionen idealiter in gleicher

Weise anerkennt werde und er an der Spitze einer gleichförmigen Hierarchie von

Amtsträgern stehen solle. Mangels Ressourcen, blieb die Homogenisierung der Hierarchien

nach Maßgabe der kolonialen Behörden in der deutschen Periode beschränkt. Die

semipermanente Präsenz der deutschen Kolonialmacht und ihr Angewiesensein auf

punktuelle Strafexpedition (statt ständiger Besatzung) erlaubte es nicht, Strukturen

systematisch zu verändern.

Die Deutschen bekräftigten sehr früh, etwa ab der regelmäßigeren Präsenz in Ruanda ab

1901/02 den ihren Anspruch auf Oberhoheit, besonders gegenüber denjenigen, die am

meisten von der potentiellen Unterstützung durch die Deutschen profitierten, den

Missionaren und dem Hof. Missionsstationen wurden gegen den Willen des Hofs

durchgesetzt (etwa die Mission in Nduga, Kabgayi, oder Rulindo im Norden), Missionare auf

Betreiben der Behörden versetzt oder nach Europa abgezogen und die Entscheidung über

weitere Missionsstationen auch gegenüber den Missionaren als Vorrecht der Behörden

bekräftigt. Musinga wurde bedeutet, daß seine Autorität als oberste rechtsprechende und

rechtsetzende Instanz ultimativ von der deutschen Kolonialmacht abhänge. Die Regelung

von Angelegenheiten von Fremden – Europäern, Arabern, Indern und afrikanischen Askari –

war von Anfang an außerhalb der Kompetenz der traditionellen Organe einschließlich des

Mwami. Ein Vorfall Ende 1902 demonstrierte deutlich, daß Musinga seine Kompetenzen,

seine bisher beanspruchte judikative Omnipotenz über Ruanda und seine Bevölkerung, nur

mehr unter Vorbehalt der deutschen Kolonialmacht ausüben konnte, die ihm praktisch seine

Souveränität, wenn auch zunächst eher symbolisch und ohne zu versuchen, die Stellung und

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Kompetenz des Mwami im kolonialen Herrschaftszusammenhang positiv zu beschreiben,

entzogen. Musinga war, nachdem die 20-30 Männer der Gefolgschaft Mhumbikas, eines auf

Betreiben des Hofes (und mit deutscher Unterstützung, siehe oben) des Amt enthobenen

Munyagisaka153, von Schergen des Hofs niedergemetzelt worden waren, von dem die Sache

untersuchenden deutschen Offizier von Beringe für das Massaker verantwortlich gemacht

und Ende 1902/ Anfang 1903 zur Zahlung von 40 Rindern verurteilt worden. Die Strafe war

in Anbetracht des Reichtums Musingas materiell irrelevant, aber dafür ein um so deutlicheres

Symbol für die verlorene Souveränität Musingas, eines Verlustes, der durch die erzwungene

Wiedereinsetzung Mhumbikas zusätzlich unterstrichen wurde (Honke 1990a: 121).

5.3.2.2 Koloniale Durchdringung, Gewalt und ‚antikolonialer’ Widerstand

5.3.2.2.1 Die ‚Petite Revolution’ von 1904

Trotz der weite Regionen Ruandas unberührt lassenden und schleppend verlaufenden

kolonialen Durchdringung durch kolonialstaatliche Akteure im engeren Sinn gleichermaßen

wie durch die häufig als Vertreter und Platzhalter des Staates agierenden Missionaren,

reichten die punktuellen Auswirkungen des Kolonialismus – Arbeitskräfte- und

Nahrungsmittelexktraktionen und Bestrafungsaktionen sowie die Wahrnehmung fremder

religiöser Praktiken und Symbole der Weißen Väter als bedrohlich sowie Xenophobie

gegenüber den Weißen als solche aus, um 1904 eine erste größere Krise der Kolonisation

herbeizuführen.

Die Missionare und die Missionstationen samt den Taufwerbern und Christen waren die

primäre, und europäische und mit Europäern assoziierte Händler (Araber, Inder, Baganda)

die sekundäre Zielscheibe der ‚Petite Revolution’ (Rutayasire 1987: 30) , die gleichermaßen

in vom Hof oder durch andere formale Kanäle organisiertem expliziten ‚Widerstand’ wie eher

spontanen Äußerungen von Unmut sowie opportunistischer Ausnutzung der

‚antieuropäischen’ Stimmung bestand und die ihren Schwerpunkt in den nördlichen

Regionen hatte. Der Hofpolitiker Kabare, seit geraumer Zeit wieder rehabilitiert, ließ

Handelskarawanen überfallen. Dutzende Händler wurden dabei getötet; Arbeiterkompanien,

die für Missionare Holz sammeln sollten, wurden Opfer von spontanen Überfällen, Gerüchte

über den angeblichen Tod des Bezirkschefs Von Grawert (der kurzfristig abwesend war),

hinter dem Musinga stehen sollte, wurden in Umlauf gebracht; Musinga selbst verlangte die

Abreise eines katholischen Katechisten am Hof und die Missionstation in Rwaza wurde von

bewaffneten Hutu unter bekannten ‚Klanführern’ belagert und in Kämpfe verwickelt, an

denen sich auch die von den Chiefs gestellte Hilfstruppen, die eigentlich zur Entlastung der 153 ‚Person aus Gisaka’, analog zu Munyarwanda, Munyakinyaga (Pl. Banyagisaka, Banyarwanda,

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Missionsstation gesandt worden waren, ebenfalls beteiligten. Ihren Höhepunkt fand die Krise

im Juli/ August 1904, danach beruhigte sich die Lage wieder etwas. Die vorhersehbare

Strafexpedition der Deutschen folgte Ende September/ Anfang Oktober des selben Jahres,

als die Krise im Prinzip schon wieder abgeflaut war. Die Vorgangsweise der bislang größten

Strafexpedition in Ruanda versteht sich aus den beschränkten Machtmitteln der deutschen

Kolonialbehörde: das Ziel war zwar, der Anführer des Aufstandes habhaft zu werden,

gleichzeitig ging es darum, ein Exempel zu statuieren und dementsprechend hart fielen die

Maßnahmen aus: Dörfer wurden niedergebrannt, Bananenhaine und Felder verwüstet, Vieh

konfisziert. Insgesamt wurden in der mehr als ein Monat dauernden Aktion über 500 Stück

Vieh konfisziert und mehrere Personen standrechtlich erschossen (unter ihnen 10 Tutsi154).

Als Konsequenz der Unruhen, deren Ursachen – insbesondere, was die Handelspraktiken

betraf (siehe unten), man durchaus ernst nahm, wurde Ruanda für den Handel „bis auf

Weiteres“ geschlossen (Linden 1977: 52ff; Kabagema 1993: 89ff).

Die Aufstandsbewegung von 1904 hatte zumindest drei unterschiedliche Gründe: zum einen

breit gehegte Ressentiments gegenüber der Präsenz von Missionaren, die zum Teil von dem

spürbar werdenden Arbeitskräftebedarf, den diese über die Chiefs deckten und in der Form

von Uburetwa-Arbeitskräften aufgebracht wurde, provoziert wurde. Uburetwa wurde

besonders in den nördlichen Regionen, wo diese Form von Verpflichtungen für die Chiefs

bislang unbekannt war, von der betroffenen Bevölkerung als schwere Belastung und von der

regionalen Elite der Abakonde-Grundherren als Bedrohung ihrer privilegierten Position

empfunden. Zum Teil wurden die Ressentiments von der Erfahrung der zum Teil unter

Gewaltanwendung und Zwang durchgeführten Evangelisierung geschürt, die auf Widerstand

sowohl unter der so evangelisierten Bevölkerung als auch, und wahrscheinlich zu einem

größeren Ausmaß, unter den von der Missionierung in ihren Zugriffsrechten auf die

Bevölkerung gefährdeten Eliten – Banyanduga-Chiefs gleichermaßen wie die regionalen

Eliten der Abakonde-Grundherren – traf. Unter letzteren - und den ihnen verbundenen

Klienten – dominierte die Wahrnehmung der Missionare als Werkzeuge der vom Hof

betriebenen und in der Form der Landnahme durch Tutsi Chiefs aus Zentralruanda (Nduga,

Marangara etc.) durchgeführten Kolonisierung des Nordens. Letztere setzte allerdings erst

nach der Krise im darauffolgenden Jahr 1905 voll ein (Vgl. Linden 1977: 63). Bischof Hirth

sah in der Kolonisierungsdynamik – dem Versuch von Banyanduga Tutsi, sich im Norden zu

etablieren bzw. ihren Herrschaftsanspruch (den sie über diverse Herrschaftstitel nominell

besaßen) durchzusetzen und in der Reaktion der Bevölkerung der Region Mulera (in der die

von der Belagerung betroffene Missionsstation lag) auf die royalistische Politik der Mission –

Banyakinyaga etc.) 154 d.h. in diesem Zusammenhang Angehörige der politischen Elite.

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den Hauptgrund für die Aufstandsbewegung, welche die Missionare – und die mit ihnen

assoziierten Gruppen – zum Hauptziel des Unmuts werden ließ: Ces affaires ont eu lieu (...) en grande partie parce que nous nous sommes mis franchement

du côté des Batutsi. Notre vacher a été pris et menacé de mort parce qu’il se trouvait avec le

chef mututsi de l’endroit, qu’il voulait, sur notre désir, faire trancher par lui un procès. Les

Bagarura (eine Ligneage) se jetèrent sur le Muhutu disant qu’ils ne voulaient pas des chiens

de Batutsi chez eux. (...) Nous mettre franchement avec les Batutsi, c’est évidemment nous

ménager des surprises et exciter la haine contre nous. (Diaire de Rwaza, Octobre 1904 zitiert

nach Rutayasire 1987: 31)

Daß die Missionare zwischen den Fronten eines Kampfes um die regionale Hegemonie

zwischen den Kolonisatoren des Hofs, den Banyanduga-Chiefs und ultimativ dem Hof selbst

einerseits, und der regionalen Bevölkerung bzw. ihrer Eliten andererseits geraten war, wird

eindrucksvoll von der stillschweigenden Unterstützung des Hofs für die Aufstandsbewegung

im Norden illustriert, aus der der Hof hoffte, profitieren zu können und letztendlich als

siegreiche Partei aus einem dreiseitigen Kampf um die regionale Vorherrschaft hervorgehen

zu können. Die Opposition des Hofes (insbesondere der Abega Kabare, Ruhankiko und

Kanjogera) gegen die Missionare hatte vom Beginn ihrer Präsenz in Ruanda bestanden, war

aber durch seine tiefe Irritation über die häufige Parteinahme der Missionare zugunsten von

Christen und speziell im Norden mehr oder weniger zugunsten der gesamten regionalen

Bevölkerung, was die Missionare in direkten Konflikt mit dem Hof brachte, verstärkt worden.

Christen wurden als ‚Inyangarwanda’ – als ’Jene, die Ruanda hassen’ und die Missionare als

‚Abagome’ – ‚Rebellen’ – denunziert. Subchiefs155, die Beziehungen zu den Missionaren

pflegten, standen in Gefahr, dafür Sanktionen vom Hof zu ernten (Linden 1977: 63). Die

Feindseligkeit gegenüber den Missionaren beschränkte sich freilich nicht auf den Norden.

Dort allerdings, in einem geringeren, aber in gewisser Weise vergleichbarem Ausmaß in

Gisaka, waren die spezifische regionale Konstellation und das Auf-Sich-Gestelltsein der

Missionare in den täglichen Beziehungen zu der Bevölkerung in der Reichweite der

Missionsstationen (Nyundo und Rwaza), sowie der eigene niedrige soziale Hintergrund

mancher Missionare (der sich von der aristokratischen Herkunft und Identifikation der Spitze

der Hierarchie, Hirth und Classe deutlich unterschied) nicht spurlos an den Missionaren

vorübergegangen. Dazu kam noch der Mißerfolg bei dem Versuch, die Missionsdoktrin einer

‚Missionierung von Oben’ umzusetzen, d.h. die Tutsi-Elite zu konvertieren (der Großteil der

bis 1910 konvertierten 4.500 Katholiken waren Hutu, arme Tutsi, und nur in Gisaka – in einer

155 Die Bezeichnung ‚Subchief’ bzw. französisch Sous-Chef entstammt eigentlich einem späteren Kontext, nämlich der belgischen Periode ab etwa 1930, in der sie die offizielle Bezeichnung der dem Provinzchief untergeordneten Herrschaftsträger wurde. Missionare sprachen davor schon gelegentlich von ‚Sous-Chef’ und ‚Sous-Chefferies’, ebenso hat er als Terminus Technicus in die Literatur Eingang gefunden, obwohl streng genommen das von dem Begriff evozierte Bild einer homogenen und konsistenten hierarchischen Ordnung eher ein Zerrbild der tatsächlichen Verhältnisse ist.

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Äußerung von gegen den Hof in Nyanza gewandten Regionalismus – traten ‚Tutsi’-Eliten

früh zum Katholizismus über). Dies ließ die ursprüngliche Bewunderung der sozialen und

politischen Strukturen leicht in Verachtung und extremes Ressentiment gegenüber der Tutsi–

Elite umschlagen und brachte die Missionare im Zweifelsfall dazu, sich gegen die Interessen

des Hofes zu wenden und die Ansprüche der regionalen Bevölkerung zu verteidigen (Vgl.

Ebenda: 38 und 85; Mbonimana/Ntezimana 1990: 135).

Ein weiterer, und von der Kolonialverwaltung sehr ernstgenommener Grund lag in dem

breiten Unmut gegen Händler bzw. spezifischer deren kommerzielle Praktiken, die auf

erzwungenen Tausch und der Anwendung von Gewalt basierten und die Bauern und

Herdenbesitzern bestimmter Regionen schwer trafen156, während die Öffnung Ruandas für

den Handel unter der Elite der Chiefs Ängste, die Kontrolle über die Produktion der

bäuerlichen Bevölkerung zu verlieren, auslöste. In Reaktion auf die bei den Unruhen zu Tage

getretenen Schwierigkeiten des Handels wurde der Zugang zu Ruanda durch fremde,

nichteuropäische Händler (Inder, Araber und Beludschen) weitgehend eingeschränkt und

behördlicher Genehmigungspflicht unterworfen. Für eine Beschränkung des Handels waren

die Missionare massiv eingetreten, allerdings nicht nur wegen der problematischen

Handelspraktiken, die als Folge unterentwickelter Märkte, aufgrund fehlender Infrastruktur

und einer fehlenden Tradition dezentralen Handels157 anzusehen, und daher letztlich eine

Frage der Organisation von Handel und der Entwicklung von Märkten war, sondern auch aus

grundsätzlicheren Gründen, die einerseits religiöser Natur waren, andererseits der

antikapitalistischen Geisteshaltung des Erneuerungskatholizismus des ausgehenden 19.Jh. 156 Zwei Weiße – ein Österreicher und ein Bure – sind typische Beispiele für eine große Anzahl an meist indischen bzw. arabischen Wanderhändlern, die Ruanda seit seiner durch den Kolonialismus gebrachten Öffnung für den Handel überschwemmten. Die beiden waren wegen Viehdiebstahls angeklagt worden. Bei der Untersuchung ihres Falls stellte sich heraus, daß sie tatsächlich eine Art Handel betrieben, indem sie Vieh von den Weiden auswählten und ihre Besitzer gezwungen wurden, diese gegen billigen Stoff zu tauschen (Louis 1963: 124). 157 Märkte spielten eine untergeordnete Rolle und bildeten sich in weiten Teilen Ruandas erst in kolonialer Zeit in der Nähe administrativer oder Missionszentren heraus. In vorkolonialer Zeit bedeutend waren Märkte lediglich für den Absatz einiger Gebrauchs- und Luxusgüter aus dem Langstreckenhandel – so der Markt in Kamembe (im Süden), wo ruandesisches Vieh und Feldfrüchte gegen Hacken getauscht wurden; Buberuka für Salz vom Rutanzigesee (vormals Edwardsee); Rwerere (an der Vulkankette im Nordosten gelegen) für Tabak und Fuß- und Armbändern aus der Kivuregion. Bedeutender als Märkte für die Zirkulation und den Austausch von Gütern waren Wanderhändler (ababunzi), die übrigens auch den Handel der auf den spezialisierten Märkten gehandelten Güter in ganz Ruanda organisierten. Zugleich war diese Form des Handels, für die persönliche Beziehungen zwischen Händler und Kunden (oftmals als Verwandte, Blutsbrüder oder ‚Freunde’) eine große Rolle spielten und insofern kaum dem desinteressierten, unpersönlichen Ethos europäischer Handelstraditionen entsprachen, für Europäer relativ unsichtbar. Dazu kam noch, daß dieses informelle Handelsnetzwerk, das Ruanda v.a. mit dem westlich des Kivusees gelegenen Gebieten verband, außerhalb der Kontrolle durch den Hof stattfand (vgl. dazu Newbury 1987: 181). Bedeutend für die Zirkulation von Gütern, insbesondere natürlich für den vorkolonialen Staat und für die Eliten, also, wenn man so will, für den ‚öffentlichen Bereich’ waren Tributzahlungen und der Austausch von Gütern innerhalb klientelistischer Abhängigkeitsbeziehungen, obwohl die Güterzirkulation in bezug auf letztere häufig überschätzt worden ist. In der zweiten Hälfte des 19.Jh hatte das Auftauchen europäischer Güter eine neue Form von (hauptsächlich Luxusguthandel, wie der Handel in Stoffen) entstehen lassen, der vom Hof monopolisiert und kontrolliert wurde (Vgl. zum Handel und zu Märkten

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entsprangen, nämlich der Angst vor der ‚islamischen Gefahr’ und der Sorge um den mit dem

Handel einhergehenden kapitalistischen Ethos: „la fièvre du gain“, wie es Leon Classe

nannte (Vgl. Rutayasire 1987: 85; Kabagema 1993: 150f).

Zum dritten fanden sich in der Aufstandsbewegung auch Elemente antikolonialen

Widerstands. Ein Großteil der gewaltsamen Übergriffe auf Händler und Handelskarawanen

war vom Hof organisiert oder unterstützt worden, und unter den festgenommenen Personen

fanden sich fünf Vertraute Kabares (Kabagema 1993: 93). Gleichzeitig hatten Übergriffe von

Angehörigen der deutschen Schutztruppe und Lebensmittelrequirierungen158 in einigen

Regionen zu spürbaren Belastungen der Bevölkerung geführt bzw. waren als solche

empfunden worden, und Händler wurden oft als Agenten der deutschen Kolonialregierung

gesehen. Trotzdem war die Kolonialmacht selbst nicht direkt Zielscheibe der

Aufstandsbewegung geworden, dazu war ihre Präsenz zu rudimentär, das Bewußtsein um

den kolonialen Nexus zu gering und auch zu irrelevant, da der Kolonialstaat kaum direkt,

sondern meist vermittelt wahrgenommen wurde.

Daß der Schwerpunkt der Aufstandsbewegung im Norden lag, war ein Resultat der

schwachen Integration des Nordens in den ruandesischen Herrschaftszusammenhang, und

das Ausmaß des Widerstandes ein Indikator für die beträchtlichen Transformationen der

politischen und sozialen Verhältnisse, wie sie durch die doppelte Einwirkung eines dualen

Kolonialismus von Europäern – Missionaren und dem Kolonialstaat – einerseits und

Banyanduga Tutsi (und dem Hof) andererseits hervorgerufen wurden. Der Norden bildete mit

zwei bedeutenden Missionsstationen (Rwaza und Nyundo) und dem deutschen Grenzposten

Gisenyi159 (mit seinem Ableger Ruhengeri) einen Schwerpunkt kolonialer Aktivität und wurde

mit der Wiederaufnahme der nach dem Coup von Rucunshu von den Banyanduga-

Kolonialisten kurzfristig sistierten160 Kolonisierung des Nordens ab 1905 zum Schauplatz

eines intensiven Kampfs um die Hegemonie in der Region und gleichzeitig Ort radikalen

sozio-politischen Wandels, der, wenn auch vom ersten Weltkrieg unterbrochen und teilweise

wieder rückgängig gemacht, die Inkorporation dieser Regionen in den ruandesischen Staat

begleitete und von dem dualen Charakter des Inkorporationsprozesses, als Integration

im Allgemeinen d’Hertefelt 1962: 35f; Honke 1990b: 86; Linden 1977 20f; Maquet 1961: 22) 158 Auch kommerzielle Karawanen waren berechtigt, Lebensmittel zu requirieren. Die Zwangsrequirierung von Lebensmittel wurde schließlich 1911 für unzulässig erklärt (Honke 1990a: 123). 159 Gisenyi (oder Kisenyi, nach damaliger Schreibung) war um 1912 das größte urbane Zentrum Ruandas und dürfte etwa mehr Einwohner als Kigali (420 Fremde, darunter 9 Europäern und insgesamt etwa 2000 Einwohner) gehabt haben. Andere bedeutende Zentren der deutschen Kolonialperiode waren Shangi und Bugarama (Bindseil 1988: 117) 160 Dafür, daß Banyandunga Tutsi zumindest zu einigen Gebieten des Nordens weiterhin mehr oder weniger geregelte (und als mehr oder weniger legitim anerkannte) Herrschaftsbeziehungen pflegten, spricht ein von Rutayasire zitierter Missionsbericht (Vgl. Rutaysire 1987: 32 und EN 50)

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gleichermaßen in den kolonialen Herrschaftszusammenhang als auch in den

Zusammenhang einer sich herausbildenden Elite von Tutsi-Chiefs geprägt war.

5.3.2.2.2 Die doppelte Interaktion von Zentrum und Peripherie: Dualer Kolonialismus, regionale Revolten und die Kristallisation embryonaler kollektiver Identität in Nordruanda ca. 1904-1912

5.3.2.2.2.1 Die Inkorporation des Nordens

Nach der Krise von 1904 blieb der Norden das Zentrum periodischer Unruhen und

Widerstandsäußerungen gegen die doppelte koloniale Penetration durch den deutschen

Kolonialismus einerseits und den ruandesischen Expansionismus bzw. Subimperialismus

andererseits, die sich 1912 zu einer breiten Rebellion auswuchsen. Insbesondere während

des Jahres 1905 und Anfang 1906 war die Lage äußerst gespannt. Zeitgleich – 1905 – war

das südliche Tanganyika Schauplatz eines Aufstandes, der als ‚Maji-Maji’ bekannt wurde

und der, zusammen mit den Auswirkungen des Herero-Aufstandes in Deutsch-Südwestafrika

(1904) die Grundfeste der deutschen Kolonialpolitik erschütterte und unter dem ersten

Staatsekretär des neugeschaffenen Reichskolonialamts Bernhard Dernburg (Staatssekretär

von 1907-1910) zu einer grundsätzlichen Revision deutscher Kolonialpolitik führte. Die

Erscheinungsform der Unruhen in Ruanda ähnelte in den Augen deutscher Kolonialoffiziere

in beklemmender Weise der der Maji-Maji Revolte, allen voran die Gerüchte, die Waffen der

Weißen seien nunmehr wirkungslos und die Kugeln würden sich, sobald abgeschossen, in

Wasser verwandeln.161

Maji-Maji und die Aufstandsbewegung von 1904 führten kurzfristig zu einer abwartenden

Haltung der Kolonialbehörden gegenüber Wünschen der Missionare und zu verstärkten

Bemühungen, Musinga so wenig wie möglich in seiner Macht anzutasten, und waren ein

wichtiger Grund für die Beibehaltung des Systems indirekter Herrschaft und seiner

Elaborierung innerhalb des Residentursystems.

Der Aufstand, der kurz vor dem 1.Weltkrieg (1912) stattfand und als Ndungutse Rebellion

bekannt wurde, war ein beredter Ausdruck für den Mißerfolg der deutschen ‚Appeasement’-

Strategie – was die Vermeidung von Aufständen an sich betraf – wie oben ausgeführt, kam

Ruanda nach 1904 nie wirklich zu Ruhe -, gleichzeitig aber auch ein Ausdruck eines

161 Dieses Gerücht, bzw. im Falle Maji-Maji der Glaube daran und die damit verbundenen Rituale (Einnehmen einer ‚Medizin’ eines Wassers (Swahili: maji), das vor den Kugeln schützen würde weist auf in der Region verbreitete Vorstellungen religiös-charismatischer Macht. Ähnliche Vorstellungen waren bei späteren Revolten zum Teil essentieller Bestandteil der ‚Ideologie’, etwa bei der Mulele Revolte im Kongo (1966-67) (bei der Rebellen das ‚Mai Mulele’, das Wasser der Rebellion, zu trinken bekamen) oder jüngst, im Rahmen der Krise in der Kivuprovinz der Demokratischen Republik Kongo, wo eine lose Bewegung von ‚Rebellen’ in ihrem Namen (Mai-Mai = Maji-Maji) expliziten Bezug auf diese religiös-charismatische Tradition nahm (Vgl. Ranger 1968: 639f und International Crisis Group 1998).

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spezifischen Erfolges, der darin bestand die zentralruandesischen Agenten des Hofs als

lokale Amtsträger und damit gleichzeitig, wenn auch indirekt, als Repräsentanten des

Kolonialstaates durchzusetzen. Die Revolte steht in einer Reihe mit vergleichbaren

Erhebungen in Afrika im Frühstadium seiner kolonialen Erschließung162, für die die

Ambivalenz von rückwärtsgewandter Orientierung der Akteure, d.h. einer Zielgerichtetheit

auf die ‚Wiederherstellung’ der als heil imaginierten Vergangenheit einerseits und der im

Aufstehen gegen Kolonialmacht angelegten radikal neuen ‚Einheit’ – einer neuen Form

kollektiven Handelns mit Elementen einer Massenbewegung – und damit einem deutlichen

Abgehen von vergangenen Praktiken andererseits charakteristisch war163. In der Ndungutse-

Rebellion kamen kurzfristig unterschiedlichste Interessen und Akteure zusammen – lokale

Notable, Klanführer und religiöse Führungsgestalten gleichermaßen wie bekannte ‚soziale

Rebellen’ oder ‚Banditen’ und politische Amtsträger des königlichen Regimes, die sich für

den Fall eines Sieges der Rebellion vorsahen bzw. darauf hofften, die Abega-Hegemonie

brechen zu können. Diese bildeten eine kurze Periode lang eine gemeinsame Front gegen

den Hof bzw. Musinga, den Banyanduga–Kolonialisten, den Kolonialstaat und die

Missionare.

Die Niederschlagung der Aufstandsbewegung von 1904 markierte den Beginn einer

intensivierten Kolonisierung und Durchdringung der ruandesischen Peripherie durch den Hof

bzw. seine Agenten, Tutsi aus Zentralruanda, die als Stellvertreter des Hofes agierten,

während sie zugleich seiner effektiven Kontrolle entzogen waren. Letzterer hatte in der

Vergangenheit unter Rwabugiri die Macht der Kolonialisten beschränkt und

162 Im Diskurs der Afrikahistoriker der sogenannte ‚Primary Resistance’ (Terence Ranger). Vgl. Eckert 1997 zu einer Diskussion der historiographischen Debatten zu Widerstand und Darstellung der Entwicklung des Widerstandsparadigmas. Eckert betont die Verortung des Widerstandsparadigmas in der nationalistischen Phase afrikani(isti)scher Historiographie in der unmittelbaren Post-Independence Phase und seine In-Dienst-Nahme für das die Periode bestimmende Projekt des ‚Nation-Building’ . Es ist bezeichnend, daß die Diskussion um ‚Primärwiderstand’ afrikanischer Bevölkerungen gegen den Kolonialismus für Ruanda, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle spielte (Vgl. Ranger 1968) und in dieser Perspektive kaum analysiert wurde, weil die besondere Form des dualen Kolonialismus, die die koloniale Durchdringung Ruandas annahm, sich dafür wohl auch nicht zu eignen schien. Ranger (1968: 451) zieht folgerichtig die Nyabingi – Bewegung (der Besessenheitskult, in dessen Kontext die Aufstandsbewegung in Nordruanda anzusiedeln ist, insofern sie von religiös - charismatischen Führern angeführt wurde, die entweder selbst ‚Medien’ für Nyabingi waren, oder zumindest in engem Kontakt mit dem Kult standen) nur selektiv und unter Vorbehalt heran und beschränkt seine Ausführungen weitgehend auf die im Kontext der Nyabingi-Bewegung erfolgte antikoloniale Mobilisierung im Bezirk Kigezi des Protektorats Uganda (‚British-Ruanda’), die im wesentlichen als gegen die Briten und gegen die von diesen als Agenten des Kolonialstaates eingesetzten Baganda gerichtet empfunden wurde, tatsächlich aber in einem allgemeineren Sinn anarchisch war. Ranger weist allerdings darauf hin, daß sowohl beim ‚Chimurenga’ – der Shona/Ndebele Revolte 1896-97 im heutigen Zimbabwe, als auch beim Maji-Maji Aufstand (1905) in Tanganyika sowie im Falle der Nyabingi-Bewegung der Widerstand nicht einfach gegen ‚den’ Kolonialismus richtete, sondern gegen eine Reihe von als illegitim wahrgenommenen Herrschaftsverhältnisse, d.h. auch gegen ‚Subimperialismen’ durch afrikanische Herrschaftsträger (Vgl. ebenda: 638f). 163 ‚Rückwärtsgewandt’ impliziert keine Abwertung, sondern weist lediglich auf den Ort der Legitimation bzw. Inspiration für die Revolten (nämlich in der Vergangenheit). Die Form der resultierenden Widerstandsformen und Widerstandsdiskurse wird durch die rückwärtsgewandte Orientierung der Akteure nicht betroffen – Innovation und Konservatismus schließen sich nicht aus.

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dementsprechend die Auswirkungen ihrer Präsenz auf die politischen Strukturen und

gesellschaftlichen Verhältnisse in Grenzen gehalten.

Unter Rwabugiri wurde der Norden relativ gewaltlos, unter Ausnützung der zahlreichen

Machtkämpfe zwischen einzelnen Lineage- und Klanführern, aber lediglich unvollständig in

den ruandesischen Herrschaftszusammenhang inkorporiert. Die ‚Inkorporation’ war somit

weniger ein Ergebnis überlegener Gewaltmittel (über die der Hof nicht verfügte) als ein

Resultat von Allianzen des Hofes mit lokalen Interessen. Zugleich hatte Rwabugiri eine

Reihe von königlichen Residenzen (ibwami) errichtet, die einerseits sichtbare

Manifestationen königlicher Macht und königlichen Herrschaftsanspruchs darstellten und

andererseits gleichzeitig einen ‚Kontrollapparat’ über die königlichen Vertreter vor Ort und

über die nördlichen Regionen als ganze etablierten. Die königliche Präsenz hatte – trotz der

relativen Begrenztheit der Kolonisation unter Rwabugiri im Vergleich zur späteren unter

Musinga – allerdings schon unter ersterem zu einer schleichenden Transformation von

Herrschaftsbeziehungen geführt. In den zentralnördlichen und nordöstlichen Regionen waren

die Tutsi-Kolonialisten aus Zentralruanda in der Regel mit ihrer jeweiligen Gefolgschaft - als

Mitglieder einer Armee (ingabo) oder Ubuhake – Klienten – gekommen, die ihre primäre

Machtbasis darstellten. Sie unterschieden sich darin – der Bedeutung, die der Patron-Klient-

Nexus für ihre Etablierung in der Region und für ihr politisches Handeln hatte – nicht

wesentlich von den regionalen Eliten, den Abakonde-Patronen; mit dem Unterschied, daß sie

qua Verbindung zum Hof eine wenn nicht höhere, so doch weitergehende Autorität

beanspruchen konnten, und sich ihre spezifischen Formen der Klientelpolitik in ein weiteres

Netz von Patron-/Klientenpolitik einfügte, das sie mit dem ruandesischen Zentrum verband.

In ihrem Zugang zu dem überregionalen Netz an Klientelbeziehungen lag dann auch die

primäre Motivation lokaler Gruppen, Klientelbeziehungen zu den Kolonisten zu suchen,

während sie zugleich auch als Alternative zu den lokalen etablierten ‚starken Männern’ per

se neue Klienten anzogen. Das ‚Anwerben’ von neuen regionalen Klienten durch die

Banyanduga-Tutsi bzw. durch ihre mitgebrachte Gefolgschaft brachte erstere freilich in

direkter Konkurrenz mit den regionalen Eliten um Gefolgschaft und folglich um Macht und

Einfluß. Unter Rwabugiri war ihre Zahl freilich gering, und Konflikte zwischen Kolonialisten

und lokalen Eliten bzw. den Kolonialisten und der lokalen Bevölkerung daher beschränkt.

Gleichzeitig gab es auch lokale Akteure, die sich den königlichen Faktor zunutze machten,

und ihre tatsächlichen oder lediglich beanspruchten Beziehungen zum Hof als Legitimation

für erweiterte Zugriffsrechte auf die Bevölkerung benutzten, deren Beanspruchung durch die

Konfiszierung von Vieh oder anderen Gütern artikuliert wurde bzw. umgekehrt, der

prädatorische Zugriff auf Güter mit der Beziehung zum Hof gerechtfertigt wurde. Eine Reihe

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von Personen konnte sich mit der so demonstrierten Autorität gegenüber anderen Klan- oder

Lineageführern aus der Position eines Primus inter Pares zu einem weitergehenden

Herrschaftsanspruch emanzipieren. Beide Phänomene – der Tutsikolonialismus und der

Opportunismus lokaler Führer – brachte ein mit der Orientierung auf den Hof bzw.

Zentralruanda als Fokus politischen Handelns zuvor nicht gekanntes bzw. kaum relevantes

hierarchisches Prinzip in die regionale Politik im Norden, das sich von dem segmentären

Charakter der ‚klanmäßigen’ Organisationsweise, das bislang dominiert hatte, deutlich

abhob. Hatte der Kolonisierungsprozeß unter Rwabugiri zunächst keine oder nur

geringfügige Auswirkungen auf die politischen Strukturen – der Vorherrschaft von

‚Klanorganisation’ und landbezogenen Klientelbeziehungen unter dem Ubukonde-System,

brachte er eine schleichende, sich zunehmend bemerkbar machende Transformation der

politischen Verhältnisse, insofern ihr Fokus sich von der regionalen Ebene in das Zentrum

des ruandapolitischen Rahmens verschob, was wiederum ein Resultat und gleichzeitig ein

sichtbares Anzeichen für den fortschreitenden Zentralisationsprozeß darstellte. Der

Nordwesten, wo Banyanduga Tutsi lediglich über eine semipermanente Anwesenheit

verfügten, Klientelbeziehungen zu lokalen Gruppen pflegten und für den Hof Tribut einhoben

– nicht unähnlich den Praktiken von Agenten des Hofs in Kinyaga in der zweiten Hälfte des

19.Jh. – , war von der Kolonisationsbewegung unter Rwabugiri zunächst aber kaum

betroffen.

Mit dem Tod Rwabugiris und der Einsetzung Musingas veränderte sich der Modus der

Inkorporation signifikant. Zunächst wurde der zentralistische Angriff auf die regionale

Autonomie gebremst, zum Teil rückgängig gemacht und der Status quo ante teilweise

wiederhergestellt. Zwei primäre Gründe waren für die Gegenbewegung verantwortlich:

nämlich die Konsequenzen des Machtwechsels im Zuge der Absetzung und Ermordung

Rutarindwas, durch die etablierte Machtnetzwerke unterminiert und obsolet wurden und der

eine Periode der Rekonfigurierung des politischen Raums und politischer Netzwerke folgte;

in einem Prozeß, in der der jugendliche Mwami nur einer von mehreren Akteuren darstellte.

Zudem kamen religiös-rituelle Gründe, die mit der elaborierten Ideologie der Monarchie zu

tun hatten, die - wenn auch nach dem Coup von Rucunshu, der ja selbst in einem deutlichen

Bruch mit rituell legitimierten Traditionen erfolgt war, trotzdem ernst genommen wurde oder

zumindest als Rechtfertigung für bestimmte Zustände tauglich war. Dem neuen Mwami

Musinga war als ‚Yuhi’ das Überschreiten des Nyaborongo–Flusses – der die zentralen

Provinzen der Monarchie in einem Halbkreis beschreibt, im Westen entspringt und im Süden

in den Akagera mündet – rituell verboten und für den Fall eines Bruchs dieses Tabus wurden

katastrophale Folgen für die Integrität Ruandas in der Form von Ernteausfällen,

Hungersnöten und anderen Kalamitäten erwartet. Die rituelle Vorschrift war ein Hauptgrund,

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weshalb Musinga – im Unterschied zu Rwabugiri – keine Residenzen (ibwami) im Norden

errichtete. Gleichzeitig wäre er– infolge der politischen Instabilität, dazu auch kaum

imstande gewesen. Damit verlor der königliche Faktor, wenn auch nicht vollständig, für über

eine Dekade seine unmittelbare Relevanz, was zu einer partiellen Restauration der

regionalen politischen Verhältnisse mit der Orientierung auf Klanpolitik und dem typischen

segmentären Charakter von Politik führte, die durch die Abwesenheit164 der Kolonisten aus

Nduga begünstigt und verstärkt wurde. Die zeitweiligen Versuche des Hofes bzw. Musingas

während dieser Periode, seine Autorität und seinen Herrschaftsanspruch durch die

Einsetzung von Vertrauenspersonen als Chiefs zu manifestieren und zu reetablieren hatten

wenig Erfolg und stieß auf Widerstand, dem der Hof und seine Agenten nicht viel

entgegenzusetzen hatten: Die Einsetzung eines Chiefs namens Biganda in Bushiru führte zu

einer größeren Revolte gegen den oktroyierten Herrschaftsträger. Seinem Nachfolger,

Mutambuka, erging es nicht besser. Er verließ ein paar Tage, nachdem er von Musinga mit

dem Amt betraut worden war und in denen er sich offensichtlich über das Ausmaß seiner

Machtlosigkeit und Gefährdung klar geworden war, Bushiru wieder. In Mulera wurde ein

Vertreter des Königs, Mucocori von lokalen Klanautoritäten auf ihren Beschluß hin aus der

Region verbannt, und, weil er nicht gehen wollte, gewaltsam vertrieben (Lemarchand

1966:606). Im Verhältnis zum Zentrum überwiegten wieder die vor der Kolonisation

vorherrschenden losen und hauptsächlich symbolischen Tributbeziehungen zum Hof, die in

ihrer Intensität von der Distanz zu ihm und seiner angeschlagenen Durchsetzungsfähigkeit

seiner Herrschaftsansprüche bestimmt waren (d’Hertefelt 1962: 70; Des Forges 1986: 311ff).

Mit der Niederschlagung der Aufstandsbewegung von 1904 und der dadurch erfolgten

Schwächung lokaler Führer im Epizentrum des Aufstandes, bei Rwaza in Mulera im

Nordwesten des Landes, setzte eine Rekolonisierung des Nordens ein, die gegenüber der

früheren Kolonisierungsbewegung unter Rwabugiri sowohl quantitativ als auch qualitativ

deutlich intensiveren Charakters war. Im Gegensatz zu Kolonisierungsbestrebungen unter

164 Eine Vorstellung über die prekäre Dominanz der nominellen und unter Rwabugiri eingesetzten Herrschaftsträger vermittelt der exemplarische Fall der Herrschaftsverhältnisse in der Provinz Mulera, wo die Missionsstation Rwaza situiert war. Die ‚Administration’ der Provinz teilten sich drei Chiefs, die alle ihren persönlichen Schwerpunkt in Nduga hatten. Kayondo, ein ‚Ega’ (dadurch ein Begünstigter des Coups) war umutware w’umuheto – „Chief des Bogens“ – Armeechief und verantwortlich damit für die Rekrutierung von Soldaten und Hirten für die Armee (ingabo) und – weitaus wichtiger in der spätvorkolonialen Periode – für die Requierung von Lebensmittel für die Armee, eine Praxis, die in der spätkolonialen Periode praktisch zu einer anderen Form von Tribut geworden war und gleichzeitig eine Klientelbeziehung mit dem Nutznießer des Tributs konstituierte (Vgl. oben p.53 und Weinstein 1977: 51). Kayondo war gleichzeitig der beliebteste unter den drei Chiefs. Die beiden anderen – ein gewisser Rwangewo und der äußerst einflußreiche Nshozamihigo und beide Nyinginya – waren Abanyabutaka – Landherren und gleichzeitig Abatwara b’ubutaka – Land Chiefs. Tatsächlich residierten sie nur beschränkt in der Region und überließen die eigentliche ‚Verwaltung’ in einer Form indirekter Herrschaft lokalen Klanführern. Diese sollten einmal im Jahr dem Mwami Tribut in der Form einer Kalebasse von Honig, eine Platte Bohnen und eine Hacke zollen – selbst wieder Ausdruck des vorwiegend symbolischen Charakters der Abgabe, während in der Praxis die Abstände zwischen den Tributerweisungen durchaus mehrere Jahre betragen konnten (Linden 1977: 36f).

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Rwabugiri waren die Kolonialisten in der Absenz königlicher Residenzen praktisch frei von

einer Kontrolle bzw. Beschränkung durch den Hof und waren insofern , obwohl nach wie vor

Agenten des Hofes, in einem viel stärkeren Ausmaß als unter Rwabugiri von der

Durchsetzung eigener Interessen motiviert und daraufhin orientiert.

Gleichzeitig verfügten sie gegenüber früher über eine deutlich verbesserte Kapazität ihre

Ansprüche, Herrschafts- und ökonomische Interessen durchzusetzen, die zum einen in der

gegenüber stark angewachsenen Zahl der Agenten dieser Kolonisierung – Banyanduga

Notable samt ihrer Klienten und Krieger – lag. Entscheidend für den Erfolg und das Ausmaß

der Kolonisierung war letztlich aber die strukturelle Position der zu primären

Herrschaftsträgern erkorenen Klasse von Chiefs im kolonialen System, in der die Befriedung

‚unbotmäßiger’ Regionen höchste Priorität zugesprochen wurde und für die – auch und eben

gerade zugunsten der Kolonisten – deutsche Schutztruppen freimütig eingesetzt wurden.

Die bereitwillige Unterstützung der Kolonialmacht beruhte ihrerseits auf der Kolonialdoktrin,

den Herrschaftsanspruch des Hofs über ganz Ruanda durchzusetzen, war aber – so wie

diese selbst – erheblich von der Dürftigkeit kolonialstaatlicher Ressourcen – der prekären

Hegemonie des Kolonialstaates - und der damit einhergehenden Bereitschaft, auf

einheimische Kollaborateure zurückzugreifen, bestimmt : Die Tutsi-Chiefs ‚wußten’, wer zu

bestrafen war, und Strafexpeditionen – wenn sie nicht gegen Agenten des Hofs bzw.

höhergestellten Tutsi-Chiefs gerichtet waren, was selten vorkam – fanden meist als

gemeinsame Aktionen deutscher Schutztruppen und sie begleitender, von Chiefs gestellte

Einheiten statt oder bedienten sich der Chiefs als Informanten in der Vorbereitung und

Ausführung der Strafaktionen. Wenn auch die primäre Motivation der deutschen Behörden,

sich der Banyanduga-Tutsi Kolonialisten zu bedienen, darin bestand, die Verwirklichung des

kolonialen Programms indirekter Herrschaft zu gewährleisten und so gesehen

instrumentellen Charakters war, dessen ultimatives Ziel über die Formfrage von Herrschaft,

also über das Prinzip indirekter Herrschaft hinausging, insofern die Stärkung der Macht des

Hofes zu einer stärkeren Zentralisierung Ruandas, zu einer homogeneren

Verwaltungsstruktur führen und letztlich das Land im kolonialen Sinn verwaltbar machen

sollte; so wurde das deutsche Vorgehen – das Kollaborieren mit den Chiefs und harsche

Vorgehen gegen Widerständler (vor allem im Norden) – von den Notablen als Zeichen

vorbehaltloser Unterstützung durch die Kolonialmacht interpretiert und in diesem Sinn für die

Verfolgung der eigenen Interessen nutzbar gemacht (Vgl. Kabagema 1993: 200ff; Des

Forges 1986: 316). Die ‚Niederschlagung’ der Aufstandsbewegung von 1904, bzw. die

gewalttätige Reaktion in der Form von Strafexpeditionen hatte regionale Interessen der

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regionalen Eliten des Nordens, den sogenannten ‚Reichen’ (Abakungu165), deutlich

geschwächt und damit entscheidend zur Wiederaufnahme der Rekolonisierung des Nordens

beigetragen.

Zudem konnten die Kolonialisten auf die zwar zögerliche, aber nichtsdestotrotz de facto

vorhandene Unterstützung der Missionare zählen. Sie waren dem Hof und seinen Agenten

beispielsweise bei der Einhebung der jährlich fälligen Ernteabgaben (ikoro) behilflich und

setzten nach der bitteren Erfahrung der Aufstandsbewegung von 1904, die den Missionaren

die Unmöglichkeit der ‚nichtparteilichen Parteilichkeit’ – das Intervenieren zugunsten von

Christen, Taufwerbern und anderen in ‚Schauris’ (Streitigkeiten mit Chiefs, [traditionelle]

Rechtsangelegenheiten) ohne in Konflikt mit Chiefs oder dem Hof zu kommen - deutlich

gezeigt hatte, alles daran ‚ihre Schäfchen’ zum Gehorsam und Ehrerbietung gegenüber der

in den Tutsis verkörperte Staatsgewalt zu ‚erziehen’ (Vgl. Linden 1977: 63; Rutayasire 1987:

40ff) „Le obéissance aux chefs“, schreibt ein Missionar, „est un devoir capital pour les

néophytes“ (P.Dufays au Supérieur Général, 24 avril 1907, zitiert nach Rutayasire 1987: 46).

Der bittere Ton der Reflexionen eines anderen läßt gleichzeitig den tiefen Zwiespalt erahnen,

in dem sich die Missionare infolge ihrer strukturellen Position im sich herausbildenden

System kolonialer Herrschaft – als de facto elementarer Teil des Kolonialstaates und seinen

Interessen untergeordnet – fanden: Soutenir les chefs Batutsi, c’est ce que le Résident nous a demandé dernièrement avec

insistance et comme un grand service à rendre à la colonie: pousser les Bahutu à se

soumettre à leur chefs et aider les chefs à étendre leur influence sur eux. (P. Delmas au

Supérieur Général, 15 décembre 1911, zitiert nach ebenda)

Exkurs: Kolonialer Staat und Hegemonie

Die Priorität kolonialer Staatsbildung in der ersten Phase der Kolonisierung Afrikas – der

Phase der Landnahme und Einrichtung rudimentärer Staatlichkeit – bestand darin, die

elementaren Imperative zur Sicherung der Überlebensfähigkeit und Reproduktion des

Staates zu befolgen und so den weiteren Aufbau des kolonialen Staates zu gewährleisten.

Essentiell war zunächst die Durchsetzung der Hegemonie des kolonialen Staates, ein

Imperativ, der zum einen in Anbetracht des durch den Scramble ausgelösten Wettlaufs um

Territorien in Afrika und der daraus resultierenden Notwendigkeit, die beanspruchten

Territorien intern und extern in ausreichende Kontrolle gebracht zu haben, seine Dringlichkeit

erhielt. Während die ersten Wellen der europäischen Expansion – im 16., 17. und frühen

18.Jh. sich über eine lange Periode erstreckten und die Zahl der kolonialen Akteure in einer

165 Die Verbreitung der Wortes *Mukungu in anderen Regionen des Großen Seengebietes als Bezeichnung für eine erbliche politische Position ist ein interessanter Hinweis auf die Wahrnehmung von Macht als sowohl politische als auch ökonomische Macht. (Vgl. dazu Schoenbrun 1998: 104ff)

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gegebenen Region stets beschränkt war – nie mehr als zwei oder drei Staaten

(Großbritannien, Spanien und Portugal waren etwa die wesentlichen Akteure in der

Aufteilung der riesigen Landmasse Amerikas, mit Frankreich und den Niederlanden (in der

Karibik) als ‚Nebendarsteller’), traten in Afrika in der kurzen Periode ab 1875-1900 sechs

europäische Staaten (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien in der Person seines

Regenten, Leopold II, sowie Deutschland und Portugal) in einen Wettlauf um die

prestigeträchtigsten und größten Anteile am afrikanischen Kontinent ein. Der normative

Ausfluß dieses Wettbewerbs war das Prinzip effektiven Besitzes (‚effective occupation’), sein

praktischer die schnelle Durchsetzung der kolonialstaatlichen Autonomie (Vgl. Young 1994:

278).

Zum anderen war die koloniale Hegemonie selbst wieder Voraussetzung aller anderer, der

Hegemonie nachgereihten Imperative und Funktionen eines modernen Staates. Die

Hegemonie des kolonialen Staates – die Anerkennung seines Herrschaftsanspruchs durch

die betroffenen Herrschaftssubjekte – war eine Vorbedingung für eine hinreichende

Autonomie seines Handelns und die Basis seiner Reproduktion, und die Fähigkeit des

Staates, seine ultimative Hegemonie durchzusetzen, korrelierte mit der Fähigkeit, diese

gegenüber Ansprüchen (und Beeinspruchung seines eigenen Herrschaftsanspruchs)

anderer kolonialer Akteure zu verteidigen. Dem Imperativ der Hegemonie des Staates

entspricht auf der Ebene der Attribute von Staatlichkeit das Prinzip der Souveränität in seiner

doppelten, nach außen und nach innen gerichteten Bedeutung (Vgl. Young 1994: 35ff). Die

Durchsetzung der Hegemonie des kolonialen Staates konnte praktisch nur über die

Durchsetzung eines spezifischen kolonialen Rahmens – seiner Grenzen – und spezifischer

Herrschaftsstrukturen –, gelingen, sozusagen als notwendiger materieller Ausdruck von

Herrschaft, wobei freimütig auf bestehende Strukturen zurückgegriffen wurde. Die Spezifität

von Ruanda bestand in der Adaptionsfähigkeit und Manipulierbarkeit der von den

Kolonialbehörden vorgefundenen Herrschaftsstrukturen für das koloniale Projekt, nicht in

der Kooption indigener Herrschaftsträger an sich. Das Tempo, mit der die Transformation

der kolonialen Besitzungen in ‚verwaltbare’ administrative Einheiten vonstatten gehen sollte,

war selbst wieder durch den geringen Grad an (hauptsächlich fiskalischer) Autonomie der

kolonialen Besitzungen gegenüber der Metropole bestimmt. In dem Maße, in dem die Kosten

für die Errichtung des kolonialen Staates auf die Bevölkerungen der Kolonien umgewälzt

werden, d.h. die Kolonie sich selbst tragen sollte, erhöhte sich die Notwendigkeit, die Kosten

von vornherein gering zu halten bzw., was damit einherging, möglichst schnell über

administrative Strukturen zu verfügen, durch die der koloniale Staat seine Ausgaben zugleich

decken und die Kosten für die Metropole beschränken konnte. Das Tempo der

Transformation von im wesentlichen auf Subsistenzwirtschaft basierenden Territorien in

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vergleichsweise teure Verwaltungen tragende Kolonien hebt die Kolonialisierung Afrikas

einmal mehr von der anderer Regionen ab, während das Ausmaß der Extraktion der

ländlichen Produktion und der Arbeitskraft der Bevölkerung an die Kolonialisierung

Lateinamerikas gemahnt.

Der Eifer, mit dem die deutschen Kolonialbehörden die nördlichen Regionen mit

Strafexpeditionen beschickten, versteht sich vor diesem Hintergrund und begründet sich in

der exponierten geopolitischen Lage des Nordens in dem zwischen Großbritannien, dem

Kongo-Freistaat bzw. Belgien und Deutschland umstrittenen Dreiländereck, dessen Grenzen

erst mit dem Abkommen von 1910 endgültig definiert wurden. Mit der Errichtung des Militär-

und Grenzposten Kissenyi (Gisenyi nach heutiger Schreibung) bekräftigte die deutsche

Kolonialverwaltung gleichzeitig den hohen Stellenwert, den der Norden als Grenzregion für

sie einnahm und machte ihn zu einem prioritären Ort kolonialstaatlichen Handelns (Vgl. Des

Forges 1986: 316). Die unsicheren Besitzverhältnisse (zwischen den drei europäischen

Mächten) der Region machten es um so dringlicher, die koloniale Hegemonie gerade dort

auch nach innen durchzusetzen, wo sie von außen bedroht schien. Die Durchsetzung der

kolonialen Hegemonie in Ruanda erfolgte dementsprechend nicht homogen – dies wäre

auch jenseits aller Möglichkeiten des kolonialen Apparats gewesen -, sondern differentiell

und gezielt: dort, wo der hegemoniale Anspruch gefährdet schien, von außen – gegenüber

dem Kongo-Freistaat bzw. Belgien im Südwesten Ruandas und im Nordwesten und

gegenüber Großbritannien im Norden – und/oder von innen, wie im Norden im allgemeinen.

5.3.2.2.2.2 Subimperialismus à la Ruanda: Ausbeutung und Herrschaft

Die (materielle) Attraktivität der nördlichen Regionen lag in dem relativen agrarischen

Reichtum speziell der nordwestlichen Gebiete – besonders der Regionen Bugoyi, Mulera

und Rukiga. Sie hatten wegen ihres verschobenen Regenzyklus eine wichtige Funktion für

die Nahrungsmittelversorgung während der Trockenzeiten anderer Regionen, speziell aber

Zentralruandas, eingenommen. Dies machte die nordwestlichen Gebiete zu so etwas wie die

‚Kornkammern’ Ruandas , eine Funktion, die sich in einer Vielzahl von (eher gut

institutionalisierten) Lebensmittelmärkten äußerte, auf denen in den Trockenperioden

benachbarter Regionen agrarische Güter – v.a. Bohnen und Erbsen gegen Vieh und anderes

aus Zentralruanda getauscht wurden. Daneben beherbergte der Norden eine Anzahl von

professionell organisierten permanenten und spezialisierten Märkten für Güter von jenseits

der die Kongo-Nil-Wasserscheide markierenden Vulkankette, wie etwa Tabak, Hacken oder

Armbänder (amatega) (Vgl. Lugan 1976: 350).

Die als Tribute und Freundschaftszahlungen kaschierte moderate Abschöpfung der reichen

landwirtschaftlichen Produktion des Nordens unter Rwabugiri, von der einige

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Kleinkönigreiche166 praktisch ausgenommen waren, deren Praxis im Allgemeinen eine große

Variation besaß und oft nur in der Theorie bestand, wich unter der Rekolonisierung nach

1904 unter Musinga einer direkteren Form von Ausbeutung, welche die Region zunehmend

ausnahmslos traf. Tributzahlungen aus Buberuka und Bumbogo, die in der Vergangenheit

irregulär und von lokalen Vertretern direkt dem Hof übergeben worden waren, wurden unter

Musinga von den zentralruandesischen Chiefs den Lineage- und ‚Klanvertretern’

eingesammelt, was gleichzeitig bedeutete, daß diese einen Teil derselben einbehielten und

in Kompensation des Abschöpfungsbetrages die Belastungen insgesamt häufig erhöht und

de facto in ‚geradlinige’ Abgaben gemäß den im Kerngebiet der ruandesischen Monarchie

üblichen Usancen transformiert wurden (Des Forges 1986: 315f).

Einige der notorischsten Chiefs im Norden kamen aus dem engeren Umkreis der Abega um

Kabare, den Bruder der Königinmutter Kanjogera, etwa Nshozamihigo167, Sohn Rwabugiris

und Chief in Bushiru oder dessen Vertreter, Ruhanga in Mulera sowie Rwakadigi, ein

Gefolgsmann Bushakus und Verwandter Kabares in Bugoyi. Zu der verstärkten Belastung

des Nordens mit Abgaben durch die Agenten des Hofs, kam die Belastung durch den

erhöhten Lebensmittelbedarf der infolge der Grenzfragen zwischen dem Kongo-Freistaat

bzw. Belgien, Großbritannien und Deutschland relativ häufigen Expeditionen explorativen

Charakters sowie gewöhnlicher Handelskarawanen, welcher meist mit einem gewissen Maß

an Zwang und unter Zuhilfenahme der lokalen Agenten des Hofes gedeckt wurde (Vgl.

Kabagema 1993: 200ff). Dazu kam die Belastung durch Strafexpeditionen der deutschen

Kolonialverwaltung, im Zuge derer einerseits in beträchtlichem Ausmaß Lebensmittel

requiriert, andererseits zumindest lokal im Rahmen bzw. als Konsequenz der Strafaktionen

Lebensmittelknappheiten produziert wurden. Die Errichtung der Hegemonie von

Banyanduga-Tutsi erfolgte schrittweise, in einem länger andauernden Prozeß zunehmender

Usurpation von Herrschaftsrechten und zunehmender ‚Entrechtung’ der von diesen

Herrschaftsrechten betroffenen Bevölkerungen. Zunächst begannen Notable aus dem

Zentrum – von der Form her ähnlich wie in der ersten Welle der Kolonisation unter

Rwabugiri, aber im Unterschied dazu, unter stärkerer Anwendung von Zwang – als ‚Richter’

in lokalen Streitigkeiten aufzutreten, die früher innerhalb von Klans oder Lineages geregelt

worden waren; ein Phänomen, das teilweise auf lokalen Konflikten aufbaute, wegen denen

sie sich als ‚Richter’ anbieten konnten, teilweise aber auch auf der autoritären Besetzung der

Schiedsfunktion beruhte. Der nächste Schritt bestand in der Einsetzung von Lineage Chiefs.

Die parallel dazu verlaufende Inbesitznahme von Land, auch wenn sie ihren Ausmaßen 166 Das betraf politische Einheiten wie etwa Buberuka und Bumbogo, die über die rituelle Funktion ihrer dynastischen Lineages als rituelle Spezialisten in die ‚Hofliturgie’ integriert waren und andere (z.b.Bushiru, Busigi), deren nominelle Unabhängigkeit aus anderen Gründen vom Hof mehr oder weniger respektiert worden war (Vgl. Des Forges 1987: 316). 167 Vgl. oben FN 164

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zunächst beschränkt blieb, war ein Anzeichen für das stärkere Gewicht der Herrschafts- und

Besitzansprüche der Kolonisten gegenüber der lokalen Bevölkerung, deren Besitz- und

Nutzrechte nicht mehr automatisch mehr oder weniger respektiert wurden, sondern die dafür

Tribut zu zahlen hatten. Gleichzeitig begannen die Chiefs, zunächst beschränkt auf die

Bevölkerung im unmittelbaren Umkreis des ‚feudalen Kerns’ ihrer Gehöfte Arbeitsdienste

einzufordern – ein weiteres Symptom für die schleichende Erosion der Land- und

Bodenrechte der eingesessenen Bevölkerung und zugleich – regional gesehen eine

Innovation, und vom Zentrum aus betrachtet, eine Adaption eines bewährten

Extraktionsmechenismus (uburetwa), für welche die allemal bevorzugte Alternative eine

Form von Abgabe war, die, als weniger erniedrigend empfunden, in einem

politikoökonomischen Sinn etwas sehr ähnliches darstellte: nämlich die partielle Aneignung

der Produktivität lokaler Bevölkerungen, sei es direkt durch Uburetwa, oder vermittelt über

die Aneignung eines gewissen Teils der landwirtschaftlichen Erträge.

Die Kolonialisierung des Nordens kann als ein Prozeß verstanden werden, der sich auf drei

unterschiedlichen, aber in der Praxis verschwimmenden Ebenen vollzog: (1) der Ebene des

Kolonialstaats; (2) der Ebenen des ‚Subimperiums’ – der ruandesischen Monarchie; und (3)

der Ebene des lokal wirksamen Konnex von Herrschaft und Besitzverhältnissen. Jeder

dieser Ebene entsprachen Akteure, die spezifisch auf einer Ebene verankert, gleichzeitig

aber mit den beiden anderen Ebenen strukturell verbunden waren. Am deutlichsten wird

dieses gegenseitige Interdependenzverhältnis am Beispiel individueller Banyanduga

Kolonisten, die einerseits die Autorität des Hofs repräsentierten, indem sie etwa die

jährlichen Tribute (ikoro) für ihn einhoben, gleichzeitig jedoch ihre eigenen Interessen

verfolgten und sich unabhängig vom Hof als Grundherren und Patrone etablierten. Letzteres

lag durchaus in der Logik der in der zweiten Hälfte des 19.Jh. dominant gewordenen

Herrschaftspraxis, für die Kontrolle über Land, Vieh und Leute (Arbeitskraft) zu einem

ständig an Bedeutung zunehmenden Bestandteil geworden war. Zum dritten waren sie

Werkzeuge gleichermaßen wie Manipulateure der deutschen auf der impliziten Doktrin und

der Überzeugung der Herrschaftsfähigkeit der ‚Tutsi’ fußenden Kolonialpolitik.

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Abbildung 9: Modell der Herrschaftsausübung in Nordruanda während der deutschen Periode

Hierarchie Herrschaftsinstrument Herrschaftsäußerung

Kolonialstaat Schutztruppen

(Bezirk/Residentur) Mwami (Symbol der Autorität

und ‚Transmitter’) Strafexpeditionen

Chiefs Extraktionssystem

Mission

Mwami Chiefs Extraktion, Jurisdiktion

traditionelle Armeen ‚Bestrafung’, Symbol.

deutsche Schutztruppen Bekräftigung von

Herrschaft

Notable (Chiefs) aus Nduga Chiefs(selbst)/Klienten

Mwami (Quelle der Legitimität) Extraktion,

Deutsche Schutztruppen Enteignung

Mission direkte (r) Zugriff/Befehlsgewalt/Verantwortung

gemäßigte(r) Zugriff Befehlsgewalt/Verantwortung

indirekte(r) Zugriff/Befehlsgewalt/Verantwortung

Exkurs: Kolonialer Staat und Zwangsarbeit

‚Uburetwa’ als formalisierte Verpflichtung von Landklienten an ihre Patrone war im Norden

weitgehend unbekannt. Ihre Einführung war damit eine Innovation, die um so schwerer wog,

als daß sie nicht nur die politische Machtlosigkeit und sozial niedrigere Stellung der

einheimischen Bevölkerung unabhängig von ihrer sozioökonomischen Potenz gegenüber

den Kolonisten bedeutete (auch wenn uburutwa, so wie im übrigen Ruanda, nur jene traf, die

sich nicht davon freikaufen konnten; Vgl. Vidal 1974: 54), sondern ein vom Kolonialstaat

gleichermaßen wie von der Mission geschätzter Mechanismus war, mit dem fehlende

monetäre (oder gleichwertige) Einkünfte lukriert werden konnten. Sowohl der Kolonialstaat168

selbst als auch die Missionare nutzten das Reservoir an nicht- oder nur minder

remunerierten Arbeitskraft. Für Arbeiten im Zusammenhang mit der Errichtung des Postens

Ruhengeri beispielsweise wurden Arbeiter eingesetzt, die von vier verschieden Chiefs aus

dem Bereich ihrer Jurisdiktion gestellt wurden. Ein einzelner Arbeiter versah für eine Periode

von einem Monat, ohne Remuneration und mit lediglich einem Tag arbeitsfrei seinen Dienst.

Beim Bau der Kirche in Rwaza arbeiteten zu den Höchstzeiten 800 Arbeiter täglich, von 168 Eine Verordnung, die die Verpflichtung und Remuneration für öffentliche Arbeiten in Deutsch-Ostafrika

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denen nur die regulären Kräfte, in der Regel ‚Spezialisten’ – Mauerer, Zimmerer etc. bezahlt

wurden, während der Rest – die Mehrzahl von Hilfsarbeitern - von Notablen als Geschenk für

militärische Hilfe oder auf Bitte der Missionare diesen zur Verfügung gestellt worden war. Für

die Errichtung der Residenturhauptstadt169 Kigali von 1908-1912/1913 wurden zahlreiche

Arbeiter für den Bau selbst und für den Transport (durch Träger) der Baumaterialien, etwa

Baumstämme170 benötigt. Zusätzlich wurden Pfade und Wege gebaut und renoviert. (Vgl.

Kabagema 1993: 137f und 175ff; Des Forges 1986: 317). Im kolonialstaatlichen Rahmen im

engeren Sinn kam dieses System von Arbeitskräfterekrutierung de facto einer Steuer auf die

Arbeitskraft der afrikanischen Bevölkerung gleich. Von einer Steuer unterschied es sich

lediglich darin, daß die verlangten Arbeitsdienste verschiedene Teile der Bevölkerung

äußerst unterschiedlich trafen, rechtlich kaum geregelt waren und nie in kolonialen Budgets

vermerkt wurden (Vgl. Young 1994: 131f).

5.3.2.2.2.3 Die Protagonisten (Symbolfiguren) der Aufstandsbewegung: Muhumusa, Basebya, Rukara und Ndungutse

Zwei der wesentlichen Symbolfiguren in den Aufstandsbewegungen im Norden, nämlich

Rukara (rwa Bishingwe; auch: Lukara lwa Bishingwe) und der Twa-Rebell/’Bandit’ Basebya

waren notorische Irredentisten und Dissidenten, Rukara zudem ein extrem reicher Mann. Die

beiden anderen, Muhumusa und Ndungutse kamen aus dem Umkreis der Nyabingi-

Bewegung. Daß erstere zu Symbolfiguren des Widerstands gegen koloniale Durchdringung

gleichermaßen wie gegen den Tutsi-Subimperialismus werden konnten, war ein historischer

Zufall – das Ergebnis einer spezifischen historischen Konjunktur und ihrer Interpretation, und

zu einem weitaus geringeren Grad das Ergebnis bewußt gesetzter Widerstandshandlungen.

Muhumusa

Muhumusa war lediglich eine von vielen ‚Priesterinnen’ Nyabingis,171 eine von vielen

charismatischen religiösen FührerInnen (die Mehrzahl davon weiblichen Geschlechts)172, die

über den religiös-rituellen Bereich hinaus – bzw. über religiös-rituell gewonnene Antworten

auf Fragen des Alltags (Unfruchtbarkeit, Krankheit, Kinderlosigkeit, Streit, usw.) als

politische FührerInnen auftraten und Gefolgschaft an sich binden konnten. Während der

regelte, wurde 1905 erlassen (Kabagema 1993: 176) 169 Die Planung sah vor: ein Wohnhaus für den Residenten mit Nebengelassen; 1 Haus mit zwei Europäerwohnungen; Nebengelassen und Schreibstube für den Polizeiwachtmeister; 1 Haus mit Kassenraum, Munitionsraum, Kammer und weiterer Europäerwohnung; 1 Hospitalhaus mit Poliklinik, Arzneimagazin, Operationsraum, Europäerkrankenstube, Postzimmer; 1 Haus mit Residenturmagazin und für Handwerkstuben; 1 Gefängnishaus mit Reittierstall; 29 Askarihäuser; 6 Bastionen, Torhaus mit Wache und eine Umfassungsmauer (Bindseil 1988: 113). 170 Der Transport eines Baumstammes benötigte ingesamt etwa 20 Mann: 10 Träger für den Baum selbst und 10 weitere als Ersatzträger und als Transporteure der Verpflegung (Kabagema 1993: 176). 171 Vgl. zu einer ausführlicheren Darstellung des Nyabingi-Kults FN 99. 172 entsprechend dem Maße, in dem ‚Geistesbesessenheit’ als weibliches Attribut interpretiert wurde und sexuell kodiert war.

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Ursprung der Nyabingi-Bewegung im 19.Jh. anzusiedeln ist und zwar in einer Zeit verstärkter

Integration der Regionen, in denen die Bewegung beheimatet war, in den ruandesischen

Herrschaftszusammenhang, bzw. zumindest des Versuches durch den ruandesischen Hof

(d.h.: Rwabugiri), sie in einem Tributverhältnis (oder anders artikulierten

Unterordnungsverhältnisses) zu Ruanda zu bringen, folgt daraus keineswegs, daß die

Bewegung und ihre Verbreitung in Nordruanda ausschließlich durch ihre Funktion (bzw.

Dysfunktion) innerhalb eines bzw. gegenüber einem wie auch immer definiertes politisches

System erklärt bzw. beschrieben werden können und auf seine Fähigkeit, als Vehikel für die

Artikulation politischer Inhalte (‚Unabhängigkeit’, Widerstand gegen den Tutsi-

Subimperialismus und europäischen Kolonialismus...) zu dienen, reduziert werden kann. Die

Priesterinnen fungierten zwar prinzipiell als alternative Machtfoki, eine spezifische Richtung

oder Verwendungsweise ihrer Macht war damit allerdings nicht präjudiziert. Ihr Verhältnis zu

den respektiven Kolonialmächten nahm dadurch (zumindest vorerst) nicht a priori einen

oppositionellen und konfliktiven Zug an, im Gegenteil. Deutsche Schutztruppen hinterließen

Vieh, das in Rahmen von Polizeiaktionen konfisziert worden war, gelegentlich auch bei

Nyabingi-Priesterinnen und Muhumusa, die herausragendeste Symbolfigur für die

Aufstandsbewegungen im Norden kooperierte bereitwillig mit den Offizieren der Britisch-

Belgischen Grenzkommission (Linden 1977: 82). Vielmehr als das natürliche Vehikel für die

Artikulation von Opposition und Widerstand gegen das ‚Zentrum’ zu sein, glichen die

Nyabingi-Medien und die Orte, an denen sie wirkten, in der Regel selbstgenügsamen

Zentren, die nur selten über den lokalen Kontext hinaus Gefolgschaft anziehen konnten und

eher in Konkurrenz zueinanderstanden, als daß sie gemeinsame Sache gegen die koloniale

(und subkoloniale) Durchdringung machten (Des Forges 1986: 312). Die Wirkungsweise

politischer Agitation (die ja nicht die Regel darstellte) von Nyabingi-Priesterinnen beschrieb

der Assistant District Commissioner von Kigezi, wo erstere insbesondere unmittelbar nach

dem ersten Weltkrieg erhebliche ‚Unruhe’ (in den Augen des A.D.C.s) verursachten, als „(..)

revolutionary in method and anarchic in effect“, wobei er in weiterer Folge den angeblichen

Anarchismus der ‚Sekte’ (wie er es nennt) relativiert und ihr eine, wenn auch ‚dumpfe’

Zielgerichtetheit zuspricht: Fanatism and terror are everywhere inculcated (...). The whole appeal is to fear and to lower

instincts, to the masses, Bahutu, against the classes, Batussi (...) The whole aspect of the

Nabingi is of a fanatic anarchic sect as opposed to the liberal and religious principles of the

indigenous Kubandwa cult. (Report by Captain J.E.T. Phillips. A.D.C. Kigezi, 31.7.1919 zitiert

nach Ranger 1968: 451f)

Seit der Jahrhundertwende und in Reaktion auf die ökologischen Krisen der 1890er und den

ersten Auswirkungen des zentralruandesischen Kolonialismus des Nordens häuften sich

allerdings die Fälle, in denen Nyabingi-Priesterinnen als politische Führungsgestalten

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auftraten.

Über die historische Person Muhumusa selbst existiert nur wenig gesichertes. Bekannt auch

als Nyiragahumuza und Muserekande, soll sie einer Tradition zufolge eine Frau Rwabugiris

gewesen sein und nach dem Coup von Rucunshu mit ihrem Sohn Biregeya in den Norden

geflüchtet sein, ein Gerücht, das von Muhumusa als Muserekande spricht und seit der

Inthronisation Musingas in Umlauf war (Kabagema 1993: 127; Honke 1990a: 124f). Möglich

ist (und angesichts der Bedeutung und Funktionsweise von Gerüchten – in denen nicht

selten mehrere Personen zu einer verschmolzen werden bzw. Beziehungen zwischen

mehreren Personenkreisen hergestellt werden, ähnlich übrigens, wie das auch zuweilen bei

der institutionalisierten und formalisierten Form historischer Überlieferung am ruandesischen

Hof der Fall ist, sehr wahrscheinlich), daß Muhumusa vor ihrem Auftreten als politische

Symbolfigur lediglich eine von vielen Priesterinnen war, möglicherweise aber, um ihre

Bedeutung und ihren Status zu erhöhen, beanspruchte, eine verwandtschaftliche Beziehung

zu Rwabugiri zu haben (so wie Ndungutse, von dem weiter unten die Rede sein wird und

der ebenfalls eine genealogische Beziehung zum ruandesischen Herrscherhaus für sich

beanspruchte). Erstmals trat sie (unter dem Namen Muserekande) 1898 als politische

Führungsgestalt hervor, als sich in den Regionen Mutara, Buriza und Ndorwa eine Rebellion

gegen die (unter Rwabugiri gekommenen) Vertreter des Hofs entzündete, die selbst wieder

in den Bemühungen lokaler Eliten gegründet war, die Rekonfigurierung des politischen

Raums nach dem Coup von Rucunshu für sich zu nutzen. Mumuhumusa173 war jedenfalls

den Kolonialbehörden bekannt – Hauptmann von Beringe hatte sie während seiner

Expedition 1901 getroffen. ‚Bekannt’ bzw. berüchtigt war sie auch am Hof. Im Kontext der

allgemeinen Schwäche der ruandesischen Monarchie und der angeschlagenen bzw. nicht

vorhandenen Legitimität Musingas in den Augen vieler Ruandesen sowie auch im

Zusammenhang mit den wiederaufgenommenen Versuchen, den Norden zu kolonisieren,

hatte Musinga die deutschen Kolonialbehörden wiederholt gebeten, Muhumusa zu

‚entfernen’ - offensichtlich ,ohne daß besondere Vorfälle, in die Muhumusa involviert sein

sollte, stattfanden; die verschiedenen Gerüchte, die über sie im Umlauf waren, genügten, um

den Hof Maßnahmen gegen sie ergreifen zu lassen (Louis 1963: 147). Mitte 1909 machte sie

eine deutsche Patrouille dingfest und brachte sie als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und

Störfaktor in der Beziehung des Hofs mit den nördlichen Regionen in die

Residenturhauptstadt Kigali. Sehr schnell verbreiteten sich Gerüchte, sie sei nach Kigali

gekommen, um Musinga zu stürzen, Kanjogera als Königinmutter abzulösen und ihren Sohn 173 Nach verschiedenen Überlieferungen wurde die eigentliche Muserekande bei den Kämpfen 1898 getötet. Muhumusa sei nach einigen Quellen eine Dienerin Muserekandes gewesen, nach anderen ein Nyabingi-Medium, das nach dem Tod Muserekandes deren Namen angenommen hat (Kabagema 1993: 128). A. Des Forges (1986: 318) datiert die Bezugnahme Muhumusas auf Muserekande und die Annahme deren Namens in die Zeit nach 1905.

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Biregeya als rechtmäßigen Herrscher einzusetzen. Selbst Chiefs in einflußreichen Positionen

machten ihr den Hof, um für eine eventuelle Machtübernahme gewappnet zu sein. Um dem

ein Ende zu bereiten, deportierte die Kolonialverwaltung sie nach Bukoba174, von wo sie zwei

Jahre später (im Juli 1907) nach Mpororo175 in das britische Protektorat Uganda floh und an

ihren ursprünglichen Wirkungsort, Rutobo, zurückkehrte (des Forges 1986: 320; Honke

1990a: 124f; Kabagema 1993: 129ff; Louis 1963: 147f). Dort angekommen, begann sie

wieder als Medium und politische Führungsgestalt aktiv zu werden und Kontakte mit

verschiedenen Persönlichkeiten (Basebya, Rukara u.a.) zu schließen, hauptsächlich, so

scheint es zumindest, um ihren eigenen, durch die Deportation angeschlagenen Status und

Einfluß zurückzugewinnen. Zwar nicht unmittelbar aufgrund ihres Wirkens, aber unter

wesentlicher Beteiligung ihrerseits, verstärkte sich die Agitation sowohl gegen Tutsi-Chiefs,

als auch gegen die Europäer in den betreffenden Regionen Nordruandas.176 Auf Bitten der

deutschen Kolonialbehörden und nachdem sie einige regionale Abakungu aus angesehenen

Familien des Abasigi-Klans, sowie ein bekanntes Ryangombe-Medium antagonisiert hatte,

wurde sie in einer gemeinsamen britisch-deutschen Aktion im September 1911 gefangen-

genommen und von den britischen Behörden nach Kampala deportiert (Linden 1977: 105).

Zu diesem Zeitpunkt stand Nordruanda bereits unmittelbar vor dem Aufstand, der im Januar

des folgenden Jahres (1912) mit voller Wucht ausbrach.

Rukara rwa Bishingwe

Rukara rwa Bishingwe war einer jener lokalen Führungsgestalten des Nordens, die aus der

Schwäche der Monarchie und dem Verebben der ersten Kolonisierungswelle, die mit dem

Coup von Rucunshu endete, Vorteil ziehen und ihre eigene Position innerhalb der lokalen

Machtkämpfe stärken konnte. Er selbst erwies sich – obwohl eine lokale Hutu177-

Führungsgestalt – als ein Machtpolitiker, dessen Art und Weise, sich ein Gefolge zu

schaffen und Rivalen gegeneinander auszuspielen, von dem vorherrschenden Modus

politischen Handelns im Zentrum – d.h. der Monarchie und der mit ihr verbundenen Eliten -,

174 In der Begründung an das kaiserliche Gouvernement in Dar es Salaam heißt es: „Ich (Hauptmann Gudowius, A.K.) hatte an Ort und Stelle festgestellt, daß die Klagen ihrer Nachbarn und des Musinga über Bedrückungen und Beunruhigungen durch die Muhumuza begründet waren und daß die durch ihre Parteinahme für die unbotmäßigen Watuale [i.e. Abatware, Chiefs] des Musinga und das Anwachsen ihres Ansehens und ihrer Macht eine dauernde Gefahr für den Landfrieden, und die Ruhe in der dortigen Gegen bildeten.“ (Schreiben von Gudowius vom 17.7.1911 an das Kaiserliche Gouvernement, zitiert nach Kabagema 1993: 130) 175 Name der Region, in der sich das vorkoloniale Königreich Mpororo befand. Das historische Mpororo wurde durch die koloniale Grenzziehung geteilt. 176 In British-Ndorwa (der Teil des ehemals unabhängigen und in Ruanda inkorporierten Königreiches Ndorwa, der auf der ugandesischen Seite (Bezirk Kigezi) der kolonialen Grenze zu liegen kam) führte die Errichtung eines Grenzpostens bei Kumba dazu, daß die Mehrzahl der bisher apolitischen Nyabingi-Medien mehr oder weniger offen gegen die Europäer zu mobilisieren begannen (Linden 1977: 104). 177 Rukara gab sich nach seiner Ernennung als Lineage-Chief als ‚Tutsi’ und wurde – auch aufgrund seiner Physiologie (d.h. seine Konformität mit dem am Hof vorherrschenden Schönheitsideal, das in gewisser Weise den Ursprung der modernen Stereotype bezüglich des Körperbaus von Hutu respektive Tutsi darstellt) – auch als solcher wahrgenommen (Vgl. dazu Kabagema 1993: 203; Servaes 1990: 110)

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für das eine brutale Konkurrenzlogik kennzeichnend war, kaum unterschied. Sein Vater

(Bishingwe) war von Rwabugiri zu seinem direkten ‚Vasallen’ (umugaragu) gemacht worden.

Damit war dieser (und sein Sohn, Rukara, der diese Position von seinem Vater nach dessen

Tod178 erbte) nicht von irgendwelchen Vertretern des Hofes abhängig, sondern hatte das

Privileg, seine Angelegenheiten direkt mit dem Mwami zu regeln. Zugleich waren sowohl der

Vater als auch der Sohn dadurch in ihrer Position als Lineage-Älteste gestärkt worden, wobei

Rukaras Position nicht unbestritten blieb. Rukara gelang es allerdings, sich über die

Belehnung/ Verpachtung von Land eine Gefolgschaft außerhalb des eigenen

Lineageverbands179 zu schaffen. Damit sicherte er sich eine Position von Macht und Einfluß

innerhalb der Region und hatte damit gleichzeitig einen größeren Spielraum gegenüber dem

Hof und konnte sich so in weiterer Folge gegen Konkurrenten innerhalb des eigenen

Lineageverbandes weitgehend durchsetzen (Servaes 1990: 110).

Während des Jahres 1907 war er in Auseinandersetzungen mit ‚Vertretern’ des Hofes

(Ruhanga und Ruzirampuhwe) in Mulera um die Kontrolle dieser Region verstrickt und

entging nur knapp seiner Ermordung am Hof in Nyanza180. Ein Jahr später war griff er ein

Tutsi-Mitglied einer deutschen Expedition an, was die deutsche Kolonialmacht (nicht zum

ersten Mal) an eine Strafexpedition denken ließ (Linden 1977: 82 und 92, EN 82) In den

Augen der Kolonialmacht wie der Missionare war Rukara allerdings weniger eine legitime

regionale Führungsgestalt, denn ein Rebell und Bandit – und gehörte für sie damit in die

Klasse von unberechenbaren und außerhalb der Kontrolle durch den Hof (und damit für den

Kolonialstaat) stehenden Warlords/ Banditen, die den Norden Ruandas gegenüber den

geordneten Verhältnissen in Zentralruanda auszeichneten. Seine Beziehungen zu den

Europäern – Missionare und Kolonialbehörden – waren dementsprechend von Konflikten

geprägt.

Während seiner Inhaftierung am Hof in Nyanza hatte ein Konkurrent innerhalb der Abarashi

die Position Rukaras als Lineage-Chief zu usurpieren versucht. In dem resultierenden

Konflikt, der Anfang 1910 eskalierte, als dieser und ein weiterer Konkurrent mit über 600

Stück Vieh und einer großen Schar an Gefolgschaft sich ‚unabhängig’ machten, wurden die

178 Bishingwe wurde von einem Mitglied einer der zahlreichen Grenzkommissionen getötet. Daß ein derartiger Vorfall zumindest einen Anknüpfungspunkt für antieuropäische Agitation – die einen wesentlichen Zug der Aufstandsbewegung von 1912 darstellte – bot, erscheint evident. Rukara soll sich jedenfalls mehrmals einschlägig zur Ermordung seines Vaters geäußert und Rache geschworen haben (Vgl. Kabagema 1993: 206). 179 Nach Schätzungen Jan Czekanowskis umfaßte der Lineageverband der Abarashi zum Zeitpunkt seiner Forschungen (1907/8) etwa 6.000-8.000 Personen. (Czekanowski op.cit. p.247 zitiert nach Kabagema 1993: 205). 180 Offensichtlich auf Betreiben von Kanjogera. Musinga scheint weniger am Tod, noch an der Schwächung Rukaras gelegen zu sein (Kabagema 1993: 208, FN50). Die Aufteilung des Nordens unter den zentralen Chiefs, insbesondere der Reichen Regionen Mulera und Bugoyi, war die Quelle zahlreicher Konflikte unter diesen sowie von Spannungen im engeren Kreis des Hofs an sich (Vgl. Linden 1977: 82).

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Missionare von den Streitparteien sowie von Musinga um Vermittlung gebeten. Während der

Vermittlungsversuch, der Anfang April unter Beisein des Missionars Pater Loupias und eines

Repräsentanten des Hofes stattfand, in der Sache selbst erfolgreich war, kam es bei der

Diskussion um einen Rukara angelasteten Viehdiebstahl181 zu einem Streit, in dessen Folge

der vermittelnde Missionar, Pater Loupias von einem Anhänger Rukaras getötet wurde. Die

deutschen Kolonialbehörden – obwohl sie dem Pater eine erhebliche Mitschuld an seinem

gewaltsamen Tod gaben - reagierten mit einer präzedenzlosen Vergeltungsaktion, bei der

zahlreiche Hütten und Felder niedergebrannt und Höhlen, in denen sich ganze Lineages, vor

allem aber Frauen und Kinder, zurückgezogen hatten, ausgeräuchert wurden (Des Forges

1986: 319; Kabagema 1993: 209f). Rukara konnte sich allerdings der Vergeltung entziehen

und floh zunächst in den Kongo und später nach Bufumbira (District Kigezi, Protektorat

Uganda), von wo er sich später der Aufstandsbewegung um Ndungutse anschloß. Die

Ermordung des Pater Loupias jedenfalls wurde in der Region (und darüber hinaus – Rukara

erlang bald eine überregionale Reputation für den Tod Loupias, der ihm zugerechnet wurde,

auch wenn er den Mord nicht selbst begangen hatte) als Widerstandshandlung gelesen, als

deren Objekt Europäer und der Hof gleichermaßen galten. Nach kurzer Zeit kehrte er nach

Mulera zurück. Die Tatsache, daß er den Strafaktionen der Kolonialbehörden entgangen

war, brachte ihm zusätzliche Reputation und zusätzliche Gefolgschaft. Selbst der Hof, der

vor allem an dem Aspekt interessiert war, daß Rukara sich erfolgreich gegen den

Kolonialstaat wenden konnte (in der Form der Mission, die als ein Arm des Kolonialstaates

gesehen wurde) ließ ihm Vieh als Auszeichnung für Tapferkeit im Kampf zukommen (Des

Froges 1986: 319).

Basebya

Basebya war - ähnlich wie Rukara - eine legendäre Outlaw-Gestalt. Während letzterer

allerdings dieses Attribut vor allem in den Augen der Mission, des Kolonialstaates und

zuweilen auch in den Augen des Hofes und folglich innerhalb eines sehr spezifischen

politischen Kontexts innehatte, genoß Basebya die Reputation auf einem breiteren Niveau.

Dazu trug sicherlich bei, daß Basebya als Twa Ordnungsvorstellungen in einem viel weiteren

Sinn transzendierte als Rukara, und zudem ein Twa aus der Region Buberuka war. Die

Stereotype bezüglich der Batwa und ihr Status im allgemeinen setzte diese in einen

Gegensatz zur Zivilisation, die durch den Hof verkörpert wurde, aber auch zur Zivilisation in

einem allgemeinen Sinn. Im Falle der Batwa aus Buberuka wurde dieser Gegensatz durch

181 Die Affäre von 1907 hatte sich ebenfalls um Viehdiebstahl gedreht, der vor dem Hintergrund eines längeren Streits zwischen den Abarashi in der Person Bishingwes, Rukaras Vater, und nach dessen Tod, Rukara selbst einerseits und dem lokalen Chief und Vertreter des Hofes, Ruhanga andererseits zu sehen ist. Bezeichnend für die Dynamik von Gefolgschaftsprozessen ist die Geschwindigkeit, mit der aus persönlichen bzw. semi-privaten Disputen kollektive Angelegenheiten wurden, die sich zwischen der Gefolgschaft und den Verwandten Rukaras einerseits und den Klienten/ Verwandten des Chiefs, Ruhanga, andererseits abspielten.

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ihr Habitat (eine Sumpfgegend) noch akzentuiert. Das Modell der Stereotypisierung folgte

dabei einem bekannten rassistischen Schema, nämlich der Entgegensetzung von Natur

(Wald, Sumpf, wilde Tiere, Promiskuität usw.) mit Zivilisation (Ackerland, Kultur, Nutztiere

usf.). Nichtsdestotrotz war Basebya tatsächlich kein Außenseiter innerhalb der politischen

Arena, die durch die ruandesische Monarchie konstituiert wurde, sondern verfügte als Klient

des zentralruandesischen Chiefs Rwidegembya über exzellente Verbindungen zum Hof

(Bourgeois 1957: 176; Dorsey 1994: 181; Kabagema 1993: 212ff). Allerdings setzte er sich

mehr oder weniger bewußt in Ungnade des Hofs, indem er – um 1900 – verweigerte, dem

Mwami Tribut zu zollen und Dissidenten aus der engeren königlichen Familie Unterschlupf

und Schutz gewährte. 1905 versuchte Musinga erstmals seiner habhaft zu werden, was den

Kriegern Musingas aber ebenso mißlang, wie einer deutsche Strafexpedition, die auf

Betreiben Kanjogeras und Musingas, mit dem Ziel, Basebya zu inhaftieren, 1909

durchgeführt wurde (Des Forges 1987: 319; Dorsey 1994: 181f).

Ndungutse

Ähnlich Muhumusa war Ndungutse eine charismatische Führungspersönlichkeit, die

gleichermaßen als ein Ergebnis einer spezifischen historischen Konjunktur wie persönlicher

Führungs- und Symbolqualitäten zu sehen ist. Ebenso wie im Falle Muhumusas, ist wenig

über die Person Ndungutse bekannt. Wahrscheinlich ein Tutsi und ein Fremder in

Nordruanda, stand er – in nicht geklärter – Verbindung zu Muhumusa und zur Nyabingi-

Bewegung. Schon 1907 kursierten Gerüchte, Ndungutse würde Musinga stürzen (Bourgeois

1957: 175). Bereits während der Deportation Muhumusas in Bukoba begann Ndungutse,

politisch aktiv zu werden und ließ sich für einige Zeit bei Basebya nieder. Nach der (zweiten

und endgültigen) Deportation Muhumusas nach Kampala, beanspruchte Ndungutse, ihr

Nachfolger zu sein und reklamierte für sich die Führung der 1911 entstandenen

Aufstandsbewegung. Ndungutse spielte bewußt mit der fehlenden Legitimität Musingas182,

umgab sich mit königlichen Insignien, rasierte sich gemäß der Hofetikette den Kopf,

organisierte sich Musiker aus den traditionellen Musiker-Lineages des ruandesischen Hofes,

stand in Kontakt zu bekannten Regenmachern und ließ sich als Mwami titulieren. Dazu

paßte auch, daß er als Sohn Rutarindwas und Muserekandes (i.e.: die Person, die

Muhumusa zu sein beanspruchte) angesehen wurde – ein Gerücht, das zwar nicht von ihm

stammte, dem er aber auch nicht entgegentrat. Andere sahen in ihm eine Art Erlöserfigur,

der die Monarchie wieder ‚heilen’ würde, wieder andere als ein Bote für die Wiederkunft

Nyabingis (Des Forges 1986: 322ff; Kabagema 1993: 214ff; Linden 1977: 106f). Im Jänner

1912 begann er von seiner Niederlassung in Butaro – östlich des Sumpfgebietes, in dem

Basebya lebte – aus nach Süden vorzurücken, mit dem dezidierten Ziel, Europäer wie 182 Seine Herrschaft wurde häufig mit ‚ Cyiimyamaboko’ – ‘Es ist Gewalt, die regiert’ umschrieben (Des Forges

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ungeliebte Tutsi-Chiefs zu vertreiben. Basebya war von Anfang an sein wichtigster

Verbündeter und vermittelte ihm Kontakte zu zahlreichen lokalen Führungsgestalten und

Nyabingi-Medien.

Im Laufe des Vormarsches und nach einer Serie von Erfolgen fanden sich unter seiner

Gefolgschaft eine Reihe von lokalen Notablen – inklusive einiger zentralruandesischen

Chiefs. Ndungutse kam dabei zugute, daß er als Fremder kaum über keine Netzwerke, d.h.

weder über ‚Freunde’, Günstlinge noch über Feinde verfügte. Unterstützt wurde er insgesamt

von breiten Teilen der Bevölkerung – die meisten (aus demographischen Gründen) davon

Hutu. Aber auch ein großer Teil der vereinzelten seminomadisierenden Rinderzüchter der

Region, welche die Expansion des ruandesischen Staates ähnlich wie die übrige ‚Bakiga’-

Bevölkerung183 als Beschränkung ihrer traditionellen Autonomie empfanden. Noch im Jänner

1912 nahm er Kontakt mit Rukara – der allerdings die Rebellion auf die Vertreibung der

Europäer beschränken wollte. Wie ambivalent die Rebellion als ganze und Ndungutse im

Speziellen zu sehen ist, zeigt sich daran, daß Ndungutse einerseits als Antikolonialist

gesehen wurde, der die Europäer vertreiben würde (so etwa in Bugoyi), andererseits bewußt

den Kontakt zu Europäern (in der Form der Missionare von Rulindo) suchte, in der Hoffnung,

europäische Unterstützung erlangen zu können. Der Resident ad interim, Hauptmann

Gudowius zögerte dann auch zunächst, nicht zuletzt wegen der widersprüchlichen Ziele der

Rebellion, gegen sie vorzugehen und erbat ausdrücklich Instruktionen aus Dar es Salaam.

Inzwischen versuchte Ndungutse mit der Auslieferung Rukaras eine Polizeiaktion

abzuwenden, die allerdings Mitte April 1912 mit voller Wucht materialisierte. Bei der

Erstürmung des Lagers Ndungutses wurde dieser von Gudowius erschossen – was nicht

verhindern konnte, daß zahlreiche Gerüchte über eine Flucht Ndungutse und seine baldige

Rückkehr zu kursieren begannen. Basebya und Rukara wurden im Mai 1912 standrechtlich

hingerichtet und die Region der Rekolonisierung durch zentralruandesische Chiefs und ihre

Gefolgschaft geöffnet (Des Forges 1986: 322ff; Kabagema 1993: 216ff). Der Chronist der

Missionstation Rwaza beschreibt letztere so: Die Batutsi massakrieren, ohne Gnade; die Hälfte der Bevölkerung (....) wird vernichtet

werden. Gruppen von Frauen werden weggeführt und werden die Beute einiger großer Chiefs

werden. (Diaire de Rwaza, 3.Mai 1912, m.Ü. zitiert nach Des Forges 1986: 325f).

Die Befriedung der Region hielt allerdings nicht lange an. Während des ersten Weltkrieges

wurden eine Reihe von zentralen Chiefs wieder vertrieben und wurden, mit belgischer Hilfe,

erst nach dem Ende des Krieges, 1919, in einer Art Gegenbewegung wieder eingesetzt. 1986: 322). 183 Eine geläufige Kollektivbezeichnung für die Bevölkerung des Nordens Ruanda sowie angrenzender Gebiete auf dem Boden Ugandas, welche die Differenz diese so gefaßten Bevölkerungen gegenüber den eigentlichen

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5.3.2.2.2.4 Herrschaft, Revolte und kollektive Identität in Nordruanda

Die verschiedenen Unruhebewegungen, die, wenn auch nicht völlig auf die nördliche

Peripherie Ruandas beschränkte, jeweils ihr Epizentrum in bzw. die größten Aus- und

Nachwirkungen auf eben diese Region hatte, sind hier so ausführlich dargestellt worden, weil

sie die komplexe Dynamik, die hinter diesen Revolten stand sowie die Heterogenität der

Bewegungen, von denen die Initiative zu Aufstand bzw. Widerstand und Revolte ausgingen,

eindrücklich belegen. Teilweise gegen den Tutsi-Kolonialismus gerichtet, deren Träger Tutsi

aus den zentralen Regionen waren, verhinderte dies nicht, daß bisweilen – etwa 1904 der

Hof selbst Aufständische unterstützte oder zumindest eine ambivalente Haltung gegenüber

den Aufständischen an den Tag legte. Gleiches wie über die Ambivalenz der

Gegenübersetzung von Zentrum (= Hof) und Peripherie, ist über partikulare Interessen

einzelner Akteure der Aufstandsbewegungen zu sagen, was so glaube ich, klar aus

Kurzdarstellungen der vier Protagonisten im Umkreis der Ndungutse-Rebellion hervorgeht.

Wesentlich für den Erfolg letzterer, so scheint mir, war gerade diese Ambivalenz, die es

erlaubte, eine breite Palette von partikularen Interessen zumindest für einen kurzen Moment

innerhalb einer Bewegung zu artikulieren. In dem Sinn war die hinter der Ndungutse

Rebellion stehende Bewegung gleichzeitig antieuropäisch, anti-‚Tutsi’, millenniaristisch und

legitimistisch sowie sie Elemente einer sozialen Bewegung in sich trug. Nicht zuletzt waren

einige der Akteure – etwa Rukara – relativ stark von persönlichen Gründe (vergangene

Konflikte mit Europäern bei letzterem) motiviert.

Eindrücklich zeigt sich auch die Bedeutung von Randfiguren der Gesellschaft – Basebya,

Ndungutse oder auch die charismatische Führungsgestalt Muhumusa – als Katalysatoren

politischen Handelns (Vgl. Des Forges 1986: 326f). In ihrer Botschaft beinhaltete die

Rebellion embryonale progressive Elemente – in dem Sinn, als daß sie eine völlig neuartige

Handlungsarena auf faktisch regionaler, aber potentiell überregionaler Basis schuf und

bestimmte Elemente einer popularen Bewegung annahm -, war aber von ihrem

Grundcharakter her konservativ, indem sie in erster Linie auf die Wiederherstellung einer als

verletzt betrachteten legitimen Ordnung gerichtet war. Die Vorstellungen legitimer Ordnung,

die in der Aufstandsbewegung artikuliert wurden, waren de facto nichts anderes als ein

Spiegelbild der in der ruandesischen Monarchie verkörperten Ordnungsvorstellungen.

Dementsprechend verwundert es nicht, daß die ‚befreiten Gebiete’ nach ruandesischem

Vorbild in einer perfekten Imitation gängiger ruandesischer Herrschaftsstrukturen organisiert

waren (ebenda: 322). Im engeren Sinn handelte es sich bei der Aufstandsbewegung

eigentlich keineswegs um eine Bewegung, sondern um ein Konglomerat von partikularen

Bewegungen mit je verschiedenen partikularen Interessen, die freilich in der Allianz zwischen

Banyarwanda Zentralruandas artikuliert und zudem so etwas wie ‚wilde Bergbevölkerung’ transportiert.

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Ndungutse, Basebya und Rukira eine, wenn auch schwache, organisatorische und jedenfalls

symbolische Einheit erlangten. Es verwundert daher auch nicht, daß der Aufstand für

verschiedene Gruppen eine verschiedene Bedeutung annahm. Tatsächlich ist die inhaltliche

Entleerung der zentralen Einheitsattribute von Kollektiven jeder Art, also auch politischen

Bewegungen, folgt man Ernesto Laclau (1996; 1999), ein universeller Prozeß, der auf die

zwei fundamentalen und einander widersprüchlichen Logiken zurückzuführen ist, die bei der

Konstitution von Kollektiven am Werk sind, nämlich die Differenzlogik einerseits – also die

Tatsache daß eine Bewegung insgesamt je partikulare, voneinander verschiedene Ziele und

Interessen verfolgt werden – und die Äquivalenzlogik andererseits, d.h. die Äquivalenz der je

partikularen Inhalte hinsichtlich eines gemeinsamen Außen. In der Differenz der einzelnen

Elemente, die eine Bewegung ausmachen, liegt eine potentielle Sprengkraft, welche die

Äquivalenz zwischen den einzelnen Elementen der Äquivalenzkette wieder sprengen kann.

Umgekehrt hebt die Äquivalenzrelation die Differenz der einzelnen Elemente nie auf, führt

aber notwendigerweise zu einer gewissen Entleerung ihrer spezifischen Bedeutungen.

Abbildung 10: Rebellion und Kollektivität

Elitenkonkurrenz = Abgaben an Chiefs = Landknappheit = Arbeitskräftebedarf = Xenophobie = ...X....= (Abakonde) (ärmere Bauern) (ärmere Bauern) der Mission und des Kolonial- staates (ärmere Bauern) = ... Äquivalenzrelation <S> ...Symbol der Einheit der Bewegung (partikulare Elemente, die für die Äquivalenzkette stehen) <X>...Ausschlußelement Lies: In der Ndungutse Rebellion war die Einheit der Bewegung im wesentlichen eine symbolische, die dadurch erreicht wurde, daß partikulare Forderungen/ Interessen als äquivalent zu einander empfunden wurden. Wesentlich für die Konstitution der Bewegung war eine historische Konjunktur, die es erlaubte, sich gegen ein antagonistisches Element (als historische Akteure: Banyanduga-Tutsi und Europäer) zu wenden, das selbst so breit definiert war, um verschiedene Akzente (Antikolonialismus, Legitimismus etc.) inkludieren zu können, aber gleichzeitig konkret genug war, um eine gewisse Mobilisierung für ein die partikularen Forderungen transzendierendes Ziel zu erlauben.

<S> Ndungutse, Rukara, Muhumusa, Basebya

<X> Banyanduga-Tutsi Europäer

partikulare

Fd

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Ähnlich wie bei der Expansion des ruandesischen Staates nach Westen etwa 200 Jahre

früher184 hatte die Inkorporation des Nordens in Ruanda und insbesondere ihr besonderer

Modus (mit Gewalt anstatt einer friedlichen Integration und sukzessive Assimilation

regionaler Eliten) einen entscheidenden Effekt auf die Symbolisierung sozialer Distanz, mit

anderen Worten: auf das Verhältnis von Peripherie und Zentrum, wie es sich einerseits aus

Sicht des Hofes, und andererseits aus Sicht der betroffenen Bevölkerungen darstellte. In der

ungleichen Interaktion zwischen Kolonisatoren und der Bevölkerung nahmen die Termini

‚Hutu’ und ‚Tutsi’ eine spezifische Konnotation an, nicht unähnlich wiederum mit den

Bedeutungsverschiebungen, die sich im Rahmen der ersten Expansion Ruandas ergeben

hatten, aber in einer gewissen Weise in einem allgemeineren Sinn, da die

Verwendungsweise der Ethnonyme gleichermaßen die hauptsächliche Okkupation der

jeweiligen Gruppen – Viehbesitzer im Falle der Kolonisatoren und Ackerbauern im Falle der

überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung des Nordens, als auch die Nähe zum politischen

Zentrum, und folglich das Prinzip politischer Asymmetrie zu kennzeichnen begann.

Im Unterschied zu früheren Expansionsphasen war der Rahmen, innerhalb dessen sich die

Expansion abspielte, mit den kolonialen Grenzen fixiert. Die kolonialstaatliche Präsenz war

auch ein wesentlicher Faktor, der die Expansion überhaupt ermöglicht hatte, während

zugleich die Kolonialverwaltung diese massiv betrieb. Die Schwäche des Kolonialstaates

erlaubte allerdings nicht, Kontrolle über die Art und Weise der Herrschaftserstreckung

auszuüben und konnte so die Expansion lediglich motivieren, aber umgekehrt ihr keine

Beschränkungen auferlegen. Jedenfalls akzentuierte der Modus der Inkorporation die

Distanz zwischen Peripherie und Zentrum und die Distanz zwischen der Machtelite und der

Bevölkerung, die keinen oder nur einen beschränkten Zugang zum politischen Raum hatte.

Im Norden jedenfalls war die Bevölkerung nach der Niederschlagung des Aufstandes 1912

de facto politisch entmündigt und fand sich an der Peripherie des politischen Raumes

wieder. Die politische Marginalisierung der Bevölkerung, die in einem weniger

verallgemeinerten Ausmaß auch eine ökonomische und soziale Marginalisierung mit sich

brachte, traf den Norden Ruandas mit seiner langen Tradition der Autonomie gegenüber

Ruanda und andere vergleichbare Königtümer (Norwa, Mpororo) besonders stark. In dem

Maße wie dies zum Mittelpunkt der Aufstandsbewegung gemacht wurde, artikulierte sich

dadurch auch so etwas wie eine regionale kollektive Identität, als deren Gegensatz und

Element des Ausschlusses, um mit Ernesto Laclau zu sprechen, die Zentralmacht bzw., in

einem viel stärken Maße noch, die Agenten des Hofes – und die Europäer, also Missionare

und Kolonialbehörden fungierten. In der im Zuge der Expansion der zentralen Monarchie

sowie der Niederschlagung von Aufstandsbewegungen im Norden geschaffenen 184 Siehe zu einer Diskussion des Zusammenhangs von Expansion und interner Statusdifferenzierung im

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Herrschaftsarchitektur waren Elemente einer Opposition zwischen Herrschern und

Beherrschten etabliert worden, die in gewisser Weise mit der sozialen Stratifikation

korrelierten und so etwas wie eine embryonale politische Kollektivität repräsentierten, die

jedenfalls in späterer Zeit mit dem Gegensatz zwischen Hutu und Tutsi artikuliert werden

konnten. Daß der Gegensatz zwischen Peripherie und Zentrum vorerst nicht oder nur in

ephemerer Weise so artikuliert worden ist, ist in sich selbst signifikant und zeugt von der

Ambiguität der politischen Kämpfe dieser Periode, die nicht leicht auf einen symbolischen

Nenner zu bringen waren. Gleichzeitig fällt auf, daß die wesentlichen Akteure der

Aufstandsbewegung weder unbedingt an einer hegemonialen Deutung der Rebellion

interessiert waren, noch ihr eine konsistente Bedeutung zusprachen. In der Absenz einer

solchen symbolischen Operation wurde die Deutung des Hofes, es handle sich um den

illegitimen Aufstand von Untertanen des Mwami und die Niederschlagung des Aufstands

bedeute lediglich die Wiedererrichtung der monarchischen Ordnung und der

Wiedereinsetzung verläßlicher Agenten des Hofes jedenfalls bei dem wesentlichen Teil der

europäischen Akteure – allen voran die Kolonialbeamten und beim dominanten Teil der

Missionare – bereitwillig aufgenommen.

5.3.2.3 Die Errichtung des Kolonialstaates (2) – Versuche der Institutionalisierung und Reform

Mit der Einführung des Residentursystems 1906 und der Errichtung der eingeständigen

Residentur Ruanda ein Jahr später war der erste Schritt der Institutionalisierung einer

systematischen Kolonialverwaltung getan. Allerdings gelang es der Kolonialverwaltung bis

1914 – als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs alle Pläne der Behörden zu Makulatur

werden ließ – lediglich einige Ansätze institutioneller Reform zu implementieren. Die daraus

resultierende institutionelle Schwäche des Kolonialstaates führte in weiterer Folge dazu, daß

nur ein Teil der anvisierten Maßnahmen auf wirtschaftlichem Gebiet realisiert werden

konnte.

Mit der, wenn auch beschränkten Konsolidierung des Kolonialstaates wurde das Verhältnis

zwischen deutschen Kolonialbehörden und dem Mwami bzw. der ‚traditionellen’

Herrschaftsstruktur zunehmend präziser in Richtung einer hierarchischen Ordnung definiert.

In ihr figurierte die europäische Kolonialverwaltung als Superstruktur und oberste Instanz,

während die ‚traditionellen’ Strukturen als die hierarchisch untergeordneten Organe definiert

wurden. Das Ziel bestand darin, bestehende ‚Organe’ der traditionellen Herrschaftsstruktur

letztlich zu reinen Exekutivorganen der von der europäischen Kolonialadministration

repräsentierten Regierung im eigentlichen Sinn und der von ihr definierten Kolonialpolitik zu

machen. Dieses Fernziel eines „Zustand[es], in dem der Sultan zu einem vom Gouvernment

Zentrum D.Newbury 1987 und meine Diskussion in Kap. 4.1 Expansion und Militär) pp.85ff.

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bezahlten Verwaltungsbeamten wird“ (von Götzen)185 blieb freilich in der deutschen Periode

unerreicht, obwohl einige Schritte in diese Richtung gesetzt wurden.

Für den Justizbereich beanspruchte die Kolonialmacht ein Vetorecht bei Strafsachen, die

eine gewisse Schwere überschritten bzw. wenn die Natur der Strafsache oder die dafür

vorgesehene Ahndung fundamental europäischen Grundsätzen und Vorstellungen von

Gerechtigkeit widersprach (Vgl. Bindseil 1988: 161f; Louis 1963: 150f). Ein Richtlinienerlaß

des Residenten von Ruanda, Richard Kandt, von 1910/1911, in dem der Status und die

Kompetenzen des Mwami vis-à-vis der Kolonialmacht, und gleichzeitig auch die

Kompetenzen und das Verhältnis des Kolonialstaates zu Ruanda und seinen (‚traditionellen’)

Herrschaftsträgern positiv beschrieben werden, kann als Ausdruck der zunehmenden

Konsolidierung der kolonialen Herrschaft gelesen werden, genauso wie als ein Versuch,

Herrschaft in Ruanda nach dem Vorbild moderner europäischer Staatlichkeit in

bürokratischer Weise zu modellieren und dem Kolonialstaat so etwas wie eine Verfassung186

zu geben: 1. Sultan von Ruanda heißt der jeweils unter den traditionellen Formen von den gesetzmäßigen

eingeborenen Instanzen gewählte, von dem Kaiserlichen Residenten befürwortete und von dem

Kaiserlichen Gouvernemnet bestätigte Herrscher (Mwami) von Ruanda.

2. Als Zeichen der Anerkennung durch die Kaiserliche Regierung erhält der Sultan von Ruanda eine

Urkunde, das Recht, in seiner Boma die Reichsdienstflagge zu führen, und eine nur ihm gestattete

Insignie, (z.b. wie in Niederländisch-Indien einen Ehrenschirm).

3. Die Bestätigung der Kaiserlichen Regierung enthält nicht nur den Schutz gegen innere und äußere

Feinde des Sultans, sondern auch die Anerkennung, daß Handlungen des Sultans, die im

Einverständnis oder auf Anordnung der Residentur erfolgen, den Charakter von amtlichen Handlungen

tragen.

4. Der jeweilige Sultan von Ruanda ist Besitzer alles bebauten, beweideten oder sonst nutzbar gemachten

Bodens, desgleichen aller Kult- und Begräbnisstätten. Ihm steht das Recht zu, Grundeigentum zu

verschenken, verpachten, verkaufen oder als Lehen zu vergeben. Doch bedarf die Abgabe von Land in

jeder der genannten Formen, sobald die genannte Partei landfremd ist, die behördliche Genehmigung

[sic].

(...)

7. Die Eingeborene-Rechtsprechung in Ruanda liegt in den Händen des Sultans und der Häuptlinge, denen

der Sultan seine richterlichen Rechte delegiert hat.

(....)

13 Jeder Mnjaruanda, gleichviel ob Mtussi, Whutu oder Mutwa [sic], soll die religiöse Lehre, der er

anhängen will, frei wählen können und in ihrer Ausübung den Schutz des Sultans genießen [sic]. Es ist

die Pflicht des Sultans, seine christlichen Untertanen in dieser Hinsicht zu schützen, wogegen die

Residentur den heidnischen Wanjaruanda den gleichen Schutz gewährt. (...)

185 Vgl. das vollständige Zitat oben, p.107. 186 Kandt spricht in einem Brief an die Mission in Rwaza vom August 1911 in bezug auf diesen Text, dessen letztlich effektiver rechtlicher Status nicht ganz klar ist, von einer „Constitution, die das Kaiserliche Gouvernment dem Sultanat Ruanda als Richtschnur für die Entwicklung des nächsten Jahrzehntes geben will“ (zitiert nach Bindseil 1992: 233).

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14 Die Mission der christlichen Konfessionen steht das Recht der Niederlassung in Ruanda zu. Doch ist der

Sultan nicht gezwungen, ihnen an solchen Plätzen Land zu verkaufen, an denen ihm eine Niederlassung

unerwünscht ist (...)

(...)

15 Die bisherige politische Organisation mit ihrer Dreiteilung der Gerechtsame unter Häuptlinge (mtuale)

des Bodens, der Rinder und der Schildleute [ umutware w’ubutaka, umutware w’umukenke, umutware

w’umuheto, A.K.] soll erhalten bleiben. Doch soll der Sultan auf jedem Berge eine Instanz schaffen, die

ihm und der Residentur für die Erfüllung aller Anordnungen haftbar ist, welche seitens der kaiserlichen

Behörden direkt oder durch den Sultan getroffen werden.

16 Dies Amt des Polizei-Mtwale wird einem auf dem Berg wohnenden Häutpling, in der Regel dem

Häuptling des Bodens, als Ehrenamt übertragen. Mehrere Polizei-Watwale sind je nach Bedarf einem

von der Residentur auf Vorschlag des Sultans ernannten Obmann zu unterstellen, dem sie in Ausübung

seiner amtlichen Obliegenheiten unbedingt zu gehorchen haben.(...).

(...)

21. Den Polizei-Watwalen können seitens der Residentur die Obliegenheiten eines Steuererhebers gegen

eine Remuneration übertragen werden. (..)

(Aufzeichnung des Residenten Kandt über die Verwaltung von Ruanda zitiert nach Bindseil 1992: 233ff)

Die im obigen Dokument vorgesehene Stellung eines ‚Regierungsmutware’ wurde erstmals

1911 in Mutara im Nordosten Ruandas eingerichtet . Weitere Schritte in diese Richtung

scheinen allerdings nicht ergriffen worden zu sein (Honke 1990a: 122).

Bereits 1905 war vom Vertreter des Kaiserlichen Gouverneurs von Götzen, Stuhlmann eine

Verordnung über die Steuerpflicht der afrikanischen Bevölkerung in Deutsch-Ostafrika

erlassen worden, die 1912 novelliert wurde und die eine schrittweise Einführung der

Steuereinhebung vorsah (Bindseil 1988: 121; Kabagema 1993: 158f). Erstmals wurden im

Juli 1914 in ausgewählten Regionen (die als Steuerbezirke den Kern einer vereinfachten und

homogenen Verwaltung bilden sollten) Steuern eingehoben (Ebenda; Louis 1963: 153f). Die

Einhebung von Steuern sollte – so wie übrigens anderswo auch – nicht nur den steigenden

finanziellen Bedarf der Kolonialadministration decken und somit die Expansion der

Kolonialadministration finanzieren, sondern indirekt zu einer Monetarisierung der Wirtschaft

und damit auch zu einer Anbindung Ruandas an die Weltwirtschaft führen.

Dementsprechend wurde 1913 in Gestalt der indischen Rupie als Währung die

Geldwirtschaft, mit der seit 1908 experimentiert wurde, in ganz Ruanda offiziell eingeführt.

Zum einen sollten die Steuern den Arbeitskräftebedarf des ‚kommerziellen’ Sektors – zu der

Zeit im wesentlichen den Handel decken helfen, indem ein Anreiz (bzw. ein Zwang)

geschaffen wurde, die Arbeitskraft gegen Entgelt zu ‚verkaufen’, zum anderen war mit

diesem Ziel auch die Propagierung einer kapitalistischen Ethik verbunden – wenn auch zu

einem geringeren Maße als in anderen afrikanischen Kolonien.

Tatsächlich war der Arbeitskräftebedarf an Trägern enorm – Ruanda verfügte über keine

Eisenbahn, noch über eine befahrbare Straßenverbindung mit den Hauptverkehrswegen (der

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Eisenbahn von Tabora nach Dar es Salaam, sowie zur Kampala-Mombasa –Strecke). Die

Deckung des Arbeitskräftebedarfs für den Außenhandel (der Export bestand hauptsächlich in

Häuten und wurde über Bukoba187 abgewickelt, das als Hafenstadt am Viktoriasee indirekt

über eine Anbindung an die Hauptverkehrswege Ugandas und Kenyas verfügte) erfolgte mit

steigender Tendenz durch Ruandesen selbst, während der Binnenhandel ausschließlich von

Ruandesen erledigt wurde (Vgl. Honke 1990a: 122

Gleichzeitig wurden Steuern als Anreiz und Steuerungsmittel im Bereich der Agrarpolitik

angesehen, deren Kern in der Einführung kommerzieller agrarischer Güter und in einer damit

bezweckten Kommmerzialisierung des Agrarsektors (‚Peasantization’) bestand. Seit einiger

Zeit hatte man mit verschiedenen Kulturen – Baumwolle, Erdnüsse, Kaffee experimentiert

und sich schließlich aufgrund entsprechender Versuche der Missionare, die seit 1903 mit

verschiedenen Kaffeesorten experimentierten, für Kaffee entschieden. 1913 begannen die

Kolonialbehörden erstmals mit der großflächigen Verteilung von Kaffeepflanzen. Die erste

Ernte wurde für 1917 erwartet, eine Prognose, die sich infolge des Krieges, aber auch infolge

des Widerstandes Musingas nicht materialisierte (Dorsey 1983: 33f).

Während in der ersten Phase der Kolonisierung, eine zumindest beschränkte Ansiedlung von

deutschen Siedlern als realistisch angedacht wurde, verwarfen die Kolonialbehörde in

Anbetracht der äußerst hohen Bevölkerungsdichte188 Ruandas und nach der Erfahrung des

187 Für die Strecke Kigali-Bukoba wurden 8 bis 14 Marschtage veranschlagt. Die Transportstatistik für die Route Kigali-Bukoba (angegeben in Anzahl von Lasten = 30kg) zeigt deutlich die Außenhandelsfrequenz sowie der damit verbundene steigende Arbeitskräftebedarf: Jahr Lasten à 30kg Träger 1910 11.379 13.519 1911 13.523 15.523 1912 20.961 23.971 1913 23.521 25.541 Quelle: Jahresbericht Ruanda 1912 und 1913 zitiert nach Honke 1990a: 122 188 Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsdichte in Ruanda Jahr Bevölkerung Dichte

(Person/km²) 18991 ±2,000,000 ±75 19072 ±1,710,000 ±64 1920 ±1,000,000 ±38 1930 ±1,500,000 ±57 1940 1,913,322 72,64 1950 1,899,776 (1949) 72,13 1960 2,634,00 (1959) 100,00 1970 3,380,00 (1968) 128,33 1980 5,103,000 193,75 Quelle: Reyntjens 1985: 21; Bethe und Czekanowski zitiert nach Maquet 1961: 13 (aufgrund Czekanowski 1917) und eigene Berechnungen 1 Schätzung Hptm. von Bethe ² Schätzung Czekanowski Die Tabelle berücksichtigt nicht das tatsächlich verfügbare Acker-, Weide- oder Wohnland. Von den 26.300 km² Ruandas waren Mitte der Siebziger Jahre 16.250 km² tatsächlich landwirtschaftlich – sowohl als Weide, als auch

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Maji-Maji sowie des Herero-Aufstandes, dies relativ bald, wenn auch nicht explizit (Vgl.

Bindseil 1988: 147; Kabagema 1993: 167ff). Da eine Ansiedlung von weißen Siedlern,

zumindest innerhalb der Koloniallobby in der Metropole, eine wesentliche Rechtfertigung für

den Besitz von Kolonien darstellte und diese gleichzeitig immer wieder als

Entwicklungsinstrument propagiert wurde, mußten alternative Wege gefunden werden, um

die Kolonie zu entwickeln. Eine Maßnahme in diesem Zusammenhang war die schon

angesprochene Entwicklung einer kommerziellen kleinbäuerlichen Landwirtschaft über den

Anbau von Kaffee und anderen geeigneten Nutzpflanzen. Ein anderer bestand in der

Entwicklung der Verkehrswege, für die der Bau einer Eisenbahn als von fundamentaler

Wichtigkeit betrachtet wurde und deren Fehlen zugleich eine Rechtfertigung für die,

kolonialwirtschaftlich gesehen, enttäuschende Entwicklung Ruandas darstellte. Seit 1907 in

Planung, wurden die dafür benötigten Mittel 1914 vom Reichstag genehmigt. Die

Realisierung blieb aber infolge des Krieges aus und die belgische Kolonialverwaltung

verfolgte den Plan nicht weiter (Kabagema 1993: 163ff; Louis 1963: 172f).

Unklar blieben – und Richard Kandt wies explizit darauf hin – in welcher Weise die Kolonie

entwickelt werden sollte. Die einzige Möglichkeit, so Kandt, sei die Entwicklung der

bäuerlichen Landwirtschaft, da die Rinderzucht189, die kurzfristig auch als entwicklungsfähige

Branche galt, infolge der Verwendung des Viehs als soziales und politisches Kapital, das nur

beschränkt einer ökonomischen Verwertung zugeführt wurde (der Fleischkonsum, eine der

potentiell ins Auge gefaßten Verwertungsmöglichkeiten, war in Ruanda

vernachlässigenswert und dementsprechend gering die Bereitschaft, Vieh als Fleischlieferant

zu züchten) als realistischer Entwicklungsweg ausschied. Die Richtung, in die die

ergriffenen und geplanten Maßnahmen deuteten, war jedoch eindeutig und bestand in der

möglichst effizienten Nutzung und Entwicklung der Ressource, über die Ruanda im Überfluß

verfügte: Arbeitskraft.

5.4 Resümee

Die Inkorporation Ruandas in das deutsche Protektorat Deutsch-Ostafrika führte zu der

Errichtung einer Parallelstruktur zu den indigenen Strukturen der Herrschaft. Angesichts der

beschränkten Ressourcen waren die zwei parallelen Strukturen – der (europäische)

Kolonialapparat einerseits, und die indigenen Strukturen der Herrschaft bzw. der Strukturen,

die als Basis der kolonialen Herrschaft tauglich erachtet wurden, andererseits – relativ

als Ackerland nutzbar, bei einer geschätzten Bevölkerung von etwa 4 Mio Mitte der Siebziger ergibt dies eine Bevölkerungsdichte von 246 Personen/ km² . Sieht man von Weideland ab (de facto ist die Zuordnung weniger einfach als sie erscheinen mag), kommen auf 1km² landwirtschaftliches Land 495 Personen (Silvestre 1974: 104) 189 Der Rinderbestand wurde auf 1 Million geschätzt. Gleichzeitig erachtete man die Qualität der Rinder (sowohl ihr Fleisch als auch der Milchproduktion) als gering ein (Honke 1990a: 122; Louis 1963: 173).

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schwach integriert. Diese Parallelität blieb während der gesamten deutschen Periode

erhalten und die Hegemonie des Kolonialstaates insofern immer eine prekäre. Die

Herrschaftsarchitektur in der deutschen Periode kommt dem Idealbild von ‚Indirekter

Herrschaft’, wie sie als veritable Herrschaftsideologie190 am Anfang der Kolonisierung Afrikas

von mehreren europäischen Akteuren entwickelt wurde, dadurch allerdings viel näher als

andere Beispiele dieser Art oder Ruanda unter der belgischen Verwaltung. Die deutschen

Kolonialbehörden veränderten im Gegensatz zu ihren belgischen Nachfolgern die

Herrschaftsstruktur Ruandas kaum. Politische Maßnahmen wurden hauptsächlich über

vorhandene Hierarchie exekutiert und dem Mwami somit ein beträchtliches Maß an Kontrolle

über den politischen Prozeß belassen. Selbst bei der Requirierung von Arbeitskraft und

Lebensmittel – die Tätigkeit, die der logische Ansatzpunkt für dezentrale Interventionen des

Kolonialstaates war – hielten sich die Kolonialbehörden an den ‚Instanzenzug’, indem

zumindest die Zustimmung und eine dementsprechende Anordnung Musingas eingeholt

wurde.

Die Kolonisierung Ruandas brachte aber signifikante Änderungen in dem Charakter von

Herrschaft. Mit der Errichtung von Kolonialstaaten veränderte sich der Charakter des

Staatensystems, in das Ruanda eingebunden war und damit auch der Charakter von

(politischer) Macht und Herrschaft. Während Herrschaftssubjekte gleichermaßen wie

Herrschaftsträger in vorkoloniale Staaten in Afrika vor der Kolonisierung entsprechend des

fundamentalen Problems der Reichweite von Macht und Herrschaft überwiegend eine

pragmatische und realistische Theorie von Staatlichkeit und politischer Autorität hatten,

gleich wie hochtrabend im einzelnen Ansprüche über riesige Landstriche und Bevölkerungen

artikuliert wurden, instituierte das Staatensystem, das in der Berliner Konferenz entwickelt

und in Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg vor Ort etabliert wurde, ein an normativen

Gesichtspunkten orientiertes System, das, insofern die Realität von Herrschaft in Afrika nie

mit der fundamentalen Fiktion dieses Systems – der Doktrin der Souveränität über ein

definiertes Territorium in Übereinstimmung gebracht werden konnte – eine grundsätzliche

Spannung zwischen den Realitäten von Herrschaft und ihrer Theorie brachte. Das Modell

politischer Herrschaft im vorkolonialen Afrika kann am besten als ein konzentrisches System

beschrieben werden kann, bei dem Macht des Zentrums (im Sinne der Fähigkeit zur 190 Einmal mehr erweisen sich koloniale Herrschaftsideologien – sei es das Konzept der ‚Assimilado’ in den portugiesischen Kolonien , sei es ‚Indirekte Herrschaft’ – als Rationalisierung von der vor Ort gegebenen Situation sowie den Reaktionen der Kolonialbehörden auf diese und damit als normative Ausflüsse von spezifischen Herrschaftspraktiken, wobei die Praxis der Theorie nur sehr unvollkommen entsprach (Vgl. zu einer Diskussion der kolonialstaatlichen Herrschaftspraxis in Afrika Herbst 2000: 81ff). Gleichzeitig war die Doktrin indirekter Herrschaft nie mehr als eine temporäre Rationalisierung der beschränkten Reichweite und der knappen Ressourcen des Kolonialstaats, die, in Verbindung mit den weiteren Zielen des Kolonialstaats – der ‚Zivilisierung’ der kolonisierten Gesellschaften in der Form von wirtschaftlicher Entwicklung, kultureller Transformation und der Errichtung von Herrschaftsbürokratien europäischen Zuschnitts – die Aufhebung der

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Durchsetzung des im Zentrum generierten Herrschaftswillens) proportional zur Distanz zum

politischen Zentrum abnahm. Die Grenzen von vorkolonialen Staaten waren entsprechend

diesem Modell notwendigerweise unscharf und die Peripherie vorkolonialer Staaten

entweder faktisch autonom oder gleichzeitig Peripherie für mehrere mächtigere politische

Zentren. Die daraus resultierenden Beziehungen zwischen Staaten bzw. politischen

Einheiten verschiedener Größe ließen daher auch beträchtlichen Interpretationsraum: was

aus der Sicht eines Zentrums als mehr oder weniger regelmäßige Tributzahlung einer

abhängigen politischen Gemeinschaft gesehen wurde, konnte aus der Sicht dieser als

Geschenk für einen Bündnispartner betrachtet werden, ohne daß diese

Interpretationsdifferenz Anlaß zu einem Konflikt um die Definition der Beziehung gegeben

hätte – dazu war die hauptsächlich symbolische Herrschaftsbeziehung zwischen Zentrum

und Peripherie zu irrelevant, abgesehen davon, daß das Fehlen eines geeigneten

Herrschaftsapparats (Infrastruktur wie Kommunikationswege oder Kommunikationsmittel wie

der Schrift usw.) es nicht zuließ, die Distanz zwischen Peripherie und Zentrum zu

überbrücken.

Das Außen’ und ‚Innen’ vorkolonialer Staaten unterschied sich folglich nicht durch einen

differierenden Politikmodus und spezifischen Beziehungen zu Herrschaftssubjekten

einerseits und konkurrierenden Staaten andererseits, sondern eher nach der Intensität der

Beziehung zu den betreffenden Einheiten (Vgl. Herbst 2000: 53ff). Mit der Errichtung von

klaren Grenzen durch das Staatensystem der Berliner Konferenz wurde jedenfalls für

Ruanda – wo die Grenzen des Kolonialstaates im Großen und Ganzen mit dem Gebiet

übereinstimmten, das von der ruandesischen Monarchie beansprucht wurde – das ‚Außen’

klar definiert und ebenso das ‚Innere’ als der eigentliche Lokus des Staates und staatlich

ausgeübter Herrschaft umschrieben. Die kolonialstaatlichen Grenzen etablierten auch

erstmals so etwas wie einen ‚Puffermechanismus’ gegenüber dem internationalen

Staatensystem, mit dem verschieden Ströme (Güter, Menschen, Geld) wenn nicht regelbar,

so doch in einem viel höheren Ausmaß beeinflußbar wurden und jedenfalls mediatisiert

wurden und durch die Staatsterritorium, und sukzessive auch Staatszugehörigkeit zu

relevanten Kriterien von Staatlichkeit wurden.

Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß zeitgleich mit der Kolonisierung die regelmäßigen

Razzien in die Peripherie Ruandas und darüber hinaus (insbesondere nach Osten und

Norden, wie sie unter Rwabugiri geführt worden waren, praktisch zu einem Ende kamen. Die

letzte nach außen gewandte militärische Operation der traditionellen Armeen war der Angriff

auf kongostaatliche Truppen 1895 bei Shangi. Dem Verlust der Autonomie hinsichtlich der

realen Form indirekter Herrschaft bereits in sich trug.

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äußeren Sicherheit folgte noch in der Frühzeit des Kolonialismus der Verlust über die

Autonomie hinsichtlich der inneren Sicherheit und enthoben somit der traditionellen

Militärorganisation jeglicher realer Bedeutung in ihrer militärischen Funktion. 1906 wurden

die traditionellen Armeen gegen abtrünnige Truppen und deren Befehlshaber eingesetzt und

brachten 1911, in der letzten eigenständigen militärischen Kampagne dieser Art und unter

dem Kommando des letzten Armee-Chiefs des Mwami, Nturo191, eine rebellische ehemalige

Königin in ihre Gewalt und zum Hof Musingas nach Nyanza (Weinstein 1977: 52). Alle

anderen Operationen, in denen die traditionellen Armeen eingebunden waren, fanden

praktisch auf Initiative oder zumindest auf ausdrücklichem Wunsch oder Billigung der

Kolonialbehörden statt. Damit verlor langsam aber sicher eine wesentliche Institution der

ruandesischen Monarchie, die jedenfalls unter den Notablen, aber auch bis zu einem

gewissen Grad in der weiteren Bevölkerung, eine Quelle von Kohäsion und Legitimität

darstellte, insofern nach jedem Kriegszug Beutegut unter den Armeeangehörigen verteilt

werden konnte und Kriege gegen äußere Feinde von inneren Konflikten ablenkte, ihre

frühere Bedeutung, die sie jedoch sozial – als Klientelnetzwerk –die Armeen für eine gewisse

Periode weiterhin beibehalten konnten.

Das Ende der Armeen als militärische Einheiten ist ein starker Ausdruck der schwindenden

Autonomie des Mwami, dem dadurch und durch weitere, ähnliche Maßnahmen sukzessive

die Kontrolle über einen fundamentalen Daseinsgrund von Staatlichkeit (mithin ein Kriterium

von Staatlichkeit an sich), nämlich über die Aufrechterhaltung und ‚Reproduktion’ von

Sicherheit und Ordnung entzogen wurde, diese aber zunächst nicht völlig verlor. So war dem

Mwami schon sehr früh von kolonialstaatlicher Seite das Recht auf Leben und Tod entzogen

worden. Tatsächlich umging der Hof diese Maßnahme, indem er zum Tode verurteilte

heimlich ermorden ließ. Die Folge der Einschränkung war aber ein Rückgang der Zahl der

vom Hof umgebrachten Personen, die auch nicht mehr der obersten Klasse der Chiefs

angehörten, weil deren ‚Verschwinden’192 zu auffällig gewesen wäre (Vgl. Reyntjens 1985:

79).

Die Einschränkungen der Macht des Hofes durch die koloniale Präsenz wurden aber

weitgehend von den Vorteilen, die diese brachte, aufgewogen. Die Reichweite der Macht –

das, was Jeffrey Herbst in seiner Analyse von Staatsbildungsprozessen in Afrika mit dem

Begriff ‚broadcasting of power’ umschreibt, wurde beträchtlich gesteigert. Nicht nur

ermöglichte dies die physische Expansion der Monarchie, der Kolonisierung des Nordens, 191 Dessen Sohn Nkuranga wurde im November 1959 auf Betreiben konservativer royalistischer Kräfte vom jungen Mwami Kigeri Ndahindurwa in der kurzlebigen Gegenrevolution royalistischer Kräfte zum Oberbefehlshaber der aus der Versenkung geholten Armeen eingesetzt (Vgl. Willame 1994: 313). 192 Im Umfeld derartiger Morde wurden vom Hof Gerüchte in die Welt gesetzt, die Opfer seien ins Exil gegangen.

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der oben so breiter Raum eingeräumt worden ist, sondern sie brachte auch eine Verdichtung

von Herrschaft im Zentrum des Landes sowie in jenen Gebieten, die erst in relativ rezenter

Zeit in Ruanda inkorporiert worden waren, etwa Kinyaga. Während die Expansion

monarchischer Strukturen in Kinyaga schon unter Rwabugiri begonnen hatte, beschleunigte

sich der Prozeß unter deutscher Kolonialherrschaft dramatisch. In Abiru, einer der drei

Provinzen Kinyagas, war bis 1917 die Position des Lineage-Chiefs schrittweise durch Hügel-

Chiefs (abatware b’umusozi) ersetzt worden. In der Provinz Impara war dieser Prozeß

ähnlich weit gediegen. Die meisten der eingesetzten Hügel-Chiefs waren Klienten von

Sekabaraga oder Nyankiko, die ihrerseits Klienten und Repräsentanten des Provinz- und

Umuheto-(Armee)-Chiefs von Impara, Rwidegembya waren und deren gute Beziehungen

zum deutschen Posten Shangi und dem Residenten von Ruanda, Richard Kandt, ihre

Attraktivität als Klienten und gleichzeitig ihre Macht merklich steigerte (C.Newbury 1988:

127). Schon vor der Einführung von Hügel-Chiefs war politische Macht auf lokaler Ebene

ungleich verteilt, insofern einige Lineage-Chiefs qua ihres Prestiges und über ihre Netzwerke

beträchtlichen Einfluß auf die Regelung verschiedenster Angelegenheiten ausüben konnten.

Die Hügel-Chiefs unterschieden sich allerdings durch die externe Basis ihrer Macht, sie

wurden extern, vom Provinzchiefs oder anderen mächtigen Personen eingesetzt und ihre

Loyalität war daher zumindest gespalten – wenn sie schon lange eingesessen waren, was

zunehmend seltener vorkam. Die Bewohner eines Hügels befanden sich – im Unterschied zu

vorher – nun als Herrschaftssubjekte gegenüber einem Herrschaftsträger wider, dessen

Position ultimativ davon abhing, wie er den Wünschen seiner ‚Patrone’ auf höherer Ebene

der Hierarchie entsprechen konnte und in weiterer Folge, wie seine eigene Position als

Patron bzw. Klient in den diversen formalisierten und informellen Klientelnetzwerken

beschaffen war. Als Richter in lokalen Konflikten um die essentiellen Ressourcen Land und

Vieh war seine Macht beträchtlich, was wiederum die Notwendigkeit, sich Patrone zu

suchen, drastisch erhöhte, zumal ja der Hügel-Chief seine eigene Macht zu einem Gutteil

von seiner Position als Klient einer politischen Größe bezog. Mit der Ausweitung

‚zentralstaatlicher’ Strukturen in der Form der Institution des Hügel-Chiefs ging eine

entsprechende Ausweitung von Ubuhake-Klientelverbindungen einher und war ihr

wesentlicher Motor (Ebenda: 108). Tatsächlich führte die Verdichtung von Herrschaft im

Rahmen des Kolonialstaats, der alles daran setzte, die vorhandenen Strukturen zu stärken,

in weiten Teilen des Landes zu einer ähnlichen Expansion von Klientelbeziehungen, allen

voran Ubuhake, das an Bedeutung Umuheto zu übertreffen begann, insofern die Institution

eine intensivere Beziehung zwischen Patron und Klienten implizierte.

In einem engeren Zusammenhang zur kolonialen Präsenz stand hingegen die Ausweitung

von Uburetwa, die im Zentrum des Landes insbesondere zwischen 1906 und 1908 stattfand

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und noch 1916 in den nordwestlichen Regionen (Bugoyi, Bushiru, Kingogo, Mulera...), in

denen sie vor 1900 praktisch unbekannt war, nur spärlich eingefordert wurde (Reyntjens

1985: 134). Mehr als nur ein Fall bloßer Konvergenz von europäischer Expansion und

Ausweitung von Uburetwa zu sein, ging letztere zu einem großen Teil auf den steigenden

Arbeitskräftebedarf des Kolonialstaates und der Mission zurück.

Die koloniale Präsenz brachte, zusammenfassend gesagt, eine Stärkung einer spezifischen

Herrschaftsstruktur, die äußerlich nur mäßig verändert wurde. Damit einhergehend wurden

bestehende Ansprüche und (Zugriffs-)Rechte der Chief und des Mwami gefestigt sowie de

facto beträchtlich ausgeweitet. Gleichzeitig konnte die monarchische Elite ihre Autonomie

gegenüber den Europäern in dem durch die Kolonisierung gesetzten Rahmen

paradoxerweise größtenteils wahren. Dies deshalb, weil der Hof aus der Position relativer

Schwäche die Kolonialherrschaft und die europäische Präsenz, wenngleich nicht in ihren

Konsequenzen durchschaute, jedenfalls als Gelegenheit begriff, die eigene Position zu

stärken und der Kolonialstaat in einem ähnlichen Kalkül den Konflikt mit den traditionellen

Herrschaftsträgern scheute. Die daraus resultierende Architektur des kolonialen Gefüges –

des Machtdreiecks, gebildet von Hof, dem Kolonialstaat und als drittem Eckpfeiler, der

Mission – erlaubte es dem Hof, Kredit aus der während der deutschen Periode

vorherrschenden Konfliktualität und Konkurrenz zwischen den drei Pfeilern des

Kolonialssystems zu schlagen und die Situation in einem gewissen Sinn als eine Ausweitung

des ‚traditionellen’ Klientelsystems, das die ruandesischen Herrschaftseliten seit langer Zeit

miteinander verband, zu betrachten.

Die Wahrnehmung der Europäer – Mission und Kolonialbehörden gleichermaßen -, die Tutsi

seien die eigentlichen Herrscher – bezog sich in erster Linie auf die zentralen Strukturen der

ruandesischen Monarchie und war, bezogen auf die engere Umgebung des Hofes, keine

unzutreffende Beschreibung der Situation. Allerdings beruhte diese Wahrnehmung auf einer

simplizistischen Deutung der traditionellen Monarchie und berücksichtigte nicht die

beträchtlichen regionalen und situativen Variationen in der Herrschaftsstruktur Ruandas.

Signifikant für das Ausmaß, in dem Vorstellungen von Rasse und Herrschaft Einfluß auf die

Kolonialpolitik nahm, ist das Nebeneinanderstehen dieser Wahrnehmung, die von den

deutschen Behörden normativ gewendet und zur Grundlage ihrer Version von indirekter

Herrschaft gemacht wurde, mit realistischeren Beschreibung von Macht und Herrschaft in

Ruanda.193 Allerdings, im Unterschied zur belgischen Kolonialmacht, versuchten die 193 In den veröffentlichten Reiseaufzeichnungen Richard Kandts (Caput Nili, Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nil; Berlin 1921: 264) beschreibt Kandt seinen Eindruck von der Herrschaftsstruktur und Reichweite der Herrschaft in Ruanda, die die Variabilität von Herrschaft sowie die beschränkte Reichweite des Hofes deutlich macht. Nachdem er (1898) bei seiner ersten Expedition vom Hof entfernt hatte, sah er weder eine große Anzahl von Tutsi mit ihren Herden, noch traf er konversationsgierige Chiefs, sondern sah sich statt dessen

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Deutschen nicht, systematisch Herrschaft in Ruanda zu einem Tutsi-Monopol zu machen. In

dem Maße, in dem die durch die koloniale Präsenz ermöglichte Herrschaftsausweitung und –

verdichtung, eine engere Gruppe von (überwiegend) Tutsi Notablen um den Hof in Nyanza

zum Nachteil anderer Herrschaftsträger bzw. zum Nachteil der Autonomie von mäßig

integrierten Regionen begünstigte, marginalisierte die deutsche Kolonialpolitik alternative

traditionelle Eliten (Lineage Chiefs, ‚Abakungu’ im Norden etc.) und damit in gewisser Weise

auch die Hutu Bevölkerung insgesamt, weil damit eine Tendenz zur Monopolisierung von

Herrschaft innerhalb einer (rassisch bzw. ethnisch definierten) Gruppe von Personen

angelegt wurde.

von Räubern angegriffen und folgt daraus, daß die Macht des Mwami wenig entfernt von dessen Residenz offensichtlich nur mehr fiktiv war. Ebenso beschreibt er den Wechsel des Landschaftsbildes: weniger Weideland, mehr bepflanzte Flächen. Weiter, in Kingogo werden die Tutsi für ihn unsichtbar (zitiert nach Vidal 1985: 174).

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Kapitel VI: Die belgische Periode

6.1 Die Ökonomie der Besatzung: Erster Weltkrieg und Übergang bis 1925

6.1.1 Krieg und Besetzung

Der Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 hatte zunächst keine (militärischen)

Auswirkungen auf Ruanda-Urundi. Noch im August 1914 wurde über Deutsch-Ostafrika der

Kriegszustand verhängt. Deutsche Truppen erbeuteten in einer der wenigen größeren

militärischen Operationen während des Krieges zwei kongolesische Boote auf dem Kivusee

und besetzten im September 1914 die Insel Ijwi, die bei dem Grenzabkommen 1910 dem

Kongo zugesprochen worden war. Gleichzeitig wurde sowohl von deutscher Seite die

Einhaltung der in den Kongo-Akten festgelegte Neutralität des Kongo-Freistaats, dessen

Rechtsnachfolger die belgische Kolonie war, erwartet und erhofft194, als auch von belgischer

Seite diese am Anfang des Krieges proklamiert (Louis 1963: 209f). In einem geheimen

Übereinkommen auf einer Konferenz nahe Kabati (im Zentral-Kongo) im Oktober 1914

vereinbarten Belgien und Großbritannien, daß die Truppen des Kongo im Falle eines Krieges

in Ostafrika die britischen Truppen unterstützen würden195 (Reyntjens 1985: 33; Louis 1963:

214f.)

Die personalarmen deutschen Kolonialtruppen konzentrierten ihre Kraft auf die Uganda-

Bahn und die Briten, während Ruanda-Urundi nur einen Nebenschauplatz darstellte und

militärisch mehr oder weniger auf der Basis vorhandener Truppenbestände und indigener

Hilfstruppen (Indugaruga) organisiert wurde. Das Ziel der Kolonialbehörden nach Ausbruch

des Ersten Weltkrieges unterschied sich dann auch nicht wesentlich von dem primären

Staatsziel des embryonalen Kolonialstaats unter der deutschen Kolonialherrschaft

insgesamt, nämlich der Aufrechterhaltung von ‚Ruhe und Ordnung’ bzw. der Gewährleistung

der öffentlichen Sicherheit. Dieses Ziel versuchten die Behörden mit praktisch demselben

Personalaufwand wie vor dem Krieg zu erreichen. Insgesamt befanden sich 24 deutsche

Offiziere und 152 Askari in Ruanda-Urundi, von denen die Mehrzahl in Burundi stationiert

war. In Ruanda befand sich der Stützpunkt der deutschen Truppen in Kisenyi (Gisenyi), dem

alle 5 deutschen Offiziere und alle 47 in Ruanda stationierten Askari zugeordnet wurden

(Ebenda: 211). 194 Dennoch legten die Deutschen, insbesondere, nachdem ein deutscher Gesandter, der die Haltung der kongolesischen Regierung in Boma erkunden sollte, unter Hausarrest gestellt wurde, ein erhebliches Mißtrauen gegenüber dem Kongo an den Tag. Dieses Mißtrauen gegenüber der zukünftigen Haltung der kongolesischen Kolonialregierung gegenüber den Deutschen war das vorrangige Motiv für die Erbeutung der Insel Ijwi und der dadurch gewonnenen Vorherrschaft über den Kivusee. (Vgl. Rumiya 1992: 26). 195 Belgische Truppen kamen den Briten im Rahmen dieses Abkommens erstmals im Jänner 1915 bei der Niederschlagung des Aufstands, der auf Initiative Musingas von dessen Halbbruder Nyindo im ugandesischen Distrikt Kigezi (‚British Ruanda’), wo dieser Chief war, losgetreten worden war, zu Hilfe (Louis 1963: 214; Vgl.

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Während Ruanda-Urundi von Kampfhandlungen zunächst kaum betroffen war, waren die

zivilen Auswirkungen des Krieges viel weitreichender, als es die Bedeutung Ruandas für die

deutsche Kriegsführung erwarten lassen würde. Im Zuge der Kriegsanstrengungen erhielten

die Behörden weitgehende Rechte hinsichtlich von Lebensmittel- und

Arbeitskräfteaufbringung, und, was noch schwerer wog, nicht nur steigerte der Ausbruch des

Krieges die Notwendigkeit systematischer einnahmeseitiger Politik (durch verstärkte Natural-

, Arbeits- und monetäre Abgaben), sondern auch die Notwendigkeit, die Effizienz und

Reichweite der anlaßspezifischen Requirierungen, genauso wie die der regulären

Steuereinhebung zu erhöhen. Dementsprechend brachte der Ausbruch des Ersten

Weltkriegs eine spürbare Steigerung der an die Bevölkerung gestellten Forderungen und der

von ihr erbrachten Leistungen, sei es in der Form von Arbeitskraft196 für die Befestigung der

deutschen Posten, für Straßenarbeiten, für Trägerdienste und als Hilfstruppen, sei es in

monetärer Form (der Kopfsteuer) oder in der Form von Naturalleistungen (Lebensmittel). In

Ausnutzung der Bedeutung, die von Seiten der Kolonialverwaltung den Chiefs für die

Kriegsführung zugesprochen wurde, gingen diese ihrerseits daran, zusätzliche Forderungen

an die Bevölkerung zu stellen. In Nduga und Marangara erhöhten sie die Uburetwa-

Verpflichtung von zwei von fünf Tagen um einen weiteren Tag. In den nordwestlichen

Regionen kam Uburetwa überhaupt erst im Zuge des Krieges zu einer breiteren Anwendung.

Die verarmten Missionsstationen – die katholischen Missionare waren bis auf wenige

allesamt ‚Ausländer’, in erster Linie Franzosen und frankophone Belgier und wurden daher

von den Kolonialbehörden mit Mißtrauen beäugt und mit zusätzlichen Leistungen überfordert

– gaben den materiellen Druck, dem sie ausgesetzt waren, an die Bevölkerung weiter, die

auf den weitläufigen Gebieten der Missionsstationen lebte. In Rwaza (Nordwesten Ruandas,

Region Mulera) wandelte die Mission die gebräuchliche Lieferung von Bananenbier in eine

Arbeitsverpflichtung von zwei Tagen pro Woche für zwölf Wochen im Jahr um (Linden 1977:

124). In Reaktion auf den Ausbruch des Krieges und auf die verstärkten kolonialstaatlichen

Forderungen an die Bevölkerung kam es an mehreren Orten, besonders aber im notorisch

unruhigen Nordwesten sowie in Gisaka zu Unruhen, die etwa in Mulera einen anarchisch

milleniaristischen Unterton mit stark xenophobem Einschlag aufwies197 und die zum Teil – wo

zu Nyindo und der paradoxen Stellung Britisch Ruandas oben FN 127). 196 Grundsätzlich wurden Arbeiter, die direkt von den deutschen Behörden angestellt wurden entlohnt, jedenfalls am Anfang des Krieges. Nachdem aber ein Großteil der Arbeitskräfteaufbringung über die Chiefs im Rahmen von Uburetwa organisiert wurde, wurde de facto nur ein geringer Teil des eingesetzten Personals entlohnt. Gleichzeitig war der verstärkte Arbeitskräftebedarf ein Motor der Ausweitung von Zwangsarbeit in der Form von Uburetwa. 197 Ein Mann namens Bicu bzw. im vollen Namen Bicubirenga (‚die Wolken ziehen vorüber’) tauchte im Dezember 1915 in Rwaza auf und präsentierte sich als Bote eines zukünftigen Königs, der die Europäer vertreiben und eine neue Ordnung errichten würde. Bedrohlicher als die anarchische Botschaft der Nyabingi-Medien, die ebenfalls vermehrt Zulauf bekamen, erlangte er zahlreiche Anhänger unter den Tutsi-Chiefs, unter ihnen auch Nyindo, Chief im Kigezi District Ugandas (Vgl. zu Nyindo oben FN 127 und der von Nyindo

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sie von den Kolonialbehörden als Bedrohung wahrgenommen wurden – mit aller Härte

niedergeschlagen wurden. Bei einer exemplarischen Polizeiaktion im September 1914 in

Gisaka, die von traditionellen Armeen unter Rwidegembya durchgeführt wurde, wurden 226

Männer getötet (Kabagema 1963: 296).

Im Laufe des zweiten Kriegsjahrs, 1915, begannen kongolesische Truppen regelmäßige

Angriffe auf deutsche Stellungen entlang des Rusizi und bei Gisenyi. Mit über 1.000 Mann

regulärer Truppen waren die Belgier den Deutschen bei weitem überlegen, führten zunächst

aber nur kleinere Zermürbungsangriffe, in einer Art Guerilla-Taktik aus (Louis 1963: 213). Die

Folgen der Angriffe aber waren drastisch. Sie führten zu Massenflucht aus den

Grenzregionen um Gisenyi und Ruhengeri, brachten den landwirtschaftlichen Kalender

durcheinander ebenso wie sie den Verlust von Viehbeständen bedeuteten. Die

Destabilisierung des Nordwestens – der Region, in der der Krieg in Ruanda v.a. geführt

wurde - durch die Kampfhandlungen und die parallelen Lebensmittel- und

Arbeitskräfteaufwendungen war der Hauptgrund für eine der schwersten Hungersnöte

Ruandas, ‚Rumanura’198, die 1916 in Bugoyi (der Region um den Grenzposten Gisenyi)

ausbrach, sich sukzessive auf immer mehr Regionen ausweitete und bis 1918 andauerte.

Nach einer Schätzung des Superiors von Nyundo sind ihr allein in der betroffen Region um

Nyundo 20.000-25.000 Personen von einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 100.000

zum Opfer gefallen.

Der Erste Weltkrieg kam nach Ruanda in der Form einer mehrfachen Krise, in der etablierte

Vorstellungen von Ordnung an sich, genauso wie spezifische Herrschaftsstrukturen

erschüttert wurden und die gleichzeitig eine bedrohliche Substistenzkrise beinhaltete.

Die Deutschen Truppen zogen sich noch 1915 vom Posten Gisenyi zur Missionsstation

Nyundo zurück und räumten Ruanda nach dem Beginn der belgischen Invasion im April

1916 - praktisch kampflos, 199 aber nicht ohne drastische Übergriffe auf die Bevölkerung, die

zu Trägerdiensten und Lebensmittelbereitstellung verpflichtet wurde. Die belgischen Truppen

konnten daher ohne größere Probleme die beiden Territorien Ruanda und Urundi besetzen

losgetretenen Revolte, in der ein gewisses antikoloniales bzw. xenophobes Sentiment eine Rolle spielte oben FN 195). In für derartige charismatische Führungspersönlichkeiten tpyischen ambivalenten Weise verfochte Bica eine vehement antieuropäische Ideologie und Symbolik, während er gleichzeitig um die Unterstützung des Deutschen Residenten ad interim, Hauptmann Wintgens, warb und diese auch erhielt. Zweimal griff er, offenbar erst nach dem Abzug der Deutschen, mit Gefolgsleuten belgische Posten an. Die weißen Väter waren allerdings seine Hauptzielscheibe – ein Zeichen für die Unbeliebtheit der weißen Väter infolge der Pro-Tutsi (d.h. Pro-Chief) Haltung der Missionssführung in der Person von Leon Classe (Linden 1977: 123; Rumiya 1992: 75f). 198 Bedeutet‚seine Vorräte erschöpfen’ (Lugan 1976: FN 5). Hungersnöte waren regelmäßig, allerdings meist nur eher von lokaler Bedeutung. Rumanura betraf praktisch das ganze Land. Nur Bwanacyambwe im Osten und der äußerste Süden der beiden Regionen Bwanamukari und Kinyaga, beide im Süden blieben von ihr verschont. 199 D.h., Gegenwehr der Deutschen gab es nur soweit diese für einen geordneten Rückzug notwendig waren.

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und stießen darüber hinaus, nachdem sie am 11. Mai 1916 Kigali, am 19.Mai Nyanza und

Usumbura am 6.Juni erreicht hatten - und auf Initiative der Offiziere vor Ort - bis nach

Tabora (Tanganyika) vor, das sie am 19.September besetzten (Reyntjens 1985: 35).

Als okkupiertes Gebiet, das eine Besatzungsarmee zu unterstützen und das die Kosten für

den Aufbau einer rudimentären Militärverwaltung zu tragen hatte sowie in seiner Funktion als

Brückenkopf für den Nachschubtransit zu dem von belgischen Truppen besetzten Teil

Tanganyikas wurden von Beginn der belgischen Okkupation an massive Forderungen an die

Bevölkerung gestellt, die zumindest am Anfang der Okkupation in ungeregelter Weise, sprich

mit Gewalt befriedigt wurden. Da die Bevölkerung und mit ihnen die Chiefs, die die

natürlichen Ansprechpartner für Requisitionen darstellten, sich den Forderungen teilweise

entzogen, setzten die Belgier eigene Gewährsleute als Chiefs ein, denen die Organisation

von Sach- und Dienstleistungen für die Besatzungsmacht übertragen wurde (Kabagema

1993: 304ff).

Der Bruch mit der Verwaltungspraxis der Deutschen Kolonialbehörden hinsichtlich deren

Praxis von indirekter Herrschaft – die Belgier versuchten gar nicht, den traditionellen

Herrschaftsapparat in seiner monarchischen Form für ihre eigenen Zwecke zu nutzen - in

der Situation des durch die Besatzung vollzogenen Bruchs und der damit initiierten

Übergangsperiode eine erwartbare Handlung. Selbst die mit der Besatzung geschaffene

Struktur der Militärverwaltung Ruandas – Ruanda wurde in zwei Zonen geteilt, in denen je

zwei Orte zu ‚Hauptorten’ designiert wurden, deren Kommandanten beschlossene

Maßnahmen von (ausgewählten) Chiefs exekutieren ließ – kann als ein typisches

Transitionsphänomen betrachtet werden. Allerdings wurde der status quo ante nie mehr

völlig hergestellt. Mit größeren Personalressourcen, einer langen und intensiven

Kolonialerfahrung im Kongo und einem tiefen Mißtrauen gegenüber Musinga – ein Mißtrauen

das von den Missionaren übernommen wurde - verzichteten die Belgier auf eine

‚Billigversion’ von Herrschaft, wie sie die Deutschen vor ihnen betrieben hatten, aber auch

betreiben konnten – man denke an das langsame Tempo der ‚Inbesitznahme’ Ruandas und

das Klima gegenseitigen Einverständnisses zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Die

Belgier votierten dagegen für ein Herrschaftssystem, das, wenn auch die Monarchie

äußerlich beibehalten bzw. nach ihrer praktischen Ausschaltung 1916 wieder restauriert

worden war, nur mehr die Karikatur eines indirekten Herrschaftssystems trug oder, wie es

ein belgischer Administrateur de Territoire (AT) 1930 unverblümt ausdrückte: [C]’est de la politique directe, la plus ‚directe’ qu’il soit possible d’imaginer. (Rapport annuel

1930, Territoire de Nyanza zitiert nach Rumiya 1992: 228)

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6.1.2 Nicht nur Besatzung: Militärverwaltung und Transformation von Herrschaft in Ruanda

6.1.2.1 Einrichtung

Die besetzen Gebiete wurden von den belgischen Behörden unabhängig vom Kongo und mit

dem Militärpersonal vor Ort administriert, das einem vom belgischen König ernannten

Hochkommissar (Haut Commissaire Royal) unterstand. Dieser hatte seinen Sitz zuerst in

Kigoma (Tanganyika, am Tanganyikasee) und später in Usumbura (Reyntjens 1985: 39).

Aus praktischen Überlegungen wurde Ruanda in zwei Zonen geteilt, in eine Westzone mit

Gisenyi als Hauptort und eine Ostzone mit Kigali als Sitz des Zonenkommandos. Beide

Zonen waren lose in Verantwortungsgebiete der jeweiligen Militärposten unterteilt, die für die

Exekution von Verwaltungsaufgaben verantwortlich waren und diese in direkter Weise über

die Chiefs – sowohl Hügel-Chiefs als auch die Provinzchiefs bewerkstelligten. Damit wurde

Musinga effektiv umgangen – die Aufteilung des Landes in zwei Zonen war selbst schon ein

Indiz dafür, denn die Kompetenzen des Kommandanten und ‚Residenten’ in Kigali, Scharfes,

betrafen nur die militärische Koordination beider Zonenkommandos (Rumiya 1992: 39;

Reyntjens 1985: 39). Die Umgehung des Hofes bedeutete nicht nur die Schwächung

Musingas vis-à-vis der Kolonialmacht, sondern notwendigerweise auch einen Verlust von

Stärke und Macht gegenüber den Chiefs, die sich zunehmend autonomer gerierten.

Bezeichnend für den status quo post und Ausdruck des zwischen Musinga und den

Kolonialbehörden entstehenden Konflikts sowie für die Art und Weise, wie bestimmte Chiefs

aus dieser Situation Kredit schlagen konnten, sind die mehrmaligen Versuche der

Kolonialbehörden, Musinga krimineller Vergehen zu bezichtigen, die zweimal beinahe zu

einer Anklage und einmal zu einer kurzfristigen Inhaftierung Musingas führten. Nicht nur war

dies ein Ausdruck des starken Mißtrauens der neuen Kolonialadministration gegenüber dem

ruandesischen Mwami, der unter anderem deutscher Sympathien verdächtigt wurde,

während er zu anderen Gelegenheiten in Verdacht kam, von den Briten in der Person des

umtriebigen District Commissioners von Kigezi, A.D. Phillips gegen die Belgier mobilisiert zu

werden (Rumiya 1992: 97).

Der erste derartige Konflikt kam im Zuge der Entwaffnung der von den Deutschen

ausgebildeten Hilfstruppen, der Indugaruga200. Ein weiterer, als die Belgier Musinga aufgrund

einer Anzeige eines Notablen in Bugoyi verdächtigten, Waffen nicht an die Belgier

200 Rwagataraka, der Sohn Rwidegembyas und der an dessen Statt zum 1911 Provinzchief von Impara (Kinyaga) avancierte, zunächst, um seinen Vater zu vertreten, hatte zusammen mit einem seiner Klienten, Gisazi, Chief in Bugarama (Kinyaga), das Kommando über die Truppen übertragen bekommen. Zunächst hatten sie sich dem deutschen Rückzug angeschlossen. Nach der Konsolidierung der belgischen Militärverwaltung kehrte Rwagataraka nach Ruanda zurück und bat um die Wiedereinsetzung als Provinzchief von Kinyaga, was ihm auch gewährt wurde (C.Newbury 1988: 128f).

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ausgeliefert, sondern große Bestände heimlich ins benachbarte Ausland (Karagwe,

Tanganyika) bzw. zu den Gehöften von Klienten des Hofs innerhalb Ruandas verschoben zu

haben, um Waffenlager anzulegen (Ebenda: 44f).

Bis zu einem gewissen Grad versuchte Musinga erfolgreich, den durch die

Besatzungssituation bedingten Niedergang der etablierten Ordnung für seine Zwecke

auszunutzen. Als im September 1916 zwei Askari nahe der Missionsstation Save ermordet

wurden, lieferte er fünf (daran offensichtlich unschuldige) Männer aus, um die

Besatzungsmacht milde zu stimmen. Gleichfalls war er (und unabhängig von ihm, die

Missionare) wesentlich daran beteiligt, daß Rwidegembya, einer der gewichtigsten Bega-

Führer, im Dezember 1916 von den belgischen Behörden mit der Begründung in Haft

genommen wurde, daß er der Drahtzieher einer Revolte gewesen sei, die nach Gerüchten

im Oktober 1916 durchgeführt hätte werden sollen (Rumiya 1992: 41)201. Die belgische

Kolonialverwaltung sah die Inhaftierung als eine Machtdemonstration, mit deren Hilfe man

den allerorts kursierenden Gerüchten, ein Aufstand gegen die Belgier stünde unmittelbar

bevor, effektiv entgegenzuwirken hoffte (Vgl. Linden 1977: 126; C.Newbury 1988: 129).

Gleichzeitig unterstreicht das drastische und unbeholfene Agieren der Kolonialbehörden ihre

Hilflosigkeit gegenüber der krisenhaften Situation im Lande, die durch das Fehlen

kolonialstaatlicher Informationskanäle noch verschärft wurde. Möglicherweise in Reaktion

auf die von Musinga betriebenen Inhaftierung Rwidegembyas wurden Gerüchte in Umlauf

gesetzt, Musinga hätte nach wie vor Kontakt zu den Belgiern. Rwagataraka, Provinzchief in

Impara (Kinyaga) und Sohn Rwidegembyas, der von manchen als die Quelle des Gerüchts

angesehen wurde, bestätigte die Anklage, wohl um im Gegenzug seinen Vater frei zu

bekommen und seinen Posten als Provinzchief offiziell wieder antreten zu können.202

Aufgrund der Anschuldigungen autorisierte der Commissaire Royale in Kigoma die

Inhaftierung Musingas und die Erhebung einer Anklage wegen Spionage. Allerdings mußte

noch vor Verfahrensbeginn vor dem zuständigen Militärgericht – ein Schuldspruch hätte die

Absetzung Musingas und, wenn die Höchststrafe ausgesprochen worden wäre, seinen Tod

bedeutet – aus Mangel an Beweisen wieder fallen gelassen werden. Stärker als die

201 Neben Rwidegembya wurden die beiden Chiefs Kayondo und Rwabusisi ebenfalls in Haft genommen. Alle drei stammten aus der Lineage der Königinmutter (C.Newbury 1988: 130). 202 Vgl. zu seiner Wiedereinsetzung als Provinzchief oben FN 200. Kurz nach seiner Wiedereinsetzung als Provinzchief erhoben sich mehrere der wenigen Chiefs in Impara, die noch aus der Region Kinyaga stammten (die meisten anderen stammten aus dem Zentrum), gegen Rwagataraka, in der Hoffnung, die Belgier würden sie wegen der Kollaboration Rwagatarakas mit den Deutschen unterstützen. Gleichzeitig berücksichtigten sie die offensichtlich angeschlagene Position Rwidegembyas (Rwagatarakas Vater) und der abnehmenden Macht Musingas und hofften, daß sie, indem sie sich direkt dem König unterstellten, ihre verloren gegangene Autonomie wiederherstellen können würden. Die Revolte, bekannt geworden als ‚Ibaba Revolte’ hatte nur temporären Erfolg – Rwagataraka verfügte schlicht und einfach über die besseren Kontakte. In Reaktion auf die Revolte enthob Rwagataraka eine Reihe von Chiefs und statt mehr Autonomie erlebte die Region eine stärkere Integration ins Zentrum, während Rwagatarak sich einer gefestigten Position erfreuen konnte (Vgl. C.Newbury 1988: 130f).

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juristische Dürftigkeit der Beweise wogen die politischen Folgen der ‚Yenga-Yenga’-Affäre.

Traditionelle Abgaben an den Hof (ikoro) wurden von kleineren Provinzchiefs

zurückgehalten, während die traditionelle Herrschaftselite von den Belgiern als

Herrschaftsklasse und Herrschaftsstruktur weitgehend umgangen wurde. Statt dessen

verwaltete die Administration Ruanda direkt mit Hilfe einzelner Chiefs, die den Forderungen

der Kolonialmacht nachkamen, während andere, die dies nicht taten, mit schwerwiegenden

Sanktionen (Schläge, Demütigungen usw.) zu rechnen hatten. Insgesamt waren die Chiefs

für die Militärverwaltung nur soweit interessant, soweit sie für die Zwecke der Verwaltung

instrumentalisiert werden konnten. Die Verwaltung hatte dabei selbst einen eher ziellosen

Charakter und beschränkte sich zunächst darauf, die Präsenz der Europäer in Ruanda zu

gewährleisten, die belgischen Operationen in Tanganyika zu unterstützen und für ein

Mindestmaß an Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Im Anschluß an die Yenga-Yenga Affäre

kam Musinga ein weiteres Mal in Verdacht, sich krimineller Handlungen schuldig gemacht zu

haben (er soll versucht haben, europäische Offiziere vergiften zu lassen). Auch diese

Anschuldigung konnte mangels an Beweisen nicht vor Gericht weiterverfolgt werden, zudem

bevorzugte das Militärkommando in Gitega (Burundi) unter General Malfeyt eine politische

Lösung, die in der Form einer Reorganisation der belgischen Kolonialherrschaft und der

Restauration des Residentursystems 1917 materialisierte (Linden 1977: 127; C.Newbury

1988: 130; Rumiya 1992: 45ff).

6.1.2.2 Konsolidierung des Staates: die Wiederrichtung der Residentur

Mit einer Verordnung im April 1917 stellte der zum königlichen Hochkommissar ernannte

General Malfeyt das Residentursystem, so wie es in der deutschen Periode existiert hatte,

und gleichzeitig die Verwaltungseinheit Ruandas innerhalb seiner Vorkriegsgrenzen wieder

her. Die Verordnung blieb praktisch bis 1943 die rechtliche Grundlage von Herrschaft in

Ruanda. Sie sah unter anderem vor, daß die deutsche Verwaltungstradition in der

Verwaltung Ruandas, also auch das öffentliche und private Gewohnheitsrecht, so sie es von

den Deutschen praktiziert worden ist und soweit nicht ausdrücklich anderweitig durch

Verordnung bzw. Rundschreiben des Hochkommissars bzw. des Residenten geregelt, in

vollem Umfang als Organisationsgrundlage der Verwaltung in Ruanda zu gelten habe. Die so

gesuchte Kontinuität mit dem deutschen Verwaltungspraktiken hatte allerdings keinerlei

Auswirkungen auf die tatsächlichen Herrschafts- und Rechtspraxis in den besetzen

Gebieten, zumal das belgische Militärpersonal über nur ungenügende Rechtskenntnisse

verfügte, ganz zu schweigen von einer intimeren Kenntnis des deutschen Verwaltungs- und

Kolonialrechts (Reyntjens 1985: 37 und 39ff).

Die Verordnung trat im Mai 1917 in Kraft, und damit die neue Untergliederung der Residentur

in zunächst drei Territorien, deren Zahl entsprechend der Stärke der belgischen Präsenz

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1921 auf vier, und Ende der Zwanziger Jahre, als ihre Grenzen erstmals genauer definiert

wurden, auf 9 bzw. 10 anwuchsen. Diese zunächst ‚Secteur’ genannten Einheiten, die im

Laufe der Zwanziger zu ‚Territoires’ umbenannt wurden, wurden von einem ‚Délégué’ (des

Residenten), der später mit dem Titel ‚Administrateur de Territoire’ bezeichnet wurde,

vorgestanden. Diesem waren als administratives Personal sogenannte ‚Agents Territoriaux’

beigestellt.

Abbildung 11: Organisation der europäischen Verwaltung in Ruanda

Der königliche Hochkommissar vereinigte exekutive und legislative Funktionen, ebenso wie

der Resident diese Funktionen als abgeleitete Autorität ausübte und zusätzlich judikative

Aufgaben vollzog. Praktisch war damit das Kolonialregime ein monokratisch organisiertes

Verwaltungsregime, und der von ihm konstituierte Staat ein (autoritärer und paternalistischer)

Verwaltungsstaat, in der die indigenen Organe im Grunde nur als Vollzugsorgane der

Direktiven der Verwaltung auftraten und der Volkswille selbst in einem abgeschwächten (z.B.

akklamativen) Sinn keine Rolle spielte (Reyntjens 1985: 53ff)203.

Das Verhältnis der Residentur zum ‚Sultan’ – wie die Position des Mwami von der

Verordnung gemäß der deutschen Tradition der Nomenklatur in den ostafrikanischen 203 Eine kuriose Ausnahme bildet das Ende 1918 und Anfang 1919 durchgeführte sogenannte ‚Referendum’. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Einholung von Unterstützungserklärungen für die belgische Präsenz bei insgesamt etwa 300 Chiefs. Das Ergebnis der ‚Umfrage’ wurde bei den Friedensverträgen in Versailles als ‚Wille der Bevölkerung’ präsentiert (Vgl. Reyntjens 1985: 61; Rumiya 1992: 51ff). Teilweise deuten die Aussagen auf die Manipulation der Schreiber hin, teilweise geben sie möglicherweise allerdings auch gut den pragmatischen Umgang ruandesischer Chiefs mit der neuen Situation wieder, wie das folgende Zitat nahelegt: „ Pourquoi aimez-vous les Belges? - Parce que les Allemands nous ont abandonnés et les Blancs de Bulamatari

Belgischer König (als Legislativorgan) ; Ministre des Colonies (Exekutive ; Judikative), Conseil Colonial (parlamentarisches Beratungsorgan) Haut Commissaire Royale ( ab 1925 : Vice-Gouverneur Général, gleichzeitig Gouverneur du Ruanda-Urundi)

Résident (ab 1926 rechtlich einem Commissaire kongolesischer Distrikte gleichgestellt) Délégué, Administrateur Territorial (AT)

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Besitzungen genannt wurde – blieb dagegen relativ diffus definiert. Die Verordnung bleibt

aber eindeutig hinsichtlich dessen, wer als die eigentliche legitime Quelle von

Herrschaft(srechten) anzusehen sei. Diesbezüglich geht sie in Klarheit über vergleichbare

Texte aus der deutschen Periode deutlich hinaus (vgl. z.B. den oben zitierten

Verfassungsentwurf p.171f). Sie spiegelt damit zwei miteinanderverwobenen Entwicklungen

wieder, einerseits die Konsolidierung des Kolonialismus und des kolonialen Systems, welche

die diversen Protektoratsformeln (Schutzverträge usw.), aufgrund derer Souveränitätsrechte

abgetreten wurden, zunehmend überflüssig machten. Zum anderen reflektiert die

Verordnung die mit ersterem einhergehende Entwicklung völkerrechtlicher Normen und des

staats- und völkerrechtlichen Denkens überhaupt, durch die ‚Staatlichkeit’ zunehmend

präziser definiert wurde, während Souveränität zu dem fundamentalen Kriterium von Staat

und staatlicher Herrschaft erhoben wurde. Mit dem Wichtigerwerden des Konzepts von

Souveränität und Souveränitätsansprüchen sowohl in der politischen Praxis als auch in der

Theorie wurde zugleich das Monopol des Staates auf Souveränitätsrechte festgeschrieben,

das ‚Teilen’ von Souveränität bzw. die Übertragung von Souveränitätsrechten auf

substaatliche Akteure (‚Company-Kolonialismus’) sukzessive ausschloß und entsprechende

Herrschaftsarrangements obsolet werden ließ.204 Les sultans exercent sous la direction du Résident, leurs attributions politiques et judiciaires

dans la mesure et de la manière fixées par la coutume indigène et les instructions du

Commissaire royal. (Ordonnance N.2/5, 6 Avril 1917 zitiert nach Reyntjens 1985 : 59)

Entsprechend entzog die Verordnung – wie dies bereits unter der deutschen

Kolonialverwaltung praktiziert wurde – Musinga eine der symbolisch stärksten Vorrechte des

durch den Mwami repräsentierten Staates: das Recht über Leben und Tod (Reyntjens 1985:

79). In weiteren, auf der Verordnung aufbauenden Erlässen und Maßnahmen wurde das

dahinter stehende Ziel – die Bürokratisierung der indigenen Herrschaftsstrukturen und ihre

Unterordnung unter die eigentliche Quelle von Herrschaft, der europäischen

Kolonialverwaltung – konsequent anvisiert und spätestens mit der Absetzung Musingas auch

realisiert.

Während das primäre Staats- und Verwaltungsziel immer noch in Begriffen von ‚Recht und

Ordnung’ gesehen wurde205, ermöglichte die Einrichtung der Residentur und der Ernennung

des Majors De Clercks206 zum ersten belgischen (aber immer noch militärischen) Residenten

sont arrivés après eux.“ (zitiert nach Rumiya ebenda : 53). 204 Vgl. für eine organischen Betrachtung von Staatsbildung innerhalb des jeweiligen internationalen Regimes bzw. innerhalb der jeweiligen historischen Staatssysteme Herbst 2000 passim. 205 „Le Haut Commissaire royal s’efforça avant tout d’assurer la paix et la ordre public en maintenant l’équilibre qui existait entre les groupements indigènes. “ (Resident E.Van den Eede, Note sur la situation politique actuelle au Ruanda, Bruxelles, 26.7.1921 zitiert nach Reyntjens 1985: 40) 206 auch Declercq, entsprechend flämischer (nationalistischer?) bzw. französisch/ wallonischer Schreibweise.

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Ruandas die Verfolgung ziviler Verwaltungsziele im engeren Sinn und dies in einem

zunehmend größeren Ausmaß. Mitte des Jahres 1917 begann die Residentur, Maßnahmen

zur Linderung der Hungersnot zu ergreifen, deren Auswirkungen – Hunger, Seuchen,

Wiederauftreten von Sklavenhandel, Arbeitskräftemangel usw. – das Leben in Ruanda

zunehmend dramatischer gestaltete (Linden 1977: 128). Sie ergänzte damit die

Anstrengungen der Missionare (derer sich die Administration im übrigen bei der Organisation

der Hilfsaktionen bedienten). Diese hatten schon relativ früh damit begonnen, Saatgut an die

betroffene207 Bevölkerung auszugeben und Notküchen zu organisieren.

Die wichtigsten administrativen Konsequenzen der Hungersnot bestanden jedoch in den

Maßnahmen, die die Verwaltung ergriff, um die Subsistenzsicherheit der Bevölkerung zu

erhöhen. Ein Teil der Maßnahmen zielte auf die Beschränkung von Weiderechten und der

Einschränkung von Viehzucht zugunsten einer Ausweitung der landwirtschaftlich genutzten

Flächen. Dies beinhaltete die Modifizierung des Privilegs von Tutsi (bzw. Viehhirten im

Allgemeinen), Vieh auf dem Ackerland von Bauern grasen zu lassen208 sowie in der

Aufhebung des Weidemonopols, das die Tutsi (qua Hirten) in den für den Anbau von

Nutzpflanzen genützten, sumpfigen Talsohlen zwischen den Hügeln traditionell besaßen. Die

Talsohlen sollten künftig verstärkt für den Anbau von Feldfrüchten – insbesondere für den

Anbau von Süßkartoffeln und Maniok, das von den Belgiern zu diesem Zwecke in Ruanda

eingeführt wurde - genutzt werden und wurde auch - 1924 zwangsweise vorgeschrieben

(Dorsey 1983: 49ff; Lugan 1977: 355f). Die zweite, im Zusammenhang mit der Hungersnot

getroffene Maßnahme, betraf Uburetwa. Viel stärker als die Deutsche Kolonialmacht vor

ihnen, nahmen die Belgier eine extrem ambivalente Haltung gegenüber den traditionellen

Herrschaftsträgern, den Tutsi, ein, die in der Frühzeit der belgischen Verwaltung tendenziell

in die Richtung eines verallgemeinerten Mißtrauens gegen die ‚rückwärtsgewandten

Traditionalisten’ ging und die Kolonialmacht darin bestärkte, möglichst schnell ein europäisch

ausgebildetes Kader an indigenem Verwaltungspersonal zu produzieren. Major De Clerck

war bei seinem Amtsantritt als Resident mit dem erklärten Ziel angetreten, die Mißbräuche

der Chiefs einzudämmen, von denen die den Belgiern zu Ohren gekommenen Mißbräuche

207 Christen wurden freilich bei der Inanspruchnahme von Nahrungsmittelhilfe gegenüber Andersgläubigen bevorzugt (Lugan 1976: 355 und FN 44 ). 208 Damit gemeint ist das Recht von Viehhaltern (also nicht notwendigerweise Tutsi), ihre Herden nach der Sorghum Ernte (eine Hirseart), auf den Stoppeln weiden zu lassen. (Dieses Recht hieß isigati). Im Allgemeinen war es üblich, Vieh spezialisierten Hirten zur Betreuung zu übergeben, die entweder dafür entlohnt wurden oder denen gewisse Nutzungsrechte über das Vieh abgetreten wurde. Die Herden bestanden daher aus Rindern verschiedener Besitzer, darunter auch viele viehbesitzende Hutu. In bezug auf das Grasen von Vieh kam es häufig zu Konflikten, z.B. wenn das Vieh nicht auf den abgeernteten Sorghumfeldern, sondern darüber hinaus auf anderweitig genutzte Flächen graste und unabhängig davon, ob sich Rinder der Besitzer der Felder in der betreffenden Herde befanden. Nach der Hungersnot Rumanura mußte der Besitzer des Sorghumfeldes theoretisch um seine Einwilligung gebeten werden (Gravel 1968: 100). Das entsprechende Rundschreiben des Residenten von 1917 bezog sich allerdings explizit auf ‚Tutsi’ bzw. ‚Hutu’ (Vgl. den Text des Rundschreibens, der in Harroy 1984: 88 auszugsweise wiedergegeben wird

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bei Uburetwa (Arbeitsverpflichtungen von 3 von 5 Tagen usw.) ein prominentes Beispiel

waren (Dorsey 1983: 48). Uburetwa, also die Verpflichtung für einen Chief zu arbeiten,

wurde vor diesem Hintergrund administrativ auf 2 von fünf Tagen (der traditionellen

ruandesischen Woche) und auf insgesamt 146 Tagen im Jahr beschränkt (Lugan 1976: 356).

Statt allerdings eine Erleichterung für die bäuerliche Masse der Bevölkerung zu bringen,

ermöglichte die Regelung die Verallgemeinerung von Uburetwa in Regionen, in denen sie

bislang nicht oder kaum eingefordert wurde. Anstatt ‚traditionelle’ Arbeitsverpflichtungen zu

beschränken, brachte die Kolonialverwaltung diese zu einer systematischeren Anwendung

und transformierte sie zu einer individuellen Verpflichtung gegenüber dem Chief bzw.

Patron.209

Tabelle 7: Belgische Residenten und Vize-Gouverneure 1917-1962

Gouverneur Ruanda-Urundi Resident Justin.P.Malfeyt (1916-1919) J-F. De Clerck (1917-

1921)

E.Van den Eede (1921-

1923)

G. Mortehan (1923-1925,

1925-1929)1

Alfred.F.Marzorati (1920-1929)

(?) Keyser (1925)

Louis J.Postiaux (Vize-Gouverneur Ruanda-Urundis und amtierender Gouverneur

Ruandas/ Vize-Gouverneur des Kongo 1929-1930

Charles H. Voisin (1930-32)

H.Wilmin (1929)1

Eugène J. Jungers (1932-1946) O.Coubeau (1929-1932)1

M.Simon (1932-1940) Léon A.Pétillon (1946-1952)

( ?) Graul ; Paradis 1

Alfred M. Boúúaert (1952-55) G.Sandrart (1944 ?-51 )

M.Dessaint (1951-59) Jean-Paul Harroy (1955-1962)

G.Logiest (1959-61) 1 Häufige Ämterrotation in kurzer Zeit

Quellen : Dorsey 1994 (Namenseinträge und Chronologie) ; Harroy 1984 : 81f)

6.1.2.3 Formalisierung des Staates und seine Modernisierung

Dieser Abschnitt beschreibt die Formalisierung der belgischen Herrschaft, die 1919 mit dem

Milner-Orts-Abkommen eingeläutet und 1924, als das belgische Parlament das

Völkerbundmandat über Ruanda-Urundi ratifizierte, abgeschlossen wurde. Mit der

Formalisierung der Herrschaft ging ihre Systematisierung einher, die sich auf der Ebene der

‚traditionellen’ Strukturen in einer permanenten Reformbewegung äußerte. In ihrem Verlauf 209 Vgl. auch die Diskussion von Uburetwa unten pp.208ff

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wurden der Status und die Rechte der vorgefundenen Verwaltungsstrukturen geklärt und

der Grundstein für weitergehende Verwaltungs- und Entwicklungspläne gesetzt.

6.1.2.3.1 Der internationale Status Ruandas

Die belgische Besatzung Ruandas war, solange keine Friedensverträge geschlossen

wurden, vorläufigen Charakters und beruhte auf informeller Übereinkunft der Alliierten (zu

denen Belgien nicht zählte). Zudem war das belgische Interesse für Ruanda ein indirektes:

Ruanda-Urundi sollte als Faustpfand bei den Verhandlungen dienen und über den Weg einer

größeren territorialen Umstrukturierungen zwischen Belgien, Großbritannien und Portugal

gegen Teile der portugiesischen Kolonie Angola (der Enklave Cabinda) ausgetauscht

werden und so dem Kongo einen Zugang zum Meer verschaffen. Die diesbezüglichen Pläne

zerschlugen sich allerdings recht bald, obwohl die Belgier bis zuletzt mit einem für sie

positiven Ausgang der Verhandlungen rechneten. Belgien war zudem von den eigentlichen

Verhandlungen über die Zukunft der deutschen Kolonialbesitzungen ausgeschlossen und

hatte zudem als einer der kleineren Staaten in Europa auch kaum indirekte Mittel in der

Hand, um die Richtung der Verhandlung mitzubestimmen. Es war daher gezwungen, das für

Belgien eher ungünstige Ergebnis der Verhandlungen, die zwischen Lord Milner, dem

britischen Colonial Secretary und Pierre Orts, dem belgischen Sondergesandten für die

Verhandlungen der ‚Zehn’ geführt worden waren, im Mai 1919 zu akzeptieren. Gemäß dem

‚Milner-Orts’ Abkommen erhielt Belgien per 30. Mai 1919 formell die Herrschaftsrechte über

Ruanda, die im August 1919 auf Beschluß der Alliierten als Übertragung eines Mandat B im

Rahmen des mit den Pariser Vororteverträgen geschaffene Mandatssystem modifiziert

wurde, mußte aber den östlichen Teil Ruandas (hauptsächlich die Region Gisaka) an

Großbritannien abgeben, das die in Frage stehenden Gebiete aufgrund der geplanten Kap-

Kairo Bahnlinie (die bekanntlich nie realisiert wurde) für sich reklamierte (Vgl. Louis 1963:

226ff ). Die Abtretung Giskas wurden von weiten Teilen des kolonialen Establishments –

Kolonialfunktionäre und Missionare – als unbillig und in seinen möglichen Auswirkungen als

Bedrohung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit empfunden und war sukzessive

Gegenstand massiver, auch massenmedialer Kampagnen.210

210 Einer der wichtigsten Protagonisten der medialen Kampagne war der belgische sozialistische Abgeordnete Mathieu. In einem Interview mit einer kongolesischen Zeitschrift verteidigte er die territoriale Einheit Ruandas als fundamental für das Selbstverständnis der herrschenden Gruppe, der ‚Tutsi’ und für deren Kohäsion als Gruppe sowie ihrer Funktion als Verwaltungselite Ruandas. Durch die Zession würde die Gruppe selbst massiv gefährdet werden und zum anderen die Beziehungen der Tutsi zu den Europäern leiden. Ähnliche Argumente wurden übrigens auch von anderer Seite (z.B. von Seiten Leon Classe, der 1920-22 nicht zuletzt aufgrund des Wiederaufbrechens alter Konfliktlinien unter den Missionaren in Algiers weilte und von dort aus zugunsten der Erhaltung der territorialen Einheit Ruandas schrieb) vorgebracht. Ein Auszug aus dem Interview Mathieus unterstreicht den tendenziell rassistischen Charakter des Arguments: „Les ‚bahutu’ sont une race très primitive, sans culture, dont l’intelligence est encore en sommeil. Impossible pour nous d’agir sur eux directement, et de les appeler à la lumière. Il nous faut passer par l’intermédiaire de leurs maîtres. C’est ainsi seulement que nous

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Gisaka wurde jedenfalls im März 1922 an Großbritannien zediert211. Im Rahmen der

Integration des Mandatssystems in das Völkerbundsystem wurde die Abtretung in den

Gremien des Völkerbunds jedoch neu aufgerollt. Der Wechsel an der Spitze des zuständigen

Colonial Office in London ermöglichte schließlich die Neuverhandlung der Angelegenheit und

der anschließenden Rückgabe der fraglichen Gebiete an Belgien per Jahresende 1923

(Rumiya 1992: 126ff).

Tabelle 8: Rechtlicher Status Ruandas, 1917-1925

Jahr Kolonialer Status Ruandas internationaler Status

1917 Ordinnance-Loi n°2/5

30.5.1919 Formelle Übertragung der

Herrschaftsrechte über Ruanda

(Milner-Orts-Abkommen)

30.6.1919 Verzicht Deutschlands auf die

Kolonien im Rahmen der Versailler

Verträge ;

21.8.1919 Übertragung des Mandats über

Ruanda (Mandat B)

31.8.1923 Bestätigung des Mandats durch die

Versammlung des Völkerbundes

20.10.1924 (belgisches) Gesetz über die

Annahme des Mandats

21.8.1925 Gesetz über die administrative

Vereinigung Ruanda-Urundis mit

dem Kongo, von dem es ein Vize-

Gouvernement darstellt;

4.10.1943 Ordonnance Legislative n°347

‚Verfassung’, Auflistung der

Hierarchie der Verwaltung und

Auflistung der Kompetenzen der

einzelnen Verwaltungsorgane;

Charakter der Verordnung: Ex-post

Kodifizierung

Quelle: Bourgeois 1957: 157; Maquet/d’Hertefelt 1959: 12ff

6.1.2.3.2 Die Konturen des Staates, 1919-1924

6.1.2.3.2.1 Das Problem indirekte Herrschaft und der Legitimität

les ferons progresser.“ (zitiert nach Rumiya 1992 : 105). 211 Mit der Zession wurden die kolonialen Grenzen – und nicht nur die östlichen - zunehmend dichter. Das kurze britische Interregnum brachte einige radikale Reformen: Uburetwa als generalisierte Praxis wurde verboten, Musinga loyale Chiefs abgesetzt oder marginalisiert, Favoriten des Mwami bei der Postenvergabe übergangen, ein ehemaliger Katechist aus der Herrscherdynastie Gisakas als Chief eingesetzt u.a.m. (Vgl. Linden 1977: 152f).

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Eine der Hauptargumente der Belgier gegen die Zession bestand darin, auf ihre negativen

Rückwirkungen auf das traditionelle Herrschaftssystem, repräsentiert durch Musinga und die

Chiefs, hinzuweisen. Die Haltung der Kolonialadministration blieb diesbezüglich allerdings

stets ambivalent: Die Aussicht, Musinga aus ‚Sicherheitsgründen’ absetzen zu können stellte

für manchen Administrator durchaus eine attraktive Option dar. Dies spiegelte die

zunehmende Kluft zwischen der Rhetorik indirekter Herrschaft und der Herrschaftspraxis

wieder. In dem Maße, in dem der koloniale Staat konsolidiert wurde und seine Aufgaben

über die eines rudimentären Ordnungsstaates hinauszuwachsen begannen, wurde die

Existenz einer sich traditionell legitimierenden Monarchie, mit einem wider- und eigenwilligen

Mwami an seiner Spitze zu einem Anachronismus und einem Hindernis für die

Transformation indigener Autoritätsstrukturen in eine rational organisierte Bürokratie nach

europäischem Vorbild. Die belgische Kolonialverwaltung reagierte darauf zum einen mit

periodisch wiederkehrenden Überlegungen, Musinga abzusetzen und durch eine andere

Person zu ersetzen oder das Amt des Mwami überhaupt abzuschaffen. Zum anderen

begann sie zunehmend, ihre eigenen Vorstellungen über die Rolle des Hofes und der Chiefs

durchzusetzen. Die Kluft zwischen Rhetorik und Praxis ‚indirekter’ Herrschaft reflektierte

nicht nur einen Widerspruch, welcher der Ideologie und Praxis indirekter Herrschaft inhärent

war, sondern repräsentierte einen fundamentalen Widerspruch von kolonialer Herrschaft (in

Afrika) an sich: den Widerspruch zwischen Bewahrung und Veränderung, der sich in bezug

auf die vorgefundenen politischen Strukturen als Widerspruch zwischen der Bewahrung und

Instrumentalisierung der den ‚traditionellen’ Institutionen zugesprochenen ‚traditionellen’

Legitimität einerseits und der Ausübung einer weitgehenden Kontrolle über sie und der

Beschränkung ihrer Handlungsautonomie andererseits, äußerte. Die koloniale

Herrschaftstheorie sah Legitimität des ‚traditionellen’ Regimes essentiell in moralischen

Begriffen und sah sie als ein Attribut, die den Chiefs als Personen sowie qua Chief zukam.

Da die Legitimität der ‚traditionellen’ Autoritäten so als Teil der (vorgefundenen) moralischen

Ordnung gedacht wurde, trat sie in der kolonialen Theorie als quasi außerpolitische

Ressource auf, derer sich der Kolonialstaat bedienen könne und die durch die Veränderung

der Rolle der ‚traditionellen’ Autoritäten nicht beschädigt würde. Im Gegenteil, die

‚traditionelle’ Legitimität der Chiefs wurde als Kapital angesehen, mit dessen Hilfe

weitreichende Reformen in der Gesellschaft als ganze durchgesetzt werden konnten.

Pierre Ryckmans, der umtriebige belgische Kolonialfunktionär, 1921 Commissaire Royal ad

interim, 1924 zum ersten zivilen Residenten Burundis ernannt, später der Präsident der

kongolesischen siedlerkolonialen Farmervereinigung Union Agricole des Regions du Kivu

(UNAKI) und von 1934 bis 1946 Gouverneur-Général des Kongo, als der er wesentlich die

Landwirtschaftspolitik in Ruanda mitbestimmte, hatte aus der bitteren Erfahrung des Kongo

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heraus, wo die Absetzung ‚traditioneller’ Herrschaftsträger in weiten Teilen des Landes zu

einer tiefen Herrschaftskrise geführt hatte, vehement die Nutzung der ‚traditionellen’

Legitimität der vorgefundenen Herrschaftsträger als notwendige Bedingung für die

Gewährleistung der Regierbarkeit und damit für die Ausübung von (rationaler) Herrschaft

überhaupt eingefordert. Ohne die zur Kenntnisnahme und Instrumentalisierung der

‚traditionellen’ Legitimität der Chiefs würde das fundamentale koloniale Problem von

Government und Governance ungelöst bleiben (Rapport sur l’Administration Belge au

Ruanda-Urundi 1925, zitiert in Lemarchand 1970: 63).

Wesentlich beeinflußt von der Situation in Burundi, wo Chiefs und König zwei stark

konkurrierende Säulen der (vorkolonialen) Herrschaftsarchitektur darstellten und der Mwami

als die eigentliche Quelle von Legitimität erschien212, betonte Ryckmans zudem die

Unabdingbarkeit des Mwami für die Stabilität des kolonialen Herrschaftssystems. Der

Mwami, so Ryckmans in einem häufig zitierten Grundsatzartikel über die belgische

Herrschaftspraxis in Ruanda und Burundi213, sei „die vertraute Kulisse, die es uns erlaubt,

auf den Nebenkulissen zu handeln, ohne die Massen zu alarmieren.“ (meine Übersetzung,

A.K., zitiert nach Lemarchand 1970: 66). Und weiter: „Legitimität ist mächtiger als Gewalt.

Das einzige reibungslos funktionierende Organ zwischen uns und der Bevölkerung sind die

legitimen Chiefs. Sie allein, weil sie über Legitimität verfügen, sind fähig, die Akzeptanz für

notwendige Innovationen hervorzurufen.“ (Ryckmans ebenda, zitiert nach Dorsey 1983: 45)

6.1.2.3.2.2 Die Lösung des Problems: Reform der indigenen Herrschaftsstrukturen und Verrechtlichung der Herrschafts- und Klientelbeziehungen

Der Hof wehrte sich allerdings, so gut es ging, gegen die Versuche der belgischen

Kolonialverwaltung, die traditionellen Strukturen zu modifizieren. Gleichzeitig sah er sich

aufgrund der kolonialen Präsenz und der zunehmenden kolonialen Interventionen mit einem

stetigen Schwinden seines Einflusses besonders unter der wachsenden Zahl von Chiefs

konfrontiert, die ein gutes Verhältnis zu den Europäern (meist in der Person des

Administrateur de Territoire) vorweisen konnten und die Europäer als die mächtigere Quelle

von Patronage erkannten214, während gleichzeitig die europäischen Funktionäre des

Kolonialstaats angesichts der stagnierenden ökonomischen Lage und dem Nicht-Erreichen

der sich selber gesteckten Ziele, den Hof und Musinga als relevante politische Institution, mit

212 Vgl. zur wahrgenommenen Legitimität des Mwami in Burundi die Ausführungen zu Burundi oben pp.121f sowie Lemarchand 1970: 29ff 213 Pierre Ryckmans (1925): Le problème politique au Ruanda-Urundi, in Congo (1), pp.407-413, p.410f 214 Anfang der Zwanziger Jahre hatten sich die Chiefs am Hof in zwei Fraktionen gespalten. Die ‚Inshongore’ („Beschwerdeführer“), welche ihre guten Beziehungen zu den Belgiern als Quelle von Patronage und Macht benutzten einerseits, und die vom Nyiginya-Führer und letztem effektivem Heerführer Ruandas Ntulo so genannte Abayoboke – „diejenigen, welche nur einen Weg kennen“ – und die dem Mwami loyal verbunden blieben (Linden 1977: 157).

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der so etwas wie ‚Entwicklung’ erreicht werden könne, zunehmend umgingen (Dorsey 1983:

50). Tatsächlich war der Erfolg bei der Implementierung von Maßnahmen gering und

abhängig von dem Ausmaß an Kontrolle, die von Seiten der Gebietsverwalter ausgeübt

werden konnte. Zum Teil blieb ihre Umsetzung überhaupt zunächst auf die Bewohner von

Missionsareal beschränkt. Der Jahresbericht der belgischen Verwaltung von 1922 (Rapport

de l’Administration belge215, 1922) konstatiert die Stagnation, die mit der Minimalversion von

Kolonialherrschaft à la Deutschland einherging, und nimmt in seiner Kritik die aus der

unbefriedigenden Situation gezogenen Lehren (verstärkte Kontrolle der Chiefs durch den

Kolonialstaat, Homogenisierung und Bürokratisierung der Herrschaftsstrukturen) praktisch

schon vorweg: Le protectorat tel qu’il fut exercé les premières années de l’occupation européenne était

synonyme de stagnation. Il n’était d’ailleurs qu’un stade ; nos prédécesseurs ne voulaient pas

gaspiller dans le pays de petits efforts et leur occupation purement nominale n’avait pour objet

immédiat que de préserver l’avenir. (zitiert nach Feltz 1971 : 87)

Als einer der Konsequenzen aus dem Unbehagen über die Funktion der indigenen

‚Verwaltungsstrukturen’, verstärkte die Kolonialverwaltung die Kontrolle über die Einsetzung

von Chiefs. Ab 1919 wurde der Hof dazu verpflichtet, jede Umbesetzung eines Amtes zu

melden. 1922 wurde die Kontrolle – nachdem der Informationspflicht nur unvollständig

nachgekommen worden war – noch einmal verschärft und Chiefs, die ohne Zustimmung der

Residentur eingesetzt wurden und ein Amt ausübten, mit bis zu zwei Jahren Knechtschaft

bedroht. Gleichzeitig wurde die Meldungspflicht auf alle Amtsinhaber – Chiefs (i.e.

Provinzchiefs), die vom Mwami eingesetzt wurden und ‚Subchiefs’ (i.e. Hügel-Chiefs), die

von den einzelnen Chiefs bestellt wurden, ausgedehnt. 1923 verfügte schließlich die

Residentur über eine komplette Liste von Amtsinhabern und erlangte so eine weitreichende

Kontrolle über einen der wenigen Vorrechte, die dem Mwami noch geblieben waren

(Reyntjens 1985: 116).

Ab 1918 war die belgische Kolonialmacht dazu übergegangen, mehr oder weniger

systematisch gegen wahrgenommene Mißbräuche bei der Ausübung von traditionellen

Rechten der Chiefs sowie gegen Mißbräuche innerhalb der formalisierten

Klientelbeziehungen (Uburetwa, Ubuhake, Umuheto) auf legistischem Wege vorzugehen–

die Maßnahmen gegen Uburetwa bildeten sozusagen den Anfang einer permanenten

Reformbewegung –, während sie mit der Gründung der Regierungsschule in Nyanza und

ähnlich angelegten Ausbildungsinstituten im ganzen Land den Grundstein für die

215 Die ab 1921 erstellten Jahresberichte entstanden in Erfüllung der Berichtspflicht gegenüber der Mandatskommission des Völkerbundes. Im Laufe der Geschichte ihres Erscheinens wurde ihr Titel mehrmals geändert. Im folgenden wird auf sie in der Form ‚Bericht bzw. Jahresbericht + Jahr’ verwiesen.

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Heranbildung einer europäisch gebildeten Verwaltungselite legte, welche die Performanz bei

der Implementierung der verschiedenen Maßnahmen steigern helfen sollte.

Die Reformen – die Verrechtlichung des ‚traditionellen’ Herrschaftssystems und die

Homogenisierung und systematische Bürokratisierung der indigenen Herrschaftsträger –,

waren darauf ausgelegt, eine Modernisierung und damit Veränderung hervorzurufen,

während sie gleichzeitig darauf bedacht waren, das ‚traditionelle’ System von Herrschaft zu

bewahren.216 Darin bestand der oben bereits angesprochene fundamentale Widerspruch des

– und nicht nur des belgischen – Kolonialsystems, der weitreichende Konsequenzen hatte

und dessen Auswirkungen sich in der Phase der Konsolidierung der belgischen Herrschaft

ab 1926 zunehmend zeigten. Der Widerspruch äußerte sich in zumindest zweifacher Weise:

Zum ersten hatten die belgischen Kolonialverwalter, nicht unähnlich den Deutschen vor

ihnen, eine Wahrnehmung von Ruanda, die in sich selbst bereits höchst widersprüchlich war.

Während den ‚Tutsi’ unmißverständlich die wichtige, wenn auch gegenüber der

Vergangenheit drastisch veränderte Rolle als traditionelle Autorität und als Funktionäre des

Kolonialstaates zugebilligt und den ‚Hutu’ die untergeordnete Rolle zugewiesen wurde217,

wurde dieses Herrschaftsverhältnis als Quelle von Mißbräuchen durch die Tutsi und folglich

als Quelle von Unterdrückung und Ausbeutung der Hutu durch die Klasse der Chiefs

gesehen. Das asymmetrische Verhältnis zwischen Hutu und Tutsi war in dieser Sicht freilich

nicht allein auf die Ungleichheit in der Verteilung von politischer Macht zurückzuführen, auf

die Ungleichheit, die Herrschaftsträger jeder Art von der übrigen Bevölkerung unterscheidet,

sondern die Ungleichheit war eine ‚tiefere’, in den Augen der Europäer, eine natürliche.

Dieses systematische Ungleichverhältnis zwischen Tutsi und Hutu – in der Definition der

Kolonialverwalter bzw. kolonialer Intellektueller im Allgemeinen – war, soweit sie zugleich als

Bedrohung der untergeordneten Bevölkerungsgruppe gesehen wurde, der eigentliche Lokus

der paternalistischen Intervention des Kolonialstaates. In einem Memorandum von 1920

umreißt der belgische Kolonialminister Franck diese ‚Pflicht’ gegenüber der subalternen

Klasse: A coté de nos obligations de politique générale, nous avons des devoirs envers les Wahutu.

Nous devons les protéger contre les actes arbitraires dont ils sont souvent victimes, et leur

assurer la paix, la sécurité de leurs biens et de leur travail et la justice. Mais nous n’irons pas

216 Siehe für einen beispielhaften Text der Konzeption von Indirekter Herrschaft und Entwicklung das vertrauliche Memorandum des Kolonialministers Franck vom 15.6.1920, teilweise wiedergegeben in Reyntjens 1985: 65f 217 Im ersten Jahresbericht der belgischen Verwaltung heißt es vage: „[que le autorité belge] s’inspire de la ligne de conduite suivie antérieurement par par l’autorité allemande: assurer la paix et l’ordre public en maintenant l’équilibre qui existait entre les groupements indigènes.“ (zitiert nach Maquet/d’Hertefelt 1959 : 11). Der letzte Teil der Passage ist so mißverständlich wie offenbarend. Das ‚Gleichgewicht’, das als solches als eine natürliche Balance gedacht wird, meint natürlich die Asymmetrie zwischen Masse der Bevölkerung und der herrschenden Klasse, die als naturalisierend als ‚Hutu’ und ‚Tutsi’ gedacht werden.

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plus loin; il ne s’agit pas, sous prétexte d’égalité, de toucher aux bases de l’institution

politique ; Nous trouvons les Watuzi établis d’ancienne date, intelligents et capables ; nous

respecterons cette situation. (zitiert nach Reyntjens 1985 : 66)

Die Schutzverpflichtung gegenüber den Hutu war gewissermaßen das Ergebnis der

kolonialen Festschreibung ihrer Position und die zweite Weise, in der sich der Widerspruch

von Konservierung und Modernisierung äußerte. De facto beschränkte sich die koloniale

Politik nämlich nicht darauf, bestehende Strukturen zu konservieren, sondern indem sie

darauf abzielte, die Herrschaftsstrukturen zu homogenisieren, zu bürokratisieren und in ganz

Ruanda durchzusetzen, schuf sie einen Mechanismus, durch den die fundamentale

Ungleichheit von Tutsi und Hutu nicht nur reproduziert wurde (wir haben in den

vorangegangenen Abschnitten gesehen, daß die soziale und politische Stratifikation

wesentlich komplexer war), sondern in großem Ausmaß erst produziert wurde.

Trotz der vorerst bescheidenen Erfolge in der Implementierung getroffener Maßnahmen,

konnte der belgische Kolonialstaat von Anfang an auf gewisse Erfolge verweisen. Zunächst

zeigte er eine hohe Präsenz vor Ort und besaß damit ein vergleichsweise höheres Maß an

Handlungsautonomie gegenüber der deutschen Kolonialverwaltung: 1918 beschäftigte die

Kolonialverwaltung 30 Europäer auf 12 Posten, was einer Verfünffachung des Personals

gegenüber der (deutschen) Vorkriegsperiode darstellte (Rumiya 1992: 50).

Gleichfalls wurde bereits 1917 mit einer systematischen Steuereinhebung begonnen, die zu

einer zentralen Einnahmequelle des Kolonialstaates werden sollte. Ab den 20er Jahren, als

die Kolonialverwaltung begann, größere Infrastrukturprojekte (Bau von Straßen etc.)

durchzuführen, wurde – ähnlich der deutschen Praxis – systematisch mit der Requirierung

von Arbeitskraft für koloniale Zwecke begonnen. Im Unterschied allerdings zur deutschen

Periode, und auch im Unterschied zu der Anwerbung und Zwangsverpflichtung von Arbeitern

(meist Trägern) während des Ersten Weltkriegs, betraute die belgische Kolonialverwaltung

ab den Jahren 1922-1923 einen einzigen Chief pro Region mit der Aushebung von Arbeitern

und der Lieferung von Lebensmittel und setzte diesen formell als Akazi-Chiefs (von Swahili =

kazi: Arbeit) der betreffenden Region ein, da sie die meist unter politischen Kriterien

vollzogene Zuweisung von Arbeitsverpflichtungen für ineffizient hielt (Dorsey 1983: 51ff).

Damit wurde Musinga, der bis dahin (theoretisch) für die Aufbringung von Arbeitskräften für

öffentliche Arbeiten verantwortlich war und dementsprechende Anfragen der

Kolonialverwaltung an die Chiefs weiterleiten hätte sollen, in einem Bereich

kolonialstaatlichen Handelns umgangen, der im Laufe der Zwanziger Jahre rasant an

Bedeutung gewann. Mit der Bündelung gewisser administrativer Aufgaben in der Person

eines einzigen Chiefs setzte die Kolonialmacht zudem den ersten Schritt zur Abschaffung

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der v.a. in Zentralruanda vorherrschende Tripelhierarchie auf Provinzebene, die 1926 mit der

formellen Abschaffung von Umuheto-Gruppen besiegelt wurde (C.Newbury 1988: 112;

Reyntjens 1985: 114f).

Ein wesentliches Element der frühen belgischen Kolonialpolitik (und Fortführung der

diesbezüglichen deutschen Praxis bestand in der Durchsetzung einer einheitlichen, sprich

Tutsi-dominierten Verwaltung über ganz Ruanda. Im Unterschied zur deutschen Periode

hatte die Expansion von (hauptsächlich zentralruandesischen) Chiefs als Herrschaftsorgane

in die peripheren Regionen nicht mehr den Charakter einer Expansion der Monarchie, den

vorangegangene Expansionsbewegungen zumindest teilweise hatten, auch wenn bereits in

früheren Perioden andere Interessen (der Kolonisten, des Kolonialstaates usw.) bei der

Expansion in die Peripherie wesentlich mitgespielt hatten. Auch im Rahmen der belgischen

Ausweitung des zentralruandesischen Herrschaftsmodells in die Peripherie waren, wie unter

der Deutschen Periode, hochrangige Banyanduga-Tutsi Nutznießer der Entwicklung.

Allerdings kamen zunehmend Tutsi aus bescheidenen Verhältnissen bzw. Tutsi, die, wenn

auch nicht arm, innerhalb der traditionellen politischen Arena über relativ wenig politisches

Gewicht verfügten, in den Genuß von politischen Ämtern. Worin sich die Inkorporation der

Peripherie von der (unvollständigen) Inkorporation in der deutschen Periode am meisten

unterschied, war das Ausmaß an Kontrolle, das die belgische Kolonialverwaltung über den

Inkorporationsmodus der Peripherie ausübte und ausüben konnte. Anfang der 20er Jahre

waren immer noch einige Regionen - die bekanntesten Fälle derartiger Regionen sind –

Bushiru im Nordwesten, sowie Bukunzi und Busozo im Südwesten - weitgehend autonom

und nicht in das zentralruandesische Herrschaftssystem integriert. In Bushiru verfügte der

Umuhinza Nyamakwa, die traditionelle Führungsgestalt der autonomen Region, zunächst

über gute Beziehungen zum belgischen Administrator in Mulera. Als Nyamakwa sich aber

zunehmend außerstande sah, seine traditionelle Rolle mit der Rolle als Verwaltungsorgan

des belgischen Kolonialstaates zu verbinden und Anordnungen des Administrators nicht

nachkam und er sich offen gegen die Einhebung von Teilen der Ernte als Abgabe auflehnte,

wurde an seiner statt ein Tutsi-Chief installiert, der die Region unter seinen Klienten aufteilte.

Für den zuständigen Administrator war das Scheitern des Umuhinza in seiner ihm

zugestandenen Rolle als Verwaltungsorgan ein Beweis für die Unfähigkeit der Hutu,

Regierungsaufgaben zu übernehmen, zu ‚regieren’ (Reyntjens 1985: 98ff). Der neu

eingesetzte Tutsi Chief Nyangezi nahm zunächst von jeglichem Triumphalismus Abstand,

bemühte sich gute Beziehungen zu der Familie der alten Bahinza zu pflegen und beeilte

sich, seine Rolle als Untergebener der Europäer zu betonen – ein beredter Kommentar des

veränderten Kontexts kolonialer Herrschaft (Rumiya 1992: 234). In Busozo (Region Kinyaga)

lag der Fall ähnlich. Angesichts der gewaltsamen Okkupation des Nachbarkleinkönigtums

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Bunkunzi durch die Belgier und Rwagataraka, dem lokalen ‚starken Mann’218 entschloß sich

der Mwami Buhiga von sich aus Kontakt mit dem belgischen Administrator in Cyangugu

aufzunehmen, um ihm seine Anerkennung der belgischen Oberhoheit mitzuteilen. Als er

allerdings den belgischen Forderungen (Arbeitskräfte, Steuerzahlung usw.) nicht nachkam,

wurde er ebenfalls, wiederum mit Hilfe Rwagatarakas abgesetzt. Letzterer erhielt das

Territorium beider inkorporierter Gebiete seinem Einflußbereich zugeschlagen (Rutayisire

1987: 138).

Im Laufe der Zwanziger Jahre wurden sukzessive alle autonomen Regionen Ruandas

Bukonya, Bugarura, Bumbogo, Bushiru, Kibali, Ndorwa, Mutara und Mulera im Norden und

Nordwesten, sowie Bukunzi und Busozo der ruandesischen Monarchie eingegliedern und mit

der Einsetzung von Chiefs nach zentralruandesischem Vorbild, formal annektiert

(Lemarchand 1970: 73). Mit der Annexion Bumbogos 1928, dessen Herrscherlineage für die

Abhaltung des 1926 verbotenen ‚Erste-Früchte-Festivals’ (umuganura) verantwortlich

gewesen war und dadurch eine wesentliche ideologische Funktion im vor- und

frühkolonialem Ruanda eingenommen hatte, wurde die Ausweitung eines einheitlichen, auf

dem Monopol von Tutsi beruhenden Verwaltungsmodells auf ganz Ruanda zum formalen

Abschluß gebracht (Linden 1977: 162). Der Kolonialstaat beschränkte sich allerdings nicht

darauf, die Inkorporation der Region und ihre ‚Inbesitznahme’ durch die Tutsi-Aristokratie zu

ermöglichen – wie schon erwähnt, gehörte ein gar nicht geringer Teil der eingesetzten Chiefs

eben nicht mehr zur traditionellen Herrschaftselite, sondern erhielten ihre Posten qua ihrer

Ausbildung (1923 absolvierten die ersten Secrétaires Indigènes den administrativen

Ausbildungsgang der Regierungsschule in Nyanza) -; sondern der Kolonialstaat sah die

Ausweitung der Tutsi- Herrschaft (die diesem Namen zunehmend gerecht wurde) als eine

Möglichkeit, ihre Reformvorstellungen bezüglich der Verwaltung zu verwirklichen. Eine der

vorrangigsten Projekte war die territoriale Konsolidierung der Verwaltungseinheiten, der

Chieftümer. Diese waren im traditionellen System notorisch zwischen Domänen

unterschiedlichen Charakters zersplittert. In den inkorporierten Gebieten ermunterte die

Kolonialverwaltung die eingesetzten Chiefs daher, sich vergleichsweise große und

einheitliche Gebiete anzueignen. Damit einher ging auch der Versuch, die Zersplitterung der

Herrschaftsrechte zu begrenzen. Innerhalb eines abgegrenzten Territoriums, der Chefferie

war dementsprechend ein Chief für die Aufgaben hinsichtlich der Bevölkerung, und wenn er

die Zustimmung der Bevölkerung erlangen oder erzwingen konnte, auch für alle

Landnutzungs- und –besitzangelegenheiten zuständig. Als Agent des Kolonialstaates hob er

die Steuern ein und rekrutierte Männer für Öffentliche Arbeiten. Als Substrukturen wurden

218 Vgl. zu Rwagataraka und seiner Rolle in bezug auf die Inkorporation von Bukunzi und Busozo in der deutschen Periode oben p.140f. Zur Rolle Rwagatarakas im Allgemeinen siehe oben FN 200 und FN 202 sowie unten FN 220.

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Sous-Chefferies geschaffen (in weitgehender Entsprechung der Position des Hügel-chiefs,

des Umutware w’umusozi) (Dorsey 1983: 59f). Die Zentralisierung politischer Macht und der

übertragenen Verwaltungskompetenzen in der Form eines einzigen ‚traditionellen’

Herrschaftsträgers war gleichzeitig der erste Schritt zu einer Homogenisierung und

Vereinfachung der ruandesischen Herrschaftsstrukturen, die typischerweise durch die

Tripelhierarchie von Weide-Chief, Land-Chief und Armee-Chief repräsentiert wurde. Diese

Bündelung politischer Macht in der Person des Chiefs hatte zudem dramatische

Auswirkungen auf das Klientelsystem. Während die Zersplitterung von Herrschaftsrechten im

vorkolonialen Regime in gewisser Weise auch ein pluripolares Klientelsystem begünstigt

hatte, dessen Charakter sich aus der größeren Zahl an Patronen und damit aus der Existenz

einer zumindest beschränkten Wahlmöglichkeit auf Seiten des potentiellen Klienten

zwischen verschiedenen Patronen ergab, konvergierte unter dem neuen, zentralisierten und

unitaristischem System von Verwaltung das Innehaben eines politischen Amtes mit der

Funktion des Patrons. Anders gesagt: Um vor Mißbräuchen der Chiefs geschützt zu sein

bzw. um ihre ‚Gunst’ zu erlangen, mußte man ihr bzw. des Sub-Chiefs Klient werden,

gewöhnlicherweise im Rahmen einer Ubuhake-Beziehung (Vgl. Dorsey 1983: 59; C.Newbury

1988: 137). Die ausbeuterische Dimension der so transformierten Beziehung ist evident.

Im Rahmen der Inkorporation der Peripherie, die vom Kolonialstaat ähnlich den Deutschen

mit der rhetorischen Floskel der ‚Restauration königlicher Macht und Herrschaft’

gerechtfertigt wurde (Reyntjens 1985: 98), nahm die belgische Kolonialadministration

erstmals in direkter Weise das königliche Vorrecht, Herrschaftsdomänen zu verteilen und

von ihr ausgesuchte Personen als Chiefs einzusetzen, für sich in Anspruch. Damit verlor der

Hof eine seiner letzten realen Möglichkeiten, Einfluß auszuüben, die er trotz der Pflicht zur

Einholung der Zustimmung des Residenten bei Postenneu- bzw. Umbesetzungen immer

noch besessen hatte (Vgl. Dorsey 1983: 60).

6.1.2.3.3 Die Konturen der neuen Elite – Staat und Bildungspolitik

Gleichzeitig mit dem Übergang zu einer zivilen Verwaltung 1919, als Van den Eede dem

militärischen Residenten De Clerck als erster genuin ziviler Resident nachfolgte, setzte die

Kolonialverwaltung mit der Gründung der Regierungsschule in Nyanza den ersten Schritt für

die Entstehung einer neuen, europäisch ausgebildeten Verwaltungselite, welche die

modernisierungsresistente ‚alte’ Schule der Chiefs sukzessive ersetzen sollte. Das

Bildungswesen war bis dahin nahezu ausschließlich in der Hand der verschiedenen in

Ruanda operierenden Missionsgesellschaften gelegen, von denen die Katholiken mit den

alles dominierenden Weißen Vätern die überaus wichtigste darstellte. Anfang der 20er Jahre

waren drei von vier Bildungseinrichtungen im Territoire Nyanza missionsbetrieben, wovon

Kabgayi, mit zwei Seminaren, einer Primär- sowie einer Berufsschule, so etwas wie ein

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Bildungszentrum repräsentierte und in den Augen des belgischen Delegierten am Hof,

Defawe, diesen an Bedeutung als Zentrum Zentralruandas zu übertreffen begann (Dorsey

1983: 75; Linden 1977: 134). Die Dominanz des katholischen Schulsektors änderte sich

allerdings auch nach der Gründung der Schule in Nyanza nicht wesentlich. Sie stellte

allerdings den Hauptgrund für die Gründung einer konfessionsfreien Schule dar, da Musinga

und die große Mehrheit der Chiefs nach wie vor ein großes Mißtrauen gegenüber den

Missionaren und den Missionsschulen an den Tag legten. Musinga hatte 1918 in einen Brief

an den damaligen Commissaire Royal, General Malfeyt, explizit darauf hingewiesen

(Reyntjens 1985 108). Auf die Aufforderung, die Söhne von Chief in Schulen zu schicken,

forderte Musinga seine Chiefs seinerseits auf, statt ihren Söhnen uneheliche Söhne, Söhne

von Klienten bzw. geistig zurückgebliebene Jungen (wie dies bereits unter den Deutschen

praktiziert wurde) das ‚Gift’ (Uburozi)219 westlicher Bildung schlucken zu lassen (Dorsey

1983: 76; Das Resultat des Mißtrauens gegenüber den missionsbetriebenen Schulen war,

daß missionsnahe Personen – also überwiegend Hutu und Tutsi aus bescheidenen

Verhältnisse – über die beste Ausbildung verfügten, während die traditionelle

Herrschaftselite kaum oder nur beschränkten Kontakt mit westlicher Bildung hatten. Dies

hatte insbesondere im ersten Jahr der belgischen Präsenz, während dem die ‚traditionellen’

Strukturen ausgeschalten oder umgangen worden waren, zu einer partiellen Reversion der

Machtverhältnisse geführt. In der Gegend um die Missionsstation Save, die während des

Krieges eine wichtige Funktion als Versorgungsposten für die belgischen Truppen und die

belgische Verwaltung eingenommen hatte, agierte der Superior der Mission, Pater

Huntzinger, praktisch wie ein Chief und betraute seinerseits seine ausgebildeten Hutu

Protegés mit ähnlichen Funktionen, wodurch die eingesessenen Chiefs praktisch zu

Befehlsempfängern der christlichen Elite gemacht wurden. Am Beginn der belgischen

Kolonialherrschaft nutzten viele Christen, die bei den Missionaren in den Genuß von

Schuldbildung gekommen waren, die Gelegenheit und boten sich den belgischen

Verwaltungsorganen als Übersetzer an. Der Katechist Wilhelmi (‚Guten Willens’), der seit

1907 für den Mwami Unterricht abgehalten hatte, trat etwa 1917 als Guillaume in belgische

Dienste ein, viele andere taten es ihm nach. Die privilegierte Rolle als Organe der Belgier

führte zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse: Nicht-Christen hatten die undankbaren

Trägerarbeiten zu vollführen, und Chiefs waren diejenigen, welche Abgaben zu leisten

hatten, wenn die Forderungen der Mission oder ihres Klientel nicht erfüllt wurden, etwa,

wenn sie ihre Söhne nicht zur Schule sandten (Vgl.Linden 1977: 131; Rumiya 1992: 195). 219 Die Bedeutung von Uburozi (zu abarozi-Hexen) ist etwa folgendermaßen: ‚Gift, das die Gesellschaft als ganzes Bedrohen kann’ oder, in der Folge auch eine durch Hexerei/ bösen Zauber verursachte Krankheit (des Körpers/ der Gemeinschaft), die immer als eine Art Vergiftung gedacht wird. Eine solche Art von ‚Vergiftung’ wäre in der traditionellen Gesellschaft Ruandas ein Fall für einen Umufpumu, dem traditionellen Heiler, dem es obliegen würde, die als Uburozi symbolisierte bzw. artikulierte Bedrohung oder Störung des sozialen Gleichgewichts wiederherzustellen (Vgl. Reyntjens 1985: 107; zu ruandesischen Vorstellungen von Krankheit

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Während mit dem Amtsantritt De Clercks und dem einhergehenden Politikwechsel (der

Wiederherstellung einer Art indirekter Herrschaft) die besondere Rolle Saves als lokaler

Fokus von Macht und Klientelismus revidiert wurde, blieb die prinzipielle Gefährdung der

‚traditionellen’ Elite durch eine embryonale (christliche) Bildungselite bestehen, welche diese

aber erst im Laufe der Zwanziger Jahre zu realisieren begann, nachdem die belgische

Verwaltung nach 1925 nur mehr Personen mit einem Mindestmaß an Schulbildung als

Chiefs einsetzte und gegen Ende der Zwanziger von ihr als inkompetent eingeschätzte

Chiefs massenweise abzusetzen begann (Vgl. Dorsey 1983: 79).

Die Regierungsschule in Nyanza – in gewisser Weise die Nachfolgeinstitution der schlecht

ausgestatteten und dahinsiechenden von den Missionaren betriebenen ‚Schule’, die diesem

Namen eigentlich nicht gerecht wurde, wurde 1919 eröffnet und sollte explizit der

Ausbildung von Söhnen von Notablen zu ‚Sécretaires Indigènes’ dienen. Entsprechend des

Schulziels, sowie in Widerspiegelung des Tutsi-Monopols über politische Posten auf der

oberen Ebene der Hierarchie und der Marginalisierung der noch bestehenden semi-

autonomen Regionen in Nordwestruanda (v.a. Bushiru) sowie in Südruanda (Bukunzi und

Busozo) setzten sich Schüler in Nyanza (im Unterschied zu den Schülern einer

vergleichbaren Regierungsschule in Muramvya, Burundi) fast ausschließlich aus den

Angehörigen der niederen und höheren Tutsi-Aristokratie zusammen220. Gleichzeitig mit der

Eröffnung der Schule in Nyanza wurden in den bestehenden Verwaltungszentren semi-

formelle Vorbereitungskurse organisiert und 1924 schließlich Schulen in allen vier

Territorialhauptstädten sowie in dreizehn der traditionellen Provinzen (die unter den Belgiern

als ‚Chefferies’ firmierten). Im selben Jahr wurde eine Berufsbildungsschule in Shangugu

(Cyangugu) gegründet, die wie alle neugegründeten Schulen von Europäern geleitet wurde

(Dorsey 1983: 75ff). Ab 1925 nahm die Schule in Nyanza die Schüler aufgrund ihrer

‚Ethnizität’ – als Tutsi - auf, wodurch Hutu qua Hutu ausgeschlossen wurden (Lemarchand

1970: 189). Dies ist vor dem Hintergrund der steigenden Akzeptanz der Schule durch die

Tutsi-Aristokratie zu sehen, in deren Folge häufige Auseinandersetzungen zwischen ‚noblen’

und ‚gemeinen’ Tutsi dazu führten, von einer statusblinden Rekrutierungspolitik völlig

abzugehen (Reyntjens 1985: 109)

Die Schule wurde wie ihr deutscher Vorläufer auf traditioneller Basis organisiert – alle

Schüler waren zugleich Intore Musingas. Die Schule eröffnete mit 73 Schülern. 1921 waren und sozialem ‚Heil’ vgl. Taylor 1999 sowie Gravel 1968: 144ff). 220 Die Schule in Nyanza hatte 1925 349 Schüler, von denen alle Tutsi waren, während ihr Gegenstück in Muramvya (Burundi) 1928 insgesamt 177 Schüler hatte, von denen 50 Schüler Söhne von Chiefs (d.h. Baganwa)waren , 67 Tutsi, 53 Hutu, 1 Mulatto, 1 Asiate und 5 Schüler Söhne von Soldaten unbekannter Herkunft (Vgl. Lemarchand 1970: 75). In Kinyaga war auf Initiative von Rwagataraka, dem Provinchief von Impara, bereits eine Schule für Söhne von Chiefs, eingerichtet worden, die allgemein als ‚École de Batutsi’

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es bereits 105 Schüler in drei Klassen und 1930, kurz vor ihrer Schließung und Ablöse durch

das Bildungsinstitut der Groupe Scolaire in Astrida (späteres Butare), hatte die Schule 342

Schüler in 6 Klassen (Reyntjens 1985: 124; Rumiya 1992: 160). Kolonialminister Franck

(Minister von 1918-1924) strich in einer Rede anläßlich der Eröffnung der Schule deutlich die

Zielstellung der Schule heraus: sie sollte die Verwaltung rationalisieren (nach den

Grundsätzen europäischer Verwaltungstraditionen, also nichts anderes als bürokratisieren),

aber keineswegs die als ‚traditionell’ und daher als legitim wahrgenommene politische

Ungleichheit zwischen Hutu und Tutsi gefährden: Il ne s’agit pas, sou prétexte d’égalité, de toucher aux bases de l’instutition politique; nous

trouvons les Watuzi établis d’ancienne date, intelligents et capables; nous respectons cette

situation. (zitiert nach Rumiya 1992 : 138).

1923 traten die ersten 30 Absolventen der Chiefs in den belgischen Verwaltungsdienst in

dessen Rahmen sie die für sie vorgesehenen Posten als Secrétaires Indigènes antraten.

Nach sechs bis zwölf Monaten derartiger Praxis konnten sie politische Ämter übertragen

bekommen, gewöhnlicherweise zuerst als Sous-Chef. Die Secrétaires Indigènes wurden

analphabetischen Chiefs zugeteilt und waren in erster Linie für die Ausführung der für den

zentralen Kolonialstaat vollzogenen Verwaltungsaufgaben – Bevölkerungsevidenz,

Steuereinhebung und alle Aufgaben, die damit zusammenhingen, verantwortlich (Reyntjens

1985: 124). Die Sekretäre waren indes extrem jung. Manche Absolventen der Schule in

Nyanza waren nicht älter als 16/17 Jahre und waren, sowohl in der Position des Sekretärs

als auch in der Position des Subchiefs oder Chiefs wegen ihres geringen Alters mit

erheblichen Autoritätsproblemen konfrontiert. Absolventen der Schule aus ärmeren

Verhältnissen hatten dagegen, z.T. zusätzlich zu ihrem geringen Alter, wegen ihrer relativen

materiellen Armut mit Disrespekt zu kämpfen, zumal es ihnen dann auch schwer fiel, ihre

obligate Rolle als Patron zu übernehmen. Da Macht und Reichtum (an Vieh und Klienten)

zumindest in bezug auf die politische Elite als synonym miteinander angesehen wurden,

konnte selbst die starke politische Unterstützung, die das neue Kader von ihren belgischen

‚Patronen’ erhielt, den Mangel an Reichtum (und am als proportional dazu

wahrgenommenem Durchsetzungsvermögen) völlig kompensieren. Die Kolonialverwaltung

reagierte damit mit der Übertragung allen Viehs und aller Klienten der Amtsvorgänger der

neu eingesetzten Chiefs, nicht unähnlich der vorkolonialen Praxis, wo die Übertragung von

an ein Amt gebundenes ‚Kapital’ an neu bestellte Amtsinhaber üblich war, aber dies in

weitaus systematischer und weitreichender Weise (Dorsey 1983: 77f.). Verständlicherweise

schuf diese Praxis die Voraussetzung für schwere Konflikte zwischen der jungen,

aufsteigenden Elite von künftigen Chiefs und älteren, traditionell bestellten Herrschaftsträger,

deren Position durch die administrative Praxis nach 1925, nur mehr Personen mit bekannt wurde (C.Newbury 1988: 61, EN 31).

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205

europäischer Bildung zu Chiefs zu machen und die gleichzeitige territoriale Konsolidierung

(Verkleinerung der Zahl der traditionellen Provinzen, Abschaffung von Ibikingi usw.)

zunehmend prekärer wurde.

Exkurs: Klientelismus und Abhängigkeit unter den veränderten Bedingungen von Herrschaft

Die Veränderungen in der Struktur und Praxis politischer Herrschaft in Ruanda, die von den

belgischen Reformen (die bewußte Bildung einer indigenen Verwaltungselite, die Bündelung

politischer Autorität in der Figur des Chiefs, die territoriale Neugliederung usw.) induziert

wurden, weisen zum größten Teil über die in diesem Kapitel behandelte Periode (1916-1924)

hinaus. Die territoriale Konsolidierung, die Abschaffung der Tripelhierarchie (umutware

w’umukenke, umutware w’ubutaka, umutwara w’umuheto) wurden erst ab 1926, der Periode

intensivster Veränderung, effektuiert. Dennoch werden einige ihrer Konsequenzen auf die

Herrschaftsstruktur und die Machtverhältnisse in Ruanda schon an dieser Stellte diskutiert.

Insbesondere deshalb, weil viele der Reformschritte nicht erst mit ihrer Dekretierung

eingeleitet wurden, sondern schon davor schrittweise ausgeführt und mitunter exemplarisch

vorexerziert wurden, wie dies bei der Diskussion der Ausweitung des zentralruandesischen

Herrschaftsmodells in die Peripherie klar geworden sein sollte. Die durch die Reformen

induzierten Veränderungen der Herrschaftsstruktur beschränkten sich nicht auf die formellen

politischen Strukturen, sondern führten zu einer Transformation der Machtverhältnisse in

einem viel weiteren Sinne. Im Speziellen brachten sie eine Transformation der formalisierten

Abhängigkeitsbeziehungen und die massive Expansion von Ubuhake und Uburetwa,

während Umuheto in Fortsetzung einer bereits mit dem Beginn von Musingas Regentschaft

festzustellenden Tendenz zunehmend verschwand.

Die Transformationen des Klientel- und (des analytisch davon unabhängigen)

Herrschaftssystems werden deutlich, wenn bei der Analyse auf der Ebene der politischen

Institutionen (Chefferie, Sous-Chefferie) angesetzt wird. Die oben angesprochenen

Autoritätsprobleme des jungen administrativen Kaders innerhalb des traditionellen Rahmens

und ihre damit einhergehende Abhängigkeit von den Belgiern förderte ihre ‚Loyalität’ und

folglich auch Abhängigkeit gegenüber den Belgiern und machte sie zu bemühten

Vollstreckern ihrer Direktiven. Obwohl klientelistische Beziehungen zu bekannten Chiefs

bzw. zum Mwami dadurch nicht völlig verdrängt wurden, verlor das ‚traditionelle’

Klientelnetzwerk seine Funktion als elitenbestimmender und elitenstabilisierender

Mechanismus und wurde durch ein neues System von Abhängigkeiten ersetzt, in deren

Zentrum der Resident und die einzelnen Administratoren der Territorien standen. Die

Abhängigkeit der Chiefs von einer positiven Bewertung durch den verantwortlichen

Administrateur de Territoire bzw. in letzter Instanz, dem Residenten in Kigali, bedeutete

auch, daß die neuen Chiefs sich weniger stark an ‚traditionelle’ Obligationen gegenüber

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ihrem Klientel bzw. gegenüber den Einwohnern des Gebiets ihrer Jurisdiktion gebunden

fühlten, als daran, den Forderungen der Kolonialmacht möglichst umfassend zu

entsprechen. Dadurch verlor der allgegenwärtige Paternalismus, der bislang die Asymmetrie

zwischen Herrschern und Beherrschten zumindest teilweise verdecken konnte, zunehmend

seine praktische Realität. Der veränderte Kontext von (administrativer) Herrschaft verschob

in weiterer Folge auch die Struktur des Klientelsystems als ganzes. Es genügte nun nicht

mehr, einen mächtigen Umuheto- oder Ubuhake-Patron hinter sich zu wissen, sondern dem

um Schutz bemühten Ruandesen221, der in früherem Kontext darauf vertrauen konnte, durch

seine Beziehungen zu einem oder verschiedenen Patronen einigermaßen ‚sicher’ vor

Gefährdungen durch die politischen Autoritäten zu sein, blieb nur die Möglichkeit sich bei der

nun relevanten Instanz, dem Administrateur Territorial, Gehör zu verschaffen. Dies gelang

am ehesten dadurch, daß man den Chief oder einen Subchief als inkompetent denunzierte

und idealer weise dafür einen anderen Chief/Subchief (oder auch einen Missionar) fand, der

die Anschuldigung dem zuständigen Administrator oder dem Residenten zutrug.222

Abgesehen davon, konnte er nur versuchen, möglichst gute Beziehungen zum relevanten

Subchief oder Chief zu pflegen, indem er sich dem (von Pierre Gravel in anachronistischer,

aber paradoxerweise dennoch irgendwie treffender Weise als ‚Nuclear Feudal Cluster’

bezeichnetem) Klientelkomplex anschloß, der sich um die Person des Chiefs/Subchiefs

formierte; sein Ubuhake-Klient wurde und/oder zusätzlich andere ‚freiwillige’ Dienste und

‚Dankgeschenke’ machte (Vgl. Gravel 1968: 158ff).

Die Beschreibung eines ehemaligen (von den Belgiern abgesetzten) Subchiefs gibt beredt

Auskunft über den oppressiven Charakter der Beziehung zwischen administrativem Organ

und Bevölkerung: It was in 1930 (....) [that] I was designated sous-chef and the people of the colline were afraid

of me. Every morning I received many pots of liquor. In those days people had boundless

respect for sous-chefs. No one passed me without a formal salutation. They had to bow down

before me, then I would respond with a greeting. My wife had cultivated the land before I

became sous-chef, but afterwards she no longer recognized what a hoe was. (in Codere 1973:

79).

Der Charakter von Klientelbeziehungen hatte sich schon seit der Regentschaft Rwabugiris

zunehmend verändert. In Kinyaga z.B. hatte die Einsetzung von Hügel-Chiefs – meist 221 Dieser Kreis von Personen potentieller Umuheto- oder Ubuhake-Klienten war selbst in kolonialer Zeit nicht besonders groß. Zu diesem Kreis zu gehören bedurfte es eines Mindestmaßes an ‚Besitz’ oder an Minimum an Verfügungsrechten, die man schützen wollte und innerhalb einer Klientelbeziehung auch konnte und eines Mindestmaßes an Ressourcen (z.B. Arbeitskraft der Lineagemitglieder, Prestige usw.), welche man beim Eingehen einer formalisierte Klientelbeziehung einsetzen konnte (Vgl. oben: Kap.4.3 Die Ausweitung von Klientelbeziehungen) pp.95ff). 222 Für ein instruktives Beispiel aus der Sicht eines abgesetzten Subchiefs siehe die Autobiographie von Mihana

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Personen außerhalb der Region – die Verdrängung des älteren Ubukonde-Landrechts (in

dessen Rahmen die Landrechte in den Händen von ‚zu erst gekommenen’ Lineages gelegen

hatten) bedeutet und Ubukonde-Land zu Isambu-Land transformiert, über dessen Verteilung

die politische Autorität (der Hügel-Chief) bestimmte. Zum Teil waren an die Vergabe von

Land Uburetwa-Verpflichtungen gebunden. Parallel mit der politischen Zentralisierung in der

Form der Einsetzung von zentralruandesischen Chiefs weiteten sich Klientelbeziehungen

entscheidend aus – ein Prozeß, der in der südwestruandesischen Region Kinyaga vom Ende

der Regentschaft Rwabugiris bis ca. 1935 andauerte (C.Newbury 1978: 20ff). In Kinyaga

hatte sich zudem eine zweite Form von Ubuhake-Klientelbindung herausgebildet, die im

Gegensatz zur klassischen Form von Ubuhake keinen Transfer eines Rindes beinhaltete und

mit ‚guhakwa y’ubutaka’ - „den Hof für Land machen“ umschrieben wurde. Die

(prestigeträchtigen) Dienstleistungen, die innerhalb dieser Beziehung dem Patron geleistet

wurden (Tragen der Pfeife, des Tabaks usw.) unterschieden sich von den Dienstleistungen

der klassischen Form von Ubuhake. Der Name für diese Art von Ubuhake weist darauf hin,

daß der Patron in diesem Verhältnis der Hügel-Chief, und später der Subchief war und der in

dieser Periode die Landverteilung hauptsächlich kontrollierte (C.Newbury 1988: 134f).

Die Tendenz zu Konvergenz von politischem Amt und Patron-Status war daher schon in der

spätvorkolonialen Zeit angelegt und hatte dementsprechend schon vor den belgischen

Reformen zu einem Anwachsen der Macht der Chiefs geführt. In einem gewissen Sinn

brachten daher die belgischen Reformen diese Tendenz lediglich zu ihrer Vollendung. Die

vor diesem Hintergrund zu sehende Transformation von Ubuhake von einer

prestigeträchtigen Bindung an einen mächtigen Patron, für die ein relativ hoher Status, mithin

die Mitgliedschaft in der Herrschaftselite eine Voraussetzung war, zu einer zunehmend

ausbeuterischen Beziehung zwischen zwei weitgehend statusungleichen Personen hatte

zumindest drei Gründe: zum einen das Verschwinden der alten Form von Umuheto

Beziehung, die zwischen einer Verwandtschaftsgruppe und einem Patron geschlossen

wurde, während Ubuhake auf die individuelle Beziehung zwischen Patron und Klient beruhte.

Das einzelne Individuum hatte zwangsweise weniger Möglichkeiten, die Bedingungen der

Beziehung zu bestimmen. Im direkten Zusammenhang mit der Ausweitung von Ubuhake

steht die Schwächung der Einheit der Lineage Dazu trug bei, daß die verschiedenen

Mitglieder einer Lineage zunehmend Ubuhake-Bindungen mit verschiedenen Patronen

schlossen (Vgl. C.Newbury 1988: 102ff). Ein zweiter Faktor für die stärkeren

ausbeuterischen Züge von Ubuhake war die Ausweitung der Beziehung auf weniger

mächtige und reiche Teile der Bevölkerung. Der dritte und bei weitem bedeutendste Grund

lag in der Homogenisierung der Herrschaftsstruktur, wie sie von den Belgiern effektuiert

in Codere 1973: 73-83

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wurde (Vgl. ebenda: 136).

Die Situation in bezug auf Uburetwa unterschied sich von anderen Formen von

Klientelbeziehungen deutlich. Ihr fehlte jegliches Prestige, im Gegenteil, sie war Anlaß von

Scham und jegliche Erwähnung dessen, daß man Uburetwa Verpflichtungen versah, wurde

gegenüber Nachbarn, Freunden und Verwandten, möglichst vermieden. Ihre Einführung

(Vgl. oben: pp. 93ff) war jüngeren Datums und sie betraf nur die schwächsten Glieder der

Gesellschaft. Wenn auch Uburetwa während der deutschen Periode eine deutliche

Ausweitung erfuhr, blieben ein weiter Teil der Bevölkerung von ihr unbetroffen. Die in diesem

Verhältnis implizierten Arbeitsdienste wurden gleichfalls nur unsystematisch eingefordert,

entsprechend dem Ausmaß, mit dem ein ‚Patron’ (gewöhnlicherweise ein Chief) diese

gegenüber dem ‚Klienten’ (in der Regel der für den Zugang zu Land vom Patron/Chief

abhängig war) durchsetzen konnten. Von der uneinheitlichen Praxis, die mit Uburetwa

verbunden waren, rührten auch die widersprüchlichen Darstellungen, die koloniale

Funktionäre oder Missionare von ihr machten. So schreibt zum Beispiel der 1922 zum

Bischof von Ruanda geweihte Missionar Leon Classe in einem Brief an den Nachfolger von

Eede als ziviler Resident, George Mortehan (Resident von 1923-1929) in bezug auf den

Nordwesten Ruandas: (...) Par erreur de leur politique indigène, les Allemands imposèrent, d’abord indirectement

puis par des actes, le buretwa ou, autrement dit, reconnurent par une fausse généralisation,

aux chefs politiques le droit aux terres qui appartenaient aux familles Bahutu. Da là surtout est

venue l’hostilité contre les Batutsi, non pas donc en tant que chefs politiques percevant

certaines redevances, imposant certaines corvées (…), mais bien en tant qu’accaparteurs des

terres, se substituant aux chefs de familles, par le fait du buretwa. (Classe an Mortehan, Mai

1928 zitiert nach Rutayasire 1987 : 143)

An anderer Stelle spricht er von einer ‚traditionellen’ Verpflichtung der Untertanen gegenüber

der politischen Autorität, die seit undenkbaren Zeiten bestehe und unterscheidet sie von, in

seinen Augen unbilligen Requirierungen von Arbeitskraft als Uburetwa für Hacken,

Lebensmittel usw. (vgl. z.B. den Brief von Classe an den Residenten Simon [1933-1940]

teilweise zitiert in Rutayisire 1987: 146, sowie dazugehörige EN 39). In einem vehementen

Brief von 1933 präzisiert Classe seine Vorstellung von Uburetwa und seine Vorstellung von

ihrem Stellenwert als Ausdruck der Loyalität der Untertanen gegenüber ihrem Chief: La corvée [gemeint ist uburetwa] est la redevance en travail que les sujets paient à leurs chefs

respectif ou à leurs supérieurs pour les terres qu’ils tiennent de ce chef ou de ses

prédécesseurs (…) La corvée est l’affirmation et la réalisation pratiques d’un droit de propriété

(…) Ne pourrait-on pas dire qu’un chef qui ne peut utiliser lui-même tous ses corvéables en a

trop et, par suite, le nombre de ses journées corvéables devra être réduit ? Non, certes! À

cause de ceux qu en ont trop, ceux qui n’en n’ont pas assez seront privés. Le

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mécontentement et le manque de confiance des chefs ne tarderaient pas à ses montrer (…)

Ce serait une erreur de psychologie (…) les chefs perdraient la confiance de leurs gens parce

qu’ils deviendraient simplement des ‘Agents du Gouvernement’, qui font seulement travailler

et exécuter les ordres, des employés placés dans le pays, comme d’autres les sont auprès de

MM. les Administrateurs (…). (zitiert nach Vidal 1973 : 38)

Das erste der beiden wiedergegebenen Zitate ist deshalb so interessant, weil aus ihm

hervorgeht, daß Classe Uburetwa ausschließlich in ihrer Funktion als Verpflichtung

gegenüber der politischen Autorität als eine berechtigte Abgabe, und betrachtet man das

zweite Zitat, als eine notwendige Form der Loyalitätsbekundung sieht. Lediglich die mit der

Einführung von Uburetwa in Nordruanda verbundenen Bodenrechtsänderungen, also der

Übergang des Landbesitz von der Lineage zu den Chiefs lehnt er als unbillig ab. Gleichzeitig

gesteht er ein, daß Uburetwa in Nordruanda erst in der kolonialen Periode eingeführt worden

ist. Damit nimmt er Classe Uburetwa aber als etwas wahr, was es in vorkolonialer Zeit eben

nicht gewesen ist: nämlich ein mit einem politischem Amt verbundenes Privileg der Chiefs.

Vielmehr war Uburetwa mit der Gewährung von Ibikingi-Vorrechten über ein bestimmtes

Territorium verbunden und keinesfalls ein generelles Vorrecht der politischen Klasse, auch

wenn diese als Land-Chiefs die Verteilung von Gründen kontrollierte (Vgl. Dorsey 1983: 66).

Die Kolonialverwaltung sah dies in Begriffen, die den Ausführungen von Classe durchaus

ähnlich waren und kommentierte die Entscheidung, die Verpflichtung zu Uburetwa aufrecht

zu erhalten, trocken: In Anbetracht dessen, daß das Prinzip, wonach ein Hutu einem Notablen eine Anzahl von

Arbeitstagen zur Verfügung stehen muß, ein Ausdruck von Gehorsam gegenüber der

politischen Autorität ist, entschied die Verwaltung, die Erlaubnis für eine monetäre Zahlung an

der Stelle dieses Typus von Zwangsarbeit nicht zu geben. (Historique et Chronologie223, m.Ü.

zitiert nach Newbury 1988: 141f).

Uburetwa war – sieht man von Ubuhake ab – die einzige der ‚traditionellen’ Abgabe, die in

ihrer Naturalform erhalten blieb und erst 1949 vollkommen monetarisiert wurde,

Mit der Festsetzung von Uburetwa auf zwei von fünf Tagen für jeden ‘Home adulte valide’,

wie der bezeichnende Terminus Technicus für erwachsene Männer lautete, transformierte

die belgische Verwaltung Uburetwa zu einer prinzipiell allgemeinen Naturalleistung

zugunsten der (indigenen) Verwaltungselite. Im Prinzip war nun jeder erwachsener Mann zu

Uburetwa verpflichtet, wobei in der Praxis ihre Durchsetzung weit weniger allgemein war.

223 Historique et chronologie du Ruanda, Kabgayi 1956: p.27 . Es handelt sich dabei um eine anonyme, wahrscheinlich von einem belgischen Kolonialbeamten redigierte Synthese von historischen Essays und Berichten der einzelnen Territorialzentren.

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Dies hing zum Teil mit der bis Ende der Zwanziger Jahre unvollständigen Inkorporation

peripher Gebiete zusammen. Am wichtigsten jedoch war, daß die Frage, ob man zu

Uburetwa verpflichtet wurde oder nicht, entscheidend von dem Verhältnis zum jeweiligen

Chief bzw. Subchief abhing. Die potentielle Verallgemeinerung der Zwangsarbeit für den

Chief war damit ein weiterer Grund für die Ausweitung von Ubuhake, durch das man sich die

‚Gunst’ bzw. Patronage des Chiefs sichern konnte. Das Nichterfüllen der Verpflichtung

konnte dagegen den Verlust von Nutzungsrechten über Land zur Folge haben. Die dadurch

geschaffene Situation der Ausweglosigkeit für breite Teile der Bevölkerung, die sich dem Teil

der Bevölkerung, der sich auf die eine oder andere Weise von Uburetwa loskaufen konnte,

als Zwang, die Entbindung von der Verpflichtung durch andere Leistungen zu kompensieren,

manifestierte, ließ Uburetwa einem der bedeutendsten Symbole für die Ausbeutung durch

die Chiefs werden (Dorsey 1983: 67). Mit der Reform von Uburetwa verlor die Beziehung

jeden Anschein von Klientelismus – wenn sie diesen überhaupt jemals erfüllt hat. Die Last,

die mit ihr auf der Bevölkerung lastete, wurde durch die massive Einforderung von

Arbeitsleistung im Rahmen öffentlicher Arbeiten für Infrastrukturprojekte, die Mitte der

Zwanziger Jahre einsetzten, noch vergrößert. Die sukzessive Reduktion von Uburetwa auf

zunächst einen von fünf Tagen 1924, die Begrenzung der jährlichen Verpflichtung zwei Jahre

später auf insgesamt 42 Tage/Jahr 1926, eine weitere, auf die (europäische) Woche

gerechnete Reduktion auf einen Tag pro sieben Tagen 1927 und die Beschränkung der

Arbeitsverpflichtung für persönliche Zwecke des Chief im Jahr darauf, reduzierte somit die

Gesamtbelastung für die Bevölkerung nicht, sondern, in den Worten Ian Lindens: The qualitiy of peasant life was little changed by the new ubuletwa regulations, they merely

freed the Hutu for more onerous kazi [Zwangsarbeit für koloniale Infrastruktur, A.K.] labour for

the Belgians. The weak and unprotected would end up with both. (Linden 1977: 187).

Die Reduktion der jährlichen Uburetwa-Gesamtverpflichtungen auf 15 Tage (1928) für

private Zwecke des Chiefs beließ die kommunalen Arbeitsverpflichtungen unverändert bei

48 Tagen. Für den einzelnen Hutu unterschied sich Uburetwa als Verpflichtung für den Chief

kaum von Akazi Zwangsarbeit, zu der auch die kommunalen Verpflichtungen zu zählen sind

(Dorsey 1983: 71) Die Kontrolle über die Arbeitskraft weiter Teile der Bevölkerung, welche

die Chiefs in der Form von Uburetwa und Akazi hatten, erlaubte es ihnen, diese gezielt als

‚Waffe’ einzusetzen, um damit Abhängigkeit zu produzieren (indem die davon Bedrohten

versuchten, Klienten des Chiefs bzw. Subchiefs zu werden) und gleichzeitig die Kontrolle

über Arbeitskraft und Land zu vertiefen (C.Newbury 1988: 143).

Ebenfalls 1928 war den Chiefs nahegelegt worden, Arbeiter für die Arbeit zum Zuge des

Anbaus kommerzieller Nutzpflanzen durch erstere (geringfügig) zu remunerieren.

Gleichzeitig wurde im entsprechenden Jahresbericht (1928) die Sorge geäußert, diese

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Maßnahme könnte ‚das Gleichgewicht zwischen den einheimischen Gruppen’ – also die

soziale und politische Position der Chiefs gefährden, deren Hang zu ostentativem Konsum

(conspicuous consumption in der luziden Formulierung von Thorstein Veblen in seiner

Theory of the leisure class) sie Gefahr laufen lasse, sich zu verschulden und zu verarmen,

was letztlich wieder zu größerer Ausbeutung der Hutu durch die Chiefs führen müsse

(Dorsey 1983: 72). Besser kann der fundamentale Wiederspruch der kolonialen

Herrschaftsideologie – das Konservieren der Herrschaftsstruktur bei gleichzeitiger völliger

Transformation ihrer Funktionen gegenüber der Gesellschaft – nicht formuliert werden.

6.1.3 Die Neudefinition des Verhältnisses von Mission und Staat, ca.1917-1945

6.1.3.1 Staat und Mission, Mission und Gesellschaft

Während der Dauer des ersten Weltkrieges waren die missionarischen und

Bildungstätigkeiten der Weißen Väter – immer noch die einzige katholische Kongregation in

Ruanda – praktisch zu einem Stillstand gekommen (Rutayisire 1987: 102). In den letzten

beiden Jahren der deutschen Kolonialherrschaft in Ruanda hatten überdies die Spannungen

mit der deutschen Kolonialmacht stetig zugenommen, nicht zuletzt, weil die Loyalität der

Missionare, von denen nur ein sehr geringer Teil Deutsche waren, von den deutschen

Kolonialbehörden als unsicher eingeschätzt wurde.

Der Rückgang der Missionsaktivitäten zusammen mit den Auswirkungen der materiell

prekären Situation der Mission und den Konsequenzen der der Mission übertragenen

Aufgaben im Rahmen der Kriegsanstrengungen zu einem merklichen Rückgang der

Taufwerber geführt. Der Krieg war damit auch eine Krise der Mission (Linden 1977: 124)

Nach dem Ende der Kampfhandlungen in Ruanda wurde mit einer Synode in Kabgayi der

pastorale Neubeginn eingeleitet. Der Schwerpunkt und die Zielrichtung der Missionsarbeit

sollte (in Anknüpfung an die Position unmittelbar vor dem Weltkrieg) in der Durchdringung

der ländlichen Gebiete bestehen, wo man auf Gebietskonzessionen (ibibanza) semi-

permanente Zweigstationen der großen Stationen gründen wollte (Rutayisire 1987: 102).

Auf politischem Terrain nahmen die Missionare von Anbeginn der belgischen Präsenz an

eine hervorragende Stellung ein, die über die kolonialpolitische Funktion während der

deutschen Periode weit hinausging. Zum einen war die Besatzungsmacht auf das Wissen

der Missionare um die soziale und politische Struktur des Landes angewiesen. Die

Erfahrung, welche die Kolonialfunktionäre aus dem Kongo mitbrachten, beinhaltete wenig,

das auf Ruanda übertragen hätte werden können. Zudem verfügten die (frankophonen)

Missionare über eine intime, wenn auch tendenziöse Kenntnis des Landes, die sie in ihrer 15

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jährigen Präsenz in Ruanda erworben hatten. Noch 1916 verfaßte Leon Classe eine

Monographie über die Gesellschaft Ruandas, das auch einen Abriß der politischen

Geschichte beinhaltete und von den belgischen Kolonialfunktionären eifrig zitiert wurde (Vgl.

Rumiya 1992: 133).

Zum anderen stützte sich die belgische Kolonialverwaltung bei der Errichtung der

Übergangsverwaltung wesentlich auf die Mission. Save fungierte als eine Art

Verwaltungszentrum, in dessen Umkreis in einer Rückkehr zu früheren Praktiken der

Missionare, die ‚traditionelle’ Hierarchie und damit die Elite von Tutsi-Chiefs ausgeschaltet

oder umgangen wurde, während die Missionsstation Rwaza (im Nordwesten) auf

Ermunterung durch den zuständigen Administrateur de Territoire Tribunale einzurichten

begann. Diese sollten die Unsicherheit, die durch die de facto Abwesenheit der vor dem

Krieg eingesetzten Tutsi-Chiefs entstanden war, kompensieren, errichteten in Wirklichkeit

aber Institutionen mit dezidiert regionaler Basis und Orientierung und somit in krassem

Widerspruch mit der ‚bedingungslosen’ Unterstützung der Tutsi-Chiefs und der Monarchie,

was seit spätestens die 1908 offizielle Politik der Mission war (Linden 1977: 125f; Rutayisire

1987: 136). Mit der (Wieder)Errichtung der Residentur 1917 und dem damit verbundenen

Wechsel zu einem Regime in indirekter Herrschaft, in dessen Rahmen die belgische

Kolonialverwaltung, wenn vielleicht auch nicht bedingungslos, so doch faktisch die

‚traditionelle’ Oligarchie von zentralruandesischen Tutsi-Chiefs und zu einem geringeren

Ausmaß, den Mwami als Repräsentanten des Kolonialregimes aufbaute und ihre Position

stärkte, fand das Experimentieren mit alternativen Herrschaftsstrukturen (das allerdings nie

ein Experimentieren mit alternativen Herrschaftsmodellen gewesen war) ein Ende. Das

beendete auch die Theokratie à la Rwaza und à la Save, die um charismatische

Patriarchenmissionare – ganz nach dem Modell ruandesischer Chiefs – entstanden war und

welche lokale, alternative Brennpunkte von Herrschaft darstellten. Nichtsdestoweniger

hielten die Weißen Väter nach wie vor eine hervorragende Rolle innerhalb des

Kolonialregimes inne, auch wenn ihnen die Arena für direkte Ausübung von

Herrschaftsfunktionen entzogen wurde: als Kommunikationsorgan der Verwaltung, das

sowohl Maßnahmen unter der Bevölkerung bzw. den Chiefs verbreitete, als auch umgekehrt,

Mißbräuche der Chiefs und über lokale Zustände im Allgemeinen berichtete; als Berater der

Verwaltung in Entscheidungen jeder Art; als Quelle von Patronage und damit bis zu einem

gewissen Grad auch als Instrument/Leiter sozialer Mobilität.

Die guten Beziehungen der Weißen Väter zu der Kolonialadministration begünstigten die

physische Expansion der Mission, die sowohl durch die Gründung neuer Missionsstationen

als auch durch die massive Ausweitung der Außenposten erreicht wurde. Im Zuge der

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kurzfristigen Zession Gisakas hatten Protestanten (Anglikaner und Adventisten) in Ruanda

fußgefaßt und wurden zur prinzipiellen Zielscheibe und Motivation der Ausweitung der Zahl

der Niederlassungen. Obwohl Belgien in den Mandatsstatuten zur Garantie der Religions-

und Konfessionsfreiheit verpflichtet wurde, war der Staat de facto keineswegs religiös

neutral. Die protestantischen Missionare gehörten weit weniger stark zu dem von

Kolonialfunktionären und höher gestellten Missionaren gebildeten kolonialen Establishment.

Der Zugang zu diesem Netzwerk von Funktionären bot für die katholischen Missionare eine

hervorragende Möglichkeit, informell wesentlich Einfluß auf Politikentscheidungen aller Art zu

nehmen. Zum zweiten begünstigte die staatliche Regulierung der Einrichtung von

Missionsstationen und Außenposten die katholische Expansion gegenüber ihren

Konkurrenten.224 Für die Mission war darüber der Rückhalt des Kolonialstaates bei der

Durchsetzung neuer Missionsstationen – welche in der belgischen, im krassen Gegensatz

zur deutschen Periode, in der Regel von Seiten des Staates grundsätzlich gutgeheißen

wurden – bei Musinga von praktischer Bedeutung, da die Unterstützung Musingas für die

Missionsprojekte trotz seiner offensichtlich eingeschränkten Macht für die Expansion nicht

vernachlässigenswert war und insbesondere dabei half, die Ausweitung der protestantischen

Aktivitäten so langsam wie möglich zu gestalten (Linden 1977: 157).

Zu guter Letzt kontrollierte die Mission den Bildungssektor. Zwar wurde mit der Gründung

der Schule in Nyanza und vergleichbarer Schulen in den einzelnen Territorien sowie der

Berufsschule in Cyangugu ein staatliches Schulsystem geschaffen, das aber das katholische

System nicht duplizierte, sondern – als Spezialschulsystem für die Ausbildung des

Verwaltungskaders – die Defizite des katholischen Sektors kompensierte und auf ihm

aufbaute. Von 1921 an kamen die Missionare in den Genuß staatlicher Unterstützung für die

Errichtung und Aufrechterhaltung von Schulen. Ab 1924 wurde das System von

Budgetzuschüssen regularisiert und 1930, nach einer entsprechenden Vereinbarung des

Vizegouverneurs (für Ruanda-Urundi) mit den betreffenden Kongregationen in Ruanda und

Burundi, übernahm die Mission die Verantwortung für das gesamte Schulsystem, für das

einheitliche Lehrpläne konzipiert wurden und in dessen Rahmen die Mission systematische

Subventionszahlungen des Staates erhielt (Vgl. Linden 1977: 155; Rutayisire 1987: 298). Die 224 Die bedeutendste war, daß Niederlassungen verschiedener Denomination eine bestimmte Distanz voneinander aufweisen mußten, die auf externen Druck im Laufe der Zwanziger Jahre von 10 auf 5 km verringert wurde. Die Konsequenz dieser Regelung war, daß der ‚Schnellste’ andere Konfessionen effektiv aussperren konnte. Ein regelrechter Verdrängungswettbewerb, in dem die katholischen Missionare ob ihrer Zahl die besseren Karten in der Hand hielten, war die Folge. Ab Mitte der Zwanziger Jahre mußte die ‚effektive Besetzung’ der Außenstationen (durch zumindest einen Katechisten) nachgewiesen werden, was die katholische Expansion etwas dämpfte (Vgl. Rutayisire 1987: 206ff). Der Wettbewerb war allerdings nicht nur ein interkonfessioneller, sondern auch einer zwischen den verschiedenen Kongregationen, wobei die Weißen Väter naturgemäß wiederum die besseren Karten in der Hand hielten. Erst auf Druck der Regierung ließ Classe – der als Bischof darüber bestimmte, wer in Ruanda missionieren durfte und wer nicht – Mitte der Zwanziger Jahre weitere Kongregationen zu, von denen der Orden, der die Schule in Astrida (späteres Butare) betrieb, bei weitem

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Mission verfügte über die Kontrolle des Bildungssektors nicht nur über einen Apparat, der

zumindest der Missionierung hilfreich war (der Gedanke, daß ‚Zivilisierung’ in der Form von

schulischem Unterricht früher oder später aus den Schülern Christen machen könne, war ja

der eigentliche Grund für das Engagement der Mission im Schulwesen), sondern die

dadurch erlangten staatlichen Zuschüsse ermöglichten auch die genuine Expansion des

Missionswesens an sich, da die Schulen immer auch religiöse Zentren und als solche

(nämlich als chapelles-écoles) konzipiert waren (Vgl. Rumiya 1992: 208, Rutayisire 1987:

207).

Darüber hinaus gestand der Staat den Missionaren Zollfreiheit zu, räumte ihnen (gegenüber

anderen Europäern) Privilegien hinsichtlich von Gebietserwerbungen ein und finanzierte die

ab den Zwanziger Jahren exponential wachsende Anzahl von soziologischen,

ethnographischen und linguistischen Studien der Missionare225 (Rumiya 1992: 211).

6.1.3.2 Der katholische Schulsektor- Segregation und Ausschluß

Der Schwerpunkt der belgischen Bildungspolitik für die Masse der Bevölkerung lag, nicht

unähnlich der Praxis anderswo, auf der Vermittlung von Grundkenntnissen in Rechnen und

Schreiben sowie auf der Vermittlung von berufsrelevanten Fertigkeiten, was in Ruanda

notwendigerweise die Vermittlung landwirtschaftlicher und handwerklicher Tätigkeiten

bedeutete. Die Mission folgte im wesentlichen dieser Philosophie. Gleichzeitig expandierte

die katholische Schultätigkeit auch in bezug auf die Söhne von Chiefs, deren Rolle als

koloniale Subelite eine andere Art von Ausbildung erforderte. Der Druck, der von Seiten des

Kolonialstaates auf die Tutsi-Chiefs ausgeübt wurde, ihre Söhne ausbilden zu lassen, der

1926 im Ausschluß von Analphabeten von jeglicher Art politischem Posten kulminierte, führte

mit Beginn der Zwanziger Jahre zu einem regen Andrang von Tutsi auf die

Missionsstationen, während zur gleichen Zeit die Gesamtzahl der unterrichteten Schüler

dramatisch anstieg. Von etwa 5.500 Schülern 1922 stieg die Zahl binnen drei Jahren auf

erstaunliche 17.475 (Linden 1977: 158). In Reaktion auf die Kombination von insgesamt

steigenden Schülerzahlen und des neu erweckten Interesses der traditionellen

Herrschaftselite an der durch die Mission vermittelten Bildung, bildete sich ein deutlich

segregiertes Schulsystem heraus, wobei das Zugangskriterium zunehmend die ‚ethnische’

Zugehörigkeit – also die Zugehörigkeit zur sozialen Kategorie ‚Tutsi’ darstellte und auf diese

Weise von der früheren Praxis, ‚Tutsi’ mit der herrschenden Oberklasse zu identifizieren,

deutlich abgegangen wurde. Umgekehrt wurde das Schulsystem für Tutsi aus ärmeren

bedeutendste war (Ebenda: 241). 225 Eine der bekanntesten Forscher-Missionare war der Deutsche Missionar Peter Schuhmacher. Er wurde 1928 von der Mission für seine Forschungstätigkeit freigestellt, ging später nach Wien und erhielt dort ein Doktorat der Universität Wien und kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg für weitere Studien nach Ruanda zurück (Dorsey 1994: 365).

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Verhältnissen ein entscheidender Faktor sozialer Mobilität, mit dessen Hilfe sie sich vom Los

als Kleinbauern (welche der größere Teil der Tutsi waren) emanzipieren konnten. Die

Segregation der Schulen verstärkte die Funktion des Schulsystems als Motor und

Determinant gesellschaftlicher Stratifikation, welche das Schulsystem ohnehin einnahm

(Ebenda: 157ff). 1928 erließ Bischof Classe explizite Richtlinien in bezug auf die

Besserstellung der Tutsi-Schüler, die in nahezu allen katholischen Schulen implementiert

wurden (C.Newbury 1988: 115).Die diesbezüglichen Instruktionen von Classe sind eindeutig: L’école des Batutsi doit avoir le pas sur celle des Bahutu (...). Elle prépare l’avenir en nous

gagnant les futurs chefs, en gagnant les parents et le gouvernement. (Classe, Anweisung der

Mission in Kigal, 1924 zitiert nach Chrétien 1985 : 144).

In einer Anweisung an die Mission in Rulindo (1925) begründet er die Diskriminierung in

Anknüpfung an die grundlegende Missionsdoktrin der Weißen Väter, der Missionierung von

oben, deren Erfüllung in Anbetracht der Resistenz der traditionellen Elite gegen den neuen

Glauben bislang lediglich Utopie gewesen war: C’est par la conversion des Batutsi que nous assoierons définitivement la conversion du

Rwanda: un pays est converti quand les chefs le sont (...). Il faut tendre à ce que l’école

mututsi n’ait dans son local que des Batutsi. (Classe zitiert nach ebenda).

Die im Laufe der Zwanziger qualitativ massiv verbesserte Ausbildung, die Tutsi für sich in

Anspruch nehmen konnten, steht im krassen Gegensatz zu der dürftigen bis mittelmäßigen

Art von Bildung, die Hutu zuteil wurde. Zwar konnten Hutu ebenfalls vom expandierenden

Bildungssektor profitieren, wurden aber qua ihrer Ausbildung in den zweiten oder dritten

Rang der entstehenden Bildungselite verwiesen. Ihre Bestimmung war es, Bauern und

Handwerker zu werden und höchstens administrative Hilfsdienste zu verrichten. In den

Worten von Bischof Classe: Le jeunes Bahutu quant à eux pourraient occuper des places ‚dans le mines et exploitation.“

(zitiert nach Chrétien 1985 : 144).

Hutu Schüler tendierten zu weit mehr Fehlstunden als ihre Tutsi-Kollegen, was zum Teil die

stärkere Belastung der Hutu als Bevölkerungsgruppe durch die ab Mitte der Zwanziger Jahre

spürbar werdenden Auswirkungen der Agrar- und Arbeitspolitik der Kolonialregierung

widerspiegelte. Hutu Schüler hatten schlechter ausgebildete Lehrer und besuchten

verhältnismäßig öfter überfüllte Busch-Schulen, deren Ausbau massiv hinter den Schulen

der Zentren hinterherhinkte (Vgl. Linden 1977: 163; Rutayisire 1987: 307).

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216

Tabelle 9: Schülerzahlen in Schulen der Weißen Väter/Schwestern ca.1927 nach Zentrum (écoles urbaines) und Peripherie (écoles rurales)

Schultypus Schüler Hilfslehrer Schulen der Patres in den Zentren 3.405 85

ländliche Schulen (‚Buschschulen’) 8.113 175

Schulen der Schwestern 3.565 (Schülerinnen) -

Gesamt 15.080 260

Quelle: Rutayisire 1987: 456 EN 52

Mit dem Auslaufen des säkularen Schulsystems ab 1930 wurden die Schulen für Söhne von

Chiefs wie Nyanza, Gatsibu und Ruhengeri sukzessive eingestellt bzw. in das

Normalschulwesen integriert. Der Hauptgrund dafür war, daß die Alphabetisierung der

indigenen Verwaltungselite bereits Anfang der 30er Jahre weitgehend abgeschlossen war –

1935 verfügten 60% der Chiefs und Subchiefs über eine europäische Ausbildung -, die neue

Generation von Schulabsolventen als Chiefs eingesetzt und die Zahl der Chiefs überdies

drastisch verkleinert worden war. Damit hatte auch das Regime der Secrétaires Indigènes

seine Berechtigung verloren, während die Absolventen zunehmend in andere Berufsfelder

drängten (Vgl. Reyntjens 1985: 125f). Als Nachfolgeinstitut der Schule in Nyanza wurde

1929 in dem entstehenden Zentrum Astrida, das 1927 zum Hauptort des gleichnamigen

Verwaltungsterritoriums wurde, die ‚Groupe Scolaire’ gegründet, die von einem belgischen

Orden betrieben, 1932 mit dem Primärschulunterricht und 1937 – mit dem Unterricht in der

höheren Schule begann (Rutayisire 1987: 310).Das Schulziel bestand nun nicht mehr

lediglich in der Ausbildung einer politisch-administrativen Elite, sondern wurde auf die

Ausbildung von Absolventen für den gesamten höheren Bereich des modernen Sektors der

Ökonomie ausgedehnt. Sie sollten Chiefs, Agronomen, Personal für das Gesundheitswesen,

schlicht und einfach, in den Worten des Direktors der Schule „eine neue soziale Klasse

hervorbringen, die eine nicht erbliche Aristokratie darstellt.“ (zitiert nach Chrétien 1985:

148).Dementsprechend wurde die Schule als Eliteschule aufgebaut, und sie besucht zu

haben, stellte zweifelsohne eine Auszeichnung dar. Sie wurde in den Fünfziger Jahren zu

einem Anknüpfungspunkt zum Elitenkonflikt, der entscheidend für die Entstehung und den

Verlauf der ethnischen Polarisierung auf der Ebene der Bildungselite war. Im Gegensatz zu

der Schule in Nyanza beruhte die Groupe Scolaire nicht mehr auf dem formellen Ausschluß

von Hutu, de facto blieb jedoch die Segregation bis Mitte der Fünfziger Jahre bestehen. Die

wenigen ruandesischen Hutu, die trotz der offenen Diskriminierung zu den ‚Astridiens’

gehörten, waren sich ihrer ‚Auszeichnung’ doppelt bewußt. Hutu ‚Astridiens’ gehörten dann

auch zu den Protagonisten der Emanzipationsbewegung der ‚Hutu’ Fünfziger, von der im 4.

Teil die Rede sein wird.

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Tabelle 10: Schülerzahlen der Groupe Scolaire (Astrida) nach 'ethnischer' Zugehörigkeit

Hutu Jahr Tutsi

Ruanda Burundi Kongo

1932 45 9 14

1933 - -

1934 13 -

1935 11 -

1945 46 - 3 -

1946 44 1 8 -

1947 44 2 10 -

1948 85 2 11 2

1949 85 5 9 -

1953 68 3 16 -

1954 63 3 16 3

Quelle: Lemarchand 1970: 138

Das spezifische Muster gesellschaftlicher Stratifikation, das durch die Segregation des

Schulwesens und den komplementären staatlichen Maßnahmen – die Diskriminierungspolitik

in bezug auf die Vergabe politischer Ämter und die in ihren Konsequenzen diskriminierende

Reform ‚traditioneller’ Natural- und Arbeitsleistungen – geprägt wurde, fand sein

ideologisches Pendant in der Vermittlung dieser Ungleichheit als natürlich und gegeben. Ab

den zwanziger Jahren hatten einige der ambitioniertesten der Missionare begonnen

systematisch Gesellschaft, Ethnographie und Geschichte Ruandas zu erkunden. Alle

unterrichteten sie in den Schulen der Missionszentren und vermittelten ihren Schülern, wie

z.b. Pater Pagés226 die ‚glorreiche Vergangenheit’ des ‚hamitischen Königreiches’ und den

Platz, den die Schüler in der in drei Gruppen geordneten Gesellschaft einnehmen sollten

(Vgl. Linden 1977: 164f). Die zunehmend elaborierte rassistische Deutung der

ruandesischen Gesellschaft durch die Avantgarde forschender Missionare fand ihr

natürliches Gegenstück in den Ergüssen von nicht weniger ambitionierten belgischen

Kolonialfunktionären, wie etwa in den Arbeiten des belgischen Residenten in Burundi, Pierre

Ryckmans oder in den Arbeiten des akademisch ambitionierten Kolonialfunktionärs René

Bourgeois, der seine Forschungsergebnisse im Laufe der Fünfziger in mehreren

(voluminösen) Bänden veröffentlichte (Vgl. Bourgeois 1957; Elias/Helbig 1991: 67). Beide

diskursiven Interventionen gingen nicht spurlos an den Schülern vorüber, zumal die Schule

einer jener privilegierten Orte von Öffentlichkeit227 war, über die europäische Diskurse ihre

Verbreitung in einer breiteren Schicht der Bevölkerung fanden. Die Schule fungierte im

226 R.P. Pages (1933): Un royaume Hamite au centre de l’Afrique, Bruxelles, Académie Royale de Belgique. Pages war 1908 nach Ruanda gekommen und war bis 1927 Superior in Nyundo, als der er auch unterrichtete (zu biographischen Angaben siehe Dorsey 1994: 328). 227 Die Kirche war ein anderer derartig privilegierter Ort von diskursiven Interventionen.

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kolonialen Kontext als ein ideologischer Apparat, der nicht nur ein bestimmtes hegemoniales

Kategoriensystem durchsetzte, sondern diese durch die Segregation aktiv produzieren half,

während sie gleichzeitig die Begründungen für die Kategorien mitlieferte. Nicht unähnlich der

vorkolonialen Institution der Intore produzierte die Schule ein Elitebewußtsein, das im

Unterschied zur vorkolonialen Auszeichnung, ein ‚Intore’ zu sein und damit im Zentrum der

Monarchie, von Macht und Zivilisation zu stehen, auf der Zugehörigkeit zu einer ethnischen

Kategorie beruhte. Ähnlich auch wie im Falle des durch die Institution der Intore produzierte

Kollektivbewußtsein in vorkolonialer Zeit beruhte das Bewußtsein, zu einer (‚ethnischen’,

kulturellen, sozialen und politischen) Elite zu gehören auf einer totalisierenden

Abgrenzungsbewegung nach außen. Die so konstruierte ‚Wir’-Gruppe erforderte zwar als

logisches Gegenstück ein oder mehrere ‚Sie’-Gruppen. Deren reale, d.h. selbstbewußte

‚Existenz’ konnte durch die diskursive Operation der Ausgrenzung allein nicht hergestellt

werden – sie mußte es allerdings auch nicht. Diese Asymmetrie zwischen Eigen- und

Fremdkonstruktion, die, wie ich meine, auf universelle und im Einleitungskapitel

angesprochene Mechanismen verweist, führt notwendigerweise zu einer Asymmetrie in der

Konstruktion politischer Kollektivität, durch die eine Gruppe erst als Handlungssubjekt

konstituiert wird und brachte der entstehenden Tutsi-Elite den Vorteil, ihre Interessen als

ethnische Gruppe ‚in the making’ verteidigen zu können, bevor diese von der Masse der

Bevölkerung angegriffen werden konnte. In den wichtigsten Bildungsinstitutionen des Landes

– der Groupe Scolaire in Astrida und dem Seminar in Kabgayi, an das 1929 Alexis Kagame,

der spätere Priester, eminente Historiker und Autor eines Werkes über ‚Bantu – Philosophie’

als Seminarist gekommen war, wurde das Elitenbewußtsein akzentuiert und Gegenstand

einer kuriosen Form von kulturellen Nationalismus, der um die historische zivilisatorische

Mission der Tutsi Nobilität zentriert war und dem zugleich das entscheidende egalitäre

Element, ‚die Einladung’ an die Massen, in die Geschichte einzutreten, fehlte, das so typisch

für andere Nationalismen ist (Vgl. Lemarchand 1970: 135f; Nairn 1981: 340).

Das Bewußtsein, zu einer Elite zu gehören, das die Form eines embryonalen ethnischen

Bewußtseins annahm war auf eine zahlenmäßig kleine, wenn auch wachsende Gruppe

derjenigen beschränkt, die von dem qualitativ besseren, segregierten Ausbildungsweg für

Tutsi profitieren konnten. Der immer noch größere Teil der Tutsi-Kinder besuchte im

wesentlichen dieselben Schulen wie ihre Hutu-Alterskollegen, allerdings war die

Einschulungsrate unter den Tutsi weitaus höher als bei Hutu und garantierte den Tutsi als

Gruppe – wenn auch nur ein Teil sich dessen bewußt war – bessere Chancen, den Wunsch

sozialer Aufwärtsmobilität auch erfüllen zu können. Dies führte langfristig dazu, daß Tutsi im

entstehenden europäischen Sektor der Ökonomie – als niedere Angestellte, Unternehmer,

Krankenpfleger usw. – überproportional vertreten waren (Vgl. Codere 1973: 38).

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6.1.3.3 Konsolidierung und Neubeginn, von der Mission zur Staatskirche, 1917 bis ca.1945

Die unmittelbare Nachkriegszeit war missionsintern eine Zeit der Krise. Alte Konfliktlinien

brachen wieder auf, die sich im zunehmenden Mißtrauen und offenes Mobilisieren gegen

den Stellvertreter des Bischofs der Diözese Kivu Hirth, Msg.Classe und ein Erstarken der

Pro-Hutu (bzw. präziser: der Anti-Chief/Tutsi ) Fraktion äußerte. Der Riß war so tief, daß das

Mutterhaus der Weißen Väter in Algiers einen Berichterstatter einsetzen mußte und Classe

1919 nach Algiers zurückbeorderte. Sowohl der Bericht als auch das Mutterhaus taten die

Vorwürfe gegen Classe als unbegründet ab, während der Zustand der Mission als

besorgniserregend eingeschätzt wurde. In Reaktion auf die Krise der Mission beorderte das

Mutterhaus die wichtigsten Missionare, welche gegen Classe opponiert hatten und die – wie

der Superior in Save, Huntzinger, als problematisch für die Erfüllung der Missionsdoktrin

(Bekehrung der herrschenden Klasse) und die Beziehung zu den Chiefs gesehen wurden,

nach Europa zurück oder versetzte sie auf andere Posten in Afrika. Die wichtigste

Konsequenz der Krise war jedoch die Gründung des Bistums Ruanda und – auch auf

ausdrücklichen Wunsch der Kolonialregierung228 – die Ernennung von Leon Classe zum

ersten Bischof von Ruanda im März 1922 (Rumiya 1992: 213; Rutayisire 1987: 118-132).

Der Beginn einer neuen Ära markierte die Priesterweihe von drei ruandesischen

Seminaristen, Hutu aus der ersten Generation von Konvertiten, im Juni 1919 und von zwei

weiteren im Oktober des selben Jahres. Weitere vier Seminaristen bereiteten sich als

Novizen für den Eintritt in einen Laienorden vor, während neun Novizinnen für einen

Frauenorden von den Weißen Schwestern auf den Eintritt in die Ordensgemeinschaft der

Benebikira vorbereitet wurden (Linden 1977: 135). Die Zahl der indigenen Priester wuchs

langsam. Sie verdoppelte sich im Laufe der Zwanziger Jahre, während sich die Zahl der

Katecheten vervierfachte. Die Massenbekehrungen in den Dreißiger Jahren, über die noch

zu sprechen sein wird, führten sowohl zu einem massiven Anstieg der Zahl der Katecheten

als auch der Priester. Insgesamt erfuhr die Mission in der belgischen Periode insgesamt und

ab etwa 1925 im Speziellen ein massives Wachstum, das ihre wachsende Bedeutung in der

ruandesischen Gesellschaft sowohl reflektiert als auch illustriert.

228 Die Kolonialregierung hatte sowohl beim Superior der Weißen Väter in Belgien (Antwerpen) als auch – auf dessen Empfehlung hin – beim Vatikan interveniert. Nach der Bestellung von Classe wurde die Mitsprache der

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Tabelle 11: Expansion der Mission - Zahl der Missionare, indigener Priester, Missionsstationen, Außenposten und Katechisten 1922-1944

Jahr Missionare indigene Priester

Missionsstationen Katechisten Außenposten

1922 35 5 12 174 69

1925 43 6 - - -

1926 - - - 336 275

1928 - - 14 476 443

1930 50 10 - - -

1931 - - - 685 496

1934 - - 19 1.162 750

1935 70 20 - - -

1937 - - - 1.389 995

1939 - - 30 1.281 1.092

1941 - - - 1.519 1.089

1943 - - - 1.782 1.119

1944 95 67 33 - -

Quelle: Rutayisire 1987: 431 EN 20 und EN 23 sowie 432 EN29

1917 wurden die ersten Tutsi Notablen nach einer verkürzten Taufvorbereitungszeit getauft

(Linden 1977: 130). Damit waren die Weißen Väter dem lang ersehnten Ziel der Bekehrung

der Aristokratie und der Christianisierung von oben und dem Traum des Gründers der

‚Missionaires d’Afriques’, Kardinal Lavigerie, der Einrichtung eines christlichen Königreiches

im Herzen Afrikas, ein Stück nähergekommen.229 Diese Präokkupation mit der Konversion

der politischen Elite rührte einerseits daher, daß sie als der Inbegriff des ‚nationalen

Bewußtseins’, als nicht nur politische, sondern auch geistige Führer wahrgenommen wurden.

Der offizielle Historiker der Mission (sowie des Landes) De Lacquer230 beschreibt in einem

Artikel in der Missionszeitschrift ‚Grands Lacs’ von 1950 die Gedankengänge der Missionare: Avant la conversion en masse des Batutsi, nous avions des milliers et des milliers de chrétien

Bahutu. Mais leur influence ne s’imposait pas au pays, à sa mentalité (...) Il en fut autrement

lorsque les Batutsi se firent chrétiens. Ils sont les directeurs de la conscience nationale et

forment la charpente de la hiérarchie féodale qui règle la vie sociale du Ruanda. (zitiert nach

Rutayisire 1987 : 355)

Zum anderen reflektierte sie die Angst der Missionare vor dem ‘Gespenst des

Kommunismus’, die sie während der ganzen Kolonialzeit nie völlig verloren und zur dessen

Verhinderung die Konversion der politischen Klasse und der Erhalt ihrer privilegierten

Stellung unbedingt von Nöten war (vgl. Linden 1977: 169 und 193ff). Classe warnte Kolonialregierung bei der Bestellung geistlicher Würdenträger die Regel (Vgl. Rumiya 1992: 213f). 229 Vgl. zu der Missionsdoktrin der Missionierung von oben, das darauf bezugnehmende Zitat von Classe oben p.215

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eindringlich: Le plus grand tort que le gouvernement pourrait se faire à lui-même et au pays serait de

supprimer la caste mututsi. Une révolution de ce genre conduira tout droit le pays à l’anarchie

et au communisme haineusement anti-européen (…). C’est la pensée et l’intime conviction de

tous les supérieurs de mission au Rwanda sans exception. (zitiert nach Vidal 1973 : 37)

Für ihren Teil folgte die Mission ihren eigenen Empfehlungen und konzentrierte alle Kraft auf

die Bekehrung der herrschenden Klasse. Die Fälle von Konvertierungen von Angehörigen

der Tutsi-Aristokratie blieben bis Anfang der Zwanziger Jahre freilich noch spärlich an der

Zahl. Ihre Zahl stieg aber ab etwa 1925 dramatisch an und war ein wesentlicher Grund für

den ‚Tornade’ – die Massenbekehrungen der Dreißiger Jahre. Die Taufe erwachsener

Notable 1917 war in gewisser Weise eine Ausnahme, denn zunächst kündigte sich die

zunehmende Hinwendung der Tutsi zur Mission und zum Christentum durch die Hinwendung

eines Teils der jungen Generation von Tutsi-Notablen an, deren Beispiel erst in der zweiten

Hälfte der Zwanziger Jahre von der älteren Generation gefolgt wurde. 1924 schrieben sich

die zwanzig Intore Musingas für den Taufunterricht ein. Ein Jahr später schrieb Classe

begeistert: Ce qui m’a le plus frappé, c’est l’avidité de la jeunesse mututsi pour tout ce qui regarde notre

religion. (Classe zitiert nach Rutayisire 1987: 343)

Dies war ein beredtes Zeichen für den rasanten Macht- und Prestigeverlust des Mwami.

Selbst Musingas zweiter Sohn, Rwigemera, begann Taufunterricht zu nehmen und seine

Mutter – deswegen vom Hof verbannt – folgte seinem Beispiel wenig später nach. 1929

waren alle bis auf 20 von etwa 370 Schülern in Nyanza katholisch. Gegen Ende der

Zwanziger Jahre begannen zunehmend auch erwachsene Tutsi-Notable Taufunterricht zu

nehmen und zum Katholizismus zu konvertieren, lokal (etwa in Marangara, wo sich Kabgayi

befand) zum Teil auch schon deutlich früher. 1930 waren 1.934 der 9.014 Taufen solche von

Tutsi. In Nyamesheke231 (in Südwestruanda, wo der Einfluß Rwagatarakas besonders stark

war) machten Tutsi etwa fast die Hälfte aller Konvertiten aus (Linden 1977: 170).

Konversionen zu protestantischen Denominationen (Adventisten und Anglikaner) blieben

dagegen hauptsächlich auf Hutu beschränkt, während zur selben Zeit die Nyabingi-Sekte in

einem kurzfristigen Aufflammens breite Teile der Hutu Bevölkerung für sich gewinnen

konnte. Die Tutsi Aristokratie wurde durch die Konversionsbewegung in zwei Lager von

230 Er wurde bekannt durch sein momunentales Geschichtswerk (Louis de Lacquer (1939): Le Rwanda, Kabgayi) 231 Die Gründung der Mission Nyamasheke 1927 war in sich selbst ein Erfolg der Mission, da sie sich auf ‚heiligem Boden’ – an der Stelle einer ehemaligen Residenz (ibwami) Rwabugiris befand und zugleich ein Ausdruck des Naheverhältnis der Mission zum lokalen starken Mann, Rwagataraka, der umgekehrt von der Unterstützung durch die Mission profitierte (Vgl. Linden 1977: 160).

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Traditionalisten und ‚Progressiven’ gespalten, wobei die Musinga loyalen Traditionalisten

zunehmend an Boden verloren. Letztere bestand vor allem aus der zahlenmäßig immer noch

starken alten Garde der Chiefs. Erst nach der Absetzung Musingas im Jahr 1931, begannen

auch sie zu konvertieren oder wurden im Zuge der Bürokratisierung von Herrschaft ohnehin

abgesetzt (Linden 1977: 160ff; Rutayisire 1987: 342ff). Die Gleichzeitigkeit der

Massenkonversion der (jungen) Tutsi Nobilität und den massiven Reformen des belgischen

Kolonialstaats im politischen Bereich war freilich kein Zufall. Die katholische Kirche war

unverkennbar einer der wesentlichen Pfeiler des Kolonialsystems und die Herrschaftselite

zollte mit ihrer Konversion zum Katholizismus dieser unmißverständlichen Entwicklung

lediglich gebührend Rechnung (Vgl. Des Forges 1969: 195).

Gleichzeitig mit dem Wandel der Einstellung der Tutsi-Nobilität gegenüber dem Christentum

und der Mission in der Form der katholischen Kirche beraubten staatliche Maßnahmen

gegen ‚untragbaren’ Aberglauben der Monarchie der letzten noch vorhandenen

institutionellen und rituellen Grundlagen ihrer Ideologie. 1925 informierte der Resident den

Mwami, daß von nun an das ‚Erste Früchte Festival’ (umuganura)- die exemplarische

Zubereitung und Präsentation der ersten Sorghumernte – verboten sei und mit ihm alle

weiteren nach dem rituellen Code der Monarchie (Ubwiru) vorgeschriebenen Riten, während

im selben Jahr der führende Ritualist (Umupfumu: Wahrsager) am Hof, Gashamura, nach

Burundi exiliert wurde (Vgl. Linden 1977: 158; Reyntjens 1985: 82). 1929 wurde schließlich

Musinga gezwungen, regelmäßige Visiten im ganzen Land durchzuführen und mußte in

diesem Rahmen auch akzeptieren, den Nyaborongo – dessen Überschreitung ihm rituell

verboten war – zu überqueren. Sein Erstlingsbesuch in Kigali im August 1929 wurde dann

auch entsprechend pompös zelebriert und diente gleichzeitig als gelungene Demonstration

der belgischen Version von Indirekter Herrschaft, die an der Stelle eines ‚sakralen

Königtums’ eine säkularisierte Klasse von (christlichen) Bürokraten-Chiefs gesetzt hatte,

dessen oberster Repräsentant der Mwami selbst war und deren einziges sakrales Attribut die

ihnen attestierte Legitimität war (Vgl. Rumiya 1992: 176ff). Die Absetzung Musingas 1931

war auch ein Erfolg der Mission. Durch sie wurde das Ancien Regime durch ein neues

ersetzt, das unter christlichen bzw. katholischen Vorzeichen stand. Die Säkularisation,

welche das belgische Kolonialregime mit der Desakralisierung der Monarchie vollzogen

hatten, ging nur soweit, wie es um die Abschaffung von als ‚Aberglauben’ und ‚Zauberei’

bezeichnete Praktiken ging. In der Vision der belgischen Kolonialfunktionäre gehörten

Zivilisation und Christentum ganz klar zusammen. „Durch Zivilisation und Religion [gemeint

ist das Christentum]“, schreibt der Administrateur de Territoire von Nyanza, Lenaerts, im

Jahresbericht 1924 für das Territorium Nyanza „haben sich die Tutsi-Chiefs zu fehlerlosen

Gehilfen des Kolonialstaats gewandelt, völlig entkleidet ihrer früheren Brutalität und

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223

Grausamkeit.“ (m.Ü., zitiert nach ebenda: 224). Die Inthronisation Rudahigwas bildete einen

glänzenden Höhepunkt der Christianisierung der Tutsi. Von langer Hand vorbereitet, wurde

Musinga unter der Angabe einer Reihe von Gründen (Desinteresse an der Entwicklung des

Landes, Päderastie, Grausamkeit usw.)232 am 11. November seine Absetzung mitgeteilt, die

weder bei ihm noch ihm Lande große Emotionen hervorrief. Am 16. November 1931 wurde

Rudahigwa schließlich feierlich als Mwami Mutara Rudahigwa inthronisiert. Als

Königsmacher hatten der Resident und Bischof Classe fungiert, letzterer hatte auch anstelle

der Abiru den Königsnamen festgelegt. Gouverneur Voisin kam die Rolle zu, die Einsetzung

Rudahigwas zu proklamieren, nicht ohne im gleichen Moment zu betonen, daß Rudahigwa

seine Autorität und Legitimität nicht aus einer Tradition, sondern vom Kolonialstaat selbst

bezog: Rudahigwa, par la désignation du roi des Belges, je te proclame roi du Ruanda. (zitiert nach

Reyntjens 1985 : 91).

Die Einsetzung Rudahigwas markierte den Endpunkt der traditionellen Monarchie und den

Beginn einer neuen Ära, in der die katholische Kirche einen hervorragenden Platz einnahm.

Mit dem neuen Mwami, der zwar erst 1943 getauft wurde233, aber mit gutem Grund als

katholisch gelten konnte, kam der Kirche eine Rolle zu, die sie in Europa längst verloren

hatte und die auch die katholische Erneuerung des langen 19.Jh. (das in bezug auf die

Kirche besonders lange dauerte) nicht hatte wiederherstellen können. Ganz seiner Rolle als

Regent eines christlichen Königsreiches bewußt, widmete Rudahigwa 1946 sein Land

‚Christkönig’ und proklamierte pathetisch: Je reconnais que Vous êtes le souverain maître du Rwanda, la racine de laquelle sort tout

pouvoir et toute puissance. Seigneur Jésus, c’est Vous qui avez formé notre Pays. Vous lui

avez donné toute une longue lignée de rois pour le gouverner à Votre place, encore qu’ils ne

vous connaissaient pas (…). Maintenant que nous Vous connaissons, nous reconnaissons

publiquement que Vous êtes notre Maître notre Roi (…). (zitiert nach Vidal 1973 : 39).

Rudahigwa wurde ein Jahr später für seine großen Verdienste um die Christenheit der Orden

des Heiligen Gregor verliehen (Reyntjens 1985: 93). 232 Der Hauptgrund für die Absetzung dürfte allerdings seine zunehmende Feindseligkeit gegenüber der katholischen Kirche – gegenüber katholischen Chiefs, deren Einsetzung er zu verhindern suchte und gegenüber den Missionaren – gewesen sein (Reyntjens 1985: 89). Musinga hatte sich seit 1926 in einem verzweifelten Versuch, sich aus dem immer enger werdenden Netz um ihn zu befreien, an die Adventisten und später an die Church Missionary Society als Quelle möglicher Patronage und gleichzeitig als Instrument der Machtpolitik gewandt (Linden 1977: 167). 233 Rudahigwa heiratete 1933 eine Frau aus der alten Linie der Gisaka-Könige. Bischof Classe zögerte Rudahigwa taufen zu lassen, solange der ‚Erfolg’ der Ehe (in der Form von Kindern) sich nicht zeigte. Die Ehe blieb kinderlos und wurde 1942 geschieden. Rudahigwa wurde Dispens gewährt und heiratete erneut, dieses Mal eine Katholikin. 1943 wurde er feierlich unter Beisein des kolonialen Establishments getauft – der vormalige Resident von Ruanda, Pierre Ryckmans, der seit 1934 Generalgouverneur des Kongo war, übernahm die Rolle des Taufpaten – ein starker symbolischer Ausdruck der aus Kirche, Kolonialadministration und ‚traditioneller’

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Der Erfolg der Missionierung der Aristokratie stellte sich insbesondere nach der Absetzung

Musingas und der Inthronisation seines Sohnes Rudahigwa als Mwami mit dem bald und

offensichtlich ein. Hingen 1936 nur mehr 20% der Chiefs und 13% der Subchiefs der

traditionellen Religion an, waren es 1938 nur 8% bzw. 12%. 1947 gab es einen einzigen

Chief (von insgesamt 51, also 2%), der nicht Christ war, während der Anteil von Anhängern

der traditionellen Religion unter den Subchiefs 3% betrug (Reyntjens 1985: 125).

Die Konzentration der Kräfte der Mission auf die Bekehrung der Tutsi-Aristokratie zeigte sich

noch auf zwei anderen Fronten. Zum einen bildete sich spiegelbildlich zur Segregation im

Schulsystem eine ähnliche Segregation im Katechumenat heraus. 1929 war dieses auf ein

zweistufiges System ausgebaut worden, das insgesamt vier Jahre dauern sollte, wobei in der

Praxis Ausnahmen die Regel darstellten und die Taufe schon vorher, z.B. im Falle der

Heirat, gewährt wurde. Wegen der ihnen zugedachten politischen Rolle war der

Taufunterricht bei Tutsi234 weitaus intensiver als bei ‚normalen’ Taufwerbern (Rutayisire

1987: 318). Die Kombination von Segregation im Katechumenat und schulische Segregation

führte zu einer stärkeren institutionellen Integration von Tutsi in den engeren Bereich der

Kirche, was sich an dem starken Anwachsen des Anteils von Tutsi in den geistlichen Berufen

widerspiegelte. In 1940 betrug der Anteil von Tutsi unter den Geistlichen (inkl. Nonnen) etwa

50%. Dies prägte wiederum die intellektuelle Atmosphäre an den Schulen – insbesondere an

den Schulen der Missionszentren, an denen überwiegend Priester unterrichteten, die zu

einem steigenden Anteil Tutsi waren und selber wieder überwiegend Tutsi-Schüler

unterrichteten (Linden 1977: 198). Der Tutsi Klerus, der meist aus der mittleren oder höheren

Aristokratie stammte, konnte sich zudem guter Beziehungen zu Rudahigwa rühmen, der

selbst allerdings erst 1943 getauft wurde. Sie waren auch die Hauptprotagonisten eines auf

die Monarchie orientierten kulturellen Nationalismus, dessen bekanntesten Resultate sich in

dem voluminösen Werk Alexis Kagames zeigen, während zur selben Zeit eine Renaissance

traditioneller Lyrikformen unter christlichen Vorzeichen und im Bewußtsein der Besonderheit

der ruandesischen Monarchie stattfand.(Vgl.ebenda: 200; Lemarchand 1970: 136).

Wie erwartet, setzte mit der Konversion der Tutsi-Elite eine Massenbekehrungsbewegung

ein, die bis in die Kriegsjahre hinein andauerte und bis dahin wenigstens ein Fünftel der

Bevölkerung zu Katholiken werden ließ. War die offizielle Kirche eine Domäne von Tutsi, so

wurde der Masse der Bevölkerung, gemäß dem in der päpstlichen Enzyklika ‚Acerba Animi’

(1932) gemachten Aufruf zur ‚Katholischen Aktion’ die Rolle des Laienapostolats zugedacht

Autorität gebildeten kolonialen Triade (Linden 1977: 199). 234 Es ist – wie so oft, wenn von ‚Hutu’ oder ‚Tutsi’ die Rede ist, nicht ganz klar, wer gemeint ist. Die Ambivalenz findet sich freilich schon in den diesbezüglichen Direktiven der Mission.

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225

(Rutayisire 1987: 282).Der Erfolg war freilich nicht dauerhaft. Während des Krieges, der in

der Form von verstärkten administrativem Zwängen auf der Bevölkerung lastete ging die

Zahl der Katholiken auf 312.000 (1946) zurück, während zugleich protestantische

Denominationen, insbesondere die von der Church Missionary Society initiierte evangelikale

Enreuerungsbewegung Abaka (die, welche [mit Hilfe des Heiligen Geistes] scheinen), eine

wachsende Zahl von Anhängern unter der Hutu Bevölkerung fanden (Linden 1977: 206f).

Tabelle 12: Zahl der Katholiken und Taufwerber, 1914-1943

Jahr Christen Taufwerber 1914 10.438 6.640

1922 20.886 4.915

1925 29.097 10.058

1928 38.454 19.392

1931 60.464 40.437

1934 164.483 97.767

1937 256.017 59.677

1939 299.079 68.045

1941 331.338 45.959

1943 359.584 41.408

Quelle: Mbonimana/Ntezimana 1990: 137; Rutayisire 1987: 460 EN 1

6.2 Die Ökonomie der Reform: Der koloniale Entwicklungsstaat, ca. 1925-1945

Die hier vorgeschlagene Periodisierung versteht sich als eine, die breite Tendenzen sichtbar

machen soll. Sie ist in gewissermaßen willkürlich, da der in Ruanda errichtete Kolonialstaat

schon vor 1925 Anzeichen eines (autoritären) Entwicklungsstaates zeigte. Die Periode der

ökonomisch-politischer Reformen begann eigentlich schon mit den ersten Maßnahmen, die

1917 in Reaktion auf die Hungersnot Rumanura getroffen worden waren. Allerdings erreichte

der Kolonialstaat erst ab etwa Mitte der Zwanziger Jahre zunehmend die nötige

Handlungsautonomie, um beschlossene Maßnahmen – die schon vor 1925 zahlreich waren,

auch durchsetzen zu können. Gleichzeitig wandte sich die Verwaltung in der zweiten Hälfte

der Zwanziger zunehmend langfristigeren Zielen zu, welche über die davor getroffenen

Maßnahmen – Kampf gegen ‚Mißbräuche’ der Chiefs, Verbesserung der

Subsistenzsicherheit der Bevölkerung, Entlastung der Bevölkerung von unbilligen

‚traditionellen’ Abgaben usw. zumindest ihrer Intention nach hinausgingen. Auf politischem

Terrain – also der Transformation der Herrschaftsstruktur in einen bürokratischen

Herrschaftsapparat – stellt sich das Problem der Periodisierung ähnlich dar. Wie oben (Vgl.

insbesondere Kap. 6.1.2.3.2.2, pp.195f) dargestellt, waren formale und informelle Strukturen

der Herrschaft seit Etablierung der belgischen Besatzung einem ständigen Reformdruck

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ausgesetzt. In den autonomen Regionen, in denen die (bereits wesentlich transformierte

Zentralgewalt) erstmals bleibend durchgesetzt wurde, nahmen die durchgesetzten

Autoritätsstrukturen vieles der Reformen vorweg, die gegen Ende der Zwanziger Jahre in

ganz Ruanda durchgesetzt wurden und in gewisser Weise mit der Absetzung Musingas ihren

symbolischen Abschluß fanden.

Allerdings war die Handlungsautonomie des Staates auch in bezug auf Errichtung einer

durchgängig bürokratisch organisierten Verwaltung ab der zweiten Hälfte der Zwanziger

Jahre wesentlich weiter als in der ersten Dekade der belgischen Präsenz, was sich in der

Vervielfachung der Reformen und der Beschleunigung ihrer Implementierung ausdrückte. Als

formeller Ausdruck der erweiterten Handlungsautonomie des Kolonialstaates ab der zweiten

Hälfte der Zwanziger Jahre und als formelles Datum für die hier vorgeschlagenen

Periodisierung kann die endgültige Konsolidierung des internationalen und kolonialen Status

der Mandatsterritorien durch die Annahme des Mandats durch das belgische Parlament im

Oktober 1924 und durch den Beschluß über die Eingliederung der Mandatsterritorium als

Vizegouvernement in den belgischen Kongo im August 1925 angesehen werden (Vgl.

Tabelle 8: Rechtlicher Status Ruandas, 1917-1925, p.193).

Die politischen Reformen gingen Hand in Hand mit den Reformen auf wirtschaftlichem

Gebiet. Die wirtschaftspolitischen Ambitionen des Kolonialstaates erforderten eine

Verwaltungsstruktur, mit deren Hilfe jene erst verwirklicht werden konnten. Da der

Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik in der Absenz von Industrie, Gewerbe oder

nennenswerten Mineralienvorkommen in der Entwicklung des kommerziellen Potentials der

Landwirtschaft lag und aber die Entwicklung eines großen europäischen plantagengestützten

Sektors angesichts der Knappheit an Land in großem Ausmaß nicht realisierbar erschien,

mußte die administrative Struktur so angelegt sein, daß sie den kleinbäuerlichen Sektor von

einer subsistenzorientierten zu einer überschuß- und exportbasierten, kommerziellen

Landwirtschaft transformieren könne. In einer Umdrehung der Formulierung Goran

Hydens235 mußten die Institutionen des Staates in einer Weise transformiert werden, daß sie

fähig sein würden, die Kleinbauern in den Orbit des Entwicklungsstaates zu holen: ‚to

capture the peasantry’ (zitiert nach Herbst 2000: 18). Die politischen Reformen zielten

allerdings nicht nur darauf. Wie jedes politisches Handeln basierten sie auf spezifischen

Vorstellungen von Politik im Allgemeinen und Kolonialpolitik im Besonderen, die wesentlich

darauf Einfluß hatten, was als Problem gelten konnte und welche Lösungen dafür gefunden

wurden. Der wichtigste derartige politische Glaube wurde schon im vorangegangenen

Abschnitt ausführlich diskutiert, nämlich die Vorstellung der ‚natürlichen Legitimität’ der 235 Goran Hyden (1980): Beyond Ujamaa in Tanzania: Underdevelopment and an Uncaptured Peasantry;

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227

Chiefs als politische Amtsträger. Diese war neben pragmatischen Gründen, der wichtigste

Grund und der ideologische Hintergrund dafür, daß Chiefs (und zu einem weitaus geringeren

Ausmaß die Monarchie) als Organe des Kolonialstaates gebraucht und zu bürokratischen

Funktionären des Kolonialstaates transformiert worden sind. Die Veränderung im Status der

Chiefs und die entsprechenden Regulative, die der Staat dafür einsetzte, sind nur vor dem

Hintergrund der daraus resultierenden Spannung zwischen ‚Beibehaltung’ der ‚traditionellen’

Struktur und der ihr zugesprochenen Funktion (Legitimitätsquelle) einerseits und der

veränderten Funktion der Chiefs innerhalb des sich herausbildenden Entwicklungsstaates zu

sehen.

6.2.1 Die Transformation der Verwaltung

An früherer Stelle ist die zunehmende Kontrolle der Kolonialverwaltung über die Einsetzung

und Absetzung von Chiefs schon ausführlich zu Sprache gekommen (Vgl. oben p.196f und

p.201f). Die ersten von den Belgiern vorgenommenen Absetzungen scheinen 1923/24

vorgenommen worden zu sein. Im Jahresbericht 1925 präzisierte die Kolonialverwaltung die

Funktion der Chiefs im Rahmen der Verwaltung und die Richtung, in die stattzufindende

Reformen gehen sollten. Die Ziele und die Methode der Kolonialpolitik sollten umfassen:

1. die Anerkennung und Stärkung der ‚traditionellen’ Autorität

2. die Stabilisierung der politischen Funktionen

3. ‚die ehrenhafte’ Anwendung anerkannten Gewohnheitsrechts durch die Chiefs

4. Absetzung ‚unehrenhafter’ und ‚widerspenstiger’ Chiefs, oder solcher, die ihre Macht

mißbrauchen

5. graduelle Absetzung der ‚alten’ Chiefs durch geschulte Kräfte (Jahresbericht 1925

zitiert nach Reyntjens 1985: 112).

Die Kolonialadministration hatte auch präzise Vorstellungen, wie man zum einen die

‚traditionellen’ Strukturen stärken und zum anderen die politischen Funktionen stabilisieren

konnte. Beschreibungen der traditionellen Herrschaftsstrukturen Ruandas in einschlägigen

Verwaltungsberichten sahen ein wesentliches Hindernis für eine ‚rationalere’ Verwaltung in

der wahrgenommenen Komplexität der vorgefundenen Befehls- und Autoritätsstrukturen. Die

Teilung der Macht auf lokaler Ebene zwischen Weide- und Land-Chief, die Existenz einer

parallelen Autoritätsposition in der Person des Armee-Chiefs sowie die zahlreichen Chiefs,

die direkt dem Mwami unterstanden mache, so der Tenor der Verwaltung, nicht nur die Lage

unübersichtlich, sondern erschwere die Arbeit der europäischen Verwaltung, die es mit

zahlreichen Autoritätspersonen von unklarer Bedeutung zu tun habe: Diese Situation [wo zahlreiche Chiefs direkt dem Mwami unterstehen und der europäische

Administrateur de Territoire für ihn zuständig ist] führt dazu, daß der Administrator ständige

Berkeley: University of California Press

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228

Beziehungen zu gewissen Subchiefs pflegen muß, die keine große Bedeutung haben [aber

bei denen Supervision notwendig ist], wegen ihrer ständigen Einmischung und unklugen

Verwaltung (...) (M.Ü.; lokaler Bericht 1929, SW-Ruanda, zitiert nach C.Newbury 1988: 62f)

und: Diese Dualität [zwischen Weide- und Land-Chief] führt unweigerlich zu Chaos. Zum Schluß

taucht noch eine dritte Gestalt neben den anderen beiden auf, der Ingabo Chief. In der

Theorie ist er der Armee-Chief. Tatsächlich ist er nur ein anderer Patron, der Abgaben

verlangt und der gegen Geschenke bei juristischen Angelegenheiten als Fürsprecher auftritt –

ebenso wie in bezug auf den König. (Rapport sur le territoire de Kigali, 1929, m.Ü. zitiert nach

Lemarchand 1970: 72)

Der Schlüssel zu einer Rationalisierung der Verwaltung lag daher in den Augen der

Kolonialbehörden zum einen in der Vereinfachung der vorgefundenen Hierarchie. Für die

Belgier hatte dieser Eingriff lediglich ‚kosmetischen’ Charakter in bezug auf den Charakter

der Autoritätspositionen und vor allem in bezug auf ihre Legitimität. Die Reform war

diesbezüglich nur oberflächlich, sie ‚bereinigte’ die bestehende Struktur, indem sie sie

homogenisierte ‚irregulärer Befehlslinien’ abschaffte (Vgl. C.Newbury 1988: 63). In

Wirklichkeit aber schuf die Kolonialverwaltung mit der Bündelung aller politischen

Kompetenzen in der monokratischen Figur des Chiefs, dessen Position auf unterer Ebene

von dem Subchief, und auf oberster Ebene vom Mwami spiegelbildlich eingenommen wurde,

eine Struktur, die es in Ruanda bisher nie gegeben hatte und in der Macht in einem bisher

nie dagewesenen Ausmaß konzentriert wurde. Die ‚Chefferie’ hob sich als territoriale Einheit

mit einer bestimmten (idealerweise anzupeilenden) Zahl an Steuerzahlern und einer

bestimmten territorialen Ausdehnung kraß von der Art von gestreuten und essentiell auf

Personen bzw. Gruppen von Personen bezogenen Herrschaftssystem ab, das im

vorkolonialen Ruanda üblich war.

Zum anderen konnte die Stabilisierung des politischen Systems dadurch erzielten werden,

daß (die insbesondere Musinga attestierte) Willkür in der Bestellung und Absetzung von

Chiefs/Subchiefs mittels der Kontrolle einzuschränken versucht wurde, die von den

zuständigen europäischen Kolonialfunktionär darüber ausgeübt wurde. Dies bedeutete auch

den Versuch, den Prozeß der Amtsvergabe selbst zu verrechtlichen, sie zu einem

regelgeleiteten Prozeß zu transformieren: Ce qui importait surtout, c’était d’enlever aux fonctions des chefs leur caractère de précarité.

L’autorité européenne rendit ceux-ci indépendants des caprices des mwami, et les destitutions

ne furent prononcées que sous contrôle et suivant les nécessités impératives de l’intérêt

général. (Jahresbericht 1932, zitiert nach Maquet/d’Hertefelt 1959 : 13).

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229

1926 wurde durch ein Rundschreiben des Residenten in einem ersten Schritt zur

Homogenisierung und territorialen Konsolidierung die in Zentralruanda übliche

Tripelhierarchie von Weide-Chief, Armee-Chief und Land-Chief abgeschafft. Dies beinhaltete

auch die Abschaffung von Autoritätspositionen, die in direkter Linie dem Mwami, und auf der

Seite der europäischen Verwaltung, dem zuständigen Administrateur de Territoire

unterstanden (Feltz 1971: 88; C.Newbury 1988: 63). In einem damit korrespondierenden

Schritt wurde ebenfalls 1926 mit der territorialen Konsolidierung der Chefferies begonnen.

Keine neuen Ibikingi-Territorien wurden vergeben und 1930 die noch bestehenden Ibikingi

abgeschafft und in größere Chefferies integriert (Reyntjens 1985: 119). Während mit der

Abschaffung von Ibikingi versucht wurde, ungenutztes Land frei zu machen, stärkte die damit

verbundene territoriale Konsolidierung auf lokaler Ebene, d.h. auf der Ebene der Sous-

Chefferies lediglich die Position des Subchiefs, der die Vergabe des Landes kontrollierte. Die

Wirksamkeit der Reform bezüglich Ibikingi blieb jedoch beschränkt und de facto blieben

viele Ibikingi der Funktion nach (als Nutzungs- bzw. Besitztitel) bis 1961 bestehen (Dorsey

1983: 68). Ab 1927 begann die Kolonialverwaltung mit der Konsolidierung der Chefferies und

Sous-Chefferies im eigentlichen Sinn, mit dem Ziel, einheitliche, aneinander anschließende

Territorien zu schaffen (d.h. die Enklaven/Exklavenbildung zu vermeiden) und erhob die

territoriale Reorganisation 1930 zu einem der wesentlichen Pfeiler des unter dem Namen

des Vize-Gouverneurs des Kongo 1930-1932, Voisin, bekannt gewordenen

Reformprogramms. Ähnlich wie im Falle von Ibikingi wurden Territorien zu Sous-Chefferies

bzw. Chefferies konsolidiert, indem man frei gewordene Posten nicht nachbesetzte und die

damit verbundene Verantwortlichkeit einer anderen Chefferie zuschlug. Eine andere

Strategie besonders hinsichtlich der ‚Grand Chefs’ war, sie zum informellen Austausch von

Territorien zu bewegen. Parallel zur Konsolidierung von Territorien versuchte die

Administration eine Bereinigung der Klientelverhältnisse durchzuführen, um das

(wahrgenommene) Problem der häufigen ‚Blockade’ der traditionellen Strukturen durch

(politischen) Klientelismus und die dadurch bedingte ungleichmäßige Durchsetzung von

Direktiven der Kolonialverwaltung einer Lösung zuzuführen. Damit verstärkte die

Kolonialmacht in gewisser Weise nur ein bereits angelegte Tendenz im traditionellen

System, wo der relevante politische Amtsträger zugleich auch oft den begehrtesten Patron

darstellte. Mit der Bündelung der politischen Macht in einer Person war die Tendenz zum

Zusammenfallen von politischem Amt und Patron ebenfalls bereits verstärkt worden (vgl.

oben p.201). Der Versuch, den Klientelkomplex und politische Autorität per Dekret in

Übereinstimmung zu bringen gelang nur unvollständig und dementsprechende Maßnahmen

mußten relativ bald wieder zurückgenommen werden.236 Der Trend des Zusammenfallens

von Klientelkomplex und politischer Autorität hielt aber an und verfestigte sich bis zur

236 z.B. durfte niemand gezwungen werden, Klient eines Notablen zu werden (Reyntjens 1985: 121)

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Abschaffung von Ubuhake 1954.

Ab den Dreißiger Jahren ging die Kolonialmacht verstärkt dazu über, Territorien durch die

Absetzung von Chiefs – besonders jener kleinerer Einheiten - zu konsolidieren und benutzte

die ‚Waffe’ der Absetzung als ein Strafmittel für Chiefs, die sich während der Hungersnot

1927-1930 als unkooperativ erwiesen hatten (Dorsey 1983: 62) Die wesentlichen Teile des

politisch-administrativen Reformprogramms - territoriale Konsolidierung, Bündelung

politischer Macht und Stabilisierung der politischen Funktionen - führte damit auch zu einer

wesentlichen Reduktion der Zahl der Amtsträger um etwa die Hälfte (von etwa 2.500 auf

1.100 1933) und zu einer damit verbundenen Homogenisierung ihres Status.

Tabelle 13: Absetzungen und Gebietsauflösungen 1930-1932

Jahr 1930 1931 1932 Summe 1930-32 Abgesetzte Chiefs 2 7 1 10

Abgesetzte Subchiefs 73 223 20 316

aufgelöste Einheiten

(Ibikingi, Sous-

Chefferies)

215 724 29 968

Quelle: Reyntjens 1985: 122

Bis 1959 wurde die Zahl der Amtsträger noch einmal um die Hälfte reduziert (Vgl. Reyntjens

1985: 118ff). Damit erhielten die Chiefs nicht nur eine Machtfülle gegenüber der

Bevölkerung, die zu erreichen in vorkolonialer Zeit kaum jemals gelungen war, sondern die

politische Elite selbst wurde erheblich – auf einige Familien – reduziert. Es nimmt daher auch

nicht Wunder, daß kurz vor der Dekolonisierung wenige Lineages auf den hohen Posten

dominierten und allein ein Drittel der Chiefs Angehörige der Nyiginya-Hindiro Lineage waren,

der auch der Mwami angehörte (Ebenda: 107).

Tabelle 14: Anzahl der Chiefs und Subchiefs, ausgewählte Jahre bis 1959

Jahr Chiefs Subchiefs 1933 65 1043

1938 56 860

1947 51 625

1959 45 559

Quelle: Reyntjens 1985: 123

Noch vor der Effektuierung der Reform der politischen Ämter wurde damit begonnen,

Abgaben und Tributleistungen zu homogenisieren, zu reduzieren und zunehmend zu

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monetarisieren. Uburetwa war einer der ersten Rechte, die ‚gesetzlich’ (d.h. per

Rundschreiben u.a. Formen von Verwaltungsverordnungen) reguliert wurde. Über ihre

Verrechtlichung und deren Konsequenzen ist oben schon ausführlich gesprochen worden

und soll hier nicht wiederholt werden (Vgl. oben pp.208ff) 1924 wurden praktisch alle

weiteren (Natural-) Abgaben homogenisiert und auf eine, den jährlichen Tribut an den

Mwami (ikoro) reduziert (Bourgeois 1957: 181). Ikoro hatte in den Augen der Belgier eine in

gewisser Weise ähnliche Funktion wie uburetwa und einen ihr ähnlichen Status. Sie

versinnbildlichte Gehorsam und Loyalität, während zugleich jeweils der Verdacht auf

Mißbrauch durch die politische Klasse nahe lag. Die Reduzierung der Naturalabgaben

spiegelt damit eine fundamentale Spannung der Reformen wider, die durch die schwierige

Balance zwischen dem Versuch, die ‚Legitimität’ der Chiefs – als deren Garantie

paradoxerweise die Naturalleistungen angesehen wurden – nicht zu gefährden auf der einen

Seite, und dem Kampf gegen Mißbrauch auf der anderen Seite, hervorgerufen wurde. Die

Reform der Naturalabgaben stand dabei im direkten Verhältnis zum Anwachsen der

Anforderungen an die Masse der Bevölkerung, die der Kolonialstaat an diese stellte

(Steuern, Zwangsarbeit, Zwangsanbau bestimmter Feldfrüchte usw.).

Tabelle 15: Reform 'traditioneller' Herrschaft

Jahr Maßnahme 1922 Tribunaux indigènes eingeführt, deren Funktion aber

unklar bleibt

1924 Abschaffung zweier Tribute in der Form von Vieh und

die Beschränkung der Kompetenz der Abatora – der

Steuereinheber des Mwami auf die Einhebung der

jährlichen Tribute an den König (ikoro) sowie

Abschaffung der ebenfalls unter Abatora bekannten

Einhebung von Bananen

1926 Tripelhierarchie abgeschafft; keine neuen Ibikingi mehr

vergeben

1929 den Tribunaux Indigènes wird das Recht, Haftstrafen

auszusprechen, entzogen

1930 Auflösung kleiner Einheiten (Ibikingi, direkt vom Mwami

abhängige Enklaven)

1931 Absetzung Musingas und Einsetzung Rudahigwas

Begrenzung des Aufenthalts von Chiefs am Hof auf 15

Tage im Jahr

1931/32 verbleibende traditionelle Abgaben reformiert:

Reduktion von Uburetwa auf maximal 13 Tage pro Jahr;

Tribut an den Mwami (ikoro) monetarisiert; schrittweise

Übergang zu einem Gehaltssystem für Chiefs und

Subchiefs

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1936 Tribunale reorganisiert

1939 monetäre Ablöse für Uburetwa für gewisse Gruppen

1944 Ablösemöglichkeit für Uburetwa generalisiert

1949 Ablöse f. Uburetwa verpflichtend eingeführt

1954 Abschaffung von Ubuhake

Quellen: Bourgeois 1957 ; Dorsey 1994: 49ff: 181f; Gravel 1968: 150f; Reyntjens 1985 : 92 und 150ff

Die politischen Reformen können nicht unabhängig von der veränderten Rolle der Chiefs in

dem sich herausbildenden kolonialen Entwicklungsstaat betrachtet werden. Sie dienten

explizit dem Ziel, die effiziente Ausübung der den Chiefs übertragenen

Verwaltungsfunktionen zu gewährleisten. Die primäre Rolle der Chiefs war es, die im Zuge

der wirtschaftspolitischen Reformen ab den Dreißigern getroffenen Maßnahmen zu

implementieren. Dies beinhaltete die Überwachung des Zwangsanbaus bestimmter

Feldfrüchte und Cash Crops, sie hoben Steuern ein, führten die Bevölkerungsevidenz,

fungierten als Richter in den Tribunalen, überwachten die Implementierung von Anti-

Erosionsmaßnahmen und die Instandhaltung von Straßen, überwachten Impfungen und

andere gesundheitspolitische Maßnahmen, organisierten Arbeitskräfte für öffentliche

Arbeiten und erstatteten dem lokalen Verwaltungsbeamten Bericht über ihre Tätigkeiten, der

selbst wieder wesentlich bei der Ein- und Absetzung von Chiefs und Subchiefs beteiligt war.

Die Ersetzung von Naturalabgaben durch monetäre Steuern ging mit der (schrittweisen)

Einrichtung eines Gehaltssystems für Chiefs und Subchiefs einher. Schon in den zwanziger

Jahren verblieben 10% der von den Chiefs gesammelten (Kopf-) Steuereinnahmen237 in den

Händen der ‚traditionellen’ Hierarchie. Jeweils 5% der Einnahmen gingen an Chiefs bzw.

Mwami (Dorsey 1993: 58) Anfang der Fünfziger Jahre sah das Gehaltsschema für Chiefs

neben einem Grundgehalt (plus einem Bonus für bevölkerungsstarke Chefferies) einen

jährlichen Bonus entsprechend der Bewertung des Administrateur de Territoire vor, der

durchschnittlich 15-20% seines Gehalts ausmachte. Die regelmäßigen Inspektionen des

europäischen Personals der politischen Verwaltungen waren explizit dazu gedacht, die

‚Effizienz’ der Chiefs in der Ausübung der ihnen übertragenen Aufgaben zu prüfen und im

Falle von Nichterreichen der administrativen Ziele, Sanktionen zu ergreifen. Damit verschob

sich, wie René Lemarchand richtigerweise festgestellt hat, der Lokus der

Rechenschaftspflicht entscheidend in Richtung der europäischen Verwaltung.

237 Zur Kopfsteuer kamen später noch eine Steuer auf Vieh sowie eine Steuer auf Polygamie (Vgl. Dorsey 1994: 53 und 193).

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Abbildung 12: Schema der Verwaltung unter belgischer Kolonialherrschaft

Quellen: Dorsey 1994: 53; Reyntjens 1985: 167

Das, worüber Rechenschaft abgelegt werden mußte, bestand essentiell im Erfolg der

Implementierung von Maßnahmen im Bereich der Ökonomie, der öffentlichen Gesundheit,

Umweltpolitik u.a., während der Kontrolle der Chiefs in bezug auf ihr Verhalten gegenüber

der Bevölkerung institutionell nicht Ausdruck verschafft wurde (vgl. Lemarchand 1970: 121ff).

Dazu trug bei, daß, wenn auch das Personal der europäischen Verwaltung gegenüber der

deutschen Periode deutlich angewachsen war, der Personalstand der politischen Verwaltung

im engeren Sinn (also der Resident, die Administrateurs de Territoire, und die ihnen

zugeteilten Agents Territoriaux) zu gering blieb, um eine effektive Kontrolle der Chiefs zu

gewährleisten. Betrug der Personalstand der politischen Verwaltung 1925 17 Personen, so

stieg er bis 1930 auf 32 und bis 1934 auf 33 Personen an, während er ein Jahr später auf 27

Personen zurückging (Cornet 1996: 144; Reyntjens 1985: 169). 1928 kamen auf einen

belgischen Funktionär etwa 65.000 Banyarwanda (Carnet 1996: 73).

Belgische Regierung Generalgouverneur des Belgischen Kongo und von Ruanda-Urundi (Boma, dann Leopoldville) Vize-Generalgouverneur und Gouverneur von Ruanda-Urundi/ Generalresident in Usumbura Verwaltung des Vize-Generalgouvernements Rat des Vize-Generalgouvernements

(gebildet vom Vize-Generalgouverneur und den beiden Residenten)

Resident (Kigali) Mwami

Spezielle Verwaltung (Agronomischer Dienst, Gesundheitsdienst usw.) Strafgerichtsbarkeit Administrateur de Territoire Chiefs Agents Territoriaux Subchiefs Legende : Hierarchie Einflußrichtung der europäischen Verwaltung

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6.2.2 Die Transformation der Ökonomie

Die Aktivitäten des Kolonialstaates auf wirtschaftlichem Gebiet hatten zwei grundlegende

Ziele. Ein Ziel, das seit dem Beginn der belgischen Herrschaft in Ruanda mit wechselndem

Erfolg aber konsistent verfolgt wurde, bestand in Maßnahmen zur Sicherung der

Subsistenzsicherheit der Bevölkerung, ein zweites in der Anbindung Ruandas an die

Weltwirtschaft, anders gesagt in der kapitalistischen Reorganisation der traditionellen

Subsistenzwirtschaft.

6.2.2.1 Susbsistenzsicherung

Das Ziel der Subsistenzsicherung wurde durch vorgeschriebenen Anbau dürreresistenter

Nutzpflanzen, Ausdehnung der Anbaufläche durch Trockenlegung von Sümpfen, Aufforstung

(mit kommerziell verwertbaren und schnellwachsenden Eukalyptusbäumen) und Anti-

Erosionsprogramme sowie in der sukzessive ‚Entlastung’ der Bevölkerung von Uburetwa-

Verpflichtungen, insbesondere in der Reduktion des Anteils von Uburetwa, der für private

Zwecke der Nutznießer (Chief und Subchief) vorgesehen war, zu erreichen versucht. Im

Laufe der Zwanziger Jahre – erstmals 1925 – und verstärkt nach der großen Hungersnot

1927-1930, die unter dem Namen Rwakayihura bekannt wurde238, erließ die belgische

Verwaltung umfangreiche Verordnungen über den Zwangsanbau bestimmter Nutzpflanzen,

insbesondere von Maniok und Süßkartoffeln, deren Nichtfolgeleistung drastisch geahndet

wurde und für deren Überwachung die Chiefs zuständig waren. Der Zwangsanbau führte

paradoxerweise zu einer Reduktion von kommunalem Land (meist Weideland bzw. Wälder),

das unter die Kontrolle des Subchiefs gestellt wurde. Dessen Machtposition wurde dadurch

entscheidend gestärkt, während in der Theorie die Konsolidierung des Bodenrechts nach

europäischen Maßstäben (d.h. also individueller Besitz über Land) zwar ein erklärtes Ziel der

Kolonialverwaltung war, aber de facto Maßnahmen zur Landreform aus Angst vor den

politischen Folgen nie ergriffen wurden (Vgl. Dorsey 1983: 63; Linden 1977: 188; Rumiya

1992: 225) Ebenso wurde eine 1927 verpflichtende Vorratshaltung eingeführt mit dem Ziel,

wie die entsprechende Verordnung ausführt „de proteger les indigènes contre leur propre

imprévoyance.“ (Ordonnance-Loi N°7, 1927 in Carnet 1996: 96; vgl. auch Carnet 1996: 95f).

In Kombination mit der Einführung von Cash Crops resultierten die Maßnahmen zur

Subsistenzsicherung in einer umfassenden Reglementierung der bäuerlichen Produktion, die

ab 1930 (dem Jahr der Inauguration des Programme Voisin, das die Mandatsterritorien von

der finanziellen Abhängigkeit der von der Wirtschaftskrise geschüttelten Metropole befreien

238 Die Hungersnot forderte nach zeitgenössischen Schätzungen zwischen 30.000 und 60.000 Opfer. Zusätzlich über 100.000 Personen emigrierten nach Tanganyika und Uganda (Carnet 1996: 39f).

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sollte) einen dezidiert planwirtschaftlichen Charakter annahm (Vgl. Dorsey 1983: 134ff). Die

Dürre und die darauffolgende Hungersnot Rwakayihura 1927-1930 veranlaßte außerdem die

Kolonialverwaltung die politischen Formen voranzutreiben. Für einen kurzen Zeitpunkt

begann sie, Hutu als Secrétaires Indigènes bzw. Subchiefs einzusetzen, was die Akzeptanz

der Reformen unter den Tutsi Chiefs merklich steigerte und insofern eine erfolgreiche

Maßnahme war (Linden 1977: 161). Das unkooperative Verhalten der Chiefs (und des

Mwami239) während der Hungersnot ließ die Kolonialverwaltung zunehmend zu Absetzungen

als Methode politischer Reform greifen (Vgl. Carnet 1996: 100f). In einer weiteren

administrativen Reaktion auf die durch die Hungersnot aufgezeigten strukturellen Probleme

Ruanda wurden das Verkehrsnetz drastisch ausgeweitet. Die Absenz moderner Infrastruktur

erschwerte nicht nur die Durchführung von Katastrophen-Hilfe während der Hungersnot,

sondern erforderte eine dramatisch hohe Zahl an Trägern. 1925 betrug sie etwas über

70.000, was zu einer spürbaren Arbeitskräfteknappheit in der Landwirtschaft und indirekt, zu

einer Abnahme der landwirtschaftlichen Produktion beitrug (Dorsey 1983: 56f). Während der

Hungersnot stieg der Bedarf an Trägern naturgemäß weiter an und hatte die paradoxe Folge

einer weiteren Reduktion der landwirtschaftlichen Produktion, zumal die Rekrutierung auf

jene Gebiete beschränkt war, die von der Dürre stark getroffen waren (Vgl. Carnet 1996: 54).

Die Maßnahmen zur Subsistenzsicherung erhöhten zunächst nur den Ausmaß an Zwang

sowie die Größenordnung der Anforderungen insgesamt. Letztere hatten zum Teil

widersprüchlichen Charakter, da der Anbau von Cash Crops die Versorgungssicherheit der

Bevölkerung gefährdete, was wiederum die Ausweitung der für landwirtschaftliche Arbeiten

aufgebrachten Zeit erforderlich machte. Negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft

hatten auch die zahlreichen öffentlichen Arbeiten, für die massiv rekrutiert wurde und die,

wenn überhaupt, nur minder remuneriert waren. In der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre

begann Ruanda die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu spüren. In Kombination mit

den Auswirkungen erhöhter Anforderungen im Zuge des 2.Weltkrieges, führten auf

verschiedene Gründe zurückzuführende Ernteausfälle zum Ausbruch einer weiteren

Hungersnot 1942-44 (Ruzayagura), der möglicherweise bis zu 300.000 Menschen zum

Opfer fielen (Dorsey 1983: 230; Linden 1977: 207).

239 Aufgrund der zunehmenden Verschlechterung der Beziehung der Kolonialverwaltung zu Musinga wurde 1929 einer der Vize-Gouverneure des Kongo, Postiaux damit beauftragt, Musinga aufzusuchen und eine Klärung des Verhältnisses herbeizuführen. Befragt über seine Beschwerden und Anliegen gegenüber der Kolonialmacht, beklagten Musinga und Kanjogera den Disrespekt seiner Untertanen sowie den durch den Rückgang der dauerhaft am Hof anwesenden Chiefs und Klienten des Mwami zu beobachtetenden physischen Verfalls des Hofs. Dazu aufgefordert, Arbeiter gegen Bezahlung anzustellen, meinte er entrüstet: „ (…) les chefs n’obéissent plus à notre autorité, et cependant, le Mwami ne tient-il pas ses droits de ses ancêtres ? Pourquoi Musinga ne jouirait-il plus des avantages que sa situation lui donne le droit de retirer ? “ (Rumiya 1992 : 172f). Inmitten einer der schwersten Subsistenzkrisen Ruandas war das Verhalten des Mwami ein entscheidender Grund für seine Absetzung zwei Jahre später.

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6.2.2.2 Staatskapitalismus: die Anbindung Ruandas an die Weltwirtschaft

Die Maßnahmen zur Subsistenzsicherung sollten in gewisser Weise die Integration Ruandas

in die Weltwirtschaft ermöglichen. Letzteres sollte erreicht werden, indem die Entwicklung

eines kapitalistischen, modernen Sektors der Ökonomie initiiert wurde. Aufgrund der

demographischen Lage sowie aufgrund der natürlichen Ressourcenausstattung Ruandas

konzentrierte der Kolonialstaat seine Aufmerksamkeit auf die Entwicklung einer auf die

kleinbäuerliche Struktur Ruandas basierenden exportorientierten Landwirtschaft. In

Ergänzung dazu wurde die beschränkte Ansiedlung europäischer kommerzieller Landwirte

gefördert, denen von Seiten des Kolonialstaates, der aus ähnlichen Gründen wie der

deutsche Kolonialstaat vor ihm, die Ansiedlung von Europäern im großen Stil ablehnte, eine

zweifache Rolle zugesprochen wurde. Zum einen sollten sie als Pioniere fungieren, die den

Anbau innovativer Nutzpflanzen forcieren sollten (etwa Pyrethrum, z.T. auch Kaffee u.a.).

Zum anderen sollte sie in der Form von ‚Partnerschaften’ zwischen Siedlerbetrieben und

afrikanischen Bauern innerhalb von zu diesem Zwecke eingerichteter ‚Schutzzonen’ eine

hervorragende Rolle in bezug auf die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte einnehmen

und gleichzeitig europäische Methoden der Landwirtschaft unter der Bevölkerung

‚diffundieren’.240 Als drittes Element forcierte die belgische Kolonialverwaltung die

Herausbildung von Lohnarbeit und in einem beschränkten Sinn auch die Entstehung eines

‚Arbeitsmarktes’ – ein Prozeß, der zwar bewußt begonnen und verfolgt wurde, aber der der

Kontrolle des Staates zu einem Gutteil entzogen war.

Planwirtschaft auf kleinbäuerlicher Basis: Ruanda, ca. 1920-1960

Mitte der Zwanziger Jahre repräsentierte das gesamte Exportvolumen Ruanda-Urundis etwa

2% der Exporte des belgischen Zentralafrikas, obwohl die Bevölkerung möglicherweise bis

zu einem Drittel der Gesamtbevölkerung der belgischen Territorien ausmachte (Jewsiewicki

1986: 475). Die niedrige Exportquote illustriert die prekäre wirtschaftliche Situation der

beiden Territorien, die zugleich bedeutete, daß es ohne staatliche Initiative keine

Kapitalbildung geben würde. Die forcierte Entwicklung des kapitalistischen Potentials der

Mandatsterritorien während der Zwanziger und insbesondere während der darauffolgenden

eineinhalb Dekade, als die Kolonie wegen der Weltwirtschaftskrise und dem Weltkrieg

budgetär auf sich selber gestellt war, ist vor diesem Hintergrund zu sehen.

Schon mit Beginn der Zwanziger Jahre hatten die Belgier mit Kaffee experimentiert und bis

1923 100.000 Kaffeesträucher angepflanzt, von denen allerdings nur 10% die beiden Dürren 240 1929 gab es 21 solcher Schutzzonen. Unternehmen wurde innerhalb dieses Rahmen ein Monopol über die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte eingeräumt und hatten vollen Zugang zu Arbeitskräften und Produktion. Während ursprünglich an eine Kombination von Siedlerlandwirtschaft und afrikanischer kleinbäuerlicher Produktion gedacht wurde, reduzierte sich die Funktion der europäischen Firmen schnell auf

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Gakwege (1924-24) und Rwakayihura (1927-1930) überlebten. Gleichzeitig waren unter den

Bauern auf extremen Widerstand gestoßen. Eine Folge davon war, daß 1924 mit dem Erlaß

einer einschlägigen Verordnung die Möglichkeit der Anordnung des Anbaus von Cash Crops

durch den Residenten geschaffen wurde. Zunächst betraf dies allerdings eher den Anbau

‚gewöhnlicher’ Cash Crops - Bananen, Bohnen und dergleichen, die in steigenden Mengen

in den Kongo exportiert wurden, der seit 1923 ein dramatisches Wirtschaftswachstum erfuhr

(Dorsey 1983: 327). Die Exporte in Früchten und Gemüse kamen vor allem aus den an den

Kongo angrenzenden Gebieten (Südwestruanda, Nordwestruanda) und entstanden eher in

Zuge von Anreizen durch höhere Preise im Kongo, als durch administrative Maßnahmen.

Das Ausmaß der Exporte war so groß, daß in den Zwanzigern von Ruanda-Urundi als

‚Kornkammer’ des Kongo gesprochen wurde. Im übrigen erfuhren die Exporte während der

Dürre nur einen kurzzeitigen Einbruch, nachdem sie administrativ gestoppt worden waren

und stiegen ab 1932 wieder an (Dorsey 1983: 119f; C.Newbury 1988: ).

Im Zuge des Voisin’schen Programms wurde der Anbau von Kaffee massiv vorangetrieben

und jedes Jahr einige hunderttausend Sträucher angepflanzt. Zuerst zielte die

Kaffeekampagne auf Chiefs gemäß der ‚Vorbildrolle’, die ihnen in der kolonialen

Herrschaftsideologie zugedacht wurde. Ab 1933 wurden der Anbau sukzessive auf

Kleinbauern ausgedehnt. Ende Dezember 1937, als die Kampagne ihr Ende fand, besaßen

75% der Steuerzahler wenigstens 60 Sträucher. Insgesamt waren 21 Millionen Sträucher

angepflanzt worden, von denen 500.000 an Chiefs, 700.000 an Subchiefs und 19 Millionen

an gewöhnliche Bauern verteilt worden waren (Dorsey 1983: 193). Der Export von Kaffee

aus Ruanda-Urundi war innerhalb von 10 Jahren von 10 Tonnen (1927) auf 2.000 Tonnen

(1937) angewachsen und stieg nach dem Krieg weiter auf 4,800t (1945) und 6.500t (1953)

(Harroy 1984: 103; C.Newbury 1988: 156). Ein Einbruch der Kaffeepreise auf dem Weltmarkt

führte dazu, daß Pflanzer ihre Sträucher zu vernachlässigen begannen und in Reaktion

darauf, zu stärkeren administrativen Zwangsmaßnahmen. Aufgrund des verstärkten Abbaus

der wenigen kommerziell nutzbaren Mineralienvorkommen stieg während des Krieges auch

die Produktion von Nahrungspflanzen dramatisch (Dorsey 1983: 227).

Ökonomische Transformation und Arbeitsmigration

Schon seit Beginn der Zwanziger hatte Ruanda zunehmend als Arbeitskräftereservoir für

angrenzende Territorien gedient. Im Kongo arbeiteten Ruandesen zum einen in der

wachsenden Zahl von Siedlerfarmen und damit verbundenen europäischen

Unternehmungen (etwa in Bukavu) – die Zahl der Europäer stieg in der Kivu-Provinz des

Kongo zwischen 1925 und 1931 von 190 auf über 1.000 (Dorsey 1983: 109). Auch kam es

eine reine Vermarktungsfunktion (Dorsey 1983: 144ff).

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zur Etablierung von Siedlerunternehmen mit einer wachsenden Zahl von Angestellten (Vgl.

C.Newbury 1988: 159). Zum anderen rekrutierte die Union Minière du Haut Katanga

(UMHK) seit 1926 Hutu Arbeiter für die Minen, wo sie sich auf der untersten Stufe der

ethnisch segmentierten Arbeiterhierarchie befanden und damit dem Unternehmen erlaubten,

Löhne niedrig zu halten und Arbeitskämpfe zu vermeiden. Ende der Zwanziger machten

ruandesische Arbeiter bereits 15% der Gesamtbeschäftigten der UMHK aus (Vgl. Higginson

1989: 109ff). Das wichtigste Zielterritorium der Arbeitsmigration – die in vielen Fällen

dauerhafte Migration nach sich zog – war Uganda. Uganda war einerseits wegen den für die

Arbeiter vorteilhaften Wechselkurs attraktiver als das Belgische Afrika. Zum anderen waren

die Löhne dort prinzipiell höher als anderswo. Dort arbeiteten sie als Land- und

Minenarbeiter – 1936 kamen 40% der Minenarbeiter aus Ruanda (Dorsey 1983. 99ff). Ihre

Zahl lag in den Zehntausenden. Während der Hungersnot 1927-1930 wurden allein 46.000

Emigranten nach Ruanda registriert (Carnet 1996: 50). 1931 wurde die Zahl der in Uganda

niedergelassenen Migranten auf über 70.000 geschätzt (Dorsey 1983: 102). Die Migration

nach Uganda dauerte bis in die späten Fünfziger an, involvierte über 200.000 Personen und

führte dazu, daß Banyarwanda zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Ugandas zu einer der

größeren ‚Ethnien’ Ugandas gehörten (Vgl. Helle-Valle 1989: 120ff). Weitere 35.000,

möglicherweise noch mehr, emigrierten während der kolonialen Periode nach Tanganyika

(Daley 1993: 20; Reyntjens 1985: 141).241 Die Arbeitsmigration war ein Zeichen für die

fortschreitende Monetarisierung der Volkswirtschaft und eine wesentliche Motivation zu

migrieren bestand in der erhöhten Nachfrage nach monetärem Einkommen, um einerseits

der Steuerpflicht nachkommen zu können und andererseits den infolge der kombinierten

Auswirkungen von Exporten und Arbeitskräftebedarf induzierten Anstieg des Preisniveaus

alltäglicher Gebrauchsgegenstände (v.a. Hacken) kompensieren zu können (Vgl. Gravel

1968: 112; Linden 1977: 166). Gleichzeitig war sie ein Indikator für den Druck, der von

Seiten des Kolonialstaates über die Chiefs auf die bäuerliche Bevölkerung ausgeübt wurde

und von letzteren dazu ausgenützt wurde, die staatlichen Anforderungen an die Bauern

durch eigenen zu ergänzen. Our money is only enough for taxes. It causes people to be half-naked and their wives too.(…)

There is no source of money for a man without cattle (…), food is short and money too (…). In

Ruanda we work very hard for very little pay. (…) I left home because I wanted a job without

beatings. (Richards242 zitiert nach Helle-Valle 1989: 122).

Die Kaffeekampagnen der Dreißiger Jahre waren für viele Anlaß, in benachbarte Territorien

zu emigrieren und so den Anforderungen, die der Staat in der Form der Chiefs an sie stellte

241 1950 betrug die Gesamtzahl von Migranten aus den belgischen Territorien in Britisch Ostafrika (Tanganyika und Kenya) etwa 675.000, davon 157.000 in Tanganyika (Daley 1993: 20f). 242 Audrey Richards (1973²): Economic Development and Tribal Change; Nairobi: pp.68-70

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zu entkommen, während sie sich zugleich bewußt sein mußten, dadurch alle Landrechte,

mitunter sogar allen Besitz zu verlieren (Dorsey 1983: 220) Neben der spontanen und

organisierten Arbeitsmigration, organisierte der koloniale Staat ab den Dreißigern eine groß

angelegte Umsiedelung von Ruandesen nach Gishari (nördlich des Kivu-Sees, Masisi), in

deren Verlauf etwa 6.000 Familien angesiedelt und zunächst unter die Autorität von Hunde

Chiefs (den lokalen Agenten des belgischen Kolonialstaates) gestellt wurden, während ab

1937 bezeichnenderweise Tutsi-Chiefs aus Ruanda ‚importiert’ wurden um die Bevölkerung

zu verwalten (Mararo 1997: 510ff).243 Die Kolonialverwaltung begründete die Aktion mit dem

Kampf gegen ‚die Überbevölkerung’. Die Aussicht, die betreffende, dünn besiedelte Region

mit der Hilfe von billigen Arbeitskräften entwickeln zu können, war aber in wesentliches

Motiv, zumal das Problem der Landknappheit durch die Umsiedlung einer doch

beschränkten Zahl von Menschen nicht gelöst werden konnte und andererseits die

Regierung versuchte, spontane Migrationen nach Uganda zu bekämpfen. In Kinyaga

begrüßten Chiefs und Subchiefs Immigranten aus Bushi (der Gegend um Bukavu, am

Südufer des Kivusees), da sie durch eine größere Zahl von Steuerzahlen ihren Anteil an den

Steuereinnahmen erhöhen und abhängige Klienten gewinnen konnten. Die Chiefs sahen in

der organisierten Emigration, die von Seiten des Kolonialstaates extrem beworben wurde,

dagegen eine Möglichkeit Opponenten zu exilieren und ihre Kontrolle über Land auszuweiten

– ein Faktum, das den potentiellen Transplantés (so der Terminus Technicus der

Kolonialverwaltung) nicht unverborgen blieb und die entsprechende Widerstandshandlungen

dagegen setzten (Linden 1977: 206f; C.Newbury 1988: 143 und143, EN 82; Reyntjens 1985:

140).

6.3 Soziale und politische Stratifikation: Ruanda ca. 1940-1960

Die Anbindung Ruandas an die Weltwirtschaft und die planwirtschaftliche, gewaltsame

Transformation der Ökonomie, die politischen Reformen der Dreißiger Jahre, das

Anwachsen einer Bildungselite, die zunehmend im modernen Sektor der Ökonomie

beschäftigt war hatten zusammengenommen zu einer tiefgreifenden Veränderung der

ruandesischen Gesellschaft geführt. Der induzierte soziale Wandel ging mit einer

Verstärkung der Kontrolle der Arbeitskraft und Produktivität der bäuerlichen Bevölkerung und

einem dementsprechenden Anstieg der auf die Bevölkerung ausgeübten Zwänge und einem

Anwachsen physischer Gewalt einher. Dieser Prozeß ging nicht unwidersprochen vor sich.

Die Ausdehnung zentraler administrativer Kontrolle in die Peripherie während der ersten

Dekade der belgischen Präsenz hatte wiederholt die oft langfristige militärische Besetzung

der betreffenden Regionen erforderlich gemacht. Während der Dürre 1927-30 erlebte

243 Mutara Rudahigwa bestand darauf, ebenso wie dies das koloniale Establishment in Ruanda guthieß. Die Emigranten sollten auch weiterhin Klientelbeziehungen zu Ruanda pflegen (Mararo 1997: 512).

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Ruanda eine seiner letzten ‚traditionellen’ Revolten, als sich in Nordruanda ein Dungutsi

(eine andere Form des Namens Ndungutse) mit einer breiten Anhängerschaft unter lokalen

Pastoralisten (Hima) gegen die zentrale Herrschaft erhob und mit einigen hundert Männern

von Uganda aus die Gegend nördlich des Baferu-Sees besetzte. Im März 1928 ließ er sich

als angeblicher Sohn Rwabugiris und Halbbruder Musingas zum legitimen Mwami ausrufen.

Während die eigentliche Revolte relativ rasch niedergeschlagen wurde – Dungutsi war nach

Uganda geflüchtet – macht sie die militärische Besetzung der Region bis 1930 notwendig

(Dorsey 1994: 55ff). 1932 und 1933 kam es in Nordruanda wiederholt zu Steuerrevolten, die

mit militärischen Kräften niedergeschlagen wurden. 1935 besetzte eine Gruppe von

mehreren Hundert (in Zentralruanda so genannten )‚Hochländern’ ein Gesundheitszentrum

im zentralruandesischen Nyanza, dem Sitz der Residenz des Mwami, mit dem Vorwurf, der

Impfstoff sei von Notablen vergiftet worden (Dorsey 1983: 206f). Derartige Revolten waren

nur der drastischste Ausdruck für das Ausmaß an wahrgenommenen Zwang und

Ausbeutung. Der weit alltäglichere Ausdruck der harschen Bedingungen des ‚captured

peasantry’ bestand in Emigration, Delinquenz, Alkoholismus, anderer Formen von

Eskapismus oder der mutwilligen Zerstörung von Kaffeesträuchern.

Schon während der Dreißiger Jahre hatte sich in der Form einer Bewegung von

antieuropäischen, gleichzeitig aber europäisch gebildeten und vehement antikatholischen

Aristokraten unter der Führung des jüngeren Bruders Rudahigwas, Rwigemera, welche unter

dem Namen Basilimu bekannt wurde, gezeigt, daß mit einer proeuropäischen und

katholischen Herrschaftselite nicht auf Dauer gerechnet werden konnte (Vgl. Rutayisire

1987: 350ff). Die Bewegung, die das erste Mal 1932 von den Missionaren erwähnt wurde

(weil sie vorrangig als Problem der Christianisierung der Elite wahrgenommen wurde)

markiert den Beginn eines zunehmend antieuropäischen und aristokratischen, an der

Monarchie und an deren zur Makulatur gewordenen höfischen Liturgie (Ubwiru) orientierten

Nationalismus, oder in der Formulierung eines Missionschronisten eines ‚nationalisme noir,

xénophobe et subversif’ (Diare de Kabgayi 1932 zitiert nach Rutayisire 1987: 351). Während

die Bewegung der Basilimu nur für eine relativ kurze Periode in den Dreißigern die Gemüter

der Missionare erschütterte, war der Nationalismus à la Ruanda keineswegs tot, sondern

erlebte mit seiner ideologischen Fundierung durch Intellektuelle wie Alexis Kagame und einer

Reihe von anderen Schriftstellern ab dem Zweiten Weltkrieg einen veritablen Höhenflug –

ein ideologischer Kampf, der zu einem starken Anteil innerhalb der Kirche gekämpft wurde.

Trotz der rigiden Diskriminierung von Hutu im Ausbildungssystem befanden sich bis in die

Vierziger Jahre eine wachsende Anzahl von Hutu in den Ausbildungsinstitutionen des

Landes, stellten die ‚zweite’ Generation des Hutu Klerus oder begannen in den Arbeitsmarkt

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einzutreten, der zumindest was Berufe im öffentlichen Sektor betraf, die Diskriminierung im

Ausbildungssystem replizierte. Die Diskriminierung innerhalb eines christlichen Kontextes,

die im krassen Widerspruch zu der egalitären Konnotation stand, die das Christentum trotz

der hierarchischen Struktur und hierarchisierenden Auslegung der katholischen Kirche haben

konnte, prägten die Erfahrung der sich herausbildenden Hutu Elite und schärften die

Erfahrung der Diskriminierung aufgrund ‚ethnischer’ Zugehörigkeit. Zugleich begann mit dem

Anwachsen des Hutu-Klerus wenigsten ein Teil der Kirche sich von der Rolle als Obrigkeits-

und Staatskirche abzuwenden und eine Botschaft zu vertreten, die die Artikulation sozialer

Anliegen der Massen in einem christlichen Idiom möglich machte (Vgl. Linden 1977: 219f).

Der schleichende Rückzug Bischof Classes aus der aktiven Amtsführung der Diözese

ermutigte auch die europäischen Missionare, desillusioniert von der Rolle der Chiefs, deren

Mißbräuche und Übergriffe zunehmend zu kritisieren und öffentlich zu machen.

Die Transformation der Ökonomie führte zu einer komplexen Differenzierung der

Bevölkerung nach multiplen Kriterien. Zum einen standen sich ‚traditioneller’ und ‚moderner’

Sektor gegenüber, zum anderen die kleine politische Elite und die Masse der stets von

Verarmung bedrohten Bevölkerung. Im modernen Sektor der Ökonomie war der öffentliche

Sektor von Tutsi dominiert, während Hutu als Händler, Lastwagenfahrer, Arbeiter in den

diversen Unternehmungen, als Handwerker und ähnlichem verstärkt Berufe des

‚europäischen’ Sektors ergriffen und durch Ausnahmeregelung für ‚traditionelle’ Abgaben in

gewisser Weise außerhalb des auf Kontrolle von Arbeitskraft und Land beruhenden lokalen

Herrschaftsnexus standen (Vgl. Codere 1973: 40f). Auch der ‚traditionelle’ Sektor war sozial

zunehmend differenziert: reichere Bauern griffen auf Landarbeiter zurück, als welche

verarmte Bauern gezwungen waren zu arbeiten; besonders während des Krieges waren

wegen administrativ angeordneter Verkäufe von Vieh zu Preisen, die weit unter dem

Marktpreis lagen sowie infolge der Auswirkungen wiederholter Ausbrüche von

Schlafkrankheit und Rinderpest viele Viehbesitzer und als solche v.a. Tutsi verarmt; In

Nordruanda rivalisierte eine neue Generation von westlich gebildeten Abakonde

Grundherren mit den Chiefs um Landklienten, und diese, ‚traditionelle (d.h. Ubukonde-)

Klienten mit ‚politischen’ Klienten um ökonomische Position und Land (Vgl. Lemarchand

1970: 104f; Linden 1977: 207).

Der komplexen ökonomischen und sozialen Differenzierung überlagert war die politische

Stratifikation zwischen der Elite, die sich exklusiv aus einigen wenigen Tutsi-Familien

zusammensetzte, einerseits und der Bevölkerung, andererseits, die sich zum einen in

ostentativem Distanzverhalten und Standesbewußtsein äußerte244, zum anderen diskursiv

244 Mwami Mutara Rudahigwa hatte sich in einem bekannt geworden Fall derartigen ostentativen

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tendenziell immer öfter als ethnische Differenz artikuliert wurde. Dazu hatte neben dem

wachsenden, auf die ruandesische dynastische Geschichte fokussierte Schrifttum

europäischer und ruandesischer Intellektueller die ethnische Ausrichtung von Maßnahmen

der belgischen Verwaltung oder zumindest die Rechtfertigung von Maßnahmen in

ethnischen Termini beigetragen, genauso wie die Implementierung eines ethnischen

Bevölkerungsregisters und die Ausstellung von Identitätsausweisen ab den Dreißiger Jahren,

auf denen die ‚ethnische’ Zugehörigkeit der Träger vermerkt wurde245 (Vgl. Human Rights

Watch 1999: 51; Newbury 1998: 11). Die Zugehörigkeit zu einer der ruandesischen

Kategorien – Hutu, Tutsi oder Twa – bestimmte die Lebenschancen der so oder so

kategorisierten Individuen vielleicht nicht, aber sie beeinflußte sie wesentlich mit, insofern

gewisse Verpflichtungen (uburetwa) ‚ethnisch’ konnotiert waren246 oder der Zugang zu

Bildung und gewissen damit verbundenen Arbeitsmarktchancen ‚ethnisch’ kanalisiert war.

Das Prinzip der politischen Stratifikation prägte den Charakter der Politik, zumal auf lokaler

Ebene, zutiefst. Die ‚indigene Verwaltung’ war soweit bürokratisiert, daß Anordnungen der

europäischen Kolonialverwaltung, insbesondere jener, welche landwirtschaftliche Praktiken,

Anti-Erosionsmaßnahmen, Aufforstungen und ähnliches reglementierten, auch implementiert

wurden. Im Verhältnis zur Bevölkerung funktionierte das durch die Chiefs und Subchiefs

repräsentierte System jedoch bezeichnenderweise nicht nach verwaltungsstaatlichen

Kriterien – d.h. in der (idealerweise) gleichförmigen, allgemeingültigen und regelgeleiteten

Verwaltungspraxis, sondern beruhte auf eine essentiell individuelle Ausrichtung von

Herrschaft und Verwaltung. In Ruanda fielen am Vorabend der Dekolonisation Herrschaft

und Klientelismus weitgehend zusammen. Herrschaft war demnach klientelistisch

ausgeprägt und die Herrschaftspraxis entsprechend der Nähe/Distanz der

Herrschaftssubjekte zu den Chiefs strukturiert, welche die Verteilung essentieller Güter (v.a.

Land) monopolisiert hatten und deshalb als Patrone so unumgänglich wurden (Vgl.

Eisenstadt/Roniger 1981: 277; Lemarchand 1981: 18). Pierre Gravel (1968: 170ff) hat in

seinen Fallstudien von Entscheidungen eines Tribunal Indigène247 in Verhandlungen, bei

Distanzverhaltens, das nicht frei von einer paradoxen rassistischen (weil einem soziorassistischen Kalkül ruandesischer Prägung folgend) war, mit dem Hinweis darauf, er setze sich nicht neben ‚dem Sohn eines Sklaven’ geweigert, einen Platz neben dem afrokaribischen Mitglied der Visiting Commission des U.N. Treuhandrates einzunehmen (Codere 1973: 41). 245 Der Vermerk basierte, so wie es scheint, auf den Angaben der Befragten , sowie auf dem Ermessen der ausstellenden Behörde (gewöhnlicherweise jemand im Büro des Chiefs/Subchiefs). Die Möglichkeit, per Bestechung eine andere Identität zu erlangen, war grundsätzlich bereits damals gegeben, während sie besonders in der ersten und zweiten Republik als Weg, der Diskriminierung gegen Tutsi zu entgehen, in Anspruch genommen wurde (Human Rights Watch 1999: 51) 246 Pottier (1995: 43) insistiert darauf, daß Uburetwa bereits vorkolonial mit Hutu konnotiert war und liegt insofern richtig, daß ‚Hutu’ im Sprachgebrauch der vorkolonialen Elite so etwas wie ‚sozialer Sohn’, also eine Person untergeordneten, abhängigen Status bezeichnete. Ob tatsächlich Tutsi qua Tutsi von Uburetwa nicht betroffen wurde bleibt zumindest offen (Vgl. zu Hutu als ‚social son’ Lemarchand 1996: 20). 247 Die Tribunaux Indigènes wurden in den Dreißiger Jahren reorganisiert und waren im Prinzip eine

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243

denen es um Nutzungsrechte von Land bzw. um Nutzungs- und Besitzrechte über Vieh ging,

eindrücklich gezeigt, wie sehr selbst der Ausgang juristisch reglementierter Prozesse damit

korrelierte, ob der Kläger Klient des Chiefs war bzw. damit, ob er zumindest dem ‚nuklearen

Feudalkomplex’ des Chiefs in der Form einer Klientelbeziehung zu einem der Klienten des

Chiefs nahe stand. Die politischen Beziehungen auf lokaler Ebene waren allerdings nicht

ausschließlich durch den durch den Chief repräsentierten ‚nuklearen Feudalkomplex’

bestimmt, sondern ebenso durch das Vorhandensein alternative Patrone, z.B. Opponenten

des Chiefs/Subchiefs, reiche Personen, die auf die Patronage des Chiefs/Subchiefs nicht

angewiesen waren und somit ein Maß an Autonomie bewahrt hatten, oder in Gestalt

europäischer Missionare.248 Das auf dieser Ebene loklaler/regionaler Politik entscheidende

politische Kollektiv, war somit nicht die engere oder weitere Verwandtschaftsgruppe (obwohl

diese für die als Patrone fungierende Elite von großer Bedeutung war), ebenso nicht der

gemeinsame soziale Status (als Hutu oder Tutsi), sondern die Zugehörigkeit zu einem

Patron – ein Muster, das auch nicht durch den Sturz des ‚traditionellen’ Systems und der

Errichtung der Republik wesentlich geändert wurde, wenn auch die Akteure dann andere

waren.

Institutionalisierung der Vermittlertätigkeit von Chiefs in Landstreitigkeiten und ähnlichem. Ab den späten Dreißigern wurden die Verhandlungen auch protokolliert. 248 Vgl. Autobiographie eines Hutu namens Rukimirana (Nr.33) in Codere 1973: 227ff für ein Beispiel einer de facto Klientelbeziehung, in der ein Missionar die Rolle des Patrons (in aufmerksamer Nachahmung der Rolle eines Ubuhake-Patrons übernahm.

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Teil 4 Dekolonisation und Revolution

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245

Kapitel VII: Reform und Revolution

7.1. Die Dekade politischer Reform, 1948-1959

7.1.1 Faktoren und Kontext des politischen Wandels

Der zweite Weltkrieg war ein Scheidepunkt für den kolonisierten Teil der Welt. Mit der

Unabhängigkeit Indiens 1947 setzte ein rasanter Dekolonisationsprozeß ein, der innerhalb

von eineinhalb Jahrzehnten zur Bildung zahlreicher ‚neuer Staaten’ in Afrika und Asien

führte. Als ein wesentlicher Faktor politischer Reform in Ruanda erwies sich die veränderte

Rolle der belgischen Mandatsmacht gegenüber der ‚internationalen Gemeinschaft’. Mit der

Gründung der Vereinten Nationen im Juni 1945 wurde das Mandatssystem des

Völkerbundes durch ein Treuhandsystem ersetzt, in dessen Rahmen nicht nur die

Entkolonisierung als politisches Nahziel definiert wurde, sondern das gleichzeitig von der

Treuhandmacht die Einrichtung von freien und ‚demokratischen’ politischen Institutionen

forderte. Die Regeln des Treuhandsystems waren präziser formuliert als jene des

Vorgängersystems. Schwerer noch wog allerdings die veränderte Rechenschaftspflicht der

Treuhandmacht gegenüber der internationalen Gemeinschaft, repräsentiert durch die

Vereinten Nationen. Im Gegensatz zu der Mandatskommission des Völkerbundes, der die

Mandatsmacht lediglich Bericht erstatten mußte und die aufgrund der Berichte geäußerten

Bedenken und Einwände in gebührender Weise zur Kenntnis nehmen und in die Politik

einfließen lassen sollte, nahm der im Rahmen des U.N. Systems geschaffene Treuhandrat

das Erstellen von Berichten im Zuge von in regelmäßigen Abständen ab 1948 stattfindenden

Erkundungsmissionen selber wahr. Die Erkundungsmissionen hatten nicht nur die Aufgabe,

die Politik der Treuhandmacht zu dokumentieren, sondern erarbeiteten Empfehlungen, die

Belgien – trotz der häufigen Uneinigkeit mit den Folgerungen der entsprechenden Berichte

über Ruanda-Urundi – in weiten Teilen folgte (Vgl. Reyntjens 1985: 210ff). Das System

regelmäßiger U.N. Missionen übte nicht nur einen Druck auf die Kolonialmacht aus, der sie

dazu zwang, rasche Reformen durchzuführen, sondern etablierte gleichzeitig eine politische

Arena für die (indigenen) politischen Eliten des Landes – zu der zunehmend eine neue

Generation von Politikern, Hutu wie Tutsi trat -, auf den Prozeß der Dekolonisation

einzuwirken und Forderungen an die Kolonialmacht zu stellen. Allerdings war die Zahl

(formeller) Petitionen an den Treuhandrat vor 1959 relativ gering und erst die rasanten und

gewaltsamen Entwicklungen ab eben diesem Jahr ließ die Zahl der entsprechenden

Anrufungen des Rates sprunghaft ansteigen und ihn zu einer Arena eines vehementen

Antikolonialismus von konservativen Tutsi-Eliten werden (Ebenda: 221ff). Die Initiierung

eines rasanten Reformprozesses durch den äußeren Druck der U.N. Missionen und das

Bewußtsein des nahenden Datums einer internen Autonomie, in deren Rahmen die

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246

politischen Institutionen des Landes sukzessive indigenisiert bzw. afrikanisiert werden

würden, bevor das Land in die Unabhängigkeit entlassen werden würde, war ein

wesentlicher Determinant des politischen Handelns der sich formierenden ‚Gegenelite’ von

Hutu-Politikern. Das Insistieren der internationalen Gemeinschaft auf die Beteiligung der

afrikanischen Bevölkerung am politischen Prozeß und die Devolution von kolonialstaatlicher

Macht an von Afrikanern gebildeten politischen Institutionen verlangte lediglich die

Etablierung ‚repräsentativer Institutionen, während die Organisationsweise der Institutionen –

d.h. ob sie demokratisch oder anderweitig ausgestaltet werden würden – offen gelassen

wurde. Die Furcht der Hutu-Elite davor, daß die Unabhängigkeit gewährt werden würde,

bevor die von ihr geforderte Demokratisierung der Institutionen erreicht sein würde, war

insbesondere ein entscheidender Faktor für den Verlauf der Dekolonisierung in der

turbulenten Endphase der Monarchie von 1959-62 (Vgl. Lemarchand 1970: 106)

Ein entscheidender Faktor für die Herausbildung einer handlungsfähigen Elite von Hutu-

Politikern, die sich aus der anwachsenden Gruppe von Hutu Absolventen der höheren

Schulen sowie aus ‚ländlichen Intellektuellen’ und ‚Kleinbürger’ – Katechisten, Handwerker,

Händler usw. – rekrutierte, war die veränderte Rolle der katholischen Kirche nach dem

2.Weltlkrieg. Der langjährige Bischof und die prägende Figur der katholischen Kirche in

Ruanda, Leon Classe, war Anfang 1945 verstorben und wurde von Laurenti Deprimoz, der

die Geschäfte der Diözese seit 1943 geleitet hatte, nachgefolgt. Deprimoz förderte

insbesondere die Publikation katholischer Magazine, welche bereits in den Dreißiger Jahren

mit dem Magazin ‚Kinyamateka’ begonnen hatte. Diese sollten den ‚Évolués’ – d.h. den

Gebildeten ein adäquates, christliches Medium zur Verfügung stellen und sie so im engeren

Kreis der Kirche halten (Linden 1977: 221). Die Amtszeit von Deprimoz fiel mit einem

personellen Wechsel des Kaders der europäischen Missionare zusammen. Die älteren

Missionare, welche die Mission in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten geprägt

hatten, zogen sich zunehmend zurück und wurden durch junge Missionare ersetzt, die im

Gegensatz zu ihren Vorgängern meist aus bescheidenen sozialen Verhältnissen kamen.

Viele von ihnen stammten aus den flämischen Teilen Belgiens und sahen in der Situation der

Hutu belgische soziale und politische Verhältnisse widergespiegelt. Von entscheidender

Bedeutung war schließlich die Person des Nachfolgers von Deprimoz, André Perraudin, ein

Schweizer und überzeugter Demokrat. Er eröffnete der Hutu-Elite die katholische Presse als

Vehikel politischer Agitation. Die Nähe der Hutu-Elite zur Kirche hatte den Vorteil, daß sie in

der Form kirchlicher Infrastruktur (z.B. der Presse: der spätere erste Präsident Grégoire

Kayibanda Ruandas fungierte ab 1954 als Herausgeber des erfolgreichsten der katholischen

Magazine, Kinyamateka) oder kirchlicher Organisationen249 und Vereine über einen

249 z.B. Legio Mariä. Grégoire Kayibanda fungierte in den späten Fünfzigern als ihr Präsident (Vgl. C.Newbury

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institutionelle und organisatorische Basis verfügte, über die sie agieren und mobilisieren

konnten. Die kirchlichen Kontakte ermöglichten es auch, Kontakte mit ‚progressiven’

Kreisen in Belgien zu knüpfen, sowohl zu Personen und Organisationen innerhalb der

belgischen Kirche als auch zu Parteien und Gewerkschaften des christlichen Sektors

insgesamt. Die katholische Kirche gab allerdings Hutu Intellektuellen nicht nur einen

institutionellen und organisatorischen Rahmen und eine Arena für politisches Handeln,

sondern war – in der Form einiger sozial und politisch engagierter Missionare – wesentlich

daran beteiligt, politische Forderungen zu artikulieren und als Pamphlete, Manifeste u.a. zu

formulieren250 (Lemarchand 1970: 107; Linden 1977: 222ff).

7.1.2 Der Versuch kontrollierten Wandels 1948-1959

Mit Beginn der durch die Besuche der U.N. Mission eingeleiteten Phase politischer Reformen

begann die belgische Kolonialverwaltung schrittweise damit, soziale und politische

Reformmaßnahmen zu setzen. Im Gegensatz zum Treuhandrat bzw. den

Erkundungsmissionen, die auf rasche Reformen drängten, setzte die Kolonialverwaltung auf

Zeit und stellte tiefgreifende politische Reformen für einen Zeitpunkt in Aussicht, an dem die

afrikanische Bevölkerung die ‚notwendige moralische und wirtschaftliche Entwicklung’

erreicht haben werde (Linden 1977: 222)251. 1947 wurde der Conseil de Vice-Gouvernement

gegründet, zu dem 1949 auch die beiden Bami eingeladen wurden, ebenfalls 1949 Uburetwa

durch eine Steuer ersetzt. 1951 wurde schließlich ein Zehnjahresplan verfaßt, der als

Richtlinie für die Dekolonisation dienen sollte und u.a. die Abschaffung von Ubuhake252 und

die Demokratisierung der politischen Institutionen vorsah. Letztere wurde 1952 mit der

Einrichtung von Räten auf Landes- und Territoire-Ebene sowie auf Chefferie- und Sous-

Chefferie-Ebene begonnen. Die Räte waren essentiell konsultativen Charakters und ihre

Einberufung nur in wenigen, besonderen Fällen zwingend vorgeschrieben. Die Räte wurden

1953 aufgrund eines komplizierten Wahlsystems konstituiert. Auf jeder Ebene des Systems

wählte ein Wahlmännerkollegium aus einer (administrativ festgesetzten) Liste von wählbaren

Personen die Mandatare für die jeweilige Ebene, wobei auf jeder höheren Ebenen Vertreter

der Räte der unteren Ebenen zusätzlich hineingewählt wurden und auf der höchsten Ebene,

dem Conseil supérier du Pays, weitere Mitglieder kooptiert wurden. Das ‚demokratische’ 1988: 190) 250 Das ‚Hutu- Manifest’ – ein berühmt gewordener Katalog von politischen Forderungen – soll von einem Missionar in Kabgayi verfaßt worden sein (Lemarchand 1970: 108). 251 Die Aussage des Residenten von Burundi, Robert Schmidt, ist ein typisches Beispiel der belgischen Gedankengänge: „In this process of changing the whole political machinery [of Ruanda-Urundi], the degree of evolution , the aspirations and faculty of assimilation of the people must be taken into consideration. It would be harsh and unfair to render unhappy, or in a state bordering on social anarchy, one or two generations by imposing premature reforms by virtue of a political ideology or on the excuse that we are hoping to bring happiness in this fashion to future generations.“ (Statement by R. Schmidt, Resident of Urundi, presented at Usumbura, 9.8.1948, unveröffentlichtes Dokument, zitiert nach Lemarchand 1970: 80) 252 zu der Abschaffung von Ubuhake siehe Reyntjens 1985: 203ff. Die Abschaffung wurde 1952 per Dekret

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Element beschränkte sich dabei im wesentlichen auf die Einführung eines Wahlelements bei

der Konstitution der verschiedenen Räte, wobei die Wahlmöglichkeit grundsätzlich

beschränkt war und die Wahlberechtigten auf der untersten Ebene des Systems, der Sous-

Chefferie, die praktisch die Basis für alle weiteren Wahloperationen darstellte, vom Subchief

für diese Funktion ausgewählt und eingesetzt und vom Chief bestätigt wurden

(Maquet/d’Hertefelt 1959: 25ff). Die Architektur des Systems führte nicht

überraschenderweise dazu, daß Hutu nur zu einem geringen Prozentsatz in die Räte

gewählt wurden und ihr Anteil in vertikaler Hinsicht, je höher die Ebene, zunehmend kleiner

wurde und auf der höchsten Ebenen gegen Null tendierte. Drei Jahre später ließ Gouverneur

Harroy durch ein Rundschreiben allgemeine Wahlen durchführen, in denen die Wahlmänner

für das Wahlmännerkollegium auf Sous-Chefferie-Ebene gewählt wurden (Vgl. Reyntjens

1985: 192ff)253. Das Ergebnis der Operation war eine gewisse Erhöhung des Anteils an Hutu

auf den verschiedenen Ebenen des Systems, dessen konsultativer Charakter aber nicht

verändert wurde. Der relativ zum Bevölkerungsanteil niedrige Anteil an Hutu-Mandataren auf

der untersten Ebene des Systems zeigte deutlich, daß die Wahlen keinem ethnischen,

sondern einem essentiell klientelistischen Kalkül254 folgten und daß ‚Ethnizität’, mit einer

einzigen Ausnahme im Territoire Kibungu (Gisaka), kein expliziter Bestandteil des

‚Wahlkampfes’ war (Maquet/d’Hertefelt 1959: 46).255

Wichtiger jedoch als die durch die Wahlen 1956 eingeführte beschränkte Beteiligung am

politischem System war die politische Sozialisation und die politische Bewußtseinsbildung,

die Hutu, die in die Räte gewählt worden waren, in ihrer Tätigkeit erfuhren (Vgl. C.Newbury

1988: 185). In der breiteren Bevölkerung hatten die Wahlen gleichfalls Hoffnungen auf

Veränderungen geweckt, die die Räte aber nicht erfüllten konnten. Zudem waren die Wahlen

zu einem Zeitpunkt eingeführt worden, zu dem es in der Form von christlichen Vereinen und

ähnlichen Organisationen höchstens Ansätze zu formellen politischen Organisationen gab

und der Kreis der (Hutu) Wortführer für politische und soziale Reformen noch klein war (Vgl.

Lemarchand 1970: 83). Die durch die Wahlen initiierte Bewußtseinsbildung der politischen

(Gegen-) Elite führte aber zu einer deutliche Radikalisierung des politischen Diskurses.

Während führenden Politiker aus der Elite von Hutu Évolués wie Grégoire Kayibanda oder

Aloys Munyangaju Anfang der Fünfziger Jahre noch eine dezidiert reformistische Sprache verlautbart und bis 1956 vollzogen. 253 Es handelte sich dabei genaugenommen um keine Wahl, sondern um eine Konsultation der Bevölkerung, die rechtlich nicht bindend war (Vgl. Maquet/d’Hertefelt 1959: 31). 254 Daß Tutsi zu einem weitaus geringerem Prozentsatz als Hutu, diese als Räte wählten, erklärt sich genauso aus angemerkten klientelistischen Kalkül, insofern die Nutznießer dieses Kalküls die Elite ist, die sich aus Notablen und Patrone zusammensetzt und zu der Hutu kaum gehörten (Vgl. dagegen die ethnische Interpretation des Tutsi Wahlverhaltens bei Maquet/d’Hertefelt 1959: 86) 255 Die Vorwahlperiode 1956 zeichnete sich im Allgemeinen dadurch aus, daß ein Wahlkampf – teilweise bedingt durch die kurzfristige Ankündigung der Wahl – praktisch nicht geführt wurde (Vgl. Maquet/d’Hertefelt

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verwendet hatten, wandten sie sich in ihren Artikeln in den darauffolgenden Jahren einer

radikaleren und potentiell revolutionären Sprache zu. Kayibanda begann etwa, die Hutu

Gegenelite in (mythischen) Begriffen wie ‚Dritter Stand’ zu definieren, während gleichzeitig

das Publikum für seine und anderer Artikel zur sozialen und politischen Lage in der Form

einer wachsenden Käuferzahl der Zeitschrift Kinyamateka dramatisch anwuchs (Vgl. Linden

1977: 235). Gleichzeitig mit der Radikalisierung des politischen Diskurses begannen

führende Hutu-Politiker die Rolle der Èvolués als Führer der ländlichen Massen zu

thematisieren und die Rolle ländlicher Intellektueller – Katechisten, des Schreibens mächtige

Händler, Lehrer u.a. – zu unterstreichen (Vgl. C.Newbury 1988: 188). 1956 brachte M.Maus,

ein europäischer Siedler und Präsident der Union Euroafricaine, erstmals in einem formellen

Gremium, im Rat des Vize-Gouverneurs, das ‚Hutu-Tutsi-Problem’ als das drängendste

soziale und politische Problem der Mandatsterritorien zur Sprache und warnte davor, daß

der Ausschluß des Dritten Standes (wie er die Masse der Bevölkerung definierte) spätestens

bei einer vollständigen Demokratisierung der lokalen Behörden keinen einzigen Tutsi mehr

als Chief, Mitglied eines Rates, ja als Bewohner der Hügel dulden werde (Vgl. Linden 1977:

239).Um dieser Situation zu entgehen, schlug er vor, Hutu in irgendeiner Form separat zu

repräsentieren, was von der Administration umgehend abgelehnt wurde (Vgl. Lemarchand

1970: 146).

Im Jahr darauf publizierte der Conseil Supérieur du Pays eine lange Einschätzung der

politischen und sozialen Lage des Landes und empfahl die Ausweitung des

Bildungssystems, Ausweitung der politischen Partizipation und forderte die schnelle

Devolution der Macht an die afrikanisierten Institutionen des Landes, ohne auch nur mit

einem Wort das Problem (wahrgenommener) krasser ökonomischer und sozialer

Ungleichheit zwischen Tutsi (qua Elite) und Hutu zu thematisieren. Dagegen schlug er vor,

vier Ministerien (Finanzen, Bildung, Öffentliche Arbeiten und Innenressort) an ruandesische

Akteure zu übergeben und zu diesem Zweck rasch afrikanisches Personal für die

Übernahme der Ministerien auszubilden. Eine Devolution von Macht an ruandesische

Akteure schien in greifbare Nähe gerückt (Vgl. ebenda: 249; C.Newbury 1988: 191) In

Reaktion darauf veröffentlichte eine Gruppe von Hutu Intellektuellen, unter ihnen Joseph

Gitera, Bonaventure Habimana, Aloys Munyangaju und Grégoire Kayibanda das ‚Manifeste

de Bahutu’ – ein Katalog von Problembeschreibungen und Empfehlungen -, in dem sie die

Zentralität der ungleichen Verteilung ökonomischer Güter und politischer Ämter zwischen

Hutu und Tutsi herausstreiche, nicht ohne dabei eine ‚rassische’ Lesart (in den Begriffen der

Hamitentheorie) für die Analyse der sozialen und politischen Probleme zu übernehmen256:

1959: 47). 256 und Demokratie mit der Herrschaft der Mehrheit (‚la loi statistique de pouvoir’ im folgenden Zitat) zu identifizieren.

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[L]e problème est avant tout un problème de monopole politique dont dispose une race, le

Mututsi, monopole politique que, étant donné l’ensemble des structures actuelles, devient un

monopole économique et social qu, vu les sélections de facto dans l’enseignement, parvient à

être un monopole culturel, au grand désespoir des Bahutu qui se voient condamnés à rester

d’éternels manœuvres subalternes, et pis encore, après une indépendance éventuelle qu’ils

auront aidé à conquérir sans savoir ce qu’ils font. (Décolonisation et Indépendance du

Rwanda et du Burundi 1963 : Doc.4, p.556)

Gleichzeitig wandte sich das Pamphlet gegen die anvisierte Abschaffung der Angabe der

ethnischen Zugehörigkeit auf offiziellen Dokumenten, denn: Leur suppression risque de favoriser encore davantage la sélection en la voilant et en

empêchant la loi statistique de pouvoir établir la vérité des faits. Personne n’a dit d’ailleurs que

c’est le nom qui ennuie le Muhutu ; ce sont les privilèges d’un monopole favorisé lequel risque

de réduire la majorité de la population dans une infériorité systématique et une sous-existence

imméritée. (ebenda : 561)

Das Pamphlet wurde dem Gouverneur und Generalresidenten von Ruanda-Urundi Harroy im

März 1957 nach Usumbura übermittelt, der das Pamphlet zunächst nicht öffentlich zur

Kenntnis nahm. Gegenüber der U.N Mission Ende 1957, in deren Verlauf er explizit auf das

Manifest angesprochen wurde, sprach er davon, daß das Problem ‚Hutu-Tutsi’ das

Schlüsselproblem des Landes sei und wiederholte Ende 1958 bei der Eröffnung der

Sitzungsperiode des Rats des Vize-Gouverneurs die Grundaussage des Manifests, daß es

ein ‚Tutsi-Hutu-Problem’ gebe und dieses das fundamentale Problem des Landes sei

demonstrativ (Vgl. Harroy 1984: 213; 231).

Kayibanda hatte noch 1957, bevor er mit einem der Unterzeichner des Manifests, Aloys

Munyangaju nach Belgien ging, um eine Ausbildung als Journalist zu erhalten, eine

Organisation gegründet, das Mouvement Social Muhutu (MSM), die 1959 zu einer Partei mit

neuem Namen (Parti du Mouvement de l’Émancipation des Bahutu, Parmehutu)

umgewandelt wurde. Es sollte den im Manifest ausgedrückten Zielen eine organisatorische

Klammer geben und ein Instrument darstellen, die Massen zu mobilisieren (Vgl. Linden

1977: 251). Im gleichen Jahr gründete ein anderer der Unterzeichner des Manifests, Joseph

Gitera, seine eigene Organisation, l’Association pour la Promotion Sociale de la Masse

(Aprosoma), dem sich später auch Munyangaju anschloß. Im Unterschied zum moderaten

reformistischen und christlichsozialen Diskurs des MSM, zeichnete sich Aprosoma und im

Speziellen Gitera durch einen scharfen verbalen Radikalismus, den er gegen die bestehende

Ordnung und die Monarchie wandte, sowie durch einen gewissen Sinn für politischen

Aktionismus aus (Reyntjens 1985: 253). Während Gitera in seinen Handlungen und

Äußerungen radikal erscheinen mochte, analysierte er die politische Situation Ruandas nicht

in Begriffen von Rasse (wie es das MSM und die Nachfolgeorganisation Parmehutu taten),

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251

sondern in einer Opposition der Masse und der politischen Minderheit in der Form der Chiefs

und der Monarchie. Der Titel der von Gitera gegründeten Zeitschrift ‚Ijwi rya Rubanda Rugufi’

(Stimme der kleinen Leute) illustriert die ideologische Ausrichtung von Aprosoma und damit

den ideologischen Unterschied zwischen den beiden politischen Organisationen deutlich.

Gitera, gemeinsam mit zwei anderen, wurde 1958 in den Conseil Supérieur du Pays

kooptiert, nachdem er den Mwami im Jänner des Jahres aufgefordert hatte, eine

Untersuchungskommission zum ‚Hutu-Tutsi-Problem’ einzurichten, die schließlich im April

ihre Arbeit aufnahm (Vgl. Dorsey 1994: 78). Den Hutu-Repräsentanten im Conseil Supérieur

du Pays wurde dabei – ähnlich wie den schon 1953 und 1956 in Räte gewählten Hutu – die

Unwilligkeit der tonangebenden Elite, politische und soziale Reformen ‚für die Massen’ zu

ergreifen, deutlich vor Augen geführt (Vgl. Linden 1977: 252).

Das Jahr 1958 zeichnete sich durch eine merkliche Radikalisierung der medial – in

Kinyamateka, Temps Nouveaux d’Afrique (Usumbura) und Soma – geführten Debatten aus,

an der sich im Laufe des Jahres auch dem Hof nahe stehende Tutsi Aristokratie zu beteiligen

begann. Ein im Juni erschienener Artikel, der von einer Reihe älterer Klienten des Mwami

unterschrieben wurde, antworteten die Autoren auf ein im Mai des Jahres in Kinyamateka

vorgebrachtes (mythologisches)257 Argument der grundsätzlichen Gleichheit von Hutu, Tutsi

und Twa und ihres gleichen Anspruchs auf politische und soziale Rechte:

[L]es relations entre nous [Tutsi] et eux [Hutu] ont été de tout temps jusqu’à pre´sent basées

sur le servage ; il n’y a donc aucun fondement de fraternité (zitiert nach Maquet/d’Hertefelt

1959 : 86f)

Nach der Erklärung der genealogischen Unmöglichkeit der angeblichen ‘Bruderschaft’ von

Gatwa, Gatutsi und Gahutu, dessen Vater nicht Kanyarwanda gewesen sein könne, da

dessen Vater, Kigwa, Tutsi gewesen sei und die Hutu in Ruanda vorgefunden habe,

während er Gatwa als seinen Diener mitgebracht habe, fügen die Autoren ein letztes

Argument hinzu, das die Vorherrschaft der Tutsi aufgrund des Rechts der Eroberung

legitimiert.

Die von den Autoren des Artikels ergriffene Argumentationslinie nahm innerhalb der

‚traditionellen’ Elite eine marginale Position ein. Statt dessen favorisierte diese einen Diskurs,

der sich um die Einheit des Landes drehte und es möglichst vermied, von einem ‚ethnischen’

oder ‚rassischen’ Problem zu sprechen. Wie es ein anonymer Leserbriefschreiber Mitte 1958

257 Das Argument bezog sich auf einen geläufigen Gründungsmythos, nach dem Gahutu, Gatutsi und Gatwa die Kinder desselben Vaters (Kanyarwanda) seien und folgerte weiter, daß der Mwami – in seiner symbolischen Rolle als Vater der Nation – keine seiner ‚Kinder’ bevorzugen solle (Vgl. Linden 1977: 253; und Chrétien 1999: passim zur Ambivalenz dieses Mythos, der dazu verwendet wurde, die Ungleichheit zwischen den Gruppen als Konsequenz der Schuld Gahutus und Gatwas gegenüber ihrem Vater zu rechtfertigen).

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252

formulierte, gehe es darum, das Land gegen trennende Kräfte wie Joseph Gitera zu

verteidigen – so wie die Retter-Krieger (Abatabazi) der ruandesischen Mythologie die

Ruanda nach einer Krise wiederhergestellt hätten (Vgl. Reyntjens 1985: 236). Folgerichtig

kam die vom Mwami auf Drängen Joseph Giteras eingesetzte Arbeitsgruppe zu dem Schluß,

daß es kein ‚Hutu-Tutsi-Problem’ gebe und empfahl die Abschaffung der Angabe der

‚ethnischen’ Identität auf offiziellen Dokumenten (Vgl. Linden 1977: 255). Der antikoloniale

Diskurs konservativer Tutsi-Eliten begründete angeprangerte Mißstände mit der

Beschneidung der Monarchie durch die belgische Kolonialverwaltung – würde sie in ihrer

traditionellen Gestalt wiederhergestellt werden, könnte das ‚traditionelle Gleichgewicht’

wiederhergestellt, die durch die belgische Kolonialherrschaft durchgesetzte ‚rassische’

Spaltung Ruandas rückgängig und die Einheit des Landes bewahrt werden (Vgl.

Lemarchand 1970: 135).

7.2 ‚Revolution’

Die ‚Revolution’ in Ruanda, die mit den Aufständen 1959 begann, mit der Ausrufung der

Republik im Jänner 1961 ihren Höhepunkt fand und deren Ergebnis durch die allgemeinen

Wahlen vom September sanktioniert und legitimiert wurde, bestand, wie bereits andere

Autoren herausgestrichen haben, aus einer komplexen Entwicklung, einer Reihe von

Ereignissen, deren Ausgang unsicher und deren Bedeutung zunächst unklar blieb.

Tabelle 16: Ablauf der Revolution und Typologie ihrer Stadien

Stadium

Chronologie

Protesttypus Orientierung Zielscheibe Schauplatz Akteure

1. Anfang

November

1959

(‚Muyaga’)

Revolte,

Bauernaufstan

d

Anomisch-

restaurativ

(pro-

monarchisch)

Tutsi (in erster

Linie Chiefs

und Subchiefs)

landesweit Hutu Bauern

2. Anfang bis

Mitte

November

Reaktion auf

(1)

restaurativ,

‚traditionelle’

Strafaktion

(ingabo)

Aprosoma-

Mitglieder

(daher Hutu)

landesweit

mit

Schwerpunkt

im Zentrum

Mwami,

Royalisten, trad.

Armeen (Hutu,

Tutsi, Twa)

xenophob-

konservativ

Tutsi-Chief und

Subchiefs

Nordruanda

(Rukiga)

Bakonde Familien

und ihre Klienten

3. 1960 soziale und

politische

Revolution xenophob-

jakobinisch

Tutsi

(undifferenziert

)

Zentralruand

a

Kommunale

Autoritäten (Hutu)

4. Jänner 1961 Staatsstreich Republikanisc

h

(Tutsi)

Monarchie

Gitarama Parmehutu-

führung und

belgische

Kolonialverwaltun

g

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253

Die Tabelle ist eine fast vollständige Reproduktion der Tabelle in Lemarchand 1970: 113. Allerdings wurden

einige entscheidende Elemente verändert und die royalistische Reaktion auf den Bauernaufstand Anfang

November hinzugenommen. Außer Lemarchand wurden verwendet: Hubert 1965: passim; C.Newbury 1988:

194f; Willame 1994: passim

Keine der Akteure – weder konservative Royalisten, noch die belgische Kolonialverwaltung,

noch die Führer der Hutu Parteien – hatte zu irgendeinem Zeitpunkt die volle Kontrolle über

den Ablauf der Ereignisse, obwohl sie ihn durch ihr Handeln wesentlich mitbestimmten (Vgl.

z.B. Lemarchand 1970: 114ff; Reyntjens 1985: 233ff).

Der Ablauf der Revolution soll im übrigen hier nur skizziert werden, soweit sie der Erklärung

eines ihrer hervorstechendsten Ergebnisse – der durchgängigen Ethnisierung der Politik –

dienlich ist.

7.2.1 Auftakt

Konnte die belgische Kolonialverwaltung den politischen Prozeß bis 1958 innerhalb gewisser

Parameter halten und kanalisieren, entglitt ihr die Kontrolle über den politischen Prozeß ab

der Jahreswende 1958/59 zusehends. Im Kongo und in Burundi kam es im Laufe des Jahres

1958 zur Bildung vehement nationalistischer Parteien unter der Führung von Prinz

Rwagasore bzw. Patrice Lumumba, während die beiden politischen Organisationen in

Ruanda mit der Rückkehr zweier ihrer Führer nach Ruanda straffer organisiert und

schlagkräftiger wurden und die katholische Kirche in Hirtenbriefen die ‚rassische

Ungleichheit’ in Ruanda öffentlichkeitswirksam kritisierte (Vgl. Reyntjens 1985: 236). Der

entscheidende Faktor für die Beschleunigung der Ereignisse war jedoch der plötzliche Tod

Rudahigwas Ende Juli in einem Krankenhaus in Usumbura. Gerüchte wollten es, daß er von

den Europäern vergiftet wurde. Drei Tage nach seinem Tod, bei seiner Beerdigung

proklamierten eine Gruppe von dem Hof nahe stehenden Tutsi – für die anwesenden

Kolonialfunktionäre völlig unerwartet, Ndahindurwa als Kigeri zum neuen Mwami Ruandas

und Nachfolger Rudahigwas (Maquet 1964: 565).

Der Tod Rudahigwas und die ungesetzliche Einsetzung Ndahindurwas beschleunigten den

Prozeß der Parteienbildung, der wegen den bevorstehenden Wahlen zu den

Ratsversammlungen auf den verschiedenen Ebenen der administrativen Hierarchie (die

theoretisch Ende 1959 stattfinden sollten, de facto aber nie angesetzt wurden) bereits

begonnen hatte. Im Laufe von 1959 konstituierten sich die beiden Hutu-Bewegungen als

Parteien. Dazu gesellten sich zwei weitere, die Union Nationale Rwandaise (UNAR) – eine

Sammelbewegung für den konservativsten Teil der ‚traditionellen’ Elite – und das

Rassemblement Démocratique du Rwandais (RADER), dessen tragende Kräfte v.a. aus

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Angestellte der Verwaltung bestanden, in ihrem Programm demokratische Reformen

forderten und einen konstitutionellen Monarchen vorsahen (Vgl. Linden 1977: 265; Reyntjens

1985: 250ff).

7.2.2. Aufstand (November 1959) und die royalistische Reaktion

Die politischen und sozialen Bedingungen waren durch die zaghaften belgischen Reformen

kaum verbessert worden. Die Abschaffung von Ubuhake hatte gezeigt, daß nicht sie den

Status eines fundamentalen Mechanismus von Unterdrückung und Ausbeutung

eingenommen hatte, der ihr so oft zugesprochen wurde. Ihre Abschaffung hatte zu der

Zunahme von Abhängigkeitsbeziehungen auf der Basis von Land geführt: Viele Viehbesitzer

mußten so, um weiterhin Zugang zu Weideflächen zu haben, auf informeller Basis Klient

eines Igikingi-Besitzers werden (obwohl Ibikingi 1930 offiziell abgeschafft wurde), während

Isigati – das in der Praxis der Fünfziger Jahre weit ausgedehnte Recht auf Abgrasen von

Sorghumstoppeln eine ständige Quelle von Konflikten zwischen Bauern und Viehbesitzern

darstellte. In einer weiteren Form der Perpetuierung formeller Klientelbeziehungen forderten

Patrone – oft eher Angehörige eines niederen ‚Adels’ – Geldablösen für noch zu erbringende

Dienstleistungen oder Viehtransfers, ohne ein großes Interesse daran zu haben, den meist

vor dem lokalen Tribunal ausgetragenen Konflikt rasch beizulegen (Vgl. Lemarchand 1970:

130ff). Die Rolle der Chiefs hatte sich nur in dem Maße verändert, in dem die belgische

Kolonialverwaltung Zwangsverpflichtungen (kommunale Arbeiten, Zwangsanbau von

Nahrungspflanzen) reduzierte oder gänzlich abschaffte, während die 1953 erstmals

konstituierten Räte nach wie vor konsultativen Charakter hatten und keinerlei

Mitbestimmungsrechte besaßen.

Während die angeführten strukturellen Bedingungen entscheidend dazu beitrugen, daß der

Aufstand in seiner Breite stattfinden konnte, war der unmittelbare Auslöser des Aufstands

der radikalisierte Kontext von Politik, genauer, die aktive Einschüchterungskampagne seitens

der radikal-konservativen UNAR. Die Union Nationale Rwandaise wurde im August 1959

gebildet und im September offiziell als Partei konstituiert. Bald nach ihrer Gründung begann

sie Hutu und andere daran zu hindern, an Versammlungen von Oppositionsparteien

teilzunehmen, ermutigt davon, daß Kigeri Ndahindurwa sich im Oktober des selben Jahres

offen für UNAR ausgesprochen hatte. Der vehemente Antikolonialismus und die von UNAR

geführte Einschüchterungskampagne trübten das spätestens seit der Inthronisation Kigeri

Ndahindurwas gespannte Verhältnis zu den ‚traditionellen’ Herrschaftsträgern, von denen

der größte Teil UNAR-Anhänger waren (Vgl. Reyntjens 1985: 257ff).

Am ersten November wurde einer der wenigen Hutu Subchief im Zentrum des Landes von

einer Gruppe von jungen Tutsi angegriffen und leicht verwundet. Am nächsten Tag

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versammelten sich daraufhin eine große Gruppe vor dem Haus des Chiefs, um ihren Protest

gegen die Behandlung des Hutu Subchiefs und griffen ihrerseits vier anwesende Notable an.

Ähnliche Protestaktionen fanden in umliegenden Chefferies statt und binnen weniger Tage

waren Chiefs und Subchiefs, zuerst in Parmehutu Hochburgen (besonders im Norden

Ruandas) und sukzessive im ganzen Land Zielscheibe von tätlichen Angriffen und

Brandschatzungen. Oft wurde angeführt, die europäische Kolonialverwaltung und der Mwami

selbst habe die Übergriffe und Brandschatzungen befohlen, während die

Aufstandsbewegung gemeinhin Muyaga genannt wurde – der Wind, der plötzlich von

irgendwoher kommt und wieder weggeht, aber man weiß nicht wohin (Hubert 1965: 29ff;

Lemarchand 1970: 166; C.Newbury 1988: 194f). Am 6. November erbat der Mwami vom

Gouverneur die Erlaubnis, mit ‚traditionellen’ Armeen die Ruhe wiederherzustellen. Dies

wurde ihm verwehrt. Allerdings hatte er schon am 5. November dazu aufgerufen, nach

Nyanza zu kommen – offenbar um von dort die Niederschlagung des Aufstands

durchzuführen. Die royalistische Reaktion setzte unmittelbar nach der Verwehrung der

Niederschlagung des Aufstands durch den Gouverneur ein und richtete sich in erster Linie

gegen die Führer von Aprosoma und erst in zweiter Linie gegen ihre Anhänger (Vgl. Willame

1994: 312ff). Bezeichnend dafür, wie unklar die Situation eigentlich war, ist das Faktum, daß

selbst Aprosoma-Mitglieder dem Aufruf des Mwami gefolgt waren und erst langsam

realisierten, daß sie selbst die eigentliche Zielscheibe der royalistischen Reaktion darstellten.

7.2.3 Revolution und Transition

Bis Mitte November war die Ruhe mit Hilfe der Force Publique wiederhergestellt, die

bestehende Ordnung aber bleibend geschädigt. In vielen Regionen war die

Wiedereinsetzung vertriebener Tutsi-Chiefs wegen dem andauernden Widerstand der

Bevölkerung nicht mehr möglich, in anderen führte passiver Widerstand gegen Anordnungen

der Chiefs zu einer Lahmlegung der lokalen Verwaltung. Die belgische Kolonialverwaltung

unter dem Mitte November zum Sonder- und Militärresidenten eingesetzten Guy Logiest

reagierte darauf mit der Einsetzung von Übergangsautoritäten, ein Vorgehen, das die Führer

der beiden Hutu Parteien als verallgemeinertes Vorgehen für ganz Ruanda forderten, nicht

ohne dabei die ausschließliche Einsetzung von Hutu in Autoritätspositionen zu verlangen

(Vgl. ebenda: 318). Bis März 1960 waren in 22 von insgesamt 45 Chefferies und in 297 von

531 Sous-Chefferies Hutu als Interimsautoritäten eingesetzt worden.

Inmitten der Krise hatte der Gouverneur Kommunalwahlen für 1960 angekündigt und damit

den Machtransfers an eine – die Belgische Kolonialverwaltung entschied sich bewußt dafür –

künftige von einen der beiden Hutu Parteien gebildete Regierung eingeleitet. Ebenfalls 1960

wurde eine reguläre Armee errichtet, deren Rekruten hauptsächlich aus Hutu bestanden. Sie

sollte die die Herrschaft eines künftigen Regimes gegen etwaige royalistische

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Restaurationsversuche258 militärisch absichern helfen und war ein weiteres beredtes Symbol

der seit den Novemberunruhen offen geäußerten Unterstützung des Kolonialregimes für

Hutu-Parteien und ihre damit ausgedrückte Inkaufnahme des Endes der alten Ordnung.

Eine andere Konsequenz der Krise war ein Anstieg der Zahl von Flüchtlingen von 7.000 im

November 1959 auf 22.000 im April 1960 und Ende des Jahres auf über 130.000. Zum

überwiegenden Teil setzten sich die Flüchtlinge aus Tutsi zusammen, aber auch Twa und

Hutu waren nicht selten ihren Patronen ins Exil gefolgt (Lemarchand 1970: 172). Der

dramatische Anstieg der Zahl der Flüchtlinge war selbst wieder Ausdruck des veränderten

Charakters der Gewalt, die trotz der relativen Beruhigung der Situation während 1960

andauerte und zunehmend undifferenziert Tutsi im Allgemeinen als Zielscheibe hatten.

Die im Juli 1960 durchgeführten Kommunalwahlen erbrachten eine überwältigende Mehrheit

für Kanditaten von Parmehutu (83,3% der Sitze). Mit ihr trat gleichzeitig die politische

Reorganisation in Kraft, die im Dezember 1959 dekretiert worden war und die Ersetzung der

alten, auf Chefferies und Sous-Chefferies beruhende territoriale Gliederung durch eine neue

aus Kommunen und Präfekturen gebildete Struktur vorsah (Dorsey 1994: 85). Das Ergebnis

der Kommunalwahlen scheint ein ethnisches Wahlmuster zu belegen: Parmehutu und

Aprosoma, die beiden Hutu-Parteien erlangten 83,94% der zu vergebenden Sitze.

Tatsächlich war die Unterstützung von Hutu-Parteien dort am größten, in denen erst in der

kolonialen Periode Tutsi Chiefs eingesetzt worden waren, etwa im Südwesten (Bukunzi,

Busozo) und dem Norden und Nordwesten (z.B. Rukiga und Bushiru). Andere Regionen, in

denen die Unterstützung für Hutu-Kandidaten groß war, waren solche, die zwar bereits vor

dem 19.Jh. unter zentraler Kontrolle des Hofs gestanden hatten. In der Folge der

Zentralisation des 20.Jh. und der damit verbundenen Transformation von

Klientelbeziehungen hatten sich lokale (politische) Stratifikationsmuster zwischen Hutu und

Tutsi-Chiefs dramatisch zugespitzt und einen deutlicheren ausbeuterischen Charakter

angenommen (etwa im Westen, dem Süden und Südwesten). In Zentralruanda war die

Unterstützung für Hutu-Parteien besonders stark in der Region um die Missionsstation

Kabgayi (Gitarama) – ein deutliches Zeichen für die Rolle der Mission in der politischen

Entwicklung der Fünfziger Jahre -, während in anderen Teilen des Zentrums die Beteiligung

an der Wahl zu niedrig war, um eine seriöse Interpretation der Ergebnisse zuzulassen (Vgl.

Newbury 1983: 267ff). Tatsächlich wirft der Ausgang der Wahl ein Licht auf lokal

unterschiedliche ‚ethnische’ Beziehungen. Sie zeigt insbesondere, daß ‚ethnisches’

258 Im Laufe des Jahres 1960 formierten sich im kongolesischen und ugandesischen Exil royalistische Guerillas (Inyenzi – Küchenschaben), die im Grunde eine Fortsetzung und Transformation der nach der Niederschlagung der royalistischen Gegenbewegung sich langsam auflösenden ‚Armeen’ waren. Selbst Ende 1960 machten Hutu etwa ein Drittel der ‚Armeen’ aus (Vgl. Weinstein 1977: 60f).

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Wahlverhalten bei den Kommunalwahlen mit dem Ausmaß zentralruandesischer

Durchdringung korrelierte und weist damit auch auf die Konvergenz von ‚Ethnizität’ und

‚politischer’ Stratifikation Der Ausgang der Kommunalwahlen zeigt jedoch nicht, daß

‘Ethnizität’ an sich der relevante Faktor in den Wahlen war. Die Wahlen richteten sich gegen

die von den Chiefs repräsentierte ‚alte Ordnung’ und gegen dem in dieser Ordnung

wahrgenommen Ausmaß an Zwang und Ausbeutung. Das Wahlverhalten war insofern nicht

durch die ‚ethnische’ Zugehörigkeit der Kandidaten bestimmt, sondern dadurch, was und

wen die Kandidaten repräsentierten. Dazu kam noch der persönliche Faktor (die Bekanntheit

und das Ansehen der Kandidaten selbst. Als letzter Einflußfaktor sind noch die Parteien, in

deren Rahmen die (meisten) Kandidaten kandidierten, zu nennen. UNAR und die beiden

Hutu-Parteien Aprosoma und Parmehutu waren die einzigen, die landesweit organisiert

waren, während andere kleinere Parteien entweder nur lokal kandidierten oder wie RADER

auf eine kleine Elite beschränkt blieb. UNAR war zwar landesweit organisiert, rekrutierte sich

aberim wesentlichen aus Chiefs und Subchiefs und stand damit für die alte Ordnung.

Außerdem hatte sie im Wissen um die ihr seitens des Treuhandrates und der

Generalversammlung vorgebrachten Sympathie zum Boykott der Wahlen aufgerufen.

Allerdings konnte sie auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung im folgenden Jahren

aus den angeführten Gründen im Allgemeinen mit keiner großen Unterstützung der

Bevölkerung rechnen (Vgl. Linden 1977: 265). Da Parmehutu und Aprosoma sich ‚ethnisch’

praktisch ausschließlich aus Hutu zusammensetzten und eine ethnizistische Programmatik

verfochten, war ‚Ethnizität’ in zumindest gleicher Weise eine Folge des politischen Prozesses

und des Erfolgs der beiden Hutu-Parteien wie ein Determinant des Verlaufs des politischen

Prozesses.

Aufgrund der Ergebnisse der Kommunalwahlen beauftrage die Kolonialverwaltung im

Oktober 1960 Grégoire Kayibanda mit der Bildung einer provisorischen Regierung, die

juristisch immer noch eine Regierung des im Juli ins Exil gegangenen Mwami darstellte,

wenn auch die Monarchie real zu existieren aufgehört hatte. Im Jänner 1961 wurde

schließlich auf einer Versammlung, auf der nahezu alle Bürgermeister und Gemeinderäte

des Landes anwesend waren, die Republik ausgerufen und eine Verfassung beschlossen.

Während diese keinerlei Rechtskraft beanspruchen konnte, verlieh der ‚Staatsstreich’ dem

Machtwechsel auf allen Ebenen der Verwaltung und dem faktischen Ende der Monarchie

symbolisch Ausdruck und wurde durch die Wahlen zur Nationalversammlung und das

gleichzeitig stattfindende Referendum über die Abschaffung der Monarchie im September

1961 im Grunde nur mehr sanktioniert (Reyntjens 1985: 285ff). Das Ende der Monarchie war

zugleich der Beginn einer wesentlich in ‚ethnischen’ Begriffen definierten Republik. Die

‚ethnische’ Definition der mit 1.Juli unabhängig gewordenen Republik äußerte sich in

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258

zumindest zweifacher Weise: in dem physischen Ausschluß etwa eines Drittels seiner Tutsi-

Bevölkerung einerseits, und einer institutionalisierten Diskriminierung (in der Form von

Quotenregelungen, praktischer Ausschluß von politischen Funktionen u.a.) andererseits.

Dazu kamen noch regelmäßige, teilweise unter wesentlicher Beteiligung von staatlichen

Funktionären durchgeführte Pogrome gegen Tutsi, die im Land verblieben waren und die bis

Mitte der Sechziger Jahre die zahl der Flüchtlinge auf 336.000 (1964) anwachsen ließen.

7.3. Mechanismen der Ethnisierung

Es lohnt sich, den Ethnisierungsprozeß in der Endzeit und der Anfangsperiode der Republik

einer zumindest kursorischen Betrachtung zu unterziehen. Dies deshalb, weil dadurch die

konkreten Mechanismen und Prozesse von Ethnisierung deutlicher werden. Während unter

Politikern der beiden Hutu-Parteien auf nationaler Ebene spätestens seit 1959 das Muster

ethnischer Wahrnehmung fest etabliert war und eine dichotome Analyse der Gesellschaft (in

Gestalt der Gegenübersetzung von Hutu und Tutsi) vorherrschte259, kann die Durchsetzung

der Plausibilität von Ethnizität für die Masse der Bevölkerung nicht einfach angenommen

werden. Schon während der Übergangsphase bis zu der Wahl neuer lokaler Behörden im

Juli 1960 hatte die belgische Kolonialverwaltung Hutu als Chiefs und Subchiefs eingesetzt,

die nicht nur eine ähnliche Bereitschaft wie ihre Vorgänger zeigten, ihre Macht gegenüber

der Bevölkerung zu mißbrauchen, sondern zu wesentlichen Akteuren der steigenden Zahl

von Gewaltakten gegen Tutsi wurden (Vgl. Lemarchand 1970: 175). Während der

Wahlkampfperiode für die Kommunalwahlen nahmen Gerüchte und gegenseitige

Verdächtigungen zu, deren Autoren meist Aktivisten der Hutu- (Aprosoma und Parmehutu)

oder Tutsi-Parteien (in erster Linie UNAR) waren, ebenso spontane und geplante

Gewaltakte, die in zunehmend undifferenzierter Weise verübt wurden (Ebenda: 180). Die

Nachwahlperiode war gekennzeichnet von dem Bemühen der neu eingesetzten

Bürgermeister, ihre Macht zu konsolidieren. Diese agierten dabei in täuschend ähnlicher

Weise wie die vormalige Herrschaftselite. Mit der Substantialisierung der Macht der

Bürgermeister war eine Verschiebung des Klientelkomplexes hin zu den neuen Autoritäten

verbunden, die diese nicht selten mit Gewalt und Einschüchterung zu erreichen suchten (Vgl.

ebenda: 184f). Tatsächlich war die Position der neugewählten Bürgermeister nicht selten

prekär. Dies hatte mit der unregelmäßigen Durchdringung des Landes durch die Aktivisten

der beiden wichtigsten Parteien zu tun. In der Vorwahlperiode versuchten so beide in

Regionen, wo sie über praktische keinerlei organisatorische Basis verfügten und relativ

kurzfristig, Kandidaten anzuwerben. Der von Pierre Gravel (1968: 188ff) geschilderte und im

folgenden dargestellte Fall ist dafür (und für den Versuch neu gewählter Bürgermeister, ihre

259 Aprosoma wich in seiner Ideologie teilweise davon ab, übernahm aber ab 1959 zunehmend die ethnizistische Perspektive (Vgl. Willame 1994: 318)

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259

Macht zu konsolidieren) zumindest eine gute Illustration.

In der von Gravel untersuchten Kommune, Remera in Gisaka, hatte Parmehutu vor allem in

Rücksicht auf dem dem Gebiet nachgesagten Konservatismus keine eigene Kandidaten

aufgestellt. Allerdings trat der in Remera gewählte Bürgermeister, ein Mann nahmens Ijeri,

der Partei kurze Zeit nach den Wahlen bei, nachdem klar wurde, daß Parmehutu zur

stärksten Partei des Landes geworden war. Ijeri arbeitete als Hilfslehrer in der lokalen

Primärschule und war 1958 nach Remera gekommen. Woher er stammte, war unbekannt.

Angeblich hatte er sich an seinem vormaligen Arbeitsplatz als Tutsi des königlichen Klans

ausgegeben und versucht, die Tochter des dortigen Chiefs zu ehelichen. Zum Zeitpunkt, als

die Registrierung der Kandidaten für die Kommunalwahlen anfingen, war Ijeri Mitglied von

UNAR und trug sich, nachdem diese die Wahl boykottierte, als unabhängiger Kandidat (und

Tutsi) ein – als der er (bei einer Wahlbeteiligung von 12%) gewählt wurde. Ijeri war nicht die

erste Wahl als Bürgermeister (der als einer der gewählten Gemeinderäte prinzipiell von

diesen, in Remera aber unter Mitwirkung des belgischen Administrateur de Territoire gewählt

wurde). Andere hatten mehr Stimmen erlangt, aber sich geweigert als Bürgermeister zu

fungieren. Ijeri präsentierte sich bald nach seiner Wahl als ‚neuer Chief’ und begann wenig

später, seine Macht auszutesten. Er begann Leute wegen Trunkenheit zu verhaften, befahl

die Verhängung einer Ausgangssperre und ähnliches. Gleichzeitig hatte er um sich eine

Gruppe von Gefolgsleuten versammelt, die ihm bei der Ausführung seiner erratischen

Anordnungen behilflich waren. Nach einer gewissen Periode begann er gegen Tutsi

vorzugehen. Zunächst waren diese nicht die einzigen Zielscheiben seiner zahlreichen An-

und Übergriffe gegen Bewohner Remeras – aufgrund die er zunehmend zu einem

Empfänger von ‚Geschenken’ – zu einem gefürchteten Patron wurde, eine Rolle, deren

Anerkennung er (insbesondere Tutsi) ab einem gewissen Zeitpunkt aufzudrängen begann.

Ab dem sogenannten Coup d’État von Gitarama begann Ijeri zunehmend aggressiver zu

agieren, wobei der ehemalige Chief seine beliebteste Zielscheibe darstellte. 1961 ließ er

mehrere Männer für längere Zeit ins Gefängnis stecken, darunter auch den ehemalige Chief.

Im Herbst des Jahres soll er schließlich die Exekution mehrerer Männer angeordnet haben

und wenig später wegen seiner Mißbräuche vor Gericht gestellt worden sein.

Während der von Gravel beschriebene Ijeri möglicherweise einen der krasseren Fälle

darstellt, ist signifikant, daß er bald nach seinem Amtsantritt und dem Beginn seiner

Einschüchterungs- und Gewaltkampagne (die er nach einer anfänglichen

Unsicherheitsperiode und im Bewußtsein des ethnizistischen Diskurs auf nationaler Ebene in

erster Linie gegen Tutsi richtete), von einer wachsenden Zahl von Menschen als potentieller

Patron angesehen wurde, der nicht nur ‚gutgestimmt’ werden mußte, sondern mit dessen

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Hilfe rechtliche Anspruche (fundierte oder unfundierte, das bleibt dahingestellt) auf Land,

Vieh, Weiderechten usw. geltend gemacht werden konnten, deren Zielscheibe – gemäß der

von Ijeri vorgegebenen Zielrichtung – die lokale Tutsi-Bevölkerung war. Ijeri konnte sich ein

Klientel schaffen, weil er als Bürgermeister erwiesenermaßen ‚Macht’ besaß und selbst,

wenn er seine Kompetenzen übertrat (was oft vorkam) über die Unterstützung der

Zentralgewalt (Belgier und Provisorische Regierung) verfügte. Der Opportunismus eines

wachsenden Teils der Bevölkerung gegenüber den republikanischen Behörden war

angesichts der historischen Erfahrung von Macht, Herrschaft und politischen Klientelismus in

Ruanda kein überraschendes Phänomen, sondern die Adaptierung eines immer noch als

gültig erlebten Prinzips politischer Herrschaft, nach dem das Verhältnis von

Herrschaftssubjekt und Herrschaftsperson strukturiert war. Gleichzeitig kann Ijeri als einer

der Protagonisten der Ethnisierung der Politik gesehen werden, indem er (juristische,

politische, physische) Handlungen kanalisierte und gegen Tutsi zu richten begann und weist,

einmal mehr, auf die tragende Rolle, denen Eliten (und Ijeri gehörte, wenn vielleicht auch nur

kurzfristig, zur neuen republikanischen Elite) dabei zukommt, hegemoniale Deutungsmuster

durchzusetzen.

Die hier analysierte Fallstudie kann in Ermangelung systematischerer Daten nur eine

Illustration für die Transition einer politisch (und gewissermaßen ethnisch) stratifizierten

Monarchie zu einer ethnisch definierten Republik darstellen. Sie zeigt aber deutlich, daß

Ethnisierung als komplexer Prozeß begriffen werden muß, der nicht nur in einer

‚Bewußtwerdung’ besteht (so etwa Maquet 1964, der von der notwendigen und logischen

‚Befreiung der Hutu von dem Joch der Tutsi-Monarchie’ spricht). Gewalt und Diskriminierung

aufgrund explizit ethnischer Kriterien müssen als formative Kräfte begriffen werden, die ihre

eigene Rechtfertigung (wiederum: Ethnizität) in einem typischen Prozeß der (impliziten)

Setzung der Voraussetzungen des Handelns im Handeln selbst hervorbringt (Vgl. Zizek

1994: 40f)

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Kapitel VIII Noch einmal: Ethnizität

Anstelle einer Zusammenfassung der Ergebnisse der Arbeit, soll in diesem letzten Kapitel

noch einmal explizit auf ihr eigentliches Thema zurückgekommen werden: auf Ethnizität.

I.

Klar ist, daß die häufig gestellte Frage (die häufiger noch entsprechenden wissenschaftlichen

Arbeiten implizit zugrunde liegt), ob Hutu und Tutsi bereits vorkolonial als ‚ethnische

Gruppen’ anzusehen seien oder ob sie erst in der Kolonialzeit dazu gemacht wurden, keine

wirkliche Antworten kennt. Dies deshalb, weil die Prämisse der Fragestellung, daß es sich

bei Ethnizität um ein klar dichotomes Phänomen handelt, das entweder in einer Gesellschaft

vorhanden und wirkmächtig ist oder eben nicht, als falsch zu erachten ist. Statt dessen

argumentiert diese Arbeit, daß Ethnizität ein komplexes Identitätskonstrukt darstellt und

alleine deshalb keine gleichmäßige ‚Verteilung’ in einer Gesellschaft (was die Frage

impliziert) finden kann. ‚Ethnizität’ ist immer verortet. Diese Orte zu lokalisieren hat sich diese

Arbeit zur Aufgabe gemacht. Das Verortet-Sein von Ethnizität impliziert auch, daß

Ethnogenese keinen gleichförmigen Prozeß darstellt. In Ruanda hatte die Kategorie ‚Tutsi’

unter der Herrschaftselite der Monarchie eine Bedeutung angenommen, in der körperliche

und charakterliche Stereotype und ein starkes Differenzbewußtsein eine wesentliche Rolle

einnahmen. In der Ausdehnung und Ausweitung der quasi-ethnischen Bedeutung des

Wortes auf alle ähnlich klassifizierten Personen und ermöglicht durch die koloniale

Intervention wurde dem Kollektiv ‚Leben eingehaucht’, während indes ein breiter Teil der

Tutsi-Bevölkerung von dieser symbolische Operation der Kollektivwerdung zwar mitgedacht,

aber nicht ‚mitgetragen’ wurden. Für das ‚Andere’ der elitären Tutsi-Identität des Hofes gilt

das Fazit der ‚Leblosigkeit’ des Kollektivs (d.h. die einseitige Imagination des Anderen

seitens des höfischen und später, seitens des ‚tutsi-nationalistischen’ Diskurses) über weite

Strecken der hier betrachteten Periode in einem noch viel größerem Ausmaß.

II.

Eine zweite Schlußfolgerung der Arbeit besteht darin, daß zwischen ‚Kategorie’ und

‚Kollektiv’ ein fließender Übergang besteht. Ob ‚Kategorien’ mit Leben erfüllt werden, hängt

von den realen Prozessen in einer Gesellschaft ab, innerhalb derer Kategorien definiert,

produziert und reproduziert werden. Gleichzeitig zeigt das Beispiel Ruanda, daß die

Bedeutung der sozialen Kategorien in vorkolonialer und selbst noch in kolonialer Zeit äußerst

unterschiedlich ausfiel. In Ruanda hing die tendenzielle Homogenisierung der Kategorien

Hutu und Tutsi ursächlich mit der Expansion des ruandesischen Staates und der Verdichtung

von Herrschaft nach innen zusammen, ein Prozeß, der im Kolonialismus in verstärkter Weise

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262

durchgeführt wurde.

III.

Der Staatsbildungsprozeß im vorkolonialen Ruanda, in dessen Verlauf die kollektive

(ethnische) Identität der herrschenden Elite definiert wurde, ging einher mit einer

zunehmenden Kontrolle über essentielle Ressourcen der Gesellschaft und der Betonung der

radikalen Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten, welche von der Zugehörigkeit zur

Elite gleichermaßen diskursiv wie reell weitgehend ausgeschlossen war. Der Kolonialismus

verstärkte diese Tendenz der Monopolisierung politischer Macht (und anderer Ressourcen)

bei gleichzeitiger diskursiver Rechtfertigung dieser Operation. In seinem Bestreben,

möglichst große Kontrolle über indigene Herrschaftsträger auszuüben, veränderte er aber

die Basis und den Charakter von Herrschaft, indem er Herrschaft bürokratisch organisierte

und gleichzeitig die Asymmetrie zwischen Herrschern und Beherrschern – das Prinzip von

mir so genannter politischer Stratifikation verallgemeinerte, als ethnische Dichotomie

kaschierte bzw. dahingehend transformierte und durch diskriminierende Maßnahmen (im

Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt usw.) untermauerte.

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Bibliographie

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