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Integration und Ausschluß:
Ethnizität, Staatsbildungsprozesse und Stratifikation in Ruanda
Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie
eingereicht an der
Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien
von
Albert Kraler
Wien, im Januar 2001
i
Inhaltsübersicht INHALT II VORBEMERKUNG V VORWORT VII
TEIL 1 GRUNDLEGUNGEN 1
KAPITEL 1 ETHNIZITÄT, STRATIFIKATION UND STAATSBILDUNG 2 1.1. AUSSCHLUSS – INTEGRATION: IDENTITÄT – IDEOLOGIE – EINE PRÄLIMINARE DISKUSSION VON ETHNIZITÄT 2 1.2 STRATIFIKATION 27 1.3 STAAT 30 1.4 RESÜMEE 31 KAPITEL II DISKURSE ÜBER STRATIFIZIERUNG UND ETHNIZITÄT IM VORKOLONIALEN RUANDA 33 2.1 ZUR BEDEUTUNG DER GESCHICHTE 33 2..2 KEIN UNBESCHRIEBENES BLATT: DIE ENTDECKUNG RUANDAS 39
TEIL 2 STAATSBILDUNGSPROZESSE, STRATIFIKATION UND ‚ETHNIZITÄT’ IM PRÄKOLONIALEN RUANDA 50
KAPITEL III: BESIEDELUNGSGESCHICHTE UND FRÜHE STAATSBILDUNG 51 3.1 DAS OBSESSIVE ZURÜCKBLICKEN: WANDERUNG, INVASION ODER EINFACH NUR USURPATION 51 3.2 POLITISCHE AUTORITÄT IN DER FRÜHZEIT DER GESCHICHTE DES GROßEN SEENGEBIETES, CA.1000-1650 54 3.3. VON HERRSCHAFTSVERBAND ZUM STAAT: RUANDA, CA.1500 BIS 1750. 64 3.4 DER CHARAKTER FRÜHER HERRSCHAFTSVERBÄNDE 74 KAPITEL IV ZENTRALISIERUNG UND EXPANSION 81 4.1 EXPANSION UND MILITÄR 85 4.2 LAND 90 4.3 DIE AUSWEITUNG VON KLIENTELBEZIEHUNGEN 95 4.4 RESÜMEE: RUANDA AM VORABEND DER KOLONISATION 100
TEIL 3 KOLONISATION UND HERRSCHAFT 107
KAPITEL V DIE DEUTSCHE PERIODE 108 5.1 DIE KOLONISIERUNG UND IHR KONTEXT 108 5.2 DAS SYSTEM KOLONIALER HERRSCHAFT 119 5.3 HERRSCHAFT UND HERRSCHAFTSIDIOM: KOLONIALADMINISTRATION UND MISSION IM GESELLSCHAFTLICHEN KONTEXT 127 5.4 RESÜMEE 174 KAPITEL VI: DIE BELGISCHE PERIODE 181 6.1 DIE ÖKONOMIE DER BESATZUNG: ERSTER WELTKRIEG UND ÜBERGANG BIS 1925 181 6.2 DIE ÖKONOMIE DER REFORM: DER KOLONIALE ENTWICKLUNGSSTAAT, CA. 1925-1945 225 6.3 SOZIALE UND POLITISCHE STRATIFIKATION: RUANDA CA. 1940-1960 239
TEIL 4 DEKOLONISATION UND REVOLUTION 244
KAPITEL VII: REFORM UND REVOLUTION 245 7.1. DIE DEKADE POLITISCHER REFORM, 1948-1959 245 7.2 ‚REVOLUTION’ 252 7.3. MECHANISMEN DER ETHNISIERUNG 258 KAPITEL VIII NOCH EINMAL: ETHNIZITÄT 261
BIBLIOGRAPHIE 263
ii
Inhalt INHALT II Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Karten iv VORBEMERKUNG V Zur Terminologie ruandesischer Institutionen v Zitierweise vi VORWORT VII Ausgangspunkt vii Zielstellung der Arbeit vii Der Aufbau viii
TEIL 1 GRUNDLEGUNGEN 1
KAPITEL 1 ETHNIZITÄT, STRATIFIKATION UND STAATSBILDUNG 2 1.1. AUSSCHLUSS – INTEGRATION: IDENTITÄT – IDEOLOGIE – EINE PRÄLIMINARE DISKUSSION VON ETHNIZITÄT 2 1.1.1 Debatten über Ethnizität 11 1.1.2.1 Mechanismen in der Herstellung und Reproduktion von Kollektiven 12 1.1.2.2 Stamm, Ethnos, Rasse – zwischen Natürlichkeit und Konstruktion 12 1.1.2 ‚Objektive’ und ‚subjektive’ Ethnizität: Kategorisierung und Identifikation 15 1.1.3. Kollektivität – Kollektives Handeln 19 1.1.4 Das Ethnos als politisches Kollektiv 22 Die Hegemonietheorie Laclaus 23 1.2 STRATIFIKATION 27 1.3 STAAT 30 1.4 RESÜMEE 31 KAPITEL II DISKURSE ÜBER STRATIFIZIERUNG UND ETHNIZITÄT IM VORKOLONIALEN RUANDA 33 2.1 ZUR BEDEUTUNG DER GESCHICHTE 33 2.1.1 Gegenwart und Geschichte 33 2.1.2 Vergangenheit und Interpretation 33 2.1.3 Begründungen 34 2..2 KEIN UNBESCHRIEBENES BLATT: DIE ENTDECKUNG RUANDAS 39 2.2.1 Der zeitgenössische Hintergrund 39 2.2.2.Fixierungen 43 2.2.3 Frühe Kontakte 46
TEIL 2 STAATSBILDUNGSPROZESSE, STRATIFIKATION UND ‚ETHNIZITÄT’ IM PRÄKOLONIALEN RUANDA 50
KAPITEL III: BESIEDELUNGSGESCHICHTE UND FRÜHE STAATSBILDUNG 51 3.1 DAS OBSESSIVE ZURÜCKBLICKEN: WANDERUNG, INVASION ODER EINFACH NUR USURPATION 51 3.2 POLITISCHE AUTORITÄT IN DER FRÜHZEIT DER GESCHICHTE DES GROßEN SEENGEBIETES, CA.1000-1650 54 3.2.1. Die Region 54 3.2.2. Soziale und politische Prozesse in der Frühzeit der Region 57 3.3. VON HERRSCHAFTSVERBAND ZUM STAAT: RUANDA, CA.1500 BIS 1750. 64 3.3.1 Kontinuität oder Innovation?: Staatsbildungsprozesse 69 3.3.1.1Kontinuität und Diskontinuität denken: Herrschaftsverbände und ihre ethnische Färbung 71 3.4 DER CHARAKTER FRÜHER HERRSCHAFTSVERBÄNDE 74 Exkurs: Militärische (Re-)Organisation und militärischer Ethos 76 3.4.1 Herrschaftsdichte 79 KAPITEL IV ZENTRALISIERUNG UND EXPANSION 81 4.1 EXPANSION UND MILITÄR 85 4.2 LAND 90 4.2.1 Arm und Reich: Tagelöhner 94 4.3 DIE AUSWEITUNG VON KLIENTELBEZIEHUNGEN 95 4.4 RESÜMEE: RUANDA AM VORABEND DER KOLONISATION 100
iii
TEIL 3 KOLONISATION UND HERRSCHAFT 107
KAPITEL V DIE DEUTSCHE PERIODE 108 5.1 DIE KOLONISIERUNG UND IHR KONTEXT 108 5.1.1 Einleitung 108 5.1.2 Koloniale Erschließung und Erbfolgestreit: Ruanda in den 1890er Jahren 112 5.1.3 Ruandas neue Grenzen: Begegnung mit dem Kongo 112 5.1.4 Der Coup von Rucunshu 115 5.1.4.1 Sukzession, Königtum, Widerstand und Legitimität 117 5.2 DAS SYSTEM KOLONIALER HERRSCHAFT 119 5.2.1 Materielle Zwänge und indirekte Herrschaft 119 Exkurs: Burundi 121 5.2.2 Die objektiven Voraussetzungen indirekter Herrschaft 122 5.3 HERRSCHAFT UND HERRSCHAFTSIDIOM: KOLONIALADMINISTRATION UND MISSION IM GESELLSCHAFTLICHEN KONTEXT 127 5.3.1 Christliche Mission und Herrschaft 129 5.3.1.1 Die Niederlassung der Weißen Väter in Ruanda 129 5.3.1.1.1. Grundbesitz, Arbeitskraft und Ausbeutung 131 5.3.1.2 Katholische Mission unter deutscher Herrschaft 1900-1916 132 5.3.1.2.1 Die Weißen Väter und Nordruanda 133 5.3.1.2.2 Gewalt, Macht und Herrschaft im Geiste und jenseits des Evangeliums 134 5.3.1.2.3 Mission und Elitenpolitik 136 5.3.2 Deutsche Militärokkupation und Herrschaft 138 5.3.2.1 Die Errichtung des Kolonialstaats(1) ca.1900-1907 138 5.3.2.2 Koloniale Durchdringung, Gewalt und ‚antikolonialer’ Widerstand 142 5.3.2.2.1 Die ‚Petite Revolution’ von 1904 142 5.3.2.2.2 Die doppelte Interaktion von Zentrum und Peripherie: Dualer Kolonialismus, regionale Revolten und die Kristallisation embryonaler kollektiver Identität in Nordruanda ca. 1904-1912 147 5.3.2.2.2.1 Die Inkorporation des Nordens 147 Exkurs: Kolonialer Staat und Hegemonie 153 5.3.2.2.2.2 Subimperialismus à la Ruanda: Ausbeutung und Herrschaft 155 Exkurs: Kolonialer Staat und Zwangsarbeit 158 5.3.2.2.2.3 Die Protagonisten (Symbolfiguren) der Aufstandsbewegung: Muhumusa, Basebya, Rukara und Ndungutse 159 Muhumusa 159 Rukara rwa Bishingwe 162 Basebya 164 Ndungutse 165 5.3.2.2.2.4 Herrschaft, Revolte und kollektive Identität in Nordruanda 167 5.3.2.3 Die Errichtung des Kolonialstaates (2) – Versuche der Institutionalisierung und Reform 170 5.4 RESÜMEE 174 KAPITEL VI: DIE BELGISCHE PERIODE 181 6.1 DIE ÖKONOMIE DER BESATZUNG: ERSTER WELTKRIEG UND ÜBERGANG BIS 1925 181 6.1.1 Krieg und Besetzung 181 6.1.2 Nicht nur Besatzung: Militärverwaltung und Transformation von Herrschaft in Ruanda 185 6.1.2.1 Einrichtung 185 6.1.2.2 Konsolidierung des Staates: die Wiederrichtung der Residentur 187 6.1.2.3 Formalisierung des Staates und seine Modernisierung 191 6.1.2.3.1 Der internationale Status Ruandas 192 6.1.2.3.2 Die Konturen des Staates, 1919-1924 193 6.1.2.3.2.1 Das Problem indirekte Herrschaft und der Legitimität 193 6.1.2.3.2.2 Die Lösung des Problems: Reform der indigenen Herrschaftsstrukturen und Verrechtlichung der Herrschafts- und Klientelbeziehungen 195 6.1.2.3.3 Die Konturen der neuen Elite – Staat und Bildungspolitik 201 Exkurs: Klientelismus und Abhängigkeit unter den veränderten Bedingungen von Herrschaft 205 6.1.3 Die Neudefinition des Verhältnisses von Mission und Staat, ca.1917-1945 211 6.1.3.1 Staat und Mission, Mission und Gesellschaft 211 6.1.3.2 Der katholische Schulsektor- Segregation und Ausschluß 214 6.1.3.3 Konsolidierung und Neubeginn, von der Mission zur Staatskirche, 1917 bis ca.1945 219 6.2 DIE ÖKONOMIE DER REFORM: DER KOLONIALE ENTWICKLUNGSSTAAT, CA. 1925-1945 225 6.2.1 Die Transformation der Verwaltung 227
iv
6.2.2 Die Transformation der Ökonomie 234 6.2.2.1 Susbsistenzsicherung 234 6.2.2.2 Staatskapitalismus: die Anbindung Ruandas an die Weltwirtschaft 236 Planwirtschaft auf kleinbäuerlicher Basis: Ruanda, ca. 1920-1960 236 Ökonomische Transformation und Arbeitsmigration 237 6.3 SOZIALE UND POLITISCHE STRATIFIKATION: RUANDA CA. 1940-1960 239
TEIL 4 DEKOLONISATION UND REVOLUTION 244
KAPITEL VII: REFORM UND REVOLUTION 245 7.1. DIE DEKADE POLITISCHER REFORM, 1948-1959 245 7.1.1 Faktoren und Kontext des politischen Wandels 245 7.1.2 Der Versuch kontrollierten Wandels 1948-1959 247 7.2 ‚REVOLUTION’ 252 7.2.1 Auftakt 253 7.2.2. Aufstand (November 1959) und die royalistische Reaktion 254 7.2.3 Revolution und Transition 255 7.3. MECHANISMEN DER ETHNISIERUNG 258 KAPITEL VIII NOCH EINMAL: ETHNIZITÄT 261
BIBLIOGRAPHIE 263
Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Karten
Abbildung 1: Bezeichnung (das Nominale) und Praktische Konsequenz ............................................................... 9 Abbildung 2: Soziale Norm/ Soziale Praxis.......................................................................................................... 10 Abbildung 3: Kollektivität und kollektives Handeln (1)....................................................................................... 20 Abbildung 4: Kollektivität und kollektives Handeln (2)....................................................................................... 21 Abbildung 5: Die notwendige Beschränkung von Identität .................................................................................. 25 Abbildung 6: Die Wirkungsweise des (Symbol des) Antagonismus in Sozialen: Identität durch Ausschluß....... 26 Abbildung 7: Schema der Herrschaftsbeziehungen in Ruanda ca. 1750............................................................... 83 Abbildung 8: Schema der Machtbeziehungen und Grundverhältnisse im spätvorkolonialen Ruanda................ 106 Abbildung 9: Modell der Herrschaftsausübung in Nordruanda während der deutschen Periode........................ 158 Abbildung 10: Rebellion und Kollektivität ......................................................................................................... 168 Abbildung 11: Organisation der europäischen Verwaltung in Ruanda............................................................... 188 Abbildung 12: Schema der Verwaltung unter belgischer Kolonialherrschaft..................................................... 233 Tabelle 1: Genealogie ruandesischer Könige (Bami) nach verschiedenen Quellen 65 Tabelle 2: Institutionelle Entwicklungen bis ca. 1750 68 Tabelle 3: Zahl der Ibikingi nach Region (ca.1900) 94 Tabelle 4: Errichtung der deutschen Verwaltung 126 Tabelle 5: Missionsgründungen vor 1919 130 Tabelle 6: Grundbesitz der katholischen Mission 131 Tabelle 7: Belgische Residenten und Vize-Gouverneure 1917-1962 191 Tabelle 8: Rechtlicher Status Ruandas, 1917-1925 193 Tabelle 9: Schülerzahlen in Schulen der Weißen Väter/Schwestern ca.1927 nach Zentrum (écoles urbaines) und
Peripherie (écoles rurales) 216 Tabelle 10: Schülerzahlen der Groupe Scolaire (Astrida) nach 'ethnischer' Zugehörigkeit 217 Tabelle 11: Expansion der Mission - Zahl der Missionare, indigener Priester, Missionsstationen, Außenposten
und Katechisten 1922-1944 220 Tabelle 12: Zahl der Katholiken und Taufwerber, 1914-1943 225 Tabelle 13: Absetzungen und Gebietsauflösungen 1930-1932 230 Tabelle 14: Anzahl der Chiefs und Subchiefs, ausgewählte Jahre bis 1959 230 Tabelle 15: Reform 'traditioneller' Herrschaft 231 Tabelle 16: Ablauf der Revolution und Typologie ihrer Stadien 252
v
Karte 1: Königtümer im Bereich des Großen Seengebietes ................................................................................. 54 Karte 2: Ruanda am Ende des 19.Jh................................................................................................................... 105
Vorbemerkung
Zur Terminologie ruandesischer Institutionen
Die Bezeichnungen ruandesischer Institutionen sind sowohl in ihrer deutschen Übersetzung bzw.
Umschreibung als auch in Kinyarwanda (der Sprache Ruandas) angegeben. Für die deutsche
Bezeichnung von Herrschaftsträgern unterhalb des Mwami (‚König’) wird von mir der englische
Ausdruck ‚Chief’ verwendet, da mir keine adäquaten deutschen Bezeichnungen von politischen
Positionen in einem außereuropäischen Kontext bzw. Afrika bekannt sind, die dieselbe allgemeine
Bedeutung haben wie der englische Ausdruck, zumal seine Verwendung sich auch in
deutschsprachigen Texten zunehmend durchsetzt.
Die Orthographie der ruandesischen Ausdrücke richtet sich nach einer vereinfachten Schreibweise
(ohne Kennzeichnung von Tonhöhe und Vokallänge) und gibt die vollständige Schreibung der
betreffenden Ausdrücke wieder, also inklusive der Klassenpräfixe (sowie der Präpräfixe), außer bei
Worten, bei denen sich der ausschließliche Gebrauch des Wortstammes eingebürgert hat (im
wesentlichen die Bezeichnungen ‚Hutu’, ‚Tutsi’ und ‚Twa’ sowie ‚Mwami’. Ethnonyme bzw.
Bezeichnungen der regionalen Herkunft, aber auch die Namen von Lineages werden wechselweise in
ihrer bloßen Stammform und mit Präfixen, teilweise aber ohne Augment gebraucht (z.b. Abanyiginya
und Nyiginya als Bezeichnung für den Klan, dem die königliche Lineage angehörte; Bashi und
Banyandgua als Beispiele für Ethnonyme bzw. von Bezeichnungen für regionale Gruppen).
Ausgenommen davon sind natürlich wörtliche Zitate, bei denen die jeweilige Schreibweise der Autoren
übernommen wird. Im Kinyarwanda unterscheiden sich /r/ und /l/ in den meisten Fällen nicht bzw.
kaum. Das spiegelt sich in der wechselnden Schreibung wider. So findet man sowohl ‚uburetwa’ als
auch ‚ubuletwa’ usw. Ich verwende, wo es sich eindeutig um generalisierte Praktiken bzw. um eine
Person von überregionaler Bedeutung handelt, weitgehend Formen mit /r/ - heutigen Usancen
folgend. Wo es sich um lokale Bezeichnungen handelt, folge ich dem Gebrauch des Autors, dem das
Material entnommen ist.
Das Kinyarwanda gehört zu den Bantusprachen und ist – wie alle Bantusprachen – eine
Klassensprache. Klassensprachen zeichnen sich dadurch aus, daß es kein grammatisches
Geschlecht gibt und statt dessen das Nominalsystem in Klassen organisiert ist. In den Bantusprachen
werden Klassen durch Präfixe ausgedrückt und alle anderen Wortarten (Verb, Pronomen usw.) mit
den Substantiva übereingestimmt. Im Kinyarwanda gibt es 19 Klassen, wobei die meisten Klassen in
Klassenpaaren (Singular/Plural) auftreten. Klassen bzw. Klassenpaare sind auch semantisch relevant,
d.h. Klassen ordnen Worte im Groben nach gemeinsamen Bedeutungsinhalten. So gibt es eine
Personenklasse (Kl.1/2), eine Klasse, in der sich eine Vielzahl von Pflanzen befinden (Kl.3/4) sowie
Lokativklassen. Im Text werden ruandesische Termini mit dem jeweiligen Klassenpräfix und dem
jeweiligen Präpräfix angegeben (Präpräfixe bzw. Augmente) kommen in der gesprochenen bzw.
vi
geschriebenen Sprache nur vor, wenn das jeweilige Nomen betont wird).
Im Text häufig vorkommend sind Personenbezeichnungen und Bezeichnungen für Institutionen. Im
Folgenden werden Beispiele für die wichtigsten der im Text vorkommenden Klassen gegeben.
(Muster: Präpräfix (Augment) – Präfix – Stamm)
Klasse 1/2
Klasse 1 (sg.) u-mu-tware (Chief) Klasse 2 (pl.) a-ba-tware
u-mu-gabekazi (Königinmutter) a-ba-gabekazi
Klasse 5/6
Klasse 5 (sg) i-sambu (Parzelle Ackerland) Klasse 6 (pl.) a-ma-sambu
Klasse 7/8
Klasse 7(sg) i-gi-kingi (Weideland, ‚Lehen’) Klasse 8 (pl.) i-bi-kingi
Klasse 11/10
Klasse 11 u-ru-go (Gehöft) Klasse 10 (pl.) i-n-go
Klasse 14
U-bu-konde (Besitztitel von Land bei Ackerbauern)
Nomina können mittels sogenannter Konnektive verbunden werden, um eine Genitivkonstruktion bzw. ein
zusammengesetztes Nomen zu bilden. Zahlreiche Bezeichnungen politischer Positionen folgen diesem Muster
(z.b.: umutware w’umuheto – Armee Chief)
Zitierweise
Der Text hält sich im allgemeinen an übliche Zitierweisen. Quellen für Sekundärzitate (d.h. aus der
Sekundärliteratur übernommene Originalzitate) sind im Fußnotenapparat angeführt und folgen den Angaben der
Autoren, nach denen zitiert wurde.
Fußnoten/ Endnoten (abgekürzt: FN, EN) werden als solche zitiert und ausgewiesen. Werden in der verwendeten
Literatur Fußnoten nicht durchgängig durchnumeriert, verweise ich zusätzlich auf die Seitenzahlen, auf denen
sich die Fußnoten finden bzw. auf die sich Endnoten beziehen.
vii
Vorwort
Ausgangspunkt
Am Ausgangspunkt dieser Arbeit steht ein doppeltes Unbehagen: ein Unbehagen über die
neuerdings festzustellende Ubiquität eines Begriffes, der hier zum Thema gemacht wird,
nämlich derjenige der ‚Ethnizität’. Dazu gesellt sich ein spezifischeres Unbehagen, nämlich
das Unbehagen darüber, in welchem Maße Konflikte allerlei Art, besonders aber kriegerische
Konflikte als Konflikte zwischen ethnischen oder ethno-nationalen Kollektiven erlebt und
wahrgenommen werden. Während der Begriff ‚Ethnizität’ und der Fokus auf Ethnizität und
Konflikt zwar nicht als solche völlig neu ist, ist er im Gegensatz zu früher Bestandteil eines
weit verbreiteten Populärdiskurses. In den Sozialwissenschaften wurde er in den Vierzigern
im Rahmen der amerikanischen Migrations- und Stadtforschung einer ersten breiten
Thematisierung zugeführt, eine Debatte, die in den Sechziger Jahren wiederaufgenommen
wurde und in deren Verlauf die Verwendung des Begriffes sukzessive auf die postkolonialen
Gesellschaften ausgedehnt worden ist.
Das Unbehagen über Ethnizität speist sich aus zwei Quellen: Zum einen erlangt das unter
Ethnizität gefaßte Phänomen Aufmerksamkeit als grundsätzlich problematische bzw.
problematisierte Kategorie, die auf eine anomalische Dimension von Ethnizität verweist.
Zum anderen ist die Verteilung der Kategorie eine extrem ungleiche – im Gegensatz zum
Rassebegriff des 19.Jh. ist Ethnizität eine Kategorie, mit der nicht jeder bedacht wird:
Ethnizität ist etwas, das nicht jeder ‚hat’.
Ruanda hat nun eine lange Tradition, unter dem Gesichtspunkt von ‚Ethnizität’ oder ähnlicher
Kategorien – Volk, Rasse – betrachtet zu werden. Tatsächlich hat sich dieses Muster
besonders während der turbulenten Dekolonisation des kleinen Landes verfestigt. Der
Genozid, der 1994 stattgefunden hat, war selbst wieder ein weiterer Grund, Ruanda (wieder
einmal) unter der Perspektive von Ethnizität zu durchleuchten. Dabei gesellt sich allerdings
zu den zwei angesprochenen Ursachen eines tiefen Unbehagens eine dritte: nämlich die
Starrheit des auf Ruanda angewandten Ethnizitätsbegriffs.
Zielstellung der Arbeit
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den Staatsbildungsprozesse in Ruanda in einen
systematischen Zusammenhang mit der Produktion und Reproduktion von gesellschaftlichen
Strukturen und sozialer Identität (und damit auch kollektiver Identität) zu stellen. Die
grundlegende (Rahmen-) Hypothese der Arbeit ist, daß sich Stratifizierungs- bzw.
Ethnizitätsprozesse in den staatlichen Institutionen einschreiben bzw. umgekehrt, daß
viii
gesellschaftliche Prozesse wesentlich von der Natur des Staates determiniert werden. Der
Staat als institutionalisierter gesellschaftlicher Regelungsmechanismus ist, wie jede andere
gesellschaftliche Institution auch, geschichtlich gewachsen und gibt insofern und wenn auch
nur indirekt und beschränkt, Auskunft den Verlauf und Ausgang früherer Kämpfe um seine
Definition; Kämpfe um die Definition von Staatlichkeit und politischer Macht, die auf
horizontaler Ebene genauso zu verorten ist (also auf der Ebene der verschiedenen Personen
mit dem Anspruch auf Herrschaft über eine definierte Bevölkerung) genauso wie auf einer
vertikalen Ebene, also zwischen diesen und der Bevölkerung – wenn man so will, zwischen
Staat und Gesellschaft.
Der Bogen der Arbeit ist, zugegebenermaßen, sehr weit gespannt: er reicht von der Frühzeit
des Staatsbildungsprozesses irgendwann zwischen 500 n.Chr und 1500 n.Chr, in dessen
Kontext der frühe embryonale ruandesische Staat anzusiedeln ist, bis in die rezentere
Vergangenheit, als die kolonial entscheidend modifizierte Monarchie gestürzt und durch eine
Republik ersetzt worden ist. Die im Titel (Integration und Ausschluß) paraphrasierte zentrale
Hypothese dieser Arbeit, daß die Konjunktur des Ethnischen in Ruanda als ein Ergebnis von
Integration (d.h. als Ergebnis des Staatsbildungsprozesses) und von verschiedenen
Ausschlußbewegungen (auf symbolischer Ebene, auf der Ebene des Diskurses; auf
politischer Ebene, Ausschluß von politischen Ämtern usw.) zu verstehen ist, versteht sich
selbst wiederum als eine Spezifikation der eingangs angeführten Hypothese von der
Einschreibung sozialer Kämpfe und Konflikte in formalen politischen Institutionen (dem
Staat).
Der Aufbau
Teil 1: Grundlegungen
Der theoretisch gehaltene Einleitungsteil versucht grundsätzliche, in der Arbeit verwendete,
theoretische Konzepte einer Klärung zuzuführen. Es wird argumentiert, daß 'Ethnizität' primär als
Kollektivkonstruktion zu verstehen ist, die auf der Behauptung einer Zusammengehörigkeit fußt, die
mittels verschiedener Inklusionskriterien (biologische, kulturelle, linguistische, geschichtliche usw.)
plausibel gemacht wird - und nur Sinn macht, wenn die Artikulation ethnischer Zusammengehörigkeit
in dem gesellschaftlichen Kontext betrachtet wird, in dem sie auftritt. Für den ruandesischen Fall heißt
das, daß Ethnizität nicht unabhängig von der für Ruanda als so charakteristisch dargestellten
(ethnischen) Stratifikation, die wieder unmittelbar mit dem Staatsbildungsprozeß zusammenhängt,
betrachtet werden kann. Im zweiten Teil der Einleitung wird auf gewissermaßen ideengeschichtlichem
Terrain die Genese der Ruanda zur kolonialen Zeit dominierenden (europäischen)
Klassifikationsschemata, innerhalb derer das Verhältnis der Ethnien zueinander bzw. die Gesellschaft
überhaupt konzeptualisiert worden ist, analysiert sowie die dominanten Wahrnehmungsmuster
herausgearbeitet, die selbst wieder soziale und politische Diskurse ruandesischer Akteure maßgeblich
ix
beeinflußten und prägten.
Teil 2: Staatsbildungsprozeß, Stratifikation und ‚Ethnizität’ im präkolonialen Ruanda
Im 1. Teil des dritten Kapitels wird die Bedeutung der Frühgeschichte Ruandas und des Großen
Seengebietes im allgemeinen begründet und diese in der Funktion gesehen, die sie als Gründungs-
und Begründungsmythos einnimmt. Im zweiten Teil des Kapitels, der im Gegensatz zu den folgenden
Kapiteln, nicht chronologisch aufgebaut ist, wird die Herausbildung von Staaten im Großen
Seengebiet und speziell, die Entwicklung des ruandesischen Staates analysiert. Im Vordergrund
stehen dabei die Analyse der Institutionen des Staates, seiner Reichweite und der Herrschaftsdichte in
der Fühzeit regionaler Staatsbildungsprozesse sowie die mit seiner Herausbildung verbundenen
Konzepte von Legitimität und Herrschaft.
Im vierten Kapitel werden die wesentlichen Elemente des Zentralisations- und Expansionsprozesses
beschrieben, der in institutionellen Neuerungen hinsichtlich des Zugangs zu Ressourcen,
Klientelbeziehungen und Verfügungsrechte über Klienten und Untertanen seinen Niederschlag fand
und in eine gesellschaftliche Stratifikation mündete, die auf den Zugang zu Ressourcen und politischer
Macht beruhte. Teil 3: Kolonisation und Herrschaft
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der deutschen Kolonialperiode. Zuerst werden die Gründe für
die zur Zeit der Kolonisierung vorherrschende Schwäche des ruandesischen Königtums ergründet,
dann das System kolonialer Herrschaft, nämlich indirekter Herrschaft beschrieben und schließlich im
dritten Unterkapitel sozusagen die 'Mikrophysik' der Macht, die Herausbildung eines drei Säulen -
Mission, Kolonialadministration und einheimische Strukturen beinhaltenden Herrschaftssystems
anhand von Beispielen analysiert.
Das sechste Kapitel ist in zwei Unterabschnitte geteilt: Der frühen belgischen Periode (von 1917-
1924), in der die Grundlagen von Herrschaft in Ruanda radikal transformiert worden sind einerseits,
und der Periode belgischer Reformen und der Konsolidierung des Systems (1925-1945) andererseits.
Wie im vorangegangenen Kapitel werden einerseits die groben Konturen des
Staatsbildungsprozesses herausgearbeitet und andererseits die Veränderungen in der ‚Mikrophysik’
der Macht anhand lokal verorteter Transformationen von Herrschaft, Stratifikation und kollektiver
Identität nachvollzogen.
Teil 4: Dekolonisation und Revolution
Im siebten Kapitel steht die Periode politischer und ökonomischer Reformen von 1948 bis zur
Unabhängigkeit Ruandas im Jahr 1962 im Mittelpunkt. Die Periode ist deshalb so interessant, weil sie
die Verwendung von Ethnizität als radikalen politischen Diskurs mit emanzipatorischer Orientierung
x
brachte. Besonderes Augenmerk wird der Bedeutung symbolisch-physischer Gewalt, sozusagen dem
‚revolutionären Akt’ an sich für die Durchsetzung von Ethnizität als politisch wirkmächtige und
plausible Variable gewidmet. Im achten Kapitel wird schließlich Resümee gezogen und versucht, die
im ersten Teil aufgeworfenen Fragen in befriedigender Weise zu beantworten und die der Arbeit
zugrundeliegende und im Titel ausgedrückte These der Arbeit zu untermauern.
Teil 1 Grundlegungen
2
Kapitel 1 Ethnizität, Stratifikation und Staatsbildung
1.1. Ausschluß – Integration: Identität – Ideologie – eine präliminare Diskussion von Ethnizität
Der Rückblick, am Beginn des 21. auf die Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts in
Ruanda, lenkt den Blick unweigerlich auf ein Phänomen, das selbst wieder unseren Blick
formt und bestimmt: auf Ethnizität. Die konzentrierte Aufmerksamkeit einer breiteren
Weltöffentlichkeit erhielt das Land – abgesehen von sporadischen Berichten über seine
Entdeckung, seine gesellschaftliche Organisation und periodischen Berichten von
Missionaren in einschlägigen Missionszeitschriften, und später, am Ende der Fünfziger, als
gelegentlich die scharfen Auseinandersetzungen der UNO mit der Treuhandmacht Belgien
ihren Widerhall in Berichten der internationalen Medien fanden - erstmals durch seine
‚Revolution’ – die kuriose Form und lokale Variante einer antikolonialen Bewegung, die nicht
gegen die europäischen ‚Kolonialherren’ gerichtet war, sondern die mit deren Unterstützung
und gegen eine ‚ethnische’ Minderheit geführt wurde. Sie behauptete die Durchsetzung
demokratischer Werte: die Herrschaft der Mehrheit (‚rubanda nyamwinshi’1) – mit ihrem
Pendant, der Abschüttelung der Herrschaft einer zugleich ethnisch als auch feudal-
aristokratisch verstandenen Minderheit.
In einem gewissen Sinn wurde damit das Land von einer breiten Öffentlichkeit immer schon
(wenn überhaupt) in erster Linie in seinem ethnischen Antagonismus wahrgenommen.
Später, in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern rückte das Land, manchmal auch sein
Nachbar, der ‚Zwillingsstaat’ Burundi, in dem sich ‚dieselbe’ ethnische Zusammensetzung
finden läßt, mehrmals für kurze Momente in das Scheinwerferlicht der westlichen
Öffentlichkeit: der ethnische Konflikt war wieder ausgebrochen. Von Genozid war die Rede,
und in Burundi fand er, ohne viel Aufsehen zu erregen, auch statt. Durchbrochen wurde
1 Die leidenschaftliche Repetition von Zahlen, die das Verhältnis der drei ethno-sozialen Gruppen (zu dieser Wortwahl siehe weiter unten Seite 29ff) nicht nur in numerischer Hinsicht repräsentieren sollten (meist so: 85:14:1), sondern auch eine stark legitimistische Konnotation aufwies, wurde in der Form des Slogans ‚rubanda nyamwinshi’ zum Kern der modernen politisch-ethnischen Identität der Hutu als ethnischer Gruppe. Der Slogan kompensierte zugleich auch den Mangel an so etwas wie ‚eigener’ Kultur (Sprache, Literatur, Tänze, Musik...), das – die Hutu ‚Ethno-Nationalisten’ waren sich dessen durchaus bewußt – eigentlich das ‚Um und Auf’ moderner nationaler bzw. ethnischer Identitäten darstellt. Der Slogan selbst war ein Ausdruck des nach dem zweiten Weltkrieg aufgekommenen, aber in seiner Form äußerst kruden Verständnisses von Demokratie als ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker’ einerseits und Herrschaft der demographischen Mehrheit andererseits. War ersteres ein wesentlicher Motor in der Dekolonisationsbewegung nach dem zweiten Weltkrieg, für das der Beschluß der ‚Atlantic Charter’ von 1941 das wesentliche Dokument war, auf das sich afrikanische Eliten beriefen, war das Verständnis von Demokratie als Herrschaft der demographischen Mehrheit lange Zeit (de facto bis zum Ende der 2. Republik 1994) das Fundament der postkolonialen ruandesischen Herrschaftsideologie. (Vgl. dazu Chrétien 1997a: 36f ; Prunier 1995 : 80). Der letzte durchgeführte Zensus von 1978 ergab einen Anteil der Hutu an der Bevölkerung von 89,8% , während derjenige der Tutsi 9,8% und der Twa, der kleinsten Gruppe, 0,4% betrug (Rumiya 1992 : 9)
3
dieses Wahrnehmungsmuster nur im Kontext der entwicklungspolitischen Diskussion, wo
Ruanda jedenfalls hinsichtlich der Nutzung von externen Ressourcen beachtliche Erfolge
vorweisen konnte – die zur Dauerinstitution gewordene Entwicklungshilfe machte rund 10%
des BSP aus (etwa 200-300 Mio. $ jährlich). Innerhalb des entwicklungspolitischen
Diskurses wurde das Land u.a. wegen seiner straff organisierten, relativ effizienten,
jedenfalls aber effektiven staatlichen Strukturen als Vorzeigemodell angepaßter agrarischer
Entwicklung, wenn auch in einer Art ‚Entwicklungsdiktatur’, gehandelt (Becker 1993: 128f).
Zweiundzwanzig Jahre nach dem Genozid in Burundi, der von der Bevölkerung
euphemistisch und zugleich naturalisierend ikiza (Flut) genannt wurde, schien der
Völkermord in Ruanda, der trotz aller Anzeichen völlig unerwartet über die Opfer, die
Beobachter und die Weltöffentlichkeit, hereingebrochen war, in dessen Verlauf 800.000
Menschen getötet wurden und weitere 1.2 Mio. in benachbarte Staaten flüchteten – die
Wirkmächtigkeit eines aggressiven, von Antagonismen und Konflikten geprägten, ethnischen
Ordnungsmodells zu unterstreichen. Dies geschah just zu der Zeit, als mit der Ermordung
von ca. 7.000 Moslems2 – vorwiegend Männer – durch serbische ‚Tschetniks’ in Srebrenica,
der Bosnienkonflikt zu einem neuen Höhepunkt gekommen und ein aggressiver ethnischer
Nationalismus dem ‚zivilisierten’ Kern Europas bedrohlich nahe gekommen und damit Teil
dessen (Wahrnehmungs-) Wirklichkeit geworden war. Zudem schienen gleichzeitige
Entwicklungen in anderen Teilen der Welt – etwa der Zusammenbruch der UdSSR, der von
einer Reihe von ethno-nationalen Konflikten innerhalb ihres ehemaligen Staatsgebietes –
allen voran in Nagorny-Karabach und Tschetschenien begleitet war, die plötzliche Ubiquität
des Ethnischen zu unterstreichen.
Rückblickend erscheint die ethnische Strukturierung der politischen Auseinandersetzung, ja
des Sozialen überhaupt, als die eigentliche Tiefenstruktur der ethnisch gespalteten und so
betrachteten Gesellschaft. War die ethnische ‚Tiefenstruktur’, die Zentralität der ethnischen
Differenzierung Ruandas und Burundis ein manifestes und allen evidentes Faktum, erschien
diesselbe aus der medialen und z.T. auch sozialwissenschaftlichen Perspektive der
Neunziger Jahre in anderen Regionen der Welt – besonders in den ehemals
kommunistischen Staaten, dem ehemaligen Jugoslawien und den Nachfolgestaaten der
UDSSR - als immer latent vorhandenes Phänomen, nur verdeckt von den sinistren und
gewalttätigen kommunistischen Projekten der Staats- und Nationsbildung, sozusagen als ein
gesellschaftliches Unterbewußtsein, das die Erinnerung an das eigentliche Zentrum und
Wesen während der Zeit des ‚kommunistischen Jochs’ bewahrt hatte. Der Zusammenbruch
des Ostblocks, der sich ab der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre Schritt für Schritt vollzog,
2 Der Massenmord in Sebrenica wurde im Juli 1995 begangen.
4
wurde als Katalysator für das Wiedererwachen eines tot geglaubten Gespenstes ethnischer
und nationalistischer Ideologie erlebt3 und war darin zugleich ein Katalysator für die
Wahrnehmung von Konflikten als primär ethnisch oder nationalistisch bestimmt. Er läutete
einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Welt außerhalb des von EU, Japan, den
USA und anderen entwickelten Staaten gebildeten Dreiecks, der Avantgarde der
Globalisierung, ein. Der Fall des Ostblocks wies damit in seiner Bedeutung weit über die
ehemaligen Ostblockländer hinaus. Der Konnex zwischen dem Zusammenbruch der UdSSR
und Jugoslawiens bzw. dem Sturz kommunistischer Regierungen anderswo und der
Renaissance nationalistischer Ideologien bildet in gewisser Weise das kulturalistische
Pendant zum neoliberalen Politikdiskurs und der einhergehenden massiven Expansion
(spezifisch neoliberaler) marktförmiger Organisationsweisen und dem zumindest diskursiv
beteuerten Rückzug des Staates.
Ethnizität ist in den Neunziger Jahren zu so etwas wie einer Art Universalkategorie
geworden, die als über die soziale Realität gelegte, etwas schimärenhafte Schablone, deren
Verständnis prägt oder spezieller: das Verständnis ihrer inneren und äußeren Randzonen.
Ethnische Segmentierung des Arbeitmarkts, Ethnizität und differentielle Lebenschancen,
Ethnizität und Entwicklung, ethnische Kolonien und Netzwerke, Ethnizität und Zugang zu
Bildungs-, Gesundheits- und Wohlfahrtseinrichtungen sind nur einige der Problembereiche,
für deren Verständnis das Konzept der Ethnizität verwendet wird – ganz abgesehen von den
politischen Kämpfen, die unter ethnischen Etiketten ausgetragen werden, welche dann selbst
wieder, aber auch unabhängig davon, zu Analysekategorien der Sozialwissenschaftler
werden. Nicht zufällig erlangt der Faktor Ethnizität, im politischen und medialen Diskurs
gleichermaßen wie in seiner akademischen Theoretisierung, Aufmerksamkeit in erster Linie
als problematisierte Kategorie4, die auf eine mit ihr verbundene, anomalische Dimension
3 Für eine instruktive Kritik dieser gängigen Interpretation in bezug auf Bosnien, welche die faktische Unhaltbarkeit der meisten in dem Paradigma enthaltenen Prämissen aufzeigt, siehe Malcolm 1994: Introduction 4 Eine der wenigen Ausnahmen, jedenfalls in der rezenten Diskussion und in expliziter Referenz zu Ethnizität, bildet Joshua Fishman, der in den in Ethnizität beinhalteten Dimensionen des ‚Seins’ (Being), ‚Handelns’ (Doing) und ‚Wissens’ (Knowing) ein positives gemeinschaftliches Element verkörpert sieht, das sie mit anderen Formen der Vergemeinschaftung verbinde und durch das sie sich als legitime Gemeinschaftsform erweise. (Fishman 1980: passim). Die Sozial- und Kulturanthropologie im allgemeinen bildet eine gewisse Ausnahme zur Tendenz in Politikwissenschaft und Soziologie, Ethnizität vorwiegend als problematische Kategorie anzusehen. Dies ist ein Resultat mehrerer Faktoren: zum einen ihrer (traditionellen) Orientierung auf eine Mikroebene und auf relativ (geographisch, ‚ethnisch’ oder anders definierte) geschlossene Einheiten, mit dem Anspruch diese möglichst umfassend zu beschreiben, wobei dem Anthropologen/ Ethnographen qua seines ‚Dort-Seins’ – der Präsenz im Feld – ein privilegierter epistemologischer Status zugestanden wird, was selbst wieder als das methodologische und epistemologische Fundament der Disziplin gesehen werden kann. Die tendenziell positive Bewertung von so etwas wie Ethnizität ist freilich dann kein Ergebnis einer expliziten Evaluation der Kategorie, sondern rührt aus der Betrachtung der Mikroebene, gewöhnlich einer spezifischen ethnischen Gruppe, und dem Fokus auf die Bedeutung der spezifischen sozialen Institutionen der ethnischen Gruppe für die Individuen.(Präziser gesagt, kann sowohl eine Tendenz zu einer Positiv-, als auch zu einer Negativbewertung festgestellt werden. Dies ist ein Resultat des für den ethnologischen Kulturrelativismus und jeder
5
hinweist, die den zugrundeliegenden Vorstellungen von legitimer, ‚rationaler’ sozialer
Ordnung zuwiderzulaufen scheint. ‚Ethnizität’ erweist sich damit als ambivalente Kategorie,
deren ‚Verteilung’ ungleich ist und zugleich für die Bereiche, für die sie angewendet wird, als
fundamental postuliert wird.
Vielleicht würden wir für die spezifische Situation Ruandas und eingedenk der
Schimärenhaftigkeit dieses Begriffsrasters – der breiten, mithin unpräzisen Bedeutung5 des
Begriffs, besser daran tun, unseren Blick zu schärfen versuchen und, gemäß unserem
Ausgangspunkt, den ethnischen Konflikt als den zentralen Begriff, und damit die konfliktiven
Beziehungen zwischen – in unserem Fall – zwei antagonistischen ethnischen Entitäten, den
Tutsi und Hutu, in das Zentrum unserer Untersuchung zu rücken. So verfahrend, befänden
wir uns in ‚guter‘ Gemeinschaft mit zahlreichen bekannten und unbekannten Politologen,
Historikern, Journalisten, Politikern und anderen ‚Praktikern‘, die aus der katastrophischen
Erfahrung der Neunziger heraus, und aus dem Wissen um die turbulente postkoloniale
Geschichte und die blutige Phase der Dekolonisation Ruandas heraus, nicht ganz
unbegründet, im Konflikt zwischen den beiden ethno-sozialen Gruppen das bestimmende
Motiv der ruandesischen Geschichte sehen.
Dennoch gibt es gute Gründe, eben dies nicht zu tun und statt dessen den Antagonismus
zwischen den beiden Ethnien (oder ethno-sozialen Gruppen) zunächst hinter uns zu lassen
und sich dem scheinbaren Objekt der Untersuchung über einen Umweg anzunähern. Anstatt
ethnische Identität und Ethnizität als basale Kategorie6, als unabhängige, erklärende
Variable anzunehmen, und darauf aufbauend, das ethnische Kollektiv als veritablen
historischen und daher substantiellen Akteur zu behandeln, soll eine Ebene früher angesetzt
werden. Dies erlaubt, sowohl der ‚Substantialisierungsfalle‘ (das Anfüllen einer
wissenschaftlichen Beobachtungstätigkeit, der es um Neutralität gegenüber dem Beobachtungsgegenstand geht, typischen Oszillierens zwischen dem Hier und Dort, kurz typisch für das Verhältnis des Beobachters zum Beobachteten und der ihn selbst beobachtenden, mündliche Anmerkung von A.Sonderegger) Darüber hinaus sind der weit über die Sechziger Jahre hinaus bedeutende Einfluß des in gewisser immer noch die theoretische Grundorientierung bildendenden Strukturfunktionalismus mit seiner Konsensorientierung neben der Orientierung auf den ‚Exotischen Anderen’ weitere Faktoren, die den im Vergleich zu anderen Sozialwissenschaften weit weniger problematischen Status von ‚Ethnizität’ in der Sozial- und Kulturanthropologie begründen (Vgl. Jenkins 1997 Kap.1u.2). 5 zu Definitionen und begriffsgeschichtlichen Anmerkungen von Ethnie und Ethnizität siehe Tonkin/McDonald/Chapman 1989: 11-17; Nash 1989: 10-15; sowie Kap. 1.1.1 Debatten über Ethnizität) pp.11f 6 Der von Hettlage/Deger/Wagner (1997) herausgegebenen Sammelband “Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Krisen” folgt dieser Logik überaus konsequent, indem Ethnizität so gedeutet bzw. jedenfalls so behandelt wird, als ob sie eine komplexe sozialstrukturelle Variable wäre (wie Schichtzugehörigkeit, Ausbildung etc.). Um in der Sprache der Statistik zu bleiben: Der Versuch, Ethnizität meßbar zu machen – bis hin zu dem Versuch, über Meinungsumfragen die Stellung/ Einstellung der Slowenen zur eigenen Nation/ zur eigenen Ethnie und zu anderen ‚Ex-Jugoslawen‘ (Kroaten, Bosnier, Serben...) zu untersuchen und daraus eine Maßzahl für die Bedeutung von Ethnizität zu generieren – braucht die Variable ‚Ethnizität‘ in gewissen Sinn als immer schon bereits erklärtes Phänomen. Das, wonach gefragt wird, ist im Prinzip ein Reichweitenphänomen: Kann Ethnizität erklären, daß X, Y, Z geschieht?
6
vorgefundenen Kollektivitätskonstruktion mit einer scheinbar transhistorischen Essenz) zu
entgehen, als auch einem mit funktionalistischen7 (modernisierungstheoretischen)
Perspektiven verbundenen Notwendigkeitsphantasma bestimmter Gruppen- und
Identitätsbildungen.
In einem gewissen Sinn geht es dann zwar um ‚politisierte‘ Ethnizität, um die Strukturierung
der politischen Auseinandersetzung und des politischen Systems auf der Basis
‚bestehender‘, ‚vorgefundener‘ sozialer Grenzen und Einheiten, von ‚cultural givens‘ (Geertz
1963). Zugleich transzendiert die Fragestellung die Grenzen des von Ethnizität gemeinten
sozialen Phänomens der ethnischen Verfaßtheit eines Kollektivs und geht über die
(pragmatische) Bedeutung der Ethnie als vorgefundene, präpolitisch verstandene Einheit
hinaus, indem sie fragt, warum das Ethnos und nicht etwas anderes zum Symbol eines
zentralen Antagonismus, warum ethnische Identität zur zentralen politischen Identität in einer
Gesellschaft wird und andere potentiell politisch wirksame Identitäten – Lokalität, soziale
Position etc. – verdrängt, oder, wie wir sehen werden, gleichbedeutend mit einer von ihnen
wird. Damit wird Ethnizität explizit einer politischen Betrachtung unterworfen. Das heißt aber
weder, daß die unter Ethnizität gefaßten Phänomene sich im Politischen erschöpfen, noch,
daß Ethnizität – wenn man das ‚Tun’ (‚prattein’) als den Kern eines Begriffs des Politischen,
das Vorhandensein eines ‚Möglichkeitsraum’ und verhandelbarer Gegenstände als seine
Bedingung, und die ‚Setzung’ als praktischen Ausfluß des Politischen faßt – beliebig setzbar
oder verhandelbar ist. So formuliert, bleibt die Fragestellung grundsätzlich offen gegenüber
anderen Formen, oder besser: Idiomen politischer Kollektivität. Ethnismus steht dann in einer
Reihe mit Nationalismus, Klanismus, Regionalismus oder kollektiver Ideologien basierend
auf Klasse (‚Klassismus’, wie es Laclau/Mouffe 1991 nennen), ohne daß die Spezifität
ethnischer Kollektivitätskonstruktionen – die ‚gesellschaftliche Organisation von Differenz’
(Frederik Barth) – und ihrer Herstellung geleugnet wird. Damit rücken die
Konstitutionsbedingungen der ethnischen Gemeinschaft als politisch instituierte
Gemeinschaft in den Vordergrund. Die Betonung des politischen Gehalts von Ethnizität ist
allerdings nicht lediglich eine Frage der Perspektivierung, sondern zielt auf die Beantwortung
der Frage, wo sie ihren eigentlichen Ort hat.8
Mit anderen Worten (und in der Vorziehung der Antwort) erlaubt es die hier vorgeschlagene
Perspektive, der Dichotomie ursprünglich (natürlich) – gesellschaftlich zu entgehen, indem
Ethnizität als Organisationsmodell von Differenz explizit nicht als präpolitische, dem zwar
Sozialen zugehörige, aber ihm zugleich ‚ursprüngliche‘ und ‚natürliche‘ und erst im
7 In einem gewissen Sinn fallen viele einschlägige marxistische Zugänge in dieselbe Kategorie. 8 Ulrich Bielefeld (1995: 46f) faßt dies unter den Begriff der politischen Vergesellschaftung, die der im Sozialen stets inhärenten Tendenz der Differenzierung eine (organisierte) Homogenisierung entgegensetzt.
7
politischen Prozeß politisch wirksam werdende Kategorie betrachtet wird und eben nicht, wie
Peter Berghoff es in seiner Kritik eines naturalisierenden Nations- bzw. Ethnizitätsbegriffs
formuliert, als Urmasse politischer Gebilde (Berghoff 1997: 19). Indem der Begriff Ethnizität
nur unter Vorbehalt gebraucht wird, rückt das in den Vordergrund, das trotz der scheinbaren
Ursprünglichkeit der die Glieder des ethnischen Kollektivs verknüpfenden Bande: des
‚Blutes‘ (als Abstammungsgemeinschaft), der Sprache, der Kultur, des Bodens9 und der
Geschichte noch nötig ist: die Konstitution des Kollektivs qua Kollektiv. Wenn man so will, ist
der Konstitutionsprozeß das, was dem ‚ethnischen Körper‘, dem Kollektiv der Individuen mit
unter Umständen, aber nicht notwendigerweise bereits existierenden bestimmten
gemeinsamen Eigenschaften physischer, kultureller und anderer Natur erst das Leben (Bios)
gibt, das ihm so oft als ursprünglich unterstellt wird. Anders gesagt, verleiht das in das
Kollektiv hinein imaginierte Bios seinem ‚Körper‘ erst dessen Form. Dieses Moment des
‚mehr-als‘10 ist entscheidend für die Betrachtung kollektiver Phänomene, insbesondere wenn
diesen eine quasi biologische Ursprünglichkeit und daher Notwendigkeit unterstellt wird.
Selbst in dem spekulativen Fall, bei dem die Mitglieder eines Kollektivs nachweislich eine
geschlossene Abstammungsgemeinschaft bilden, Sprache und ‚Kultur‘ teilen und durch eine
gemeinsame Geschichte geprägt sind, ist ihr Selbstverständnis als Kollektiv nicht aus einer
immer beschränkten Gemeinsamkeit herzuleiten. Die Attribute der Einheit – so stark sie auch
sein mögen – erklären die freilich immer prekäre und nie vollständig erreichte Konstitution
einer kollektiven Einheit kaum. Das gilt selbst für das kleinste gesellschaftliche Kollektiv, der
Familie – dem Paradebeispiel einer als ursprünglich und natürlich gedachten Einheit, der von
einer weit zurückreichenden Denktradition ein dem ‚Volk’ ähnlicher Status der Elementarität
für die Gesellschaft zugeschrieben wurde. In seiner Übertragung in den Kontext des
modernen Nationalstaatensystems und auf einer höheren Ebene, nimmt das ethnische
Kollektiv einen der Familie ähnlichen Status ein. Letztere erweist sich jedoch in historischer
Perspektive als zwar nicht notwendigerweise staatliche, aber nichtsdestoweniger politische
Setzung, insofern ihre konkrete Form, Organisation und Ideologie keinesfalls durch die
biologisch vorgegebene Reproduktionstriade – Vater, Mutter, Kind – determiniert wird.
9 Eine eigene Sprache und eine eigene ‚Kultur’ im engeren Sinn, geschweige denn ein ‚angestammtes’ Territorium besitzt keine der ethno-sozialen Gruppen Ruandas, wenn auch spezifische kulturelle und soziale Institutionen mit je einer der Gruppen verbunden wird und Varietäten des Kinyarwanda als der einen oder anderen ethno-sozialen Gruppe zugehörig gehandelt werden. Entkleidet von seiner kulturellen und geographischen Bedeutung wird aus dem Ethnos ein primär ‚rassisch’ definierter Körper. 10 Dieser Aspekt, der mit wechselnder Begrifflichkeit ein fundamentaler Bestandteil einiger (post-)moderner Zugänge zur Gesellschaftstheorie ist – namentlich der sich auf Lacan zurückführenden Schulen – stand schon Anfang des Jahrhunderts im Mittelpunkt der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Soziologie Georg Simmels, der sich darin selbst wieder von der Lebensphilosophie Henri Bergsons beeinflussen ließ. Für Simmel bestand das Problem darin, wie ‚Leben‘ (sein zentraler Begriff), das er als kontinuierlichen Prozeß dachte, seine Einheit erhalten könne. Diese von ihm definierte Einheit (‚Mehr-als-Leben‘) enthält ein transzendentales Moment, das hier zum Thema gemacht wird. (Vgl. Bevers 1985: 155)
8
Das Flottieren der Bedeutung von ‚Familie‘ - und das gilt für andere Kollektivbegriffe ebenso
wie für jeden anderen Begriff der sozialen Sprache – ist zudem ein beredtes Zeichen der
prekären Beziehung zwischen Begriff und Bezeichnetem, zwischen Signifikant und Signifikat.
Weder erlaubt es die historische Existenz bestimmter Begriffe auf die historische Existenz
der heute darunter gefaßten Sachverhalte, also auf die Äquivalenz der historischen und
gegenwärtigen Bedeutung zu schließen, noch erhellt die historische Bedeutung die
gegenwärtige Verwendung des Begriffes. Selbst in synchroner Perspektive erweist sich die
konkrete Bedeutung sozialer Begriffe stets als multivalent und verändert sich je nach dem
Gebrauchskontext eben dieser Begriffe, nämlich je nach der Position der konkreten Sprecher
innerhalb des sozialen Raums.11 Mehr als nur ein Ausdruck semantischer Verschiebungen
im Laufe der Geschichte zu sein, weist der Wandel von Begriffen auf je unterschiedliche
soziale Konstellationen, deren Veränderungen von ihrer begrifflichen Konzeptualisierung
gespiegelt und zugleich auch geformt wurde. Es geht in den Worten des französischen
Mediävisten Marc Bloch12 nicht darum, zu wissen, daß ‚Bureau‘ ein alter Begriff sei und
ursprünglich ein Stück Wollstoff bezeichnete, sondern darum wie der Begriff seine
Bedeutung veränderte und unter welchen Umständen er seine spätere(n) Bedeutung(en)
angenommen hat (zitiert nach Chrétien 1997b: 17). Desgleichen geht es nicht darum die
Antiquität der Worte ‚Hutu‘ und ‚Tutsi‘ aufzuzeigen, sondern die Prozesse zu verstehen, die
dazu führten, daß die Begriffe im 20. Jahrhundert den Charakter fundamentaler
Zugehörigkeitskategorien angenommen haben, in deren Namen eine Revolution
ausgefochten, und Menschen vertrieben und getötet worden sind (Chrétien 1997b). Es geht
also darum, den Spuren der ‚Setzung’ ethnischer Zugehörigkeitskategorien nachzuspüren
und die Arena – den (Möglichkeits-)Raum – zu verstehen, innerhalb dessen diese Setzungen
erfolgt sind. Von entscheidender Wichtigkeit sind hier zwei Unterscheidungen zwischen
jeweils zwei Bedeutungsebenen, die bei ethnischen Prozessen wirksam werden: 1) die
Unterscheidung zwischen Norm und gesellschaftlicher Praxis einerseits; und 2) die
Unterscheidung zwischen dem Benennungsaspekt (dem ‚Nominalen’; the nominal) und den
praktischen Konsequenzen dieser Benennung (dem ‚Praktischen’; the virtual) andererseits.
Der Name einer ethnischen Kategorie bzw. ihrer zahlreichen, ähnlich gearteten Allotrope –
Lokalität, Region, Nation etc. – erweist sich in der Zeit als relativ stabil, wenn auch die
Benennungen historischen Konjunkturen unterworfen sind, die praktischen Folgen und
Konsequenzen der Namen sind es aber nicht, weder in historischer Perspektive, noch in
11 Der soziale Raum selbst ist mehrdimensional – nicht nur gibt es ein ‚Oben’ und ein ‚Unten’ in einer sozialen Hierarchie, also eine horizontale und vertikale Ebene sozialer Stratifikation – verstanden als systematische Positionierung im sozialen Raum, sondern Faktoren wie das ‚Hier’ und ‚Da’ – die Nähe oder Distanz zu den politischen Zentren einer Gesellschaft, regionale Subräume (d.h. es gibt so etwas wie eine soziale Geographie, die wiederum von dem Charakter der physischen Geographie mitbestimmt wird) usw. 12 Marc Bloch (1974) [11941]: Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, Paris: Colin pp.37-41
9
horizontaler, synchroner Hinsicht (Jenkins 1997: 167). Die ‚Virtualities’ ethnischer Prozesse
sind dann der Aspekt, unter dem Wandel und Transformationen, Hierarchisierung und
Stratifikation, Abgrenzungsprozesse, Inklusion und Exklusion analysiert werden müssen.
Ähnlich fundamental für das Verständnis von Ethnizität bzw. von Kollektivität überhaupt,
wenn nicht so gar noch grundsätzlicher, ist es, sich der unterschiedlichen Bedeutungen
bewußt zu werden, die in der Rede von Kollektivität bzw. Kollektiven verschmolzen werden.
Davon soll weiter unten die Rede sein (Vgl.Kap.1.1.4 pp.19ff).
Abbildung 1: Bezeichnung (das Nominale) und Praktische Konsequenz
Das Nominale (Zeichen für...) Praktische Konsequenzen Zeit .... Richtung der Verschiebungen Lies: während das Nominale, also die Bedeutung und Begriffsbreite eines (sozialen) Begriffs über die Zeit relativ stabil bleiben, sind die praktischen Konsequenzen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie ständiger Veränderung unterworfen. Die Gründe für derartige Verschiebungen können vielfältig sein: geänderte ökonomische und soziale Bedingungen, sowie einzelne politische Interventionen (z.B. die erfolgreiche Problematisierung einer sozialen Kategorie im politischen Diskurs). In eine ähnliche Richtung wie die Unterscheidung zwischen dem ‚Nominalen’ und dem
‚Praktischen’ weist eine weitere analytische Differenzierung, die – unter verschiedenen
Namen – die Ideengeschichte, die Geschichte der Philosophie und die politische
Philosophie im Speziellen sowie die (jüngere) Geschichte der Sozialwissenschaften geprägt
hat, nämlich die Differenzierung zwischen gesellschaftlichen Normen und tatsächlichen
Praktiken, oder um es klassisch zu formulieren, zwischen Ideen und der ‚Realität’. Die Kluft
zwischen gesellschaftlichen Normen und ihrer Einhaltung ist erfahrungsgemäß eine große –
eine Erfahrung, die im Speziellen Anthropologen machten und thematisierten, als sie
versuchten, Heiratsvorschriften und Heiratspraxis auf einen Nenner zu bringen (Vgl. zu einer
Diskussion Bourdieu 1979, Teil 2, Kap.1). Ethnische Stereotype, zumal in einer
mögliche B
edeutungen m
öglcihe praktische K
onsequenzen
10
Gesellschaft, in der Ethnizität gleichermaßen ein politisch als auch sozial wirkmächtiger
Faktor ist, beinhalten, ohne ausdrücklich normativ zu sein, normative Vorstellungen wie im
übrigen das Vokabular der sozialen Sprache überhaupt. Was sich wie eine Deskription von
Fakten geriert, meint meist das ‚So-soll-es-sein’ bzw. ‚So- ist-es-in-meinen-(unseren)-Augen’.
Mehr als nur ein Ausdruck der Kluft zwischen Normativem und Faktischem, weist die
Spaltung zwischen Norm und Praxis auf hegemoniale Definitionen der gesellschaftlichen
Wirklichkeit und verlangt nach einer Kontextualisierung – d.h. nach einer Verortung der
Diskurse über Ethnizität bzw. nach einer Archäologie ihrer Genesis. Ich werde im Kontext
der Diskussion von Kategorisierung und Klassifikation darauf zurückkommen (Vgl.Kap.1.1.3
pp.15ff).
Abbildung 2: Soziale Norm/ Soziale Praxis
Normative Dimension Praktische Dimension
soziale Normen und normative Kraft sozialer Begriffe
Praxis A Praxis B
Praxis C
Hegemonialer Diskurs hegemoniale Praxis
deviante Praxis Hegemonialer Block subalterne ‚Klassen’ Lies: Soziale Normen und die normative Kraft sozialer Begriffe werden in hegemonialen Diskursen geprägt, als deren (prinzipielle) Träger wiederum ein bestimmter hegemonialer Block fungiert. Während die ‚subalternen Klassen’ – sozusagen die hegemonisierten Bevölkerungsschichten in der Formulierung hegemonialer Diskurse mitwirken, werden sie mehr von diesem Diskurs bestimmt, als daß sie ihn bestimmen können. Soziale Normen bzw. normativ gebrauchte Begriffe der sozialen Sprache wirken auf die soziale Praxis, die in der Sprache der Norm artikuliert wird, ohne sie jedoch völlig determinieren zu können. Umgekehrt beeinflußt die soziale Praxis die Formulierung sozialer Diskurse bzw. sozialer Normen, allerdings, wie in der Grafik dargestellt, ungleichgewichtig. Nicht jede soziale Praxis ist fähig, sich als Norm zu artikulieren, bzw. sich bei der Formulierung von sozialen Normen einzubringen. Eine soziale Praxis (z.B. eine von den sozialen Normen abweichende soziale Praxis) wird möglicherweise innerhalb hegemonialer Diskurse nie repräsentiert, unabhängig von ihrer Häufigkeit. Selbst die in einer Gesellschaft hegemoniale Praxis repräsentiert sich nie vollkommen als Norm.
11
1.1.1 Debatten über Ethnizität
Ethnizität ist eine relativ neue begriffliche Innovation in den Sozialwissenschaften
(Tonkin/McDonald/Chapman 1989:11ff), der darunter gefaßte Gegenstand ist es freilich
nicht. Damit etymologisch verbundene Begriffe wie ‚Ethnie‘ bzw. semantisch nahe Konzepte
wie ‚Volk‘, ‚Stamm‘ usw. fanden lange davor Eingang in das Konzept- und Begriffsrepertoire
der Sozialwissenschaften, wenn auch meist im für die Betrachtung der eigenen
Gesellschaften marginalen Diskurs der Völkerkundler, Orientwissenschaftler und anderer.
Die unter dem sozialwissenschaftlichen Begriff subsumierten Phänomene von
Gruppensolidarität, ‚Blutsverbundenheit‘ bzw. Verwandtschaft und gemeinsamer Kultur und
darauf aufbauende Differenz sind wohl schon Gegenstand menschlichen Denkens, Fühlens
und Handelns, seitdem es menschliche Gemeinschaften gibt (Hutchinson/Smith 1996: 3).
Heute findet der Begriff ‚Ethnizität’ und die mit ihm verbundenen Konzepte nicht nur in den
Sozialwissenschaften eine breite Akzeptanz und Anwendung, sondern ‚Ethnizität’ hat auch
Eingang gefunden in das Alltagsverständnis breiter Teile der Bevölkerung – und nicht nur
der westlichen. Diskurse über Ethnizität bilden, anders als solche über Kategorien wie
Klasse oder Schicht und ähnliches nicht mehr die Domäne esoterischer akademischer Zirkel,
sondern finden gleichermaßen im öffentlichen wie im privaten Raum statt. Die Ubiquität des
Begriffs ist nur vergleichbar mit der Aufmerksamkeit, die Begriffe wie ‚Globalisierung’ und
‚Nationalismus’ – mit dem Ethnizität (und Diskurse über Ethnizität) übrigens eng verbunden
sind - genießen. ‚Ethnizität’ erweist sich im öffentlichen Diskurs, in dem sie immer als
irgendwie problematisch artikuliert wird, als etwas, das nicht schlicht ‚das dem Ethnos
Zugehörige’ meint bzw. die Gesamtheit dessen bezeichnet, was es heißt, einem Ethnos
anzugehören und/oder sich ihm zugehörig zu fühlen, sondern als Quelle von Konflikten und
anomaler Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsstrategien. Zudem scheint ‚Ethnizität’
nicht – wie der universalistische Klassifikationsbegriff ‚Rasse’ im 19.Jh. – etwas zu sein, ‚das
jeder hat’. (Vgl. Tonkin/McDonald/Chapman 1989). Der ‚Besitz’ von Ethnizität markiert im
Unterschied dazu, eine Randlage, ein Anderssein, mithin den oder die Anderen schlechthin;
sie bezeichnet die Randlage der als ethnisch definierten und visualisierten Gruppen und
verortet diese in den inneren und äußeren Peripherien westlicher Gesellschaften.
Zugleich findet Ethnizität Eingang in das Vokabular immer mehr, bisher davon unbetroffener
sozialer Felder und Problemstellungen:
[U]nter dem Etikett ‚ethnisch’ [werden] so verschiedene Phänomene versammelt wie
separatistische Bewegungen in Westeuropa (Nordirland, Baskenland, Katalonien) und
Kanada, Bürgerkriege in Jugoslawien und dem Libanon, ‚Rassenunruhen’ in Großbritannien
und den USA, die offene oder über subtile Mechanismen der Ausschließung erfolgende
Diskriminierung ‚ethnischer’ Minoritäten im Bildungssystem, auf dem Arbeits- und
12
Wohnungsmarkt etc., Ausländerfeindlichkeit und Rassismus in Deutschland. (...) Im
Alltagsdenken und im politisch-öffentlichen Diskurs herrscht ein breiter Konsens darüber, daß
diese so unterschiedlichen Phänomene eine gemeinsame ‚Ursache haben’: objektive, nur
bedingt überbrückbare kulturelle Unterschiede zwischen Ethnien/Völkern. (Lentz 1995: 8)
1.1.2.1 Mechanismen in der Herstellung und Reproduktion von Kollektiven
Die Rede von der Ethnizität legt freilich nicht nur Zeugnis ab von der (momentanen)
Konjunktur eines Begriffes, der in seiner Verwendungsweise globale asymmetrische
sozioökonomische Verhältnisse widerspiegelt, sondern weist auch auf bestimmte
Mechanismen kollektiver sozialer Formen, die sich in Abgrenzung, Affirmation und
Konstruktion kultureller, sozialer oder politischer Differenz manifestieren. Claude Lévi-
Strauss (1952: 15) hat den fundamentalen und universellen Charakter auf der Wahrnehmung
von kollektiver Differenz aufbauenden Abgrenzungsmechanik herausgestrichen und sie als
Funktion der Beziehung und der Interaktion von Menschen interpretiert. In der Überführung
der Lévi-Strauss’schen Beobachtung in einen explizit politische Perspektive kann man
folgern, daß kulturelle (und damit auch, aber nicht notwendigerweise so: sozial und politisch
wirkmächtige) Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen nur
verständlich sind, wenn sie als Ergebnis von Ab-, Ausgrenzungs- und gleichzeitig
Integrationsprozessen verstanden werden, die selbst wieder den Notwendigkeiten kollektiver
Willensbildung13 entspringen. In eine ähnliche Richtung argumentierend, haben andere auf
den universellen, und gleichzeitig den für das Politische fundamentalen Charakter der
formalen Abgrenzungsbewegung und der damit verbundenen Dialektik des Ein- und
Ausschlusses hingewiesen (vgl. etwa Moser 1999; Laclau/Mouffe 1992). Ich werde an
anderer Stelle auf die Mechanismen kollektiver Identitätsbildung zurückkommen.
1.1.2.2 Stamm, Ethnos, Rasse – zwischen Natürlichkeit und Konstruktion
Theoriegeschichtlich ist das Aufkommen von Ethnizität zutiefst mit der Desavouierung
alternativer Begriffe verbunden, namentlich dem der ‚Rasse’, für dessen konzeptueller
Niedergang die Erfahrung und die Auswirkungen der Nazi-Diktatur entscheidende
Bedeutung hatten. Das offensichtliche Unbehagen mit dem belasteten Begriff und der
bemerkenswerte theoretische Aufwand, mit dem eine neue Begrifflichkeit geprägt wurde,
konnte aber nicht verhindern, daß Ethnie und Ethnizität in vielen Kontexten nicht wenig mehr
als Substitute für ‚Rasse‘ oder ‚Stamm‘ waren. Erfuhr letzterer Begriff seine veritable
Beschneidung aus letztlich pragmatischen Gründen, weil ‚Stamm‘ als politisches Modell
einerseits und ‚Stamm‘ als kulturelle/ gesellschaftliche Einheit14 andererseits kaum in
13 In dem Sinn der gleichzeitigen Konstituierung von Handlungseinheiten und Handlungsakteuren und so, zugegebenermaßen in einem sehr umfassenden, ausgedehnten Sinn. 14 Die Trennung der zwei Aspekte ist eine nachträgliche: Geprägt wurde der Begriff im 19.Jh vor der Hochzeit des ‚wissenschaftlichen Rassismus’ und meinte eine Kollektivität, in deren Grenzen sich idealiter Menschen mit
13
Übereinstimmung gebracht werden konnte und damit für die Konzeptualisierung
gesellschaftlicher Realitäten mehr hinderlich als förderlich war, so war die Abwendung von
‚Rasse‘ dagegen ein stark moralisch motiviertes Phänomen (Lentz 1997: 157; Young 1983:
442ff). Die Erkenntnis, daß es biologisch gesehen keinen Grund gibt, von ‚Menschenrassen‘
zu sprechen (Vgl. Wilfing 1999), bestätigte in gewisser Weise die sozialwissenschaftliche
Abkehr von dem Konzept15. Die Aufgabe des Begriffs ließ aber eine Leerstelle offen, ohne
deren heimliches Wiederanfüllen die spezifische Qualität von ‚Rasse‘ – die Einschreibung
sozialer Konflikte, Interessen und Unterschiede im Körper oder anders, deren
Symbolisierung durch Referenz auf verschiedene ‚Typen‘ von Körpern (Omi/Winant16 1986
zitiert in Sánchez 1997: 1015) – nicht artikuliert werden konnte. Dies trug wesentlich dazu
bei, ‚Rasse‘ sozusagen als blinden Passagier des Ethnizitätskonzepts mit sich herum zu
tragen (und weiter zu befördern). Die Rassismusproblematik kann durch die antirassistisch
motivierte Abkehr von dem Begriff der Rasse allein nicht gelöst werden: „Aus dem einfachen
Grunde, daß [der Begriff der Rasse] Rassismen äußerlich [ist] und [seine] Rolle von
prinzipiell jeder Kategorie gespielt werden kann.“ (Sonderegger 1999: 34). Es lohnt sich m.E.
daher, ‚Ethnos’ von ‚Rasse‘ konzeptuell zu trennen, gerade in Anbetracht des
wechselseitigen Naheverhältnisses der beiden Begriffe.
Seitdem Clifford Geertz in seinen Arbeiten über die Spezifität postkolonialer, ‚neuer‘ Staaten
die von Edward Shils in seiner Typologie politischer Bindungen vorgeschlagene Kategorie
‚ursprünglicher‘ Bindungen (im englischen Original: primordial ties) übernommen und
argumentiert hatte, daß Ethnizität (bzw. verschiedene Symbole der Ursprünglichkeit der
‚Zusammengehörigkeit‘ wie Abstammung, Religion, Sprache, Region, Bräuche) sich eben
durch die empfundene17 Ursprünglichkeit der das Ethnos zusammenhaltenden Bande
auszeichne (Geertz 1963), bewegte sich die Debatte über Ethnizität zwischen den beiden
Polen der Primordialismus (Ursprünglichkeit)/ Essentialismus einerseits und
Instrumentalismus/ Konstruktivismus andererseits. Beide Pol-Positionen verweisen auf
bestimmte, plausibel erscheinende Punkte (eine gewisse Stabilität des ‚Imaginaire‘:
kultureller und politischer Ausdrucksformen ethnischer Gruppen18; das ‚Alter’19 vieler
gemeinsamen physischen Charakteristika, mit gemeinsamen Bräuchen, einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen ‚Charakter’, ‚Geist’ und ‚Gemüt’ fanden, Religion und Mythos auf den Stamm fokusiert waren und die ‚Stammesmitglieder’ eine gemeinsame Gruppenidentität (am ehesten das, was heute als Ethnizität konzeptualisiert wird) hatten und eine politische Gemeinschaft bzw. Einheit bildeten (Vgl. Kopytoff 1987: 4) 15 Diese Abkehr vollzog sich weder vollständig noch gleichmäßig. Überlebte der Begriff im deutschen Sprachraum lediglich in Rechtstexten, die die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe thematisieren und indirekt in ‚Rassismus‘, genießt ‚race‘ im franko- und anglophonen Bereich eine dagegen relativ unterproblematisierte und weitverbreitete Existenz. 16 M.Omi; H.Winant (1986): Racial Formation in the United States from the 1960s to the 1980s, New York: Routledge p.55 17 Ein von seinen Kritikern gern übersehenes Qualitativ. 18 vgl. etwa Waldmann 1989, passim. Die empirisch und ‚empiro-theoretisch‘ gut recherchierte Studie Waldmanns über ethnischen, gewalttätigen Radikalismus scheitert an eben dem: ihrer positivistischen Naivität.
14
ethnischer Konflikte und der damit verbundene Eindruck der stabilen, unveränderten,
bestenfalls an den Erfordernissen der Moderne angepaßten ethnischen Identität; die starke
affektive Komponente des Ethnizitätsphänomens, etc. einerseits und die ‚Erfindung‘ und
subversive Reinterpretation von Identitäten; das Fließen und die Multiplität von Identitäten in
pluralen20 Gesellschaften etc. andererseits), von denen ausgehend die essentialistische
respektive konstruktivistische Interpretation als Wahl einer tatsächlich trügerischen
Alternative erfolgt. Erscheint der von Essentialisten vertretene, häufiger jedoch der den auf
solche Weise bezeichneten Autoren vorgeworfene Essentialismus, als nichts anderes als ein
kulturalistisch reformierter Rassismus, der ausgehend von ‚unbestreitbaren‘ Merkmalen
‚unüberbrückbare‘ Verschiedenheiten zum bestimmenden Faktor in multikulturellen
Gesellschaften macht, so läuft der radikale Konstruktivismus – wenn auch in ‚guter‘,
emanzipatorischer Absicht, nicht selten darauf hinaus, im Beweis der Konstruiertheit und des
geschichtlichen Gewachsen-Seins oder der bewußten Manipulation der zur Frage stehenden
Kategorie durch politische Eliten den Beweis ihrer ‚Falschheit‘ und folglich ihrer Illegitimität
erbracht zu haben: sie entlarvt zu haben und es dabei zu belassen. Tatsächlich nimmt kaum
ein Autor einer der beiden Extrempositionen21 ein und bei näherer Betrachtung erweist sich
die von verschiedenen Autoren dargelegte (oder unterstellte) Präferenz für den einen oder
anderen Pol als kontextuell bedingt oder mit anderen Worten: als Funktion der Perspektive,
die über einen Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaft
gelegt wird. Der Vorbehalt, mit dem dem Begriff der Ethnizität hier begegnet wird, meint
daher eine vorbehaltlos universalistische Konzeption; er gilt ihm qua (kognitiver) Kategorie,
dem Kategorischen.22
Was eingefordert wird, ist eine Konzeption, die dem ambivalenten Charakter von Ethnizität
als Möglichkeitskategorie gerecht wird: als Potential, das für manche eine vorrangige, Indem Waldmann soziale Einheiten (ethnische Gruppen, politische und terroristische Organisation etc.) als Kategorien hinnimmt, schleicht sich bei ihm ein ‚Transhistorismus‘ : der Trugschluß der unproblematischen Identität von Signifikant und Signifikat: von Kategorie und Bezeichneten(m) ein, der es verhindert, Veränderung in der Substanz – zu benennen und damit deren Insignifikanz zu erkennen: die Leere des Symbols. Dementsprechend entgeht ihm die spezifische Qualität der von ihm als so wichtig eingeschätzten “strukturellen Entwicklungen und Weichenstellungen, deren Nachwirkungen, direkt oder indirekt, noch gegenwärtig aufs nachhaltigste spürbar sind” (ebenda: 23). 19 in dem Sinn, daß Konflikte schon lange Zeit unter der Berufung auf eine oder mehrere ethnische Identitäten ausgefochten wurden bzw. diese von späteren Rezipienten als (neuer) essentieller Kern früherer Konfliktepisoden definiert wurden. 20 als Gegensatz zu ethnisch homogenen oder überwiegend homogenen Gesellschaften und gleichzeitig in Abgrenzung zum Begriff ‚pluralistisch’, der (in Anlehnung an Leo Kuper) einen Interessenspluralismus bezeichnet, der sich per definitionem von einem ethnischen Pluralismus durch seine unterschiedliche soziale Basis abgrenzt. Vgl. Kuper 1971: 7ff 21 Extrempositionen als Übertreibungstrategien sind dennoch ein hilfreiches Mittel, Verdecktes sichtbar zu machen, Ambivalenzen zu öffnen, indem sie Eindeutigkeiten in ein Gegenteil pervertieren. 22 Dazu Marx 1997: 98 ”In der Rede vom ‘ethnischen Konflikt’ wird der Ethniebegriff, ob nun virtuell-ideologisch oder real-naturhaft gefaßt, zur universalen Grundkategorie erhoben, die dem Bedürfnis
15
‚primäre’ und affektiv besetzte soziale Identität darstellt, für andere wiederum keine
Bedeutung hat und für den einzelnen einer von vielen Faktoren ist, die sein Handeln und
seine soziale Identität bestimmen. Der Anthropologe Max Gluckman formuliert die mit der
alleinigen Konzentration auf die großen Kategorien (Ethnie, Klasse usw.) verbundene
Problematik, die typischerweise zu einer simplizistischen Darstellung der sozialen
Wirklichkeit führe, aufgrund eigener Forschungserfahrungen in ‚Zululand’ (Provinz Natal,
Südafrika) folgendermaßen: [My observations in Zululand] made me realize that in trying to understand social life in
Zululand, it was not sufficient to think in terms of groups of whites and blacks, of massed
ethnic groups, of overall attitudes of domination and subordination, or of statements in terms
of hatred and resentment as against contempt and fear, even to comprehend the system at
the highest levels of abstraction. These divisions and associated oppositions were only part of
the overall picture at all levels. To understand what was going on in the whole of South Africa,
one had to look at the whole as a whole, and also as composed of many different regions,
associations, and domains or sets of social relationships directed towards specific purposes.
The whole cannot be explained by the parts, but the parts influence the whole. And these
social relationships in parts of the total South African state were called into being by a series
of variable situations in which personages were mobilized by different goals and values out of
a medley of consistent, inconsistent and discrepant, and even contradictory, goals and values.
(Gluckman 1971: 379)
Damit verbunden – und ein Grund für den problematischen Status der Gegenübersetzung
der instrumentalistischen Perspektive einerseits und des primordialistischen Verständnisses
von Ethnizität andererseits – ist das Problem der mangelnden Präzision bei der Definition
von Ethnizität, die sich in einer Betonung unterschiedlicher Aspekte äußert, und die man auf
einer abstrakten Ebene als in dem schwierigen Verhältnis von sozialer Kategorie und
(selbstbewußtem) Kollektiv begründet betrachten kann.23
1.1.2 ‚Objektive’ und ‚subjektive’ Ethnizität: Kategorisierung und Identifikation
Die Unterscheidung zwischen dem Ethnos als Kollektiv (im engeren soziologischen Sinn, der
‚corporate group’ im Englischen) und dem Ethnos als soziale Kategorie kann zunächst
einmal typologisch gedeutet werden. In typologischer Hinsicht, die – wie sich weisen wird –
nicht allein auf die wissenschaftliche Ebene beschränkt ist, und in Analogie zur politisch-
theoretischen Unterscheidung der ‚Klasse für sich’ und der ‚Klasse an sich’, kann zwischen
einem ‚subjektiven‘ und ‚objektiven‘ Aspekt ethnischer Zugehörigkeit unterschieden werden:
Ersterer meint die subjektive Identifikation mit einer (ethnischen) Gruppe, ihren Werten, entgegenkommt, nicht nur die eigene Welt, sondern auch den Rest der Welt durch Akte der Grenzziehung, die Gleiches und Anderes klar und zuverlässig scheidet, in eine binäre Ordnung zu bringen.” 23 Vgl. Goyvaerts 2000a: 157 für ein Beispiel einer hochgradig problematischen Gegenübersetzung von sozialer
16
Weltanschauung, kulturellen Charakteristika und, eventuell, ihren politischen Forderungen.
Diese subjektive Identifikation kann selbst eine Vielzahl von Formen aufweisen und
verschieden weitgehend sein. Sie schließt keineswegs a priori andere ähnlich geartete
Identifikationsprozesse und damit in einem gewissen Sinn doppelte und dreifache
Identifikationen ethnisch-nationalen Charakters aus. ‚Subjektive’ Ethnizität beschreibt
sozusagen den Gruppen-Charakter der ethnischen Gruppe im eigentlichen Sinn, während ihr
begriffliches Pendant, objektive Ethnizität, diese als soziale Kategorie interpretiert und
außerhalb des individuell bestimmbaren gesellschaftlichen Raums, mithin (z.b. wenn ein
Sozialwissenschaftler daran geht, eine Gesellschaft zu klassifizieren und zu kategorisieren),
jenseits des individuell unmittelbar einsichtigen (offensichtlichen) gesellschaftlichen Raums
verortet.
Einer sozialen Kategorie anzugehören, kann für die Lebenswirklichkeit der so beschriebenen
Individuen ziemlich irrelevant sein, insofern sie um diese Zugehörigkeit nicht
notwendigerweise wissen müssen bzw. diese für sie keine spürbaren oder bewußt erlebten
Konsequenzen besitzen muß (obwohl dies gewöhnlicherweise der Fall sein wird).
Im Gegensatz zur ‚subjektiven Ethnizität’: der subjektiven Identifikation mit dem ethnischen
Kollektiv, die im engeren Sinn mit ethnischer Identität zu tun hat, indem sie ein
Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums zu einer Gruppe von Menschen anzeigt, bezeichnet,
die ‚objektive’ Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, die Zugehörigkeit zu einer
Kategorie. Entblößt von subjektiven Elementen, erweist sich objektive Ethnizität als eine
Begriffskategorie, einer Begriffsklasse innerhalb bestimmter hegemonialer Kategorisierungs-/
Klassifizierungsraster. Sie fußt wiederum – trotz der kulturalistischen Deutung von Ethnizität
– auf genealogischen oder anderen Zuordnungskriterien, die letztlich die Kontinuität der
Gruppe biologisch deuten und damit implizit das Alter Ego der Ethnizität – Rasse – wieder
einführen.
‚Objektive’ Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie und das subjektiv empfundene
Zugehörigkeitsgefühl zu der betreffenden Kategorie sind gleichermaßen gesellschaftlich
konstruiert und zwar auf zweierlei Art: als Diskurs der Klassifikation (innerhalb dessen die
Kategorien konstruiert und ‚mit Leben erfüllt’ werden) und als rationalisierender Diskurs,
dessen Gegenstand der Grund der Zugehörigkeit zu einer Kategorie (z.B.: qua Geburt) ist.
Als sozialwissenschaftlicher Begriff zeigt sich eine objektivistische Lesart von Ethnizität als
durchaus problematisch, insofern der Begriff einen ontologisch objektiven Status der
Kategorie und selbstbewußtem (ethnischen) Kollektiv.
17
beobachteten Kategorie suggeriert, der sich in letzter Analyse als ebenso sozial konstruiert
erweist, wenn auch auf einer anderen Ebene. Beide Pole – subjektive und objektive
Ethnizität sind daher fest im Sozialen verankert, und ihre Gegenübersetzung Ausdruck der
unterschiedlichen Aspekte, die sie ausmachen. Mit A. Epstein kann subjektive Ethnizität als
der subjektive, und daher in gewissen Maße als der egozentrische, und objektive Ethnizität
als der soziozentrische Aspekt von ethnischer Kollektivität gefaßt werden (Epstein 1978: 38).
Objektive Ethnizität‘ verweist – und darin besteht die Brauchbarkeit der Gegenübersetzung
der beiden Pole subjektive und objektive Ethnizität – auf bereits in gewisser Weise
konstituierte Gruppen, ungeachtet dessen, ob sich die einzelnen Individuen mit der Gruppe
identifizieren. Sie beruht auf einem gegebenen (bzw. als gegeben wahrgenommenen)
Kategorisierungsschema, das es ermöglicht, Personen unterschiedlichen Ethnien
zuzuordnen, deren ‚Entstehung’ z.B. selbst wieder in der Vergangenheit verortet wird.
Letztlich erschöpft sich ‚objektive’ Ethnizität in der Affirmation des ‚Vorgefundenhabens’, der
‚givens’ einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit und ist damit in gewissem Sinn
tautologisch. Sie läuft im Fall von Ethnizität notwendigerweise auf eine genealogische
Deutung der ethnischen Differenz hinaus und findet auf der Ebene des Individuums ihren
Ausdruck in der Askription der Zugehörigkeit zum ethnischen Kollektiv qua Geburt.
‚Fremdheit’ oder eine bestimmte regionale Herkunft stellen Kriterien dar, mit Hilfe derer
Gesellschaften ihre Außen-(und Innen)grenzen definieren und damit auch in gewisser Weise
bestimmen, wer zu ihrem eigentlichen ‚Inneren’, ihrem Kern gehört. Häufiger werden jedoch
vorgefundene Definitionen von ethnischer Zugehörigkeit weitertradiert und reproduziert.
Damit wird ethnische Differenz im wesentlichen vorausgesetzt und ihre Genese bewußt
ausgeblendet. Das ‚Weltwissen’ von ‚sinnvoll handelnden sozialen Akteuren’ kann und will
nichts zur Konstruktion von Ethnizität aussagen. Auch hier lohnt es sich,
gesellschaftsinhärente Kategorisierungsprozesse und –praktiken und den
sozialwissenschaftlichen Gebrauch sowie der sozialwissenschaftlichen Analyse von sozialen
Kategorien deutlich zu trennen. Was auf gesellschaftlicher Ebene hegemonialen
Klassifizierungssystemen sowie einer gewissen Pragmatik im Umgang mit der Wirklichkeit –
der Beschränkung des Verhandelbaren und der Akzeptanz der Voraussetzungshaftigkeit im
sozialen Alltag – entspricht und in diesem Maße der ‚Logik’ des Sozialen folgt, wird auf der
Metaebene der Analyse zu einem fundamentalen Hindernis, Gesellschaften jenseits ihrer
Selbstrepräsentationen zu verstehen.
Konsequent zu Ende gedacht ist mit der Akzeptanz der Präkonstitution ethnischer Kollektive
ein Entwicklungsmodell verbunden, das von ethnisch homogenen, isolierten ‚Ureinheiten’
18
ausgeht, die mit zunehmender Interaktion restrukturiert, aufgelöst, inkorporiert werden, die
aber die visualierte prähistorische Ausgangssituation darstellen, mit Hilfe derer alle
darauffolgenden Entwicklungen interpretiert werden können. Die Vorstellung ‚ethnischer
Inseln’ ist zu Recht von verschiedenen Autoren kritisiert worden (vgl. Barth 1969:11f; Jenkins
1997: 27). Entscheidend ist letztlich die Beantwortung der Frage, was nun aus einer solchen
präkonstituierten Gruppenzugehörigkeit – und sei es nur als Zugehörigkeit zu einer vom
Sozialwissenschaftler definierten Kategorie folgte, könnte man sie konsequent nachweisen
und sähe man von ihrer Inkonsistenz und Brüchigkeit in historischer Hinsicht ab.
Gewiß berührt sie nicht – zumindest nicht unmittelbar – die Frage der subjektiven Ethnizität,
also der für ein politisch Wirkmächtigwerden von Ethnizität notwendigen subjektiven
Identifikation mit dem ethnischen Kollektiv: Daß ich in gewissen Kontexten immer als
Angehöriger meiner ethnischen Gruppe gesehen werde, und ich mich wesentlich als
Angehöriger dieser ethnischen Gruppe definiere, bedeutet noch lange nicht, daß dies für
meine Vorfahren genauso gewesen sein muß, nur weil ich sie als meine (oder ‚unsere’)
Vorfahren als mit denselben transzendenten Eigenschaften – der Angehörigkeit zu ‚meiner’
ethnischen Gruppe ausgestattet sehe. Selbst wenn die strukturellen Bedingungen, die für die
Konstitution der Gruppe kennzeichnend sind, andauern und so jedenfalls die Existenz der
Kategorie über die (oder eine gewisse) Zeit(periode) als gesichert gelten kann, oder wenn
die ethnische Gruppe eine politische Gemeinschaft oder eine ihrer selbst bewußten soziale
Gruppe konstituiert, ist die konkrete Form der Identifikation alles andere als präkonstituiert.
Der immer schon strukturierte Charakter von gesellschaftlicher Interaktion – zwischen
Individuen verschiedener sozialer und politischer Stellung sowie, in vermittelter Form,
zwischen Kollektiven – soll nicht dazu verleiten, dem strukturierenden Kontext der Interaktion
a priori eine all-determinierende, mithin präjudizierende Stellung zuzuschreiben. Vielmehr
ergeben sich die Formen ethnischer Identifikation im konkreten historischen Prozeß der
Interaktion von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die immer vermittelt verläuft:
Wenn von der Interaktion zweier oder mehrerer ethnischer Gruppen die Rede ist, handelt es
sich in Wirklichkeit nie um alle Mitglieder der Gruppen, die überhaupt oder in gleicher Weise
interagieren, sondern um die Interaktion einzelner, deren Wahrnehmung als Personen, die
stellvertretend für die Gruppe handeln, einen Mechanismus und spezifische Codes der
Repräsentation voraussetzt. Erst diese ermöglichen es, die konkret handelnden Personen
als Repräsentanten des Kollektivs zu erkennen und anzuerkennen (Vgl. Bourdieu 1992b:
65).
Vermittelt ist der Prozeß auch, weil er nicht in einem Vakuum stattfindet, sondern in einem
sozialen Feld, das durch strukturelle Variablen – Staatlichkeit und ihre Form, politische
19
Interaktion, Produktionsweise, Stratifikation, soziale Nähe und Distanz etc. – determiniert
wird (Vgl. Bourdieu 1992c: 35). Die Rückverfolgbarkeit gegenwärtiger Gruppen auf zu einem
bestimmten früheren Zeitpunkt eingewanderte Gruppen allein kann daher weder die
Identifikation mit dem ethnischen Kollektiv, noch das ‚objektive’ Vorhandensein von
ethnischen Gruppen erklären. Sie besagt höchstens so viel, daß es Gruppen gibt, die nach
ihrer Herkunft unterschieden werden können. Nicht mehr und nicht weniger.
Anstatt, daß die Festschreibung gesellschaftlicher Kollektive Erklärungen bereitstellen
würde, wirft sie selbst wieder zumindest zwei weitere Fragen auf, nämlich nach der oder den
Ursache(n) dieser Konstanz und nach den Formen der Identifikation mit dem Kollektiv oder
anders formuliert, in welcher Form die Kollektive gesellschaftlich wirkmächtig werden, d.h.
wie Kollektivität auftritt; und, wie sie (wenn überhaupt) diskursiv artikuliert wird. Letzteres
kann als das Ergebnis des politischen Prozesses im engeren Sinn gesehen werden, insofern
es um die Konstruktion, Repräsentation, Organisation und Artikulation des Kollektivs geht.
Von den Mechanismen der ‚Bewußtwerdung’ und kollektiven Organisation soll weiter unten
gesprochen werden, zunächst muß aber eine Ebene tiefer angesetzt und gefragt werden,
was unter Kollektivität überhaupt gefaßt, und daran anschließend, was als ein ‚Kollektiv’
betrachtet werden kann.
1.1.3. Kollektivität – Kollektives Handeln
In der hier verwendeten Terminologie meint Kollektivität das abstrakte Gemeinsame von
Kollektivbegriffen wie Ethnie, Klasse, Nation usw. und macht insofern keine Unterscheidung
zwischen dem Kategorie- und dem Kollektivaspekt im engeren soziologischen Sinn, also
jenem Aspekt, der oben unter dem Begriff der subjektiven Ethnizität diskutiert worden ist –
der kollektiven ‚Identität’, dem ‚kollektiven Bewußtsein’ als solches24. Ein Kollektiv – denkt
man an die angeführten Kollektivbegriffe Ethnie, Klasse, Nation – bezeichnet in der
Minimalbedeutung des Begriffes eine größere Anzahl von Personen, die in bestimmter
Hinsicht gleich sind, wobei diese ‚Gleichheit’ (eine Identität im philosophischen Sinn) auf
zweierlei Art und in der Form einer Entgegensetzung verstanden werden kann, nämlich als
Gleichheit (Äquivalenz in den Worten Ernesto Laclaus) hinsichtlich der Zugehörigkeit zum
Kollektiv einerseits, die als tautologische Relation nur Sinn macht, wenn die Imagination der
Zugehörigkeit zum Kollektiv, also die Identifikation mit dem Kollektiv zu dessen eigentlichem
Bestehensgrund wird – wie es die luzide Formulierung dieses Verhältnisses durch Benedict
Anderson als‚Imagined Communities’, nahelegt.25 Die zweite, dieser Lesart
entgegengesetzte Bedeutung dieser ‚Gleichheit’ könnte man, wenn man so will, mit dem
Begriff ‚systemische’ Kollektivität umschreiben und zielt auf die Ähnlichkeit von (Wert-) 24 Vgl. dazu den entsprechenden Eintrag zu Kollektivität in Reinhold et al.1992: 307f
20
Haltungen und sozialem Verhalten, die ‚Mitglieder’ derartiger Kollektive (Sozialkategorien im
soziologischen Sinn) miteinander verbinden, ohne das Ergebnis bewußter Mobilisierung zu
sein. Diese Art von Homogenität innerhalb gewisser Populationen ist selbst wieder das
Ergebnis umfassender Prozesse und Strukturen in ‚der’ Gesellschaft als ganzes und eine
Widerspiegelung der strukturellen Positionen von Individuen in der Sozialstruktur bzw. einem
Sozialsystem.26 Diese werden, ebenso wie die Repräsentation der sozialen Positionierung in
der ‚Praxis’ der Individuen (den Haltungen, dem sozialen Verhalten etc.), über die
Sozialisation vermittelt und folglich innerhalb hegemonialer Prozesse reproduziert. Die
Herstellung bzw. Herausbildung sozialer Identität – verstanden als Synthese sozialer Rollen
und Statuspositionen – kann dann in weiterer Folge als Ausfüllen von ‚Identitätsräumen’
angesehen werden, die innerhalb eines hierarchisch strukturierten Sozialisationsprozesses
‚eröffnet’ werden (vgl. Friedman 1995: 76). Pierre Bourdieus Konzept des Habitus (Bourdieu
1979) hat eben diese systematische und dennoch nicht organisierte Einheit(lichkeit) sozialen
Handelns von sozialen Klassen, Ethnien etc. zum Thema.
Abbildung 3: Kollektivität und kollektives Handeln (1)
(1) Kollektivität als Imagination (Äquivalenz hinsichtlich der Zugehörigkeit zum Kollektiv)27
A = B = ... = X
A, B, ...X: Individuen
= ... Äquivalenzzeichen
<S> Symbol für das Kollektiv
25 ohne sich freilich darin zu erschöpfen. Vgl. Anderson 1991 26 Totalisierende und homogenisierende Begriffe wie ‚Sozialsystem’ bzw. ‚Sozialstruktur’ sind notwendigerweíse metaphorischen Charakters und zielen auf Regelmäßigkeiten im weitesten Sinn, ohne damit irgendeine Art von Abgeschlossenheit zu implizieren. 27 Die Graphik folgt den zeichentheoretischen Überlegungen Ernesto Laclaus, wie sie etwa in dem Text ‚Von den Namen Gottes’ durchexerziert werden (Laclau 1998). Die logische Struktur von Kollektivität (1) und (2) gleicht sich insofern, als daß die Äquivalenz in (2) eine ist, die erst durch den Analysten artikuliert wird bzw. in einer Periode sozialer Krisen, zum Gegenstand der Artikulation im Rahmen einer sozialen Bewegung wird. Vor ihrer Artikulation ist eine derartige Äquvivalenz irrelevant, aber nicht inexistent, sondern nur außerhalb der Diskurswelt verortet und ist ein Ergebnis der als ‚Doxa’ zur stillschweigenden Voraussetzung des Sozialen gemachten sozialen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen von Gesellschaften (Bourdieu 1979: 330).
<S>
21
Abbildung 4: Kollektivität und kollektives Handeln (2)
(2) Kollektivität als systematische Konvergenz der sozialen Praxis a a’ a’ a’
A = B = C =...= X
A, B, C...X: Individuen
a, a’: konvergierende Praxis der einzelnen Individuen
=... Ävquivalenz
Der Habitus ist gleichzeitig das Prinzip der Trägheit des Sozialen und das generative Prinzip
seiner Produktion in der Gestalt der sozialen Praxis. Der Habitus als Prinzip, das scheinbar
die Gleichförmigkeit der sozialen Praxis herstellt, ist selbst wieder Produkt äußerer Zwänge,
und die Gleichförmigkeit der von ihm hervorgerufenen sozialen Praxis eine Folge der
Seinsbedingungen des Habitus: Der Habitus, dieses durch geregelte Improvisation dauerhaft begründete Erzeugungsprinzip
(....), bringt Praxisformen und Praktiken hervor, die in dem Maße, wie sie dahin tendieren, die
den objektiven Produktionsbedingungen ihres Erzeugungsprinzips immanenten
Regelmäßigkeiten zu reproduzieren – wobei sie sich freilich ebenso den innerhalb einer
gegebenen Situation als objektive Potentialitäten eingeschriebenen Erfordernissen und
Zwängen anpassen -, sich weder aus den punktuell als Summe der Stimuli, die jene
Praxisformen hervorgerufen zu haben scheinen, definierten objektiven Bedingungen noch aus
den Bedingungen unmittelbar deduzieren lassen, die das dauerhafte Prinzip ihrer Produktion
geschaffen haben; aus dem folgt, daß jene Praxisformen nur derart erklärt werden können,
daß die objektive Struktur, die die sozialen Bedingungen der Produktion des Habitus, der sie
erzeugt hat, definiert, in Beziehung gesetzt wird zu den Anwendungsbedingungen dieses
Habitus, d.h. zu der jeweiligen Konjunktur, die, außer bei radikalen Umbrüchen, einen
partikularen Zustand dieser Struktur repräsentiert. Vermag der Habitus als Operator zu
funktionieren, der den Bezug der beiden Relationssysteme in der und durch die
Hervorbringung der Praxis praktisch herstellt, so weil er zu Natur gewordene Geschichte ist,
die als solche negiert, weil als zweite Natur realisiert wird: In der Tat gibt das ‚Unbewußte’
niemals etwas anderes wieder als das Vergessen der Geschichte, das die Geschichte selbst
vollzieht, indem sie die objektiven Strukturen, die sie erschafft, in jenen Quasi-Naturen, als
welche die Habitusformen zu verstehen sind, verkörpert (Bourdieu 1979: 170f).
22
1.1.4 Das Ethnos als politisches Kollektiv
Ethnizität als askriptive Variable weist zwei von einander qualitativ unterschiedliche bzw.
unterscheidbare, aber nichtsdestoweniger zusammenhängende, prozessuale Qualitäten auf,
nämlich Identifikation(sprozesse) einerseits und soziale Kategorisierung/
Klassifikation(sprozesse) andererseits. Während ‚Identifikation’ auf Prozesse innerhalb der
ethnischen Gruppe bzw. innerhalb einer ethnischen Grenzziehung verweist (was nicht heißt,
daß diese Prozesse nicht von außen induziert werden können), sind Kategorisierungs- und
Klassifizierungsprozesse notwendigerweise in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext
verortet und unweigerlich mit Herrschafts- und Unterordnungsverhältnissen verbunden,
deren Struktur determiniert oder zumindest nachhaltig beeinflußt, wessen Definitionen und
Kategorisierungen wirkmächtig werden (Jenkins 1997: 23). Beide Aspekte sind aber zutiefst
miteinander verwoben, insofern Kategorisierungen bzw. hierarchische Klassifizierungen
(subjektive) Identifizierungsprozesse auf Seiten der so kategorisierten/ klassifizierten
Gruppen entlang des in der Kategorisierung und Klassifizierung impliziten Codes der
‚Differenz’ – der Ordnung der sozialen Ähnlichkeit nach Wir/Sie; Eigenem/Fremden;
Ähnlichem und Ungleichem, das heißt aber auch: Inklusion und Exklusion – nach sich ziehen
(können). ‚Können’, denn soziale Kategorien umschreiben Möglichkeitsfelder, oder in den
Worten Jonathan Friedmans ‚Identifikationsräume’, die nicht in allen sozialen Kontexten
wirksam sein müssen und deren Vorhandensein nicht notwendigerweise entsprechende
Identifikationsprozesse nach sich ziehen (Friedman 1995: 74). Insofern die in einer
Gesellschaft vorhandenen Klassifikationsschemata und Kategorisierungen zugleich die allen
Akteuren zugänglichen möglichen Definitionen der sozialen Wirklichkeit beinhalten, sind sie
ein Ausdruck der in ihr wirkenden hegemonialen Kräfteverhältnisse (Vgl. Lentz 1995: 39).
In der folgenden Diskussion steht ein spezieller Fall eines ethnischen Identifikations-
prozesses im Vordergrund, einer, der auf politischer Mobilisierung beruht. Mit politischer
Mobilisierung sind die Möglichkeiten ethnischer Identifikationsprozesse keineswegs
erschöpfend dargestellt, und es ist keineswegs zwingend, daß ethnische Grenzziehung
aufgrund bewußter Artikulation des ‚Eigenen’ und des ‚Fremden’ vonstatten gehen muß.
Vielmehr handelt es sich in der Regel wohl um unbewußte oder halbbewußte Prozesse und
um einen (freilich auch sozial bedingten) ‚Automatismus’, der Menschen zumindest in der
Regel dazu befähigt, ‚spontan’ zwischen ‚Innen’ und ‚Außen’, zwischen denen, die
‚dazugehören’, einem ‚nahestehen’ und jenen, die dies nicht tun, und zu denen man besser
Distanz wahrt, zu unterscheiden. Die dabei leitenden Regeln werden im Sozialisationsprozeß
erlernt und weitergegeben, wobei der Primärsozialisation innerhalb der Familie die Rolle
23
zukommt, das ethnische Rollenverhalten emotional ‚plausibel’ zu machen (Vgl. dazu Epstein
1978: 111).
Die Hegemonietheorie Laclaus
Ernesto Laclau hat in mehreren Arbeiten (1994, 1996, 1998, 1999; gemeinsam mit Chantal
Mouffe 1991) eine Theorie politischer Kollektivität vorgelegt, die trotz ihrer offensichtlichen
Defizite (insbesondere was den institutionellen Aspekt von Politik sowie die Materialität
sozialer und ökonomischer Prozesse betrifft) einen guten Anknüpfungspunkt für eine
allgemeine Theorie politischer Mobilisierung und politischer Kollektivität darstellt. Dies
insbesondere, weil sie es erlaubt, ohne substantialistische Identitätskonzepte auszukommen,
indem sie Identität als grundsätzlich prekäres und ambivalentes Konstrukt beschreibt.
Am Ausgangspunkt der Laclau’schen Theorie steht eine in gewisser Weise
poststrukturalistische Konzeption von ‚Wirklichkeit‘, die für sich im Prinzip eine allgemeine
Gültigkeit bzw. weniger stark ausgedrückt, eine breite Anwendbarkeit beansprucht.
Wie immer auch der ontologische Status einer bestimmten Klasse von Phänomenen bzw.
einer bestimmten Art von Wirklichkeit, also z.B. ‚die Gesellschaft‘ gefaßt wird, ist die
(physikalische, biologische, chemische, soziale, ökonomische...‚) Realität‘ immer nur
vermittelt wahrnehmbar, mit anderen Worten, eine Repräsentation. In zeichentheoretischer
Perspektive erweist sich jedes Objekt als diskursiv konstituiert. Diese Feststellung hat dabei
überhaupt nichts mit der Spaltung zwischen Idealismus und Realismus zu tun, noch
bestreitet sie die Möglichkeit der Erfahrbarkeit (und der Einheit) der objektiven Welt28.
Bestritten wird nur, daß Objekte „sich außerhalb jeder diskursiver Bedingung des
Auftauchens als Gegenstände konstituieren können.“ (Laclau/Mouffe 1991: 158). Der
ontologische Status jedweder Repräsentation ist nun aber stets derselbe, gleich ob von der
Repräsentation materieller Phänomene oder von der Repräsentation von immateriellen
Phänomenen die Rede ist und damit werden Prozesse der Repräsentation und somit
Prozesse der Artikulation repräsentierter Einheiten – Identitäten – vergleichbar.
Der nächste Schritt und der Ausgangspunkt für die folgende Überlegung ist, daß Objekte
relational zueinander in Diskursen artikuliert werden. Weil Objekte immer relational
konstituiert sind, sind sie nie völlig unabhängig von den spezifischen Beziehungen zu den
einzelnen Elementen, zu denen sie in Bezug stehen.
Repräsentation – die Konstitution von Objekten in Diskursen – ist fundamental durch zwei 28 Einen interessanten Versuch, die Annahme einer einheitlichen realen Welt mit einer konstruktivistischen
24
gegenläufige Logiken strukturiert: der Logik der Differenz einerseits und der Logik der
Äquivalenz andererseits. Einzelne Elemente der Diskurswelt bilden zunächst neutrale
Sequenzen von Differenzen, denen nicht notwendigerweise ein finalistischer Sinn zukommt.
Indem sie in Beziehung zueinander – äquivalent und different –gesetzt werden, bilden sich
spezifische Diskurse heraus, die aus verschieden langen Äquivalenzketten bestehen und
innerhalb derer die ‚Identität’ der Diskurselemente – Laclau nennt solche in einem Diskurs
artikulierten Elemente ‚Momente’ – modifiziert wird. Äquivalenz bedeutet eine Beziehung, in
der die Elemente nicht ident miteinander sind (und damit ununterscheidbar würden), sondern
äquivalent hinsichtlich einer Eigenschaft, die über die partikulare Bedeutung des Elements
hinausgeht. Die einzelnen Elemente verlieren gleichzeitig ihre jeweilige partikularen
Bedeutungen nie ganz und diese kontaminieren die durch die Äquivalenzoperation gebildete
Identität einer Kette von Elementen. Der Rest an Partikularität verhindert auch das beliebige
Ausdehnen der Äquivalenzkette. Anders gesagt, je länger die Kette, desto prekärer die
Äquivalenz und desto inhaltsloser der von der Kette gebildeten Identität, die selbst durch
eines oder mehrere Elemente der Kette repräsentiert wird. Dieses Symbol der Identität, zum
Beispiel eine Führungsgestalt in einer Aufstandsbewegung – man denke etwa an die
obskure Gestalt des Commandante Marcos, der zu einer Symbol für verschiedene
Widerstandsäußerungen in Chiapas geworden ist – symbolisiert sozusagen das
‚Gemeinsame‘ der Kette, die Äquivalenz. Diese Repräsentation der ganzen Kette durch
einzelne Elemente der Kette nennt Laclau Hegemonie: Ein Element der Kette symbolisiert
diese und ‚hegemonisiert’ sie gleichzeitig, weil sie alle Elemente der Kette auf den eigenen
dominanten partikularen Bedeutungsrest orientiert. Die hegemoniale Beziehung legt
allerdings nicht fest, welchen partikularen Bedeutungselemente den so konstituierten Diskurs
prägen.
Theorie der sozialen Wirklichkeit zu verbinden, findet sich in Searle (1995).
25
Abbildung 5: Die notwendige Beschränkung von Identität
Eine bestimmte politische Praxis kann als hegemonialer Versuch verstanden werden, differente Elemente (etwa partikulare
Forderungen an das politische System etc.) zu hegemonisieren, zu artikulieren. Lehnt man einen naiven Essentialismus ab,
so kann das universalistische Konzept/ Symbol (etwa Klasse), welche die Äquivalenzen ‚verkörpert‘ eben keine,
selbstevidente, selbstredende und metaphysische Kategorie sein, sondern Teil des Systems, m.a.W ein Element der so
konstruierten Äquivalenz zwischen verschiedenen Forderungen wird die Funktion übernehmen, die gesamte Kette (den
hegemonialen Block) zu repräsentieren. Das Symbolelement behält dabei immer einen Rest an partikularer Bedeutung,
welche der unbeschränkten Ausdehnung der Äquivalenz Grenzen setzt.
A == C == D || Nicht – C <S>.........Symbol
A, B, C, D.....partikulare Inhalte
== ............Äquivalenzen
|| .............Grenze der Äquivalenzkette
Die gegenläufigen Logiken von Differenz und Äquivalenz lassen dagegen eine vollkommene
Schließung der Identität nicht zu, sie bleibt notwendigerweise prekär. Laclau umschreibt
diese Unmöglichkeit der Schließung, die er in jedem Erfahrungssystem vorhanden sieht, mit
dem Begriff des Antagonismus. Jedes Erfahrungssystem kennt diesen grundsätzlichen
Mangel, der im Extremen das ‚irreale‘ Jenseits des Erfahrungssystems beschreibt und das
es begrenzt. Laclau, der zuweilen diesen Platz des Mangels mit Lacan als ‚das Reale‘
beschreibt, sieht in diesem Jenseits ein notwendiges Element des Ausschlusses, gegen das
Identität (eine Kette von Äquivalenzen) artikuliert wird. Konsequent zu Ende gedacht, wird
aus jedem der einzelnen Elemente eine durch den gleichen Mechanismus von
Differenz/Äquivalenz/Ausschluß konstruierte Identität. Selbst das Element des Ausschlusses,
das ja immer als Symbol des Ausschlusses bzw. des Antagonismus auftritt, kann als ein
derartiges komplexes Element begriffen werden, insofern es selber wieder als eine Kette von
Äquivalenzen/Differenzen auftritt. Ethnische Polarisierung in gespaltenen Gesellschaften
kann so als diskursive Konstellation zweier Kollektivkonstruktionen, die für die jeweils andere
B
<S>
26
als Symbolisierung des fundamentalen Antagonismus fungieren. Die gegenseitig
stabilisierende Wirkung einer solchen Konstellation ist evident. Gleichzeitig wird die
Definition über die das jeweilige Kollektiv konstituierende Äquivalenzbeziehung dadurch
zunehmend zu einer, die innerhalb der gegenseitigen Beziehung: durch Eigen- und
Fremdwahrnehmung produziert und reproduziert wird.
Abbildung 6: Die Wirkungsweise des (Symbol des) Antagonismus in Sozialen: Identität durch Ausschluß
X (<SA>)
A == == C
A, B, C..... partikulare Elemente
<S>.....Symbol für Totalität der Äquivalenzen
X .....antagonistisches (Ausschluß-)Element
<SA>....Symbol des Antagonismus
Gleich wie die Berechtigung des prinzipiell weitgehenden Erklärungsanspruchs der
Laclau’schen Politiktheorie bewertet wird29, gibt sie m.E. ein brauchbares Werkzeug in die
Hand, mit der politische Kollektivität, wenn auch nicht vollständig erklärt, so doch sinnvoll
analysiert werden kann. Die Theorie unterstreicht insbesondere die grundsätzliche Offenheit
von Identitätsbildungsprozessen und lenkt die Aufmerksamkeit auf den konstruktiven
Prozeß, der zu der Etablierung von Differenz wie auch von Äquivalenz führt. Mit der
Begriffstirade von Differenz, Äquivalenz und Antagonismus, der, wenn sie ergänzt wird durch
eine Multiperspektivität der Analyse (die Äquivalenzkette stellt sich verschieden dar, je
nachdem aus welchem Blickwinkel sie betrachtet wird) werden insbesondere Spannungen
innerhalb von dominanten Diskursen von Kollektivität sichtbar und weisen sie somit als
Ergebnisse historischer Konjunkturen aus – eine Perspektive, die dann verloren geht, wenn
die ethnische Identität selbst als weitgehend unproblematisch vorausgesetzt wird. In der 29 Für eine Kritik des Laclau’schen Ansatz aus Lacan’scher Sicht, also in gewisser Weise aus dem Blickwinkel der Theorietradition, der Laclau selbst angehört, siehe Liepowatz 1998. Abgesehen von dem unklaren Verhältnis zwischen Diskurswelt und materieller Welt, das freilich ein Grundproblem jedweder Sozialtheorie ist und auch bleiben wird, sieht Liepowatz ein grundsätzliches Problem in der Laclau’schen Unfähigkeit, Kriterien anzugeben, die bestimmen, wie es zu einer bestimmten Diskurskonstellation kommt. Das Theoriedefizit führe dazu, daß bei Laclau Dekonstruktion den Charakter eines Automatismus annimmt, der Beliebigkeit und die endlose Metonymisierung des Sozialen notwendigerweise zur Folge habe und folglich blind gegen strukturelle
B <S>
27
Literatur zu Ruanda hat sich zwar eingebürgert, auf die problematische Basis von ethnischer
Identität (als Hutu, Tutsi und Twa) hinzuweisen, gleichzeitig bleibt sie aber die Basis, von der
aus die ruandesische Gesellschaft analysiert wird. Besonders in einigen einflußreichen, in
den 60er Jahren recherchierten Studien zu sozialem und politischem Wandel in Ruanda
(Lemarchand 1970; Codere 1973) zeigt sich, daß ‚ethnische Identität’, trotz aller Betonung
der Diversität und Prekarität der ethnischen Bindungen in Ruanda, eine der Analyse
zugrunde gelegte Zentralkategorie bleibt. Lemarchand hat so etwa die Tendenz, den
ideologischen Kampf um den Begriff ‚Hutu’ in den Fünfziger Jahren in Richtung der
‚Bewußtwerdung’, also der Identifizierung der Bevölkerung mit der sozialen Kategorie ‚Hutu’,
deren Existenz jedenfalls nicht in Frage gestellt wird, zu interpretieren, während
Widersprüche durch sozialen Wandel (i.e.: Modernisierung) erklärt werden, welche die
‚traditionellen’ Kategorien untergraben und somit Widersprüche in den politischen Kampf um
Hegemonie hineintragen. In ähnlicher, aber viel deutlicherer Weise, macht sich Codere in
ihrer lebensgeschichtlichen Studie auf die Suche nach der ethnischen Identität und,
spezieller, nach dem ethnischen Antagonismus und bedauert, nur wenig dementsprechende
Bezüge in den Darstellungen ihrer Informanten gefunden zu haben (Codere 1973: 196).
Dagegen versucht diese Arbeit ethnische Identität als etwas grundsätzlich Prekäres zu
analysieren, die, um als politische Ressource zu taugen, artikuliert werden muß und zwar so,
daß mit ihr einerseits Differenzen, mithin ein fundamentaler Antagonismus (z.B. gegenüber
der herrschenden Klasse) ausgedrückt werden können. Andererseits muß sie so breit
formuliert bleiben, daß regionale, soziale, kulturelle u.a. Partikularismen die Identität nicht
sprengen können. Wie weiter unten ausgeführt werden wird, hat in Ruanda der ethnizistische
Diskurs paradoxerweise erst sehr spät Eingang in die politische Arena gefunden und zwar zu
einem Zeitpunkt, in der die ethnische Lesart der sozialen Stratifikation – wenn sie überhaupt
jemals zugetroffen hatte – zunehmend weniger die soziale Wirklichkeit beschreiben konnte.
Gleichzeitig wurde die Vergangenheit verstärkt unter ethnischen Gesichtspunkten
interpretiert, womit in einem typischen Akt von ‚retroactive grounding’ die Existenzbedingung
der ethnischen Identität, die Präsupposition ihrer Existenz vom ‚ethnischen Blick’ selbst
geschaffen wurden (Zizek 1994: 40ff).
1.2 Stratifikation
Stratifikation oder Schichtung als Begriffsvariante der deutschsprachigen
Nachkriegssoziologie – gehört zu einem der Grundprobleme der Sozialwissenschaften und
mit ihr der geschichtsträchtige Begriffsapparat, wie er von den Klassikern der Soziologie –
allen voran von Karl Marx und Max Weber ab der zweiten Hälfte des 19.Jh. entwickelt Faktoren bleibt (ebenda: 164f).
28
worden ist und zu der in Auseinandersetzung mit den zentralen Begriffe von Klasse, Kaste
und Stand entwickelt worden ist. Dieses theoriegeschichtliche Erbe soll hier nur angedeutet
werden, zumal auch die Diskussion über Stratifikation in Ruanda nicht unbeeinflußt von ihr
geblieben ist und wechselweise ‚Kaste’ und ‚Klasse’ als Kategorien für die beiden
gesellschaftlichen Großgruppen, Hutu und Tutsi vorgeschlagen worden sind, bevor die
Bezeichnung ‚ethnische’ Gruppe diese Kategorien sozialer Ungleichheit zumindest implizit –
soweit Tutsi und Hutu unter der Thematik ‚Ethnizität’ verhandelt werden – verdrängt hat.
Fundamental geht es bei Stratifikation um soziale Ungleichheit, also um Lebenschancen von
Individuen in einer Gesellschaft, die ihnen aufgrund ihrer Positionen in gesellschaftlichen
Beziehungsgefügen zukommen (Vgl. Hradil 1993: 147). In einem gewissen Sinn ist diese
Definition von sozialer Ungleichheit zirkulär, weil die Position eines Individuums im
gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht nur mit Bezug auf ein (natürlich) hegemoniales
Kategorienschema bzw. Klassifikationssystem zu bestimmen ist, das letztlich determiniert, in
welcher Rangordnung zueinander gesellschaftliche Positionen zu sehen sind. Daraus folgt
aber, daß ein bestimmtes Schichtungsgefüge, d.h. eine aus der systematischen Natur
sozialer Ungleichheit resultierenden Struktur nicht unabhängig von den Diskursen über diese
selbst ist, sondern in einem komplexen Interaktionsverhältnis mit jenen steht. Etwas
vereinfacht gesagt, gibt es soziale Stratifikation, gesellschaftliche Unter- und Überordnung
auf zweierlei Art und Weise: in der Realität und in den Köpfen (Vgl. Bourdieu 1992c: 20). Sie
gehört daher in gewisser Hinsicht – in dem Sinn, daß bei der Verteilungsstruktur von
gesellschaftlichen Gütern auch immer die soziale Identität von Individuen und Gruppen
verhandelt mit – zu der gleichen Klasse von Phänomenen, die im ersten Abschnitt dieses
theoretischen Einstiegs diskutiert worden sind – zu Kollektivität und sozialer Kategorie. Auf
die komplexe Beziehung zwischen Ungleichheitsstruktur und Diskursen über Ungleichheit,
die letztlich wieder auf die zentralen Problematiken sozialer Identität und sozialer Struktur
und deren reziprokes Verhältnis zurückweisen, haben in jüngerer Zeit zahlreiche Arbeiten
hingewiesen.30 Auf sie soll hier nicht näher eingegangen werden.
Stratifikation – als systematisierte soziale Ungleichheit – kann – folgt man dem oben
angeführten ‚Caveat’ – als das Ergebnis eines Klassifikationsprozesses gesehen werden, im
Zuge dessen Personengruppen bzw. soziale Kategorien nach ihrem zugeschriebenen Status
in eine Rangfolge gebracht werden, wobei die Art und Weise, wie Individuen klassifiziert
werden, Machtverhältnisse widerspiegelt (Shibutani/Kwan 1965: 29 und 36). Stratifikation
umfaßt daher weitaus mehr als nur die ungleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen,
30 Vgl. etwa die Aufsätze im Oxford Reader zu ‚Class’ (Joyce 1995), insbesondere die Einleitung von Joyce im selben Band (pp. 3-16). Vgl. auch Laclau/Mouffe 1991, deren zentraler Gegenstand die Konstruktion von Klasse als veritabler historischer Akteur im marxistischen Diskurs ist.
29
sondern schließt die Verteilung anderer Güter – wie politische Macht, kulturelle und
symbolische Güter – mit ein (Vgl. ebenda: 38). Mit Pierre Bourdieu, der die unterschiedlichen
Arten von Kapital auf einen griffigen begrifflichen Nenner gebracht hat, geht es bei der
Produktion und Reproduktion von gesellschaftlicher Ungleichheit um die Verteilungsstruktur
von drei primären Arten von Kapital: kulturellem, sozialem und ökonomischen Kapital
(Bourdieu 1992c). Wir werden sehen, daß alle drei Arten des Kapitals für die Entstehung
eines spezifischen Stratifikationsregimes in Ruanda wirksam waren und daß bestimmte
Interventionen entscheidend dafür waren, daß ein bestimmtes Deutungsschema, das
Stratifikation in Ruanda mit der (‚ethnischen’) Verteilung von politischen Ämtern korrelieren
ließ, eine hegemoniale Stellung erlangte und andere Kriterien sozialer Ungleichheit - wiewohl
diese an Bedeutung in einer breiten Palette von sozialen Situationen keineswegs verloren –
zunehmend verdrängte31.
Im Unterschied zu modernen westlichen Gesellschaften, wo unter ethnischer Stratifikation32
zumeist eine Situation verstanden wird, wo eine ethnische Minorität (gleich ob durch
Immigration entstanden oder durch Kolonisierung dezimiert und verdrängt) von der
Mainstream-Gesellschaft marginalisiert wird und der in der Folge eine Position im unteren
Bereich der gesellschaftlichen Rangordnung zugewiesen wird, ist Stratifikation – sowohl als
Prozeß als auch als dessen Ergebnis – in Ruanda viel offensichtlicher und intensiver mit der
Konstruktion von Ethnizität verbunden33, ohne daß die ethnische Zugehörigkeit, selbst am
Höhepunkt einer mehr oder weniger formalisierten ethnischen Stratifikation während der
belgischen Kolonialperiode, jemals ein hinreichendes Kriterium für die Bestimmung der
sozialen Position eines Individuums gewesen ist. Soziale Ungleichheit steht daher im
Zentrum der Analyse von Ethnogenese in Ruanda, wobei ‚soziale Identität’ – als der
Schnittpunkt verschiedener Identitätsräume und sozialer Kategorien der favorisierte
analytische Begriff ist, mit der sowohl Ethnizität als auch Stratifikation analysiert werden.
Diese Überlegung grundsätzlichen Charakters führt mich auch, soweit es die Textökonomie
erlaubt, bei der Bezeichnung der ruandesischen Großgruppen – Hutu, Tutsi und Twa –
zunächst kein spezifizierendes Attribut (entsprechend den auf sie angewandten Kategorien -
Ethnie, Klasse, Kaste) anzuführen. Es gibt gute Gründe dafür – allen voran die unklare 31 Ich spiele hier insbesondere an Ungleichheitsphänomenen im spätvorkolonialen und kolonialem Ruanda an, die obgleich sie einen großen Teil der Bevölkerung betraf, nie artikuliert wurde und auf die weiter unten näher eingegangen wird (Vgl. Kap. 4.2.1 Arm und Reich: Tagelöhner’). 32 Ethnische Stratifikation wird zudem als viel starrer als das auf idealiter auf kapitalistische Kriterien beruhende Schichtungsgefüge in modernen Gesellschaften empfunden und steht so in einem gewissen Gegensatz zu dem vom Konzept der ‚Modernisierung’ propagierten Ethos der zunehmenden Rationalisierung aller Lebensbereiche, also auch der Rationalisierung der Verteilung gesellschaftlicher Güter (Vgl. dazu Shibutani/Kwan 1965: 51). 33 Astrid Lentz hat mit Recht darauf verwiesen, daß soziale Ungleichheit im Zentrum ethnischer Prozesse steht und daß „[e]thnische Differenzierung und Ethnizität [...] vor dem Hintergrund der ungleichen Verteilung von
30
Bedeutung von Hutu, Tutsi und Twa in historischer Perspektive -, die ruandesischen Termini
zunächst einmal als Bezeichnungen sozialer Kategorien zu akzeptieren, denen eine direkte
Entsprechung im Deutschen (sowie im Englischen und Französischen) weitgehend fehlt.
Trotzdem, und um den spezifischen Charakter der Kategorien zu fassen, denen heute (am
Ende des 20.Jh.) tatsächlich ein ethnischer Charakter zukommt, möchte ich die darunter
gefaßten Gruppen als ethno-soziale Gruppen bezeichnen. Trotzdem wird im Text aus
pragmatischen Gründen gelegentlich von ‚Ethnien’ die Rede sein. Die (begründete)
Zurückhaltung gegenüber einer Fixierung der Bedeutung von Hutu, Tutsi und Twa soll aber
im ganzen Text immer mitgedacht werden.
In dem Maße, in dem ein Stratifikationsregime auf das Vorhandensein von systematischen
Verteilungsmechanismen beruht, rückt eine Institution in den Vordergrund, die bisher
vernachlässigt wurde und den Abschluß des Theoriekapitels bilden wird: der Staat und mit
ihm, Staatsbildung.
1.3 Staat
Während der Staat lange Zeit das unbestrittene Zentrum der Politikwissenschaft und ihrer
Vorläufer darstellte, fiel es der Disziplin und verwandte Sozialwissenschaften bis heute
schwer, sich bei der Theoretisierung von Staat und Staatlichkeit von der alles dominierenden
westlichen ideengeschichtlichen Tradition zu lösen, die mit den Namen Bodin, Hegel,
Hobbes, Locke, Montesquieu u.a. – kurz, mit den Klassikern der politischen Philosophie
verbunden ist bzw. von der Art von Staatstheorie, die auf den diversen nationalen
Staatslehren aufbaut, die mit der Entwicklung und Ausdifferenzierung des öffentlichen
Rechtes entstanden sind. Es gibt nun zwar heute einen spezialisierten Begriffs- und
Theorieapparat, um den modernen europäischen Staat und zu einem geringeren Teil, seine
Entwicklung, zu beschreiben und um daraus Kriterien für Staatlichkeit mit universalistischem
Anspruch zu gewinnen34, ein entsprechendes theoretisches Verständnis für andere Typen
des Staates bleibt aber weiterhin ein Desiderat, während zugleich empirische
Beschreibungen und Analysen auf eine unüberschaubare Menge angewachsen sind. Die
Mehrzahl der Analysen afrikanischer Staaten beschäftigt sich zudem selten mit mehr als den
postkolonialen Staat, oder seinem Vorläufer, dem kolonialen Staat – als ob letzterer gleich
einer Art Schöpfergott die Arena von Herrschaftsbeziehungen völlig neu strukturiert hätte
und jede Spur vorkolonialer Herrschaftsinstitutionen verwischt hätte. Es ist daher auch nicht
materiellen und symbolischen Ressourcen betrachtet werden [müssen]“ (Vgl. Lentz 1995: 13). 34 u.a. Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt (die prominenteste Definition); (äußere und innere) Souveränität, Monopol der Gewaltausübung, Autonomie gegenüber der Gesellschaft usw. oder funktionell als formalisierter Ausgleichs- und Regelungsmechanismus etc.; Vgl. den entsprechenden Eintrag zum Stichwort ‚Staat’ in Lexikon der Politik, Bd.7 sowie den Eintrag von Martin Jänicke zu ‚Staatstheorien der Gegenwart’ in Bd.1.
31
weiter verwunderlich, daß der Terminus ‚Staat’ in bezug auf Afrika überhaupt selten in den
Mund genommen wird, wenn von der vorkolonialer Periode die Rede ist, sondern von
‚Gesellschaften’ und ähnlichem und die Analyse von ‚Herrschaftsformen’ präkolonialer
Gesellschaften weitgehend Anthropologen überlassen wird.
In Ruanda ist die grundsätzliche Kontinuität des Staates und von Staatlichkeit im
Allgemeinen möglicherweise offensichtlicher als bei anderen afrikanischen Staaten, die
essentiell koloniale Neugründungen waren und in denen zahlreiche vorkoloniale
Gesellschaften inkorporiert wurden. Wie dem auch sei, stellt diese Arbeit die These auf, daß
Stratifikation und Ethnizität zutiefst mit Staatlichkeit verbunden ist, entweder in dem Sinn,
daß der Staat als institutionalisierter Verteilungs- und Umverteilungsmechanismus ein
wesentlicher Determinant von Schichtung ist und eine ähnliche Rolle in bezug auf Ethnizität
einnimmt, oder umgekehrt, daß Stratifizierungs- und Ethnizitätsprozesse jedenfalls in den
Institutionen des Staates ihre Spuren hinterlassen und sich ihnen einschreiben. Der Prozeß
der Staatsbildung wird hier daher als ein Schlüssel für das Verständnis von Stratifikation und
Ethnizität vorgeschlagen, wobei der Hauptaugenmerk auf die Verteilung von Macht und
Herrschaft gelegt wird, also z.B. darauf, in welchem Ausmaß Macht, oder spezifischer,
Herrschaftsausübung monopolisiert oder gestreut vorkommt usw. Die zugrundegelegte
Definition von Staat ist naturgemäß viel weiter gefaßt als die in der Literatur zu Staat
üblicherweise angewandten Definitionen. Als Staat soll in der Folge die Gesamtheit von auf
Dauer angelegten Institutionen verstanden werden, die für die Ausübung von Herrschaft,
verstanden als „systematische Wechselbeziehung von Befehlsgebung und
Gehorsamsleistung, in der eine Person, Gruppe oder Organisation anderen (zeitweilig)
Unterordnung aufzwingen und Folgebereitschaft erwarten kann,“ relevant sind und die von
den Herrschaftssubjekten als solche anerkannt werden (Claus Leggewie in Nohlen 1992-98,
Bd.1, Eintrag zu ‚Herrschaft’; Vgl. auch Harding 1994: 32f). Die Definition ist
zugegebenermaßen zirkulär und läßt insbesondere die Funktionen des Staates offen. Sie
erlaubt allerdings eine kontinuitätsorientierte Analyse von Staatlichkeit, der es zukommt, den
Wandel der Funktionen sowie den Wandel des Funktionierens des Staates – also
institutionellem Wandel im weitesten Sinn – aufzuzeigen und die nicht schon einen
bestimmten, von der Analyse moderner europäischer Staatlichkeit derivierten Begriff des
Staates und einen entsprechenden Katalog seiner Attribute und Funktionen voraussetzt.
1.4 Resümee
Die im ersten Abschnitt präsentierten theoretischen Grundlegungen der Analyse von
Staatsbildung, Stratifikation und Ethnizität in Ruanda sind tendenziell eher negativer Natur.
Aus der Diskussion gehen keine eindeutigen Begriffsdefinitionen hervor. Wenn eine solche
32
geleistet wird, sind sie offener und weiter als es gängige Definitionen derselben Begriffe
normalerweise sind. Die vorgebrachten Argumentationslinien sollen an dieser Stelle nicht
wiederholt werden. Festzuhalten und zu betonen bleibt aber der grundsätzlich offene
Charakter der analysierten Begriffe und Konzepte. Sie sind essentiell analytischer Natur, und
beruhen auf Definitionen (die notorisch selbstbezüglich sind). Sie und die von ihr
beschriebenen bzw. gemeinten Phänomene sollen daher nicht mit der sozialen Wirklichkeit
verwechselt werden. Das der Arbeit zugrundeliegende analytische Modell ist das des
mehrdimensional gedachten sozialen Raumes, dessen Strukturen grundsätzlich komplexer
(d.h. multideterminierter, zusammengesetzter) Natur sind und sich je nach Perspektive
anders darstellen. ‚Ethnizität’, ‚Stratifikation’, ‚Geschlecht’ repräsentieren in diesem Modell
Versuche, die Systematik der Verteilung der einzelnen Subjekte/ Subjektpositionen im
sozialen Raum als Strukturdeterminanten zu beschreiben. Strukturdeterminanten wie
Stratifikation oder Ethnizität und in gewisser Weise auch Herrschaftsbeziehungen an sich
wirken nie singulär, sondern sind immer eine von mehreren Determinanten, welche die
soziale (und politische) Position eines Individuums bestimmen. Sie wirken auch nicht
notwendigerweise gleichförmig, sondern abhängig davon, in welcher Position des sozialen
Raumes sich das Individuum befindet. Ihre Wirkungsweise ist essentiell differentiell: was für
den/die eine(n) ein fundamentaler Faktor ist, der seine/ihre soziale Identität und
Lebenschancen bestimmt, kann sich für den/die andere(n) als irrelevantes Kriterium
darstellen. Welche Strukturdeterminanten in einer Gesellschaft wirksam werden erweist sich
damit als abhängig sowohl von den materiellen Bedingungen deren Existenz als auch von
den sozialen Diskursen, die über sie geführt werden. Um beide Pole: der materiellen
Grundlage und dem materiellen Ausdruck von Ethnizität, Stratifikation und Herrschaft und
ihrer symbolischen Grundlage und Ausdruck soll es in dieser Arbeit gehen.
33
Kapitel II Diskurse über Stratifizierung und Ethnizität im vorkolonialen Ruanda
2.1 Zur Bedeutung der Geschichte
2.1.1 Gegenwart und Geschichte
Vieles, das in den folgenden, die vorkoloniale Geschichte zum Inhalt habenden Kapiteln
gesagt werden wird, ist meta-historischer Natur, gleichermaßen Geschichte der
Geschichtsschreibung über Ruanda wie Geschichte der betroffenen Gesellschaften selbst.
Dafür kann gleichzeitig wiederum kein privilegierter Standpunkt beansprucht werden, der
gegen die Konjunkturen und perspektivischen Verzerrungen der eigenen Zeit gefeit wäre.
‚Der Blick zurück’ : auf die Historiographie zur historischen Entwicklung Ruandas in und auf
diese selbst – ist freilich heute ein anderer, erfolgt er doch aus einer Perspektive des
‚Danach‘ – im Rahmen der bewußten oder unbewußten ‚Präsenz’ des Völkermordes in
Ruanda. Der ‚Blick zurück’ scheint daher in einem viel stärkeren Ausmaß, als dies im
Allgemeinen für jede Rekonstruktion der Vergangenheit gilt, die Suche nach den Wurzeln der
gegenwärtigen Krisen in der Vergangenheit, nach früheren Stationen der
‚Konfliktgeschichte‘, nach Antworten auf Fragen, die in der Gegenwart aufgeworfen werden,
zu beinhalten und dementsprechend stärker Gefahr zu laufen, in Anachronismen zu
verfallen. Die Gefahr ist zweifellos vorhanden und muß ernst genommen werden, um nicht in
eines der beiden Extreme zu verfallen: dem Zeichnen eines Bildes einer idyllischen
Vergangenheit, die erst durch das Hereinbrechen des Kolonialismus beendet worden ist,
einerseits35, oder dem Versuch eines Nachweis,der Konflikt sei so alt , wie der Kontakt der
beiden Gruppen, andererseits36.
2.1.2 Vergangenheit und Interpretation
Seit Beginn der europäischen, vorerst ‚geistigen‘ Landnahme des sagenumwobenen
zentralafrikanischem Raums, bildeten europäische Projektionen, angenommene (bzw.
angebotene) und ‚reale‘ gesellschaftliche Wirklichkeit, orale historische Erzählungen und
Mythen ein schier unentwirrbares und zudem leicht verfängliches diskursives Netz, das,
mehr als den Blick auf ‚die Wirklichkeit‘ zu verstellen, gewisse Diskurskonstellationen
begünstigte, und bestimmte Versionen der Wirklichkeit legitimer erscheinen ließ als andere.
Die Geschichte nicht nur Ruandas, sondern der Region als ganzer ist eine Geschichte von
Spekulationen über nähere und weitere Vergangenheit(en), Mißverständnisse,
Umdeutungen, Teleprojektionen gegenwärtiger Verhältnisse in die Vergangenheit usw. 35 J-P.Chrétien tendiert in seinen Arbeiten zur jüngeren Zeitgeschichte zu dieser Position. Für ein anderes Beispiel siehe Mullen 1995. 36 Das war die gängige Interpretation der Medien während des Ruandakonflikts 1994. Zu einer Kritik und
34
Diese Geschichte in Ansätzen nachzuzeichnen – ohne freilich Anspruch auf Vollständigkeit
erheben zu wollen, geschweige denn zu können – soll zum einen etwas mehr Licht auf jene
Prozesse werfen, welche entscheidend für die Herausbildung einer die Periode des 20.Jh.
spätestens seit dem 1. Weltkrieg kennzeichnenden rigiden Stratifizierung der Gesellschaft
nach ‚ethnischen’ Kriterien waren. Es soll also einen Versuch darstellen, den geschichtlichen
Prozeß einer schließlich (aber nicht ab origine) in ethnischen Bahnen verlaufenden
gesellschaftlichen Stratifikation und dem damit einhergehenden (bzw. vorausgegangenen)
Prozeß der asymmetrischen Strukturierung der Machtverhältnisse nachzuzeichnen. Zum
anderen soll dabei die metahistorische Ebene nicht aus den Augen verloren werden –
tatsächlich wird ihr ein breiter Raum eingeräumt werden. Nur dadurch kann sich ein
Verständnis der Konjunkturen in der Historiographie Ruandas, der Vorlieben und
(unbewußten) Voreingenommenheiten von Historikern bzw. der historische-Aussagen-
Machenden, ihren Annahmen, auf die sie ihre Aussagen aufbauten und des symbolischen
Inventars der heutigen ethnischen Identitäten ergeben. In ätiologischer Hinsicht haben die
Theorien über den Ursprung der heutigen ruandesischen Gesellschaft, die in verschiedenen
historiographischen Konjunkturperioden entwickelt wurden, in ihrer popularisierter Form,
mehr zu der heutigen Form des ethnischen Bewußtseins (also dem ‚Inhalt‘ der Identität),
zum ethnischen ‚Imaginaire‘ beigetragen, als der Prozeß der ethnische Stratifizierung selbst.
Die dem letzteren zugrundeliegenden Prozesse allgemeinerer und globaler Natur
(Expansion, Staatsverdichtung, Transformation diverser gesellschaftlicher Unter- und
Überordnungsverhältnisse in ‚staatsrechtliche‘ Ungleichheitsverhältnisse, Einbindung
Ruandas in die Weltwirtschaft und einhergehende Stratifikation bzw. gesellschaftliche
Differenzierung: ‚Modernisierung‘ überhaupt etc.) bildeten jedoch die entscheidenden
Katalysatoren für die Herausbildung der formalen Kategorie der ethnischen Identität
(gesondert von ihrem jeweiligen Inhalt); anders gesagt: sie bereiteten ‚ethnischer Identität‘
den notwendigen Raum.37
2.1.3 Begründungen
Die Ausführlichkeit, mit der die außerhalb der zum Gegenstand dieser Arbeit gemachten
Periode (ca. 1750 -1962) stehende ‚Vorgeschichte‘ thematisiert wird, ist keineswegs
selbstverständlich und bedarf einer gesonderten Rechtfertigung. Dies besonders deshalb,
weil sie dazu führt, daß außer dem zeitlichen scheinbar auch den theoretischen Rahmen, der
Analyse der Medienberichterstattung siehe Kraler 1999 passim 37 Der zugegebenermaßen selbst noch viele Problem aufwerfende Begriff des ‚Raumes‘ erlaubt es, Determinierung zu denken, ohne damit ein Konzept der Notwendigkeit (einer bestimmten Form kollektiver Identität) zu verbinden. Diese, wenn man will, ‚materielle‘ Seite der Herausbildung historischer Identitätsformen, oder anders gesagt, ihre historischen Entstehungsbedungen bleiben in der Politiktheorie Laclau/ Mouffes notorisch untertheoretisiert.
35
der Arbeit gesteckt wurde, durchbrochen wird. Diese doppelte Transgression ihrer Grenzen
hat zwei zusammenhängende Gründe. Erstens bildet die Thematisierung der ‚Vorgeschichte‘
Ruandas einen festen Bestandteil eines wohletablierten Diskurses, in der wissenschaftlichen
Literatur gleichermaßen wie im politischen Diskurs Ruandas wie auch im Diskurs westlicher
Medien. Ähnlich wie bei anderen, vergleichbaren Konflikten (Bosnien, Kosovo,
Tschetschenien...) wird noch eine weit zurückliegende Vergangenheit bemüht, um die
Radikalität des Konflikts und die Wogen der Emotionen zu erklären. Je unverständlicher die
Gegenwart des Konflikts, desto tiefer wird in seiner Geschichte, d.h. in der Geschichte des
betreffenden Staates oder der betroffenen Gruppen, gegraben. Der Rückgriff auf die
Vergangenheit hat freilich eine Berechtigung, die über den stets problematischen38
unmittelbaren Sinngewinn für die Gegenwart hinausgeht ( bzw. hinausgehen sollte), der
selbst wieder auf einem Verstehens- und Sinnbedarf in der Gegenwart beruht. Ich werde
darauf weiter unten zurückkommen. In gewisser Weise folge ich damit den von der Literatur
(und den Populärdiskursen über Ruanda ) vorgezeichneten Wegen.
Ein zweiter Grund – und da besteht die Berechtigung zeitlich weit zurückgreifenden
historischen Perspektive – ist der, daß gesellschaftliche Ordnung,39 Sozialstruktur,
Machtverhältnisse etc. ein gewisses Trägheitsmoment aufweisen: Gesellschaftliche Ordnung
entsteht nicht aus dem Nichts. Kein revolutionärer Moment der völligen Zerschlagung einer
alten und der Herstellung einer neuen Ordnung steht am Beginn einer Gesellschaft.
Strukturen verändern sich bisweilen drastisch, aber immer sie beziehen sich auf andere,
gleichbleibende. Dies trifft auch auf gesellschaftliche Veränderungen zu, selbst wenn sie
reale Brüche mit vorangegangenen zentralen Praktiken der betroffenen Gesellschaft
darstellen, mit längeren Zeiten relativer Anarchie oder Gewalt verbunden sind und von
Menschen als dramatischer Bruch mit der Vergangenheit – als Diskontinuität – erlebt
werden. Wird Gesellschaft als Ensemble relationaler (Struktur-) Elemente gefaßt, wird
deutlich, daß jeder ‚Umbruch‘ stets nie mehr als eine mehr oder weniger große
Verschiebungen einiger Elemente darstellt. Durch diese stets partiellen Verschiebungen
verändert sich der Charakter der Substrukturen genauso wie die (wie auch immer gedachte)
Gesamtstruktur, die gesellschaftliche Totalität.40 Die Verschiebungen mögen radikal
38 Das Anführen historischer Begründungen für eine gegenwärtige Situation hat immer eine zweite, die Proposition der Aussage überschreitende normative (oder anders, in den Termini der Sprechakttheorie gesagt: illokutionäre) Funktion. Die historischen Ursachen von x oder y erklären nicht nur, sie sollen erklären. 39 Damit meine ich das Ideal oder das Bild von Ordnung (an sich), und nicht den statischen Ordnungsbegriff des Funktionalismus der 50er und 60er Jahre. 40 Der Begriff ‚Gesellschaftliche Totalität‘ ist selbst ein Bild (nicht lediglich eine Abstraktion), dessen Inhalt nicht restlos geklärt werden kann, kein ‚Wesen‘ hat, sondern, wie es Laclau/ Mouffe (1991) eindrucksvoll formuliert haben, lediglich ein Ergebnis “der relativen und prekären Formen der Fixierung [ist], die die Errichtung einer bestimmten Ordnung mit sich bringt.” (Ebenda: 114). In ähnlicher Weise hat schon Georg Simmel den prekären Charakter des Sozialen betont, der sich aus der Unmöglichkeit einer letzten Fixierung
36
erscheinen, als ob mit jeder Wurzel der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung gebrochen
worden wäre. Damit wird der in einem fundamentalen Sinne stets metaphorische Charakter
der Rede von ‚Revolution‘, ‚Umbruch‘ und ähnlichen Parolen deutlich. Eine langfristige
Perspektive vermag die Kontinuitäten aufzuzeigen, die etwa die historischen Formen der
Monarchie in Ruanda zu den verschiedenen Zeitpunkten verbindet, ohne gewisse ihrer
Erscheinungsformen in die Vergangenheit zu projizieren oder ‚radikale Brüche‘ zu erfinden.
Das Gesagte gilt gleichermaßen für die koloniale und postkoloniale Periode.
Ein Anspruch der Arbeit besteht nun darin, daß eine solche Perspektive des Longue Durée
auf die ‚interethnischen Beziehungen’, die eine Rekonstruktion der strukturellen
Bedingungen (und Weichenstellungen) für das Bedeutendwerden von Ethnizität für die
Politik leistet, die Natur des inneren Zusammenhang dieser historischen ‚Stationen‘ erhellen
kann. Gewisse Anachronismen sind dabei allerdings kaum zu vermeiden. Eine Perspektive,
die nach Ethnizität, wenn auch in ihren historischen Wandlungen fragt, muß zwangsläufig in
Kauf nehmen, bei der Rekonstruktion und Bewertung der Beziehungen von einzelnen
Gruppen zueinander einen Gruppenbegriff bzw. Gruppengrenzen an historische
Bevölkerungen heranzutragen, die streng genommen in der fraglichen Periode so gar nicht
existierten.
Die gegenwärtige Literatur zu Ruanda kann selbst als eine Art Spiegel verstanden werden:
ein Spiegel der Dominanz der funktionalistischen Ethnographie in den Vierziger, Fünfziger
und Sechziger Jahren; der ‚Durchschlagskraft‘ und dem Erfolg der mit der Hamitentheorie
verbundenen rassistischen Denkungsart; der ruandesischen Revolution und ihrer
Auswirkungen; der Ereignisse in Burundi (namentlich der Genozid von 1972) und des
ruandesischen Völkermords von 1994. Die verständliche Tendenz in der Literatur – heute
mehr denn je – ist die Aneignung einer konstruktivistischen Perspektive und die Erhebung
von Ethnizität zum ‚Leitkonzept‘ der Forschung.
Häufig wird in einer Art Schadenfreude die Konzeptualisierung von Hutu und Tutsi als
ethnische Gruppen mit gängigen Theorien von Ethnizität gegengelesen und ‚bewiesen‘, daß
die Kategorien ‚Hutu‘ und ‚Tutsi‘ den meisten Definitionen derselben widersprechen. Oder es
wird auf die vielfach vorhandenen Durchbrechungen der ethnischen Kategorien (durch
Wechsel von einer Gruppe zur anderen; vgl. zb. Vidal 1995) oder auf die generelle
Vergleichbarkeit der Lebenssituation, des Lebensstils und Lebenschancen verwiesen,
welche ‚einfache‘ Hutu und Tutsi vor der Kolonialisierung und in deren Frühzeiteinten
(C.Newbury 1998). Es wird also entweder moniert, daß sich die ethnischen Kategorien (Erkenntnis) und Relationalität der die Gesellschaft konstituierenden Elemente ergibt (Simmel 1992 [1908]:
37
keineswegs mit sozioökonomischen bzw. politischen Positionen decken oder es wird auf
gesellschaftliche und politische Institutionen und Praktiken hingewiesen (‚Joking
Relationship’ zwischen Personen unterschiedlicher ‚ethnischer’ Herkunft, die Konstruktion
einer vorkolonialen ruandesischen Identität durch Kriege gegen äußere Feinde), die ein
grundsätzlich harmonisches Verhältnis zwischen den beiden Gruppen in vorkolonialer Zeit
suggerieren wollen (Vgl. Goyvaerts 2000b: 158f; Muller 1995: passim). Das führt mitunter –
bei den beispielhaft zitierten Autoren zumindest in der Perspektivierung – zu einer
tendenziellen Überbewertung der kolonialen Situation mit der für sie typischen rassistischen
Überblendung und Verstärkung sozialstrukturell angelegter und politischer Konfliktlinien.
Diese Überbewertung der in der Kolonialperiode induzierten Transformationen der
ruandesischen Gesellschaft ist insofern verständlich, als sie gegen eine populäre ‚Histoire
Ressentiment‘ (Vidal 1995) der beiden Ethnien in der Historiographie zu Ruanda und
Burundi (und in einem weniger starken Ausmaß in der Literatur zu Ankole, Bunyoro, Toro
und zu anderen, stark stratifizierten Königtümern im Großen Seengebiet) gerichtet ist, die
einerseits die Analysen westlicher Medien durchzieht, andererseits zum dominanten
Geschichtsbild in Burundi und Ruanda selbst geworden ist.41 Von letzterem leiten sich
westliche Populärdarstellungen und das Medienbild ab, die von einem Gutteil der
Gebildeten, aber auch von europäischen ‚Expats’ – Experten, Missionare, Diplomaten –
getragen wird. Diese ‚Histoire Ressentiment‘ naturalisiert den ethnischen Antagonismus,
indem sie seine Entstehung in die Phase der (als zeitlich später postulierten ‚Ankunft’ der
’Tutsi’ - der sogenanten Pastoralisten42 - datiert und ihn somit als Resultat der Einwanderung
‚fremder‘ Gruppen, als Ergebnis des Zusammentreffens einer politisch und militärisch
weniger starken Bevölkerung mit fremden, martialischen Einwanderern sieht.
Häufiger erzeugen solche kursorischen historischen Momentaufnahmen, welche die
Variabilität von Ethnizität und die historische Instituierung des ethnischen
42ff). 41 und dazu gemacht wurde. Die auf Analogien mit der Entwicklung Frankreichs beruhende Völkerwanderungs-,Besiedelungs-,Invasions- und Entwicklungsgeschichte Burundis nach Msgr. J.Gorju (1938, ‚Face au royaume hamite du Ruanda, le royaume frère de l’Urundi‘), der darin seinerseits der Geschichte Ruandas. A. Pagès (1933, ‚Au Ruanda. Un royaume hamite au centre de l’Afrique) nachgeeifert hatte, fand über Unterrichtsmaterialen und Artikeln auf Kirundi in diversen Missionszeitschriften einen breiten Eingang sowohl ins intellektuelle Milieu als auch unter die Masse der Schulabgänger. Das darin transportierte Geschichtsbild erfuhr dadurch eine merkliche Verbreitung in der Bevölkerung. Die Betonung der Konfliktualität, die in der Perspektive auf Invasion und Eroberung schon angelegt war, wurde schließlich durch die turbulenten politischen Ereignisse (und ihre im politischen Diskurs nahegelegte Interpretation) akzentuiert. Der entscheidende Punkt ist freilich, daß die Bildungseliten in Burundi in Ermangelung neuerer Unterrichtsmaterialen und einer dementsprechenden Lehrerausbildung bis weit in die Unabhängigkeitsperiode, bisweilen – sofern ein Unterricht überhaupt stattfinden konnte – bis in die Gegenwart hinein mit aus den Dreißiger Jahren stammenden Geschichtsinterpretation aufgewachsen sind, die im merklichen Kontrast zu den seit den 60er Jahren differenzierten geschichtswissenschaftlichen Diskursen über Burundi (und Ruanda) steht und die in ihrer Breitenwirkung, gerade auch unter den politischen Eliten von Burundi und Ruanda selbst, geschichtsmächtiger ist als akademische Diskurse (Vgl. Chrétien 1997b: 16; Taylor 1999: 55). 42 Zu den Herkunfts- und Wanderungsdebatten vgl. unten Seite 51ff
38
Kollektivitätskonstrukts bestenfalls streifen, aber für die Bewältigung aktueller Krisen gedacht
sind, ein Gefühl von Verwirrung und Ratlosigkeit, weil der Nachweis der Forcierung der
ethnischen Strukturierung (und Stratifikation) einer Gesellschaft und des damit einher
gehenden Geschichts- und Weltbildes diese Strukturierung selbst nicht aufheben und
delegitimieren kann. Dem Rezipienten wird zwar vielfach die Geschichte Ruandas als eine
Entwicklungsgeschichte erzählt, die mit einer kaum oder nur beschränkt ethnisch geprägten
Gesellschaft beginnt und die bei der Schilderung der rigid nach ethnischen Kriterien
stratifizierten Gesellschaft endet, ohne daß jedoch diesen Stratifizierungsprozeß und die
darauf aufbauende Natur der politischen Kämpfe näher theoretisiert wird (zb. Prunier 1995
und Taylor 1999). Dadurch gehen die qualitativen Sprünge im Prozeß der Ethnogenese43
und ihr je unterschiedlicher Kontext ebenso verloren wie die Erkenntnis der
Voraussetzungen der Herausbildung ethnischer Kollektivphantasien – die sich weder auf die
geistesgeschichtliche Kraft der kolonialen Ideologie beschränken, noch in den
zugegebenermaßenen einschneidenden Reformen der belgischen Kolonialmacht in den
Dreißiger Jahren erschöpfen kann.
Damit einher geht die nahezu universelle Behandlung der Ethnogenese als mit dem Ende
der kolonialen Periode bzw. der Hutu-Revolution (1959-61) abgeschlossen. Alles weitere
erscheint dann notwendigerweise als Aufbrechen jenes Antagonismus zwischen Hutu und
Tutsi, der in der kolonialen Periode gereift war. Die stillschweigende theoretische Sistierung
der Ethnogenese erweist sich damit als konzeptuell nicht sehr verschieden vom Bild der
‚atavistischen Stammeskämpfe‘ – dem Ausbrechen ‚uralter Feindschaften‘, das vielen
westlichen medialen Betrachtungsweisen zugrunde liegt. Aus dieser Nicht- oder
Untertheoretisierung der Ethnogenese in der postkolonialen Periode ergibt sich eine
kumulationsmodellhafte Begründung für den aktuellen ethnischen Antagonismus; eine
Begründung, der nur mehr metaphorisch (‚aufgestauter Haß‘...) oder in der Verschiebung der
Perspektive auf ‚Extremisten‘ beizukommen ist. Im anderen Fall bleiben die Perioden
zwischen der Hutu-Revolution bzw. den Massakern der und der Vertreibung weiterer
Zehntausender Tutsi 1964/65, den ‚ethnischen Unruhen‘ 1973 und dem Krisenjahr 1990
schlichtweg ein schwarzes Loch. Die Verbindung, die eine solche Position zwischen den
Ereignissen herstellt, geben sich – gewollt oder ungewollt – als selbstevident und daher als
quasi-natürliche aus. Ein Verständnis ethnischer Prozesse wird dadurch nicht erzielt,
vielmehr suggeriert.
43 Der Begriff Ethnogenese, so wie ich ihn verwende, bezeichnet einen Werdegang, nicht einen Entstehungsprozeß mit einem benennbarem (und/oder zwingendem) Anfang. Er kann gefaßt werden als einen Prozeß, der nicht notwendigerweise einen Anfang (im Sinne der Schöfpungsgeschichte) hat, vor dem nichts (keine ethnische Identität: nur Mensch) war.
39
2..2 Kein unbeschriebenes Blatt: Die Entdeckung Ruandas
2.2.1 Der zeitgenössische Hintergrund
Zunächst lag Ruanda an der Peripherie einer Region, die das Objekt einer
phantasmatischen europäischen Begierde geworden war und in der man deren als
wichtigstes Element, die Quellen des Nils vermutete. In der ‚Frühzeit‘ dieser ‚geistigen‘
Aneignung waren es zumeist ruandafremde Informanten, die kaum in direkten Kontakt mit
Ruandesen getreten waren, geschweige denn das Gebiet betreten hatten (z.B. arabische
Händler oder andere Mittelsmänner), und oft, im Fall benachbarter Herrschaftsverbände
nicht unbedingt Interesse daran hatten, detaillierte und vor allem richtige Informationen an
europäische Reisenden weiterzuleiten (Honke 1990b: 84ff). Im Zuge der ‚Kolonisierung‘
Ruandas durch die Deutschen kam es jedoch zu einem intensiven ‚Dialog‘ zwischen
bestimmten einheimischen Gruppen und europäischen Forschern, Administratoren-Soldaten
und Missionaren. Ein Dialog, der wohl das Bild Ruandas – sowohl bezüglich seiner
Vergangenheit als auch seiner Gegenwart – entscheidend geformt und dennoch nicht
einfach ‚erfunden‘ hat.
Im Mittelpunkt dieses Bildes stand freilich das Königtum und die damit verbundene
gesellschaftliche Ordnung. Sie bot sich dem europäischen Beobachter als scheinbar klare
hierarchische Gliederung der Gesellschaft in drei Klassen/ Kasten/ Stände/ ‚Rassen‘/ Ethnien
dar (so die verschiedenen Bezeichnungen für das selbe Phänomen, die hier in
anachronistischer Weise aneinandergereiht sind): die herrschenden ‚aristokratischen‘und
hauptsächlich viehzüchtenden Tutsi, von denen man vermutete, daß sie als letzte in das
Große Seengebiet gekommen waren und nach und nach die Herrschaft an sich gerissen
hätten; die ihnen untergeordneten und hauptsächlich ackerbauernden44 Hutu; und zuletzt,
die allen untergeordnete, gesellschaftlich geächtete, und nur zum Teil integrierte Gruppe der
Twa, in der man die eigentlichen Ureinwohner Ruandas vermutete und die sich als Jäger
und Sammler, Töpfer, Hersteller von Eisen und als vielfältig eingesetzte ‚Getreue‘ des
Königs an dessen Hof verdingten45 (Maquet46 1961: 10; d’Hertefelt 1962: 16f). Diese Art
44 Unter Ackerbau verstehe ich hier und im folgenden (ähnlich wie die einschlägige Literatur zum großen Seengebiet) im weiten Sinn als Landwirtschaft im Gegensatz zu Viehwirtschaft, also die Bearbeitung von Feldern gleichermaßen wie die großflächige Nutzung von Bananenbäumen etc. 45 Im Gegensatz zu einer vielerorts praktizierten (z.B. Maquet 1961: 10, d’Hertefelt 1962: 17ff, Harroy 1984: 24f u.a.) naturalisierenden Perspektive wird bei genauerer Betrachtung deutlich, daß es sich bei den Twa um kein – der Implikation nach – ‚Urvolk‘ handelt, von dem nur ein Teil in die ruandesische Herrschaft- und Gesellschaftsstruktur integriert war, während ein anderer Teil in ‚selbstgewählter Autonomie‘ ihrem ‚traditionellen‘ Lebensunterterhalt (Jagd, Fischerei, Sammlerei) nachging. Vielmehr erweist sich die Gruppe als nachhaltig gesellschaftlich (re-)produziert. Den Twa war der Zugang zu Boden (Usufrukt gleichermaßen wie Besitz) verwehrt und sie lebten mit Erlaubnis der Besitzer auf den Gehöften von Hutu oder Tutsi, denen sie zu allerlei Dienste verpflichtet waren. (Kagabo/ Mudandagizi 1974: passim) Ihre ökonomische Nischenstellung als handwerkliche ‚Spezialisten‘, Jäger und Sammler ist somit ein typischer Fall erzwungener Spezialisierung, die
40
von gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung evozierte bei europäischen Reisenden, später
auch anderen (Missionaren, Kolonialadministratoren etc.) immer wieder Analogien zu
Formen sozialer Organisation der europäischen Entwicklungsgeschichte. Diese waren
Ausdruck der Faszination, die von den zwischen ihnen gesehenen Ähnlichkeiten ausgelöst
wurde: die ‚Ähnlichkeit‘ des sakralen Königtums zum ägyptischen Pharaonismus, wenn man
an die religiöse Überhöhung des Königs dachte, oder zum europäischen Mittelalter
(Feudalismus), wenn man von der hierarchischen mit gewissen Tätigkeiten und politischen
Funktionen verbundenen Ordnung der drei gesellschaftlichen Gruppen sprach. Letztere
Charakterisierung erwies sich als besonders langlebig und dominierte die Diskussion speziell
unter Anthropologen bis hinein in die Gegenwart47. Zugleich waren die so gemachten
durch soziale Stigmatisierung der ganzen Gruppe (durch rassistische Stereotypen) oder ihrer Tätigkeiten und Lebensweise (das auf der Jagd gewonnene Fleisch zu essen galt für die meisten als verabscheuungswürdig (d’Hertefelt 1962:27), ebenso der Verzehr von Schaffleisch (Kagabo/ Mudandagizi 1974: 77)) abgestützt wurde. Ganz im Gegensatz dazu, den marginalisierten Rest einer urtümlichen (und ursprünglichen) Jäger- und Sammlergesellschaft zu sein, bildeten die Twa in Ruanda und Burundi – und nicht nur sie, sondern ebenso die sogenannten Pygmäen in der Ituri Region des Kongo so etwas wie eine regionale Klasse, die sich durch die spezifische, nämlich unterordnende Integration in eine gesellschaftliche Struktur auszeichnete und durch diese als gesellschaftliche Kategorie wesentlich erst hervorgebracht wurde. 46 Es ist bezeichnend, daß die klassischen Eigenschaftszuschreibungen für die drei Großgruppen aus den fünfziger und sechziger Jahren stammen. Das Werk des Soziologen/ Anthropologen Jacques Jêrome Maquet (1954, in leicht veränderter englischer Fassung 1961), dessen Typologisierung der drei Gruppen hier als Grundlage dient, ist ein beredtes Beispiel für die komplexe Herausbildung eines Diskurses über Ruanda als Projektion eines fragwürdigen Bildes der Gegenwart in die Vergangenheit und umgekehrt. Anfang der fünfziger Jahren unter ausschließlicher Einbeziehung von ‚Herrschaftswissen‘ über Ruanda geschrieben und recherchiert, versuchte es ein möglichst widerspruchsloses und konsistentes Bild der Gesellschaft zu zeichnen. Es folgte darin dem vorherrschenden funktionalistischem Paradigma der Zeit und legte dementsprechend besonderes Augenmerk auf die ‚Kohäsion’ einer als fundamental ungleich erkannten Gesellschaft . Das Resultat war naturgemäß ein extrem verzerrtes (nämlich homogenisiertes) und entsprach dem, wie zum einen Maquet und zum anderen dessen 300 Tutsi Informanten von überwiegend hoher sozialer Stellung (Maquet 1961: 2-3) Ruanda gerne sahen, was auch die pseudoquantitative Methodologie der Studie nicht verhindern konnte. Demgegenüber erweisen sich die Aussagen einiger früher ‚Beobachter‘ (etwa jene der Offiziere der dt. Militäradministration) als weitaus komplexer, weil ihren Berichten (über bestimmte Vorfälle u.a.) sehr oft ein solcher systematisierende (und homogenisierende) Zugang fehlt. Der ‚rassistische Blick‘ scheint nur in bestimmten Kontexten wirksam geworden zu sein – etwa bei der Beschreibung der ‚griechisch‘ oder ‚römisch‘ anmutenden Gestalt der Tutsi am Königshof, oder im Zusammenhang mit den mit der Aufnahme diverser mythologischer Erzählungen verbundenen Spekulationen über den ‚wahren‘ Grund der Gründungsmythen, in deren Zentrum freilich die distinkte Herkunft der Tutsi stand. (Vgl. Chrétien 1999 passim; sowie Servaes 1990, besonders pp.102-105) 47 Die Apostrophierung von Königtümern im Zwischenseengebieten als feudal knüpft an die vielfältigen Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb der monarchischen Eliten sowie zwischen den Eliten und anderen Bevölkerungsteilen an, die an die Lehensbeziehungen zwischen Herren und Vassallen im europäischen Mittelalter gemahnen. Der Vergleich ist daher in gewisser Weise verständlich und berechtigt. Zugleich zeichnet sich der europäische Feudalismus im weiteren Sinn (einer Reihe von historischen Transformationen in Europa zwischen dem 9. und dem 13.Jh und als historisch spezifisches Herrschaftsmodell) durch ein Rearrangement von Machtbeziehungen aus, die in der Folge des Zusammenbruchs großer zentralisierter Reiche stattgefunden haben. Im Verlauf des Desintegrationsprozesses der großen Reiche konnte sich der König als mächtigster einer Gruppe von ‚Herren‘ behaupten. Dessen Erstarkung führte mittelfristig zu einer Rezentralisierung der dezentralisierten Ordnung. In diesem Sinn handelt es sich um einen historisch spezifischen Begriff für eine spezifische Entwicklung in Europa, die als Periodisierung einer spezifischen und geographischen Epoche grundsätzlich nicht auf andere Gesellschaften übertragen werden kann. In Ruanda und in anderen Königtümern des Großen Seengebietes stellte die Schaffung von Klientelbeziehungen zwischen verschiedenen Gruppen (bzw. ihren Eliten) eines der wichtigsten Modi der Staatsbildung dar. Die Aufmerksamkeit von Anthropologen richtete sich dabei lange Zeit auf postulierte Kausalitätsbeziehugen zwischen den Formen und dem Ausmaß von Abhängigkeitsbeziehungen und politischen Institutionen bzw. den Funktionen von Klientelbeziehungen für das politisches System. In den Sechziger Jahren fand der Terminus,
41
Analogien zu vergangenen europäischen Vorbildern Ausdruck eines Entwicklungsdenkens,
das diese in Afrika vorgefunden ‚früheren’ Stufen der Entwicklung – mit nostalgischem Blick
– als Europa unwiederbringlich vergangen kategorisierte.
Erhöht wurde das Interesse an Ruanda noch durch eine postulierte ‚hamitische‘ Herkunft der
‚aristokratischen‘ Tutsi. Das Postulat der hamitischen Herkunft der Tutsi stellt dabei eine
wirkungsvolle Transformation einer älteren Version der Hamitentheorie im 19.Jh48 dar und
legte eine besondere (‚rassische‘) Nähe eben dieser 'Herrscherschicht' zu den Europäern
qua Zugehörigkeit zur ‚kaukasischen Rasse‘ nahe. Die rassistische Lesart des
Vorgefundenen war freilich wenig überraschend. Die Kategorie der ‚Rasse‘ gehörte zu den
gemeinhin akzeptierten wissenschaftlichen Grundbegriffen des ausgehenden 19. und der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in den Naturwissenschaften gleichermaßen wie in den
Geisteswissenschaften. Nicht nur war ‚Rasse‘ als Begriff akzeptiert oder wurde
stillschweigend vorausgesetzt. Die Kategorie diente als Brücke, um soziale Begebenheiten
zu naturalisieren. Phänotypische Merkmale wurden mit charakterlichen und psychischen
Eigenschaften in Verbindung gesetzt (Vgl. Gilman 1994, Kap.1), die selbst wieder als
persistente und wenig veränderliche Eigenschaften gedacht wurden. So beschränkten sich
die Analogien, die man in bezug auf Ruanda machte, nicht auf institutionelle Arrangements
reformuliert durch eine Gruppe von französischen Marxisten (Roger Botte, Claudine Vidal, Georges Balandier u.a.), erneut Eingang in die Diskussion und zwar als Charakterisierung einer Produktionsweise, deren spezifisches Arrangement die ideologische und politische Kontrolle einer Klasse von ‚Feudalherren‘ über Land und Arbeitskraft ist. In diesem Sinn verwendet auch diese Arbeit gelegentlich Begriffe aus dem Kontext der Feudalismusdisskussion (Vgl. Linden 1977: vii-x, Botte et al. 1969 passim). 48 Der Mythos geht auf die Erwähnung des Fluchs Noahs gegen Ham, seinen jüngsten Sohn, im AT Genesis 5, 22-29, zurück. Ham hatte die Blöße seines Vaters gesehen, ohne sie zu bedecken. Seine beiden anderen Brüder, Sem und Japhet, eilten dagegen herbei, um die Nacktheit ihres Vaters zu verdecken. Ham (der Vater Canaans, wie es in der Bibel heißt) und seine Nachkommen wurden daraufhin von Noah verflucht. Erst später, seit dem babylonischen Talmud (ungefähr 5.Jh n.Chr.), wurden die Söhne Hams generell mit Schwarzen und mit bestimmten (negativ bewerteten) physiognomischen und charakterlichen Eigenschaften verbunden. Während des Mittelalters, fand der Mythos Eingang in das christliche Denken, und verbreitete sich mit der Ausweitung der Sklaverei im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Spätestens ab dem 16. Jh nahm der Hamitenmythos einen festen Platz im Diskurs über Afrikaner ein. In der Aufklärung kam er jedoch in der Debatte um die Einheit der Menschheit (der Hamitenmythos implizierte, daß seine Nachkommen jedenfalls als 'Brüder' im Menschengeschlecht zu werten seien) unter Druck. Im Zuge der auf den Ägyptenfeldzug Napoleons folgenden Debatten um die Herkunft und die Natur der alten Ägypter kam es (über eine spitzfindige Differenzierung zwischen den Söhnen Hams) zu einer Reformulierung, in deren Konsequenz die Ägypter als gleichzeitig der 'kaukasischen' Rasse angehörig und als Söhne Hams konzeptualisiert werden konnten. Die damals noch junge historische Sprachwissenschaft schien diese, durch anthropologische 'Fakten' untermauerten Vermutungen mit der Erkenntnis der Verwandtschaft des Koptischen und diverser anderer nordafrikanischer Sprachen mit dem Arabischen und Hebräischen zu bestätigen. Der Afrikareisende John Hanning Speke (in seinem 'Journal of the Discovery of the Source of the Nile', Edinburgh 1863) bahnte den Weg für künftige Interpretationen der Königreiche des Großen Seengebiets, als er - von Buganda sprechend – die seines Erachtens bemerkenswerten zivilisatorischen ‚Leistungen‘ Bugandas hamitischen Galla Pastoralististen attribuierte, die irgendwann in grauer Vorzeit vom Norden her eingewandert sein sollen. Diese Hamiten hätten, dank ihrer Zugehörigkeit zur überlegenen Rasse der Kaukasier, als Träger und Überbringer von Kultur und Zivilisation in Afrika gewirkt, während zugleich ihre Mittlerstellung zum Europäer durch elaborierte Klassifizierung und Hierarchisierung eben dieser ‚Rasse' festgeschrieben wurde. Zur linguistischen und rassischen Identität der Hamiten trat damit auch noch eine weitere ‚kulturellen‘ Charakters, nämlich der Pastoralismus. Vom 'echten Neger' nahm man dagegen an, daß er seinen 'natürlichen' Broterwerb durch Landwirtschaft nachgehe. (nach Sanders 1969: 521-532)
42
vergangener ‚heroischer‘ Epochen, sondern wurde den Körpern der als hamitisch
apostrophierten und hypostasierten ‚aristokratischen‘ Pastoralisten eingeschrieben: Ne voit-on pas des crânes caucasiques, des profils admirablement grecs, à côté de figures
sémites et même juives très prononcées, et enfin de vraies beautés à figure rouge-dorée au
milieu du Rwanda et de l’Urundi? (van der Burgt49, zitiert nach Mworoha 1977: 25)
Oder Gustav Adolf Graf von Götzen, den langjährigen ruandesischen Potentaten Rwabugiri
(gest.1895) beschreibend: Luabugiri (sic) und seine nächsten Verwandten sind sicherlich den größten Menschen
zuzuzählen, die es unter der Sonne gibt, und würden, nach Europa gebracht,
außerordentliches Aufsehen erregen (..) Luabugiris Gesichtszüge waren von eigentümlicher
Schönheit. Um die Stirn trug er einen Kranz von grünen Blättern, und sein sinnlich blickendes
Auge sowie ein grausamer, um den Mund spielender Zug erinnerte unwillkürlich an die Köpfe
gewisser römischer Caesaren (Von Götzen50 zitiert nach Bindseil 1992: 61).
Eine ähnliche Vorstellung wie von den charakterlichen und psychischen Eigenschaften einer
Rasse hatte man von ihren Kulturtechniken, verstanden als materieller Ausfluß von Kultur,
die als ‚wesenhafte‘ Eigenschaften den verschiedenen Gruppen anhaftete, gleich wie ihre
rassische Zugehörigkeit, ihre psychische Neigungen und ihre Charaktereigenschaften. Der
Sprachwissenschaft kam dabei in der ‚Völkerkunde‘ Afrikas eine herausragende Stellung zu.
Ähnlich wie andere Wissenschaften, die Medizin, die Biologie u.a. ihre respektiven
Gegenstände auffaßten, wurde Sprache als essentielles Gut, als quasi biologisches Merkmal
einer Gruppe verstanden, Sprache und Sprecher-in-der-Gruppe: das Volk daher als
deckungsgleich postuliert. Angewandt auf der nächst höheren Ebene bedeutete dieses
Prinzip, daß man über die Klassifizierung und historischen Spekulation über die Natur und
Genese der Sprachgruppen zu Aussagen über die Völkergruppen kommen könne. So,
indem sie Sprachgruppen identifizierte und klassifizierte und über ihre ‚Geschichte‘
spekulierte, avancierte die Sprachwissenschaft zu einer Leitwissenschaft der Rassenkunde
des späten 19.Jh. Die afrikanistische Sprachwissenschaft folgte dabei dem Vorbild der
Indogermanistik, und das historische Modell, auf dem immer wieder rekurriert wurde und
mitunter ähnlichen Entwürfen in der Afrikanistik Pate stand, war jenes der germanischen
Völkerwanderung. Die Erforschung der Sprachen Afrikas stellte somit gleichzeitig eine
Suche nach den Spuren von Völkerwanderungen51 dar – gemäß ihrem europäischen Vorbild
49 Père van der Burgt (o.J): Dictionnaire francais-Kirundi, p.LXXV 50 Gustav Adolf Graf von Götzen (1895): Durch Afrika von Ost nach West. Resultate und Begebenheiten einer Reise von der Deutsch-Ostafrikanischen Küste bis zur Kongomündung 1893/94 Berlin: 188 51 Der - wenn auch – ehrenvolle Verweis auf den lediglich ‚linguistisch’ zu verstehenden Charakter von Sprachbezeichnungen (so etwa die Polemik bei Goyvaerts 2000a) geht an der Geschichte von Begriffen wie Niloten, Bantu etc. vorbei, die stets auch Gruppen von Menschen meinten.
43
– sowie das Aufspüren der ‚Herkunft‘ von Kulturtechniken und sozialen Organisationsweisen,
deren lokale Genese man nicht für möglich hielt und für die man daher fremde Einflüsse
geltend machte. Das Migrations- und damit einhergehende kulturelle Diffusionsschema, das
vor dem Hintergrund einer hierarchisch gedachten Rassensystematik zu sehen ist, bildete
den Rahmen, in dem die vorkolonialen Staaten und Gesellschaften des Großen
Seengebietes erfahren wurden.
2.2.2.Fixierungen
Mit Beginn der kolonialen Landnahme begann schrittweise die systematische Aufnahme
historischer, sozialer und kultureller Daten durch Spezialisten (v.a. Ethnologen und
Geographen) und informierte Amateurethnologen/-historiker (allen voran Missionare). Der
qualitative Unterschied der schriftlich fixierten und im gleichen Zug meist auch in jeweils
gewissen Hinsichten kommentierten und interpretierten oralen Daten zu früheren Formen der
Überlieferung darf nicht unterschätzt werden. Der Kreis der ‚Datensammler‘ war freilich nicht
nur auf europäische Akteure beschränkt. Schon früh traten europäisch gebildete Afrikaner
hinzu. In Ruanda ist es besonders ein Name, der für diese, das Verständnis der indigenen
Gesellschaften entscheidend prägenden einheimischen Eliten steht, nämlich Alexis Kagame
(1912-1981). Katholischer Priester, aus einer professionell mit der Überlieferung historischer
Oratur betrauter Familie stammend (‚Abiru‘), machte er mit seinen kurz vor dem zweiten
Weltkrieg beginnenden Forschungen den größten Teil oraler (Hof-) Literatur erstmals
zugänglich, kommentierte diese und verfaßte diverse historische Monographien. Sein extrem
einflußreiches Gesamtwerk ist geprägt durch eine subtil tendenziöse Perspektive, die die
Geschichte Ruandas im allgemeinen als eine zeichnet, in der ‚die’ Tutsi das dynamische
Element darstellen. Viele seiner subtileren, aber nichtsdestotrotz tendenziösen Folgerungen
wurden von späteren Historikern übernommen und trugen dazu bei, die Monarchie ‚ethnisch‘
seit Beginn der durch die oralen Quellen abgedeckten Periode mit den Tutsi zu verbinden,
obwohl deren ideologische und institutionelle Grundlagen trotzdem gleichzeitig als von
Bantu-Herkunft betrachtet wurden. Weit entfernt, allein ein Resultat der europäischen
Durchdringung zu sein, ist eine derartige Perspektivierung oraler Quellen ein Resultat der
kolonialen Situation als solcher (Twaddle 1975, passim).
Einen ebenso großen Stellenwert in der ‚Manipulation‘ von Geschichte wie die
angesprochene subtile Aufzeichnung-cum-Interpretation hat eine Perspektivierung, die durch
das Vorhandsein von oralen Quelle für einen eingegrenzten, als kontinuierlich gedachten
historischen Kernbereich vorgenommen wird. Im Gegensatz zu der oft stillschweigend
gemachten Annahme, daß das Vorhandensein oraler Überlieferungen einerseits Auskunft
über die historische Bedeutung eines staatlichen Gebildes gäbe und andererseits die
prinzipielle Kontinuität des betreffenden Königtums unterstreiche, weist eine so reichlich
44
vorhandene orale Literatur wie in Ruanda vor allem auf die ideologische Bedeutung oraler,
von Spezialisten (den Abiru) getragener Literatur, wenn es darum geht, Legitimität durch
Bezug auf Vorläuferstaaten und -dynastien, mythischen Heroen etc. zu erzielen. (ebenda:
180) Zudem kann das Fehlen von Quellen für in den Traditionen nicht vorkommenden
Kategorien (Tutsi, Hutu, Twa etc.) nicht durch - meist sehr zweifelhafte – Umdeutungen des
oralen Materials wettgemacht werden.
Das aus dem Prozeß der Verschriftlichung und bestimmter Versionen der Geschichte und
der Gegenwart entstandene spezifische ‚Macht-Wissen‘ (Vgl. Marx 1997: 51, sich auf
Foucault beziehend) war somit kein unschuldiges, positives Faktenwissen, sondern zu einem
Gutteil Resultat historischer Spekulation und Interpretation und führte seinerseits zu einer
neuen Form und neuen Qualität der aus diesem Wissen generierten ‚Mythico-Histoire‘ der
betroffenen Gesellschaften selbst. (Malkkii 1995, Kap.2). Zum einen wurde ‚Geschichte‘ so
zu einem bevorzugten Terrain, auf dem soziale Kämpfe ausgetragen wurden, zum anderen
wurde sie zu einer Ressource, mit der der gesellschaftliche Status quo nicht nur erklärt,
sondern auch gerechtfertigt werden konnte. Gleichgültig ob legendäre oder historisch
gesicherte Ereignisse aufgenommen wurden, waren die im Kontext subtiler, aber
wirkmächtiger Verschiebungen52 entstehenden historischen Geschichten und Erzählungen
52 Gemeint ist der gewöhnlich mit dem Beginn der kolonialen Landnahme bzw. ihrem kräftigsten legalo-politischem Ausdruck, der Berliner Kongo Konferenz (1884-85) einsetzende Prozeß, in der Literatur meist Imperialismus genannt (um ihn von früheren Kolonialismen und dem seit dem Beginn der Neuzeit feststellbaren Expansionsprozeß abzugrenzen). Mehr als nur eine einfache nominelle oder effektive Ausdehnung des Herrschaftsbereich einer eingeschränkten Anzahl europäischer Staaten, und über die so erzielte Einbindung in die Weltwirtschaft hinaus, verursachte die Integration in eine Vielzahl neuer Zusammenhänge eine Vielzahl von Verschiebungen im politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen, intellektuellen usw. Terrain. Dieser Aspekt erklärt die weit auseinanderlaufenden Einschätzungen bezüglich der Auswirkungen des Kolonialismus in der Literatur. Die ‚Auswirkungen‘ und die ‚Spürbarkeit‘ des Kolonialismus lassen sich dann auch nicht an der Zahl europäischer Kolonialeliten (Missionare und Kolonialbeamte) vor Ort ablesen. (1914 betrug die Zahl der Europäer in Ruanda 96 Personen; vgl. Servaes 1990: 101; davon waren allein die Hälfte katholische Missionare, vgl. Mbonimana/Ntezimana 1990: 138; Des Forges 1969: 186; dazu kamen noch einige Protestanten der Bethelmission und lediglich 5 deutsche Beamte!; im Gegensatz dazu – die deutsche Kolonialherrschaft glich mehr einer militärischen Okkupation denn einer zivilen Administration – wuchs in der belgischen Periode sowohl die Anzahl der Verwaltungsbeamten/ Militärs, als auch das zivile Personal – Lehrer, medizinisches Personal, Landwirtschaftsexperten etc.; dazu kamen noch einige Siedler). Man kann den Einfluß des Kolonialismus auch nicht einfach an den Aus- und Einfuhren (als Indikator für die Einbindung in die Weltwirtschaft) oder sonstigen Maßzahlen ablesen. Die Bedeutung der durch den Kolonialismus des späten 19.Jh induzierten Verschiebungen kann damit nicht einfach auf einen leicht objektivierbaren Kern reduziert werden und stellt sich je nach Perspektive anders dar. Vgl. dazu den Aufsatz von Nolte 1999, der, obgleich anderes zum Thema (den Zusammenhang von Europäischer Expansion und Durchsetzung der Moderne) durchaus ähnlich argumentiert, sowie Bley 1999, der auf die komplexe innergesellschaftliche Verarbeitung solcher Horizontverschiebungen hinweist.Vgl auch Brandstetter 1997 zu einem allgemeinen Literaturüberblick über zur Debatte über die Interpretation und Bewertung des Kolonialismus in Afrika sowie zu unterschiedlichen Positionen Herbst 2000: 58-96, der eine fokussierte Betrachtung der relativen administrativen Schwäche des Kolonialstaates und seiner dadurch beschränkten Autonomie hinsichtlich externer Faktoren (Geographie, Ökonomie...) leistet; Young 1994 passim, der die nichtsdestotrotz gegenüber den beschränkten Ressourcen relativ große Durchsetzungskraft des Kolonialstaates zum Inhalt hat sowie Mamdani 1996 passim, der den Kolonialismus als kulturelles Projekt der Hegemonie beschreibt. Zu einer Übersichtsdarstellung des Kolonialismus (beider Phasen) vgl. Osterhammel 1995.
45
im Kern um Ordnung in einem grundsätzlichem, kosmologischen Sinn bemüht. (Vgl.
ebenda: 55) Je nachdem, wie das Material einer Geschichte gelesen wurde, was darin
gesehen werden wollte/ sollte entstanden dementsprechend unterschiedliche Versionen und
Deutungen. Der Gehalt der Geschichten variierte darum durchaus mit der Herkunft/
Verortung der Erzähler.
Es ist wichtig zu betonen, daß diese Verschiebungen in der Geschichtsinterpretation
durchaus auf vorhandenes ‚Material’, auf Strukturen und Phänomene aufbauten, die ihre
Umdeutung, ihre Rekategorisierung innerhalb dominanter westlicher Klassifikationsschemata
möglich machten. Durch die Eingliederung in einen größeren Bedeutungsrahmen (der
‚Weltgesellschaft‘), durch die Rekontextualisierung historischer oraler Texte erstens durch
europäische geschichtsphilosophische Vorstellungen, die zum einen ein lineares,
evolutionistisches Geschichtsmodell an das Material anlegten, welches die traditionellen,
eher zyklischen Vorstellungen, die man sich in Ruanda von ‚Geschichte‘ machte ablöste (vgl.
zum letzeren Vansina 1962: 39f), und zum anderen spezifische Vorstellungen von Kultur und
Rasse mit sich brachten (die Migrations- und Diffusionsschemata etc.), sowie zweitens und
nicht zuletzt durch die politischen und gesellschaftlichen Transformationen – die nicht erst
mit dem Kolonialismus begannen – veränderte sich das Geschichtsverständnis
nachdrücklich. Mit der Zuspitzung der sozialen Ungleichheit zwischen ‚Aristokraten‘ – den
Chiefs und Subchiefs – einerseits und der einfachen Bevölkerung andererseits, und einer
damit einhergehenden aber nicht deckungsgleichen Ungleichstellung von ‚Ackerbauern‘
gegenüber ‚Pastoralisten‘ erlangte eine Interpretation nach ethnischen53 Kriterien eine
immer größere Bedeutung.
53 Das grundsätzliche Problem, und darauf wird noch öfter zurückzukommen sein, ist ein allgemein historiographisches, das in der nicht wirklich auflösbaren Opposition von Strukturgeschichte versus ‚Ereignisgeschichte‘ verborgen liegt. Das Aufspüren von langfristigen strukturellen Entwicklungen birgt immer die Gefahr in sich, Anachronismen zu unterliegen und die Geschichte einer kurzen Periode mit einem Begriffsapparat zu beleuchten, der für die je zeitgenössischen Gesellschaften selbst keinerlei oder nur beschränkte, jedenfalls aber eine andere Bedeutung hatte. Dieses Problem läßt sich auch durch den Marx’schen Kunstgriff des falschen Bewußtseins, also der Unterscheidung der ‚Klasse für sich‘ und ‚Klasse an sich‘ , die erst in einem reifen Stadium der kapitalistischen Entwicklung obsolet werde (weil dann die Klasse als Klasse ‚zu sich findet‘), nicht lösen. Bearbeitbar wird das Problem nur, wenn man die verwendeten Begriffe radikal historisiert, damit kontextualisiert und somit die transhistorische Identität der unter einer Kategorie gefaßten historischen Akteure relativiert und aufbricht. Genausowenig wie eine Geschichte der Klassenkämpfe von den Anfängen der westlichen Gesellschaften mit einem Klassenbegriff zu schreiben ist, der seine Entstehung einer historischen gesellschaftlichen Konstellation des 19.Jh. verdankt, ist eine Geschichte der ethnischen Beziehungen mit einem ideengeschichtlich auf die Kategorie ‚Rasse‘ (also dem Postulat der dem Körper eingeschriebenen substantiellen Identität; vgl. Friedman 1992: 839) zurückgehenden Ethnizitätsbegriff zu fassen.
46
2.2.3 Frühe Kontakte
Der erste Europäer, der sich auf der Suche nach den ‚Mondbergen‘ (das Ruwenzori-Massiv),
an denen man nach dem antiken Geographen Ptolemäus (100 – ca.160 n.Chr.) die Quellen
des Nil vermutete, Ruanda näherte, war der britische Afrikareisende John Hanning Speke
(1827-1864). Auf seinem Weg zum nördlichen Ufer des Viktoriasees passierte er das
östliche Nachbarland Ruandas, Karagwe, wo er von arabischen Händlern und dem Mukama
(König) von Karagwe, Rumanyika, wunderliche Geschichten über das geheimnisvolle Land
erhielt. Deren nüchterne Essenz bestand in der Aussage, Fremde seien nicht erwünscht
(Vgl. Honke 1990b: 83; Marx 1997: 61). Von größerer Tragweite jedoch als die, von Speke
selbst nicht unbedingt akzeptierten und nur nebenbei erwähnten Wundergeschichten über
Ruanda, erwies sich seine Adaptierung der Hamitentheorie für die Königreiche des Großen
Seengebiets (Vgl. FN 48).
Der nächste Europäer, der mehr über Ruanda erfahren konnte (und wollte) war der
amerikanische Journalist und Reisende Henry Morton Stanley. Er hatte sich 1876 im Zuge
seiner Reise nach Buganda in Karagwe aufgehalten und erfuhr dort von den
Eroberungskriegen Ruandas, der selbstgewählten Abgeschlossenheit gegenüber den
Arabern bzw. Fremden überhaupt und von der fremden Herkunft der Herrscher. Laut den
Informationen eines arabischen Elfenbein- und Sklavenhändlers, sollten diese “Abkömmlinge
eines hellfarbigen, möglicherweise arabischen Volksstammes sein.” (Stanley54, zitiert nach
Honke 1990b: 84). Jahre später, anläßlich der Mission zur Auffindung des verschollen
geglaubten ‚Gouverneurs‘ der anglo-äyptischen sudanesischen Provinz Equatoria, Emin
Pascha (eigentlich Eduard Schnitzer), wurde ihm die ‚rassisch‘ und geographisch von den
übrigen Bewohnern Ruandas verschiedene Herkunft der Herrscherschicht noch einmal
bestätigt und auf die unendlich scheinende Macht und Kriegslust des Königtums
hingewiesen (ebenda55). Die unter dem interessierten Publikum extrem einflußreichen und
kommerziell höchst erfolgreichen Schriften der beiden Reisenden Stanley und Speke gaben
so den Rahmen für spätere Behandlungen vor, in denen als zentraler, wesentlicher Kern von
‚Ruandazität‘ eines immer wieder kehrt, nämlich die Schilderung einesmächtigen, in seiner
elaborierten Struktur als völlig ‚unafrikanisch‘ erlebten Königtums einerseits und, damit
einhergehend, die ‚rassische‘ Verschiedenheit der herrschenden Schicht von der übrigen
afrikanischen Bevölkerung. Für spätere (‚Vorbei‘-) Reisende (Oscar Bauman, Franz
Stuhlmann und Emin Pascha, Gustav Adolf Graf von Götzen u.a.) blieb diese Fixierung
bestimmend. 54 in seinem Werk “Durch den dunklen Welttheil oder Die Quellen des Nils, Reisen um die großen Seen des äquatorialen Africas” Leipzig, London 1878: Bd.1, pp.494ff
47
Je enger die Kontakte wurden, desto ambivalenter wurde der Umgang mit dem Bild, das
man sich von Ruanda machte. Schon Gustav Adolf Graf von Götzen, der spätere
Gouverneur von Deutsch-Ostafrika (1901-1906), der 1894 Ruanda durchquerte, bemerkte,
daß vieles, was über Ruanda, und speziell über seinen ‚mächtigen Potentaten‘ Luabugiri56
(sic) erzählt wurde, “zum großen Theil groteske Erzählungen” waren, die sich als
“phantastische Gebilde erwiesen” (Von Götzen57 zitiert nach Honke 1990b: 89). Trotz der
widersprüchlichen Eindrücke von der tatsächlichen Macht des Königs hielt von Götzen aber
an dem schon durch frühere Reisende artikulierte und außerhalb Ruandas ihm von Händlern
präsentierte Bild des mächtigen und straff organisierten Königreiches fest, ein Glauben wozu
unter anderem wohl eine der Karawane von Götzens von Rwabugiri gestellte eindrucksvolle
Eskorte von (Tutsi) Kriegern beigetragen haben mochte (ebenda; Kabagema 1993: 12;
Bindseil 1992: 67). Entsprechend der auf seiner Reise gemachten Erfahrungen versuchte
von Götzen dann auch in seinem in Buchform veröffentlichen Bericht der Durchquerung
Afrikas, das es in kommerzieller Hinsicht mit anderen Titeln der Reiseliteratur durchaus
aufnehmen konnte, die Geschichte des Landes seit der Einwanderung der ‚hamitischen
Völker’, mit anderen Worten, die Geschichte des Landes als Geschichte des ‚hamitischen’
Königtums – das er als das eigentliche Kriterium für Historizität ansah – zu rekonstruieren,
ein Unterfangen, bei dem er die auftretenden Schwierigkeiten hauptsächlich dem
‚mangelnden Zeitgefühl’ der Banyarwanda zuschrieb (Kabagema 1993: 25).
Komplementär zur Beschreibung der ruandesischen Monarchie als relativ gefestigt,
zentralisiert und in elaborierter Weise administriert, wurden die Subjekte und Objekte von
Herrschaft in Ruanda weniger im sozialen Zusammenhang von Macht und Herrschaft
interpretiert, als in den Kontext von Rasse und ‚Charaktereigenschaften’ gestellt. Die
naturalisierende Perzeption ließ die herrschende Klasse, ganz im Sinne der Hamitentheorie,
als von Natur aus zur Herrschaft befähigt und ‚intelligent’ und die Beherrschten, als von
Natur aus unterwürfig, furchtsam und kognitiv unterlegen erscheinen. Phänotyp,
zugeschriebene persönliche Charaktereigenschaften, soziale Stellung und Wirtschafts- bzw.
Lebensweise überhaupt wurden in diesen frühen Darstellungen der ethno-sozialen Gruppen
miteinander assimiliert und zu heute befremdlich wirkenden Kategorisierungen verdichtet,
die, wenn auch nicht in der gleichen Breite, bis heute nachwirken. In einer kurzen
Bemerkung zur Herrschaftsstruktur des Landes durch den deutschen Offizier Leutnant
55 Stanley berichtet darüber in seinem “Im dunkelsten Afrika. Aufsuchung, Rettung und Rückzug Emin Pascha’s, Gouverneurs der Äquatorialprovinz” Leipzig 1890: Bd.2, p.314 56 nach heutiger Ortographie: Rwabugiri, im vollen Namen Kigeri IV Rwabugiri, Regierungszeit ca. 1860 - 1895 57 Gustav Adolf Graf von Götzen (1895): Durch Afrika von Ost nach West. Resultate und Begebenheiten einer Reise von der Deutsch-Ostafrikanischen Küste bis zur Kongomündung 1893/94 Berlin: p.188
48
Fonck, einen Teilnehmer der Expedition Hauptmann Ramsays 1897, die die Landnahme
Ruandas, wenn nicht praktisch, so doch formal einleitete, steht die Beschreibung politischer
und soziales Verhältnisse unvermittelt neben der physischen Charakterisierung der
‚Herrscherklasse’ : Die Watussi haben alle Gewalt in Händen, während die Wahutu ziemlich rechtlos sind und so
gut wie keinen eigenen Besitz haben. Alles Eigentum gehört dem Landesherrscher, welcher
seinen Untertanen die Viehherden zur Nutzung überläßt. Die Watussi haben vielfach kaum
etwas Negerhaftes an sich und man trifft nicht selten geradezu schöne Leute unter ihnen an.
(Fonck58 zitiert nach Kabagema 1993: 26f)
In der Schilderung einer seiner frühen Begegnungen mit Hutu-Bauern in Zentralruanda
während seiner ersten Reise durch Ruanda 1898 durch den späteren Residenten Richard
Kandt wird implizit auf die Unterwürfigkeit der Hutu gegenüber den Tutsi und ihrer scheinbar
völligen Unbedarftheit hinsichtlich der ‚despotischen’ Herrschaftssituation Bezug genommen: Die Bahutu benehmen sich recht sonderbar. In Gegenwart ihrer Herren ernst und reserviert
und unseren Fragen ausweichend; sobald aber die Watussi unserem Lager den Rücken
gekehrt haben und wir mit Ihnen (sic) allein sind, erzählen sie bereitwillig fast alles, was wir
wünschen und vieles, was ich nicht wünsche, denn ich kann den zahlreichen Mißständen,
über die sie klagen, ihrer Rechtlosigkeit, ihrer Bedrückung doch nicht abhelfen. Ich habe sie
einige Male auf Selbsthilfe verwiesen und leicht gespottet, daß sie, den Watussi an Zahl
hundertfach überlegen sind, sich von ihnen unterjochen lassen und nur wie Weiber jammern
und klagen können. Vielleicht war dies unvorsichtig von mir, und vielleicht ist einiges davon zu
den Ohren der Häuptlinge gedrungen, die infolgedessen fürchteten, daß ein allzu intimer
Verkehr mit mir sie bei Hofe kompromittieren könnte, denn auf dem ganzen Wege hielten sie
sich abseits und übersahen meine Karawane vollkommen (...). (Kandt59 zitiert nach Bindseil
1988: 67)
Mit der zunächst symbolischen Etablierung der deutschen Kolonialherrschaft durch
Hauptmann Ramsay im März 1897 (er überreichte einen ihm als König vorgestellten Sohn
des Mwami einen kaiserlichen Schutzbrief und die deutsche Flagge), der damit schrittweise
einsetzenden Errichtung deutscher Militärstationen (ab 1898) und den ersten
Missionsstationen der Weißen Väter (ab 1900) wurden die Informationen, die aus flüchtigen
Kontakten mit der Bevölkerung und oberflächlichen Erfahrungen der Reisenden
hervorgingen durch die fundierteren Kenntnisse längerfristig ansässiger Europäer –
Missionare und Administratoren (unter denen Kandt eine herausragende Stellung einnahm) -
58 Heinrich Fonck (1910): Deutsch-Ostafrika. Eine Schilderung deutscher Tropen nach 10 Wanderjahren. Die Schutztruppe, Reisen und Expeditionen im Innern, Land und Leute, Wild, Jagd und Fischerei, Wirtschaftliche Verhältnisse. Berlin, p.300 59 Richard Kandt (1914): Caput Nili – Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils, Bd.II Berlin: Dietrich Reimer: p.2
49
ergänzt und korrigiert. Das frühe, mythische Bild von Ruanda behielt indes seine
Wirksamkeit, obwohl und weil sich die Wirklichkeit als viel komplexer herausstellte: aus dem
Bild wurde ein Ideal, an dem man aus ideologischen und pragmatischen Gründen, von
denen weiter unten noch zu sprechen sein wird, festhielt. Der ethnographische Blick, dem
Ruanda unterworfen wurde und der ein systematisches Wissen über Ruanda hervorbrachte,
war selbst systematisch an der praktischen (kolonialpolitischen) Verwertung dieses Wissens
interessiert und davon geprägt.
Teil 2 Staatsbildungsprozesse, Stratifikation und ‚Ethnizität’ im präkolonialen Ruanda
51
Kapitel III: Besiedelungsgeschichte und frühe Staatsbildung
3.1 Das obsessive Zurückblicken: Wanderung, Invasion oder einfach nur Usurpation
Das Große Seengebiet, das Gebiet zwischen dem Mwitanzige- (auch Albert- bzw. Mobutu
Sese Seko-)see im Norden, Edward- (Rweru-) und dem Kivusee im Westen, dem Viktoriasee
im Osten und Tanganyikasee im Süden, wurde seit dem zweiten Jahrtausend v. Chr. von
Gruppen verschiedener Herkunft und in einem über Jahrhunderte andauernden Prozeß -
besiedelt (Wirz 1997: 46). Die Frage der Besiedlung stand stets im Zentrum der historischen
Spekulationen über die Gesellschaften der Region. Sie wird gerade auch in bezug auf
Ruanda in den meisten einschlägigen Monographien (insbesondere der einschlägigen
ethnologischen, geographischen, politologischen und der allgemeinen ‚länderkundlerischen‘
Literatur) zumindest gestreift und meist litaneiförmig abgehandelt. Die Post-Genozid-
Literatur bildet da keineswegs eine Ausnahme. Die Kernfrage war (und ist) – nicht nur in dem
hier interessierende Fall Ruandas – einerseits die Reihenfolge der Besiedlung durch die in
erster Linie nach rassischen Kriterien abgegrenzten Großgruppen (1.) “pygmoide”
Ureinwohner: Twa oder (Bana-) Kalanga; 2. „Bantus“: unter die man die verschiedenen
prädominant ackerbauenden Strata der Zwischensee-Königtümer subsumierte: Hutu/ Iru /
Nyambo/Lega und die man für diejenigen hielt, die die Region urbar gemacht und
landwirtschaftlich erschlossen haben sollen, und schließlich (3.), die “viehzüchtende” und
die Herrscherschicht stellende Gruppe der Tutsi/ Hima/ Huma / Luzi). Andererseits gesellte
sich stets die Frage nach der Qualität der jeweiligen Wanderungswellen dazu, ausgehend
von einer selbst zutiefst von der gesellschaftlichen und daher kolonialen Situation der Region
am Anfang des 20.Jh. beeinflußten Perspektive. Einer Perspektive, deren Konturen im
vorhergehenden Kapitel dargestellt worden sind (vgl. Mworoha 1977: 22).
Für das andauernde Interesse an der ‚Urgeschichte‘ des Großen Seengebiets60, das in
anderen Kontexten offensichtlich absurd wirken würde, sich hier,besonders aber in Bezug
auf Ruanda und Burundi, in todernsten Debatten äußert, gibt es mehrere Gründe. Einer
davon – der selbst nicht selbstverständlich – den Reigen des obsessiven Kramens in der
Vergangenheit immer wieder von Neuem beginnen läßt, besteht darin, daß sich das Thema,
bzw. spezieller, ein damit artikulierter Topos tief in das ethnische Imaginaire eingeschrieben
hat: nämlich die Reihenfolge der Besiedlung durch die drei unterschiedlichen Gruppen.
60 Mein Interesse gilt speziell Ruanda. Das Gesagte ist aber mit Einschränkungen auf die anderen vorkolonialen Staaten des Großen Seengebiets umlegbar. Eine ähnliche ‚Diskussion‘ fand (findet) insbesondere in bezug auf Ankole und Burundi und etwas variiert (die herrschende Gruppe wird der Herkunft nach – und wieder ist rassistisches Denken der Vater des Gedankens -gewöhnlich als ‚Luo‘ verstanden; die ‚tatsächliche‘ Identität, wie immer, aber viel komplexer vgl. dazu Ogot 1984), in bezug auf Bunyoro statt.
52
Diese Einschreibung ist in Wirklichkeit eine doppelte, ein In-Bezug-Setzen der Reihenfolge
der vermuteten Ansiedlung in Ruanda mit der Rangfolge in der Gesellschaft..
Genaugenommen handelt es sich hier um mindestens zwei Diskurse, welche beide die
Vorgeschichte der Großen Seenregion zum Gegenstand haben. Zum einen um jenen der
Fachhistoriker, der sich mit Beginn der akademisch institutionalisierten
Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend von Ethnologie und
Sprachwissenschaft emanzipiert hat und der sich inzwischen durch einen hohen Grad an
Komplexität und Differenzierung auszeichnet und damit ein gewisses Eigenleben entwickelt
hat.61 Zum anderen gibt es einen ‚Populärdiskurs‘ (oder besser antagonistische
Populärdiskurse über die und von ‚Vertretern’ der jeweiligen Ethnien), der nicht nur in der
Bevölkerung (d.h. vor allem unter den Eliten) verbreitet ist, sondern sich auch in vielen
nichthistorischen sozialwissenschaftlichen Abhandlungen nach wie vor bemerkbar macht
und sich seinerseits vor allem aus älteren historischen bzw. ethnographischen Arbeiten
speist.
Im Populärverständnis, in der ‚Mythico-histoire‘ eines Hutu Ethnismus (Malkkii 1995), aber
auch in den Popversionen einer langzurückgreifenden ‚Konfliktgeschichte‘ westlicher
Medien (vgl. dazu Kraler 1999: 152ff) erscheint die ‚Festsetzung‘ der Tutsi in Ruanda als
Usurpation der Macht, die sie nur auf kriegerische Weise (Invasion und Unterwerfung der
Hutu) oder aufgrund ihres ihnen nachgesagten ‚betrügerischen’ und ‚verlogenen’ Charakters
erreichen konnten. Der darum kreisende Diskurs von Hutu-Extremisten könnte dann auch
als eine Art ‚Autochthonismus‘ (Malkki 1995: 62ff) derjenigen verstanden werden, die für sich
beanspruchen, das Land ursprünglich erschlossen und urbar gemacht zu haben.62 Der
‚Autochthonismus‘, die Frage des ‚Angestammtseins‘, nach den rechtmäßigen Inhabern des
Bodens, der als ein Aspekt ethnischer Konflikte so häufig auftritt – und nicht nur dort -,
indem er eine ‚notwendige‘ Opposition63: etabliert, den unversöhnbaren Antagonismus
61 Auffallend ist freilich, daß sich das Interesse höchst ungleich verteilt: Die Geschichtsschreibung des Großen Seengebietes ist immer noch hauptsächlich eine politische Geschichte, in deren Zentrum die diversen Traditionen vorkolonialer Königreiche und Genealogien von Herrschern im Speziellen stehen (Vgl. D.Newbury 1994 passim zu einer Kritik einer genealogiefixierten Geschichtsschreibung). 62 Es ist bezeichnend, daß den Twa trotz des einhelligen Zugeständnisses, die ‚Ureinwohner‘ zu sein, der Status der Autochthonen (i.S. von rechtmäßige Besitzer des Landes) abgesprochen wird. Autochthon zu sein erweist sich damit selbst wieder als politische Setzung (Vg. Kopytoff 1987: 57). 63 Die weiße Bevölkerung Südafrikas vs. der afrikanischen Bevölkerung; die englisch- und schottischstämmigen Protestanten Nordirlands vs. den katholischen Iren; Palistinenser gegen Israeli; Basken gegen ‚Spanier‘ usw. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen., autochthonistische Elemente finden sich in den meisten ethnischen Konflikten. Interessant (und ich werde später darauf zurückkommen) ist der Konflikt zw. so genannten ‚Autochthonen‘ (Selbstbezeichnung) und sogenanten ‚Banyarwanda‘ – Menschen ruandesischer Abstammung - in der Kivu-Provinz in der Demokratischen Republik Kongo (ehemaliges Zaire/(Belgisch)Kongo), weil sich die ethnischen Konfliktlinien je nach Kontext, aber durchaus nicht willkürlich, und innerhalb schon angelegter Parameter verschoben. Der so genannte ethnische Konflikt in der Kivuprovinz ist somit ein gutes Beispiel für die kontextuelle Formbarkeit ethnischer Kollektivkonstruktionen und der darauf aufgebauten und als Antagonismus
53
zwischen den Autochthonen, den “Aus-der-Erde-Entsprungenen” (so eine Deutung des
griechischen Ausdrucks) und den später ‚zu Unrecht‘ (so die Implikation) gekommenen,
macht selbst wiederum nur Sinn bzw. erlangt seine spezifische Bedeutung im Kontext
dessen, was Liisa Malkii so zutreffend mit ‚the national order of things‘ bezeichnet hat, also
im Kontext eines zutiefst mit essentialistischen Identitätsvorstellungen verbundenen
Nationsparadigmas: ‚the nation form‘ (Balibar 1991). ‚Die Nation’ steht allerdings,
genausowenig wie ‚die ethnische Gruppe‘ zu ihren historischen Vorläufern in einem
einfachen genealogischen Verhältnis (ebenda: 88). Vielmehr geht das Modell der
Identitätskonstruktion dem eigentlichen Konstruktionsprozeß voraus und ist selbst angepaßt
den jeweiligen ‚Notwendigkeiten‘ der politischen, sozialen und ökonomischen Umstände. Es
ist also nicht ganz zufällig, wenn gerade seit dem 19.Jh. die Bedeutung des Nexus Boden-
Volk-Staat sprunghaft angestiegen ist, und sich diese spezifische Identitätsform in der
Formung der ethnischen Identitäten eingeschrieben hat. Indem Volk und Territorium, und in
weiterer Folge: der Staat als Einheit gedacht werden, erweist sich der ethnische
‚Autochthonismus‘ als Schöpfung der Moderne und wird damit unterscheidbar von früheren –
auf anderen Modellen (im Falle Ruandas wohl Verwandtschafts- und Herrschaftsverbänden)
basierenden Identitätskonstruktionen.
Der zweite Grund der Obsession für die Vorvergangenheit des Großen Seengebiets liegt
selbst – jedenfalls zum Teil - wieder in der Vergangenheit, nämlich in der schon oben
beschriebenen Interessenslage der Reisenden und Forscher zur Zeit der ‚Entdeckung‘ und
Kolonialisierung der Region. Die geographische Lage des Großen Seengebiets, einer
Kontaktregion zwischen mehreren (mindestens drei, vielleicht vier64) großen afrikanischen
Sprachfamilien, ebenso wie zwischen mehreren, damit zusammenhängenden, aber nicht
notwendigerweise identen Gruppen verschiedener sozialer, politischer und ökonomischer
Organisation, mit unterschiedlichen Agrartechniken und –weisen, und unterschiedlichen
religiösen Vorstellungen, bot dem von Seiten der Europäer dargebotenen Interesse an der
‚Völker(wanderungs)geschichte‘ ein ideales (Betätigungs-) Feld, das es förmlich nur zu
beackern galt. Wie am Anfang der Entdeckungsgeschichte des Großen Seengebietes die
Aufspürung der Quellen des Nil stand, waren es in weiterer Folge die Quellen, die Wurzeln
der angetroffenen Gesellschaften, deren Verzweigungen und Verästelung man bis zu ihren
Ursprüngen zurückverfolgen wollte. Im Kontext der zeitgenössischen Theorien über
Kulturkontakt, Sprachenverwandtschaft und über Tradierung von Kulturgütern und -techniken
konnte freilich nur ein verzerrtes Bild entstehen. zwischen Kollektiven konzeptualisierten Konfliktvorstellungen. Gleichzeitig dürfen die mitunter pragmatisch eingegangen Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen nicht als Zeichen dafür gesehen werden, daß Ethnizität und ethnische Zugehörigkeiten plötzlich obsolet seien. 64 (Osthochland) Bantu, Zentralsudanisch, Sog Ostsudanisch, Tale Südkuschitisch (Schoenbrun 1993: 2; und ebenda: 9)
54
3.2 Politische Autorität in der Frühzeit der Geschichte des Großen Seengebietes, ca.1000-1650
3.2.1. Die Region
Karte 1: Königtümer im Bereich des Großen Seengebietes
aus: Heinrich 1978; Original Luc de Heusch (1966): Le Rwanda et la Civilisation Interlacustre,
Bruxelles: Université Libre de Bruxelles
Das Gebiet der Großen Seen wird nicht ohne Grund als eine historisch gewachsene und
Region gesehen, die zudem an einem geographischen Schnittpunkt von Ost, Zentral und
Nordafrika situiert ist und die in einer historisch formativen Phase der Besiedelung und
frühen Staatsbildung ganz im Gegensatz zu der Abgeschlossenheit mancher politischer
Einheiten zur Zeit des Scrambles for Africa eine offene Region war, in der verschiedene
Einflüsse und die langfristige, bisweilen intensive Interaktion zwischen verschiedensten
Gruppen zur Hervorbringung neuer synkretistischer Praktiken und Institutionen in allen
Lebensbereichen führte. Linguistisch dominieren in der Region Bantu-Sprachen, die
deutliche Spuren eines gemeinsamen Entstehungskontexts aufweisen und die
55
Sprachwissenschafter aufgrund von Gemeinsamkeiten im (Grund-) Wortschatz zu einer
Gruppe, dem ‚Great Lakes Bantu’ zusammenfassen, das sich im ersten Jahrtausend v.Chr.
zu einer eigenständigen Sprachgruppe entwickelt haben soll und aus dem sukzessive die
heute vorherrschenden rund 45 Sprachen entstanden sind. Auf einem mittleren
Abstraktionsniveau verraten Cluster von nahe verwandten Sprachen bzw. Cluster von
Sprachen, denen spezifisches Vokabular gemeinsam ist (etwa politisches Vokabular: Worte
und Konzepte politischer Institutionen), Muster von Interaktionen zwischen verschiedenen
Gruppen und verweisen, insofern sie ‚geronnenes Soziales’ (Laclau) repräsentieren, auf
Prozesse sozialen Wandels (Schoenbrun 1998: 41ff). Abseits der linguistischen Spuren
geben gemeinsame, oder zumindest (in je verschiedener Hinsicht) ähnliche religiöse
Vorstellungen und Praktiken65 und vor allem bestimmte soziale und politische Institutionen
und die damit einhergehenden politischen und sozialen Ideologien der Region und denen in
ihr situierten Königtümern (Ruanda, Burundi, Nkore, Bunyoro, Toro, Buganda u.a.) ein
spezifisches Gesicht, die das Große Seengebiet als von angrenzenden Gebieten
unterscheidbar macht.
Dazu gehört zum einen die Institution eines ritualisierten, quasi-sakralen Königtums, deren
Form und Bedeutung wesentlich durch die Spannung hervorgebracht wird, die zwischen
zwei analytisch unterscheidbaren Formen von Macht66 herrscht und die der Historiker D.
Schoenbrun (1998: 12ff) als ‚instrumental Power’ einerseits und ‚creative Power’
andererseits charakterisiert. Während instrumentelle Macht den Aspekt von Macht
kennzeichnet, der bei der Schließung von Klientenbeziehungen im Austausch von
Geschenken oder beim Erzwingen einer Handlung (durch militärische Drohung etc.) wirksam
wird, hat ‚kreative Macht’ mehr mit dem Aufrechterhalten, Aufbrechen und Hervorbringen von
Hegemonie zu tun, mit Diskursen über Macht und ihre Ausübung, über ihre Grenzen und
über ‚Machbarkeit’ und Gestaltbarkeit (z.B. hinsichtlich der physischen Umwelt oder von als
naturwüchsig empfundenen Phänomenen) schlechthin. Schoenbrun – der die
Unterscheidung zwischen den beiden Qualitäten von Macht aufgrund der Analyse 65 Eine – allerdings generell weitverbreitete – Lineage-Ahnenreligion, dessen regionalspezifische Ausprägung (oder religiöse Gegenvorstellung) der kubandwa-Kult darstellte, der seinerseits wieder mit dem Chwezi-Komplex und den verbundenen Mythologien und religiösen Praktiken zu sehen ist. Kubandwa (‚bessessen werden‘) kann als eine Art Heroenkult, der in Geheimgesellschaften organisiert ist, gesehen werden, bei dem über speziell initierte Mitglieder (Medien) mythiko-historische Heroen (Maandwa) – frühere Herrscher oder Rebellen oder andere Personen angerufen werden. Im Mittelpunkt des Kultes in Ruanda steht der Heros Ryangombe, in anderen Teilen des Großen Seengebietes verschiedene Bachwezi (Name für eine Dynastie mythologische Könige), Heroen wie Wamara oder andere. In der Literatur wird ein Zusammenhang des Kubandwa.-Kultes mit n Formen politischer Herrschaft postuliert, welcher Natur dieser ist (Zeichen subversiver und sublimen Protests der Beherrschten oder herrschaftsstützender Unterwerfungsglauben) ist freilich umstritten, plausibel aber seine Ausbreitung in der Folge der Expansion des ruandesischen Staates bzw. der Konsol Sidierung von Staatlichkeit in Region überhaupt (Vgl. Mworoha 1977: 105ff; Freedman 1974: 170 und Linden 1977: 14). 66 in der berühmten Weber’schen Formulierung: „[J]ede Chance innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen
56
semantischer Konzepte von ‚Macht’ getroffen hat und auf den diese zurückgeht – sieht
letzteren Aspekt von Macht, ‚creative Power’ vor allem im Diskursiven verwirklicht, also dann,
wenn es um ‚Sinnproduktion’ geht – bei der rhetorischen Überzeugung einer Versammlung
von dem Sinn einer Sache oder den Beschwörungen von Heilern bei der Verabreichung
eines Medikamentes. Die ‚reifen’ Königtümer der Region standen in beständiger Spannung
zwischen beiden Aspekten von Macht – dem Instrumentellen einerseits und dem Kreativen
andererseits. Im Prinzip ist diese Spannung freilich allem Politischen inhärent, in dem Maße,
in dem alle politischen Akte sowohl instrumentell als auch expressiv sind, konkrete
Handlungsziele betreffen, als auch über den spezifischen Handlungszusammenhang
hinausweisen, in dem sie an das weltanschauliche Wissen der Akteure anknüpfen und
Handlungen und Handlungsziele in einem breiten weltanschaulichen und ideologischen
Kontext einordnen (lassen) (Edelman 1990:10). Im Kontext der Königtümer des Großen
Seengebietes war‚creative Power’ zutiefst verbunden mit religiösen Praktiken und
Vorstellungen, innerhalb derer Konzepte wie Gerechtigkeit, Angemessenheit, Kausalität etc.
artikuliert wurden und die in einem gewissen Sinn einen Gegenpol zum Instrumentellen des
Profanen darstellten und nie vollständig von den herrschenden Eliten angeeignet und
kontrolliert werden konnten. Gleichzeitig waren die Monarchien auf die ‚außeralltäglichen’
Legitimation, auf ‚creative Power’ angewiesen und bezogen von außeralltäglichen Praktiken
ein erhebliches Maß ihrer Legitimität (Vgl. D. Newbury 1991:Introduction, bes.p.19 in bezug
auf das Inselkönigtum Ijwi im Kivusee). Die Institution des Königtums wies in der Region ein
dementsprechend reichliches rituelles Element auf und rituelle Spezialisten (Abiru in
Ruanda) eine dem gemäße wichtige Position in ihrer institutionellen Ausgestaltung und ihrer
Ideologie.
Eine andere Gemeinsamkeit der Region liegt in der herausragenden Bedeutung, die das
Rind in der Geschichte (und Gegenwart) der Gesellschaften eingenommen hat, im
Politischen (in der Architektur der Königtümer) gleichermaßen, wie in der Struktur der
Gesellschaften der Region insgesamt. Anschließend an der dem Rind eingeräumten
Bedeutung als gleichzeitig materielles und symbolisches Kapital, dessen Akkumulation zum
Maßstab für Reichtum ebenso wie für politische Potenz wurde, entwickelte sich eine
Differenzierung zwischen ‚Pastoralisten’ und ‚Ackerbauern’ (richtiger eigentlich: Bauern mit
‚gemischter’ landwirtschaftlicher Basis und Schwerpunkt auf dem Anbau von diversen
Feldfrüchten und Bananen), die im Ruanda der spätvorkolonialen, und in einer
systematischen Weise während der kolonialen Periode zum Angelpunkt einer ausgeprägten
Stratifikation im eigentlichen Sinn geworden ist.
Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“; Weber 1980: 28
57
3.2.2. Soziale und politische Prozesse in der Frühzeit der Region67
Historisch läßt sich diese Differenzierung jedoch nicht eins zu eins mit (‚herkunfts-‚)
ethnischen Kategorien in Einklang bringen, zumal es ja zum einen nicht um zwei oder drei
miteinander in Interaktion tretende und klar abgrenzbare Gruppen geht, sondern um eine
Vielzahl von kleineren, hauptsächlich in Verwandtschaftsgruppen68 organisierten Gruppen,
die zu jeweils verschiedenen Zeitpunkten eingewandert waren. Ihre Geschichte war weniger
durch eine ursprüngliche Einwanderung von einem weit entfernten anderswo, als durch das
schrittweise Hinausschieben der Grenzen bestehender Gemeinschaften in unerschlossene
Gebiete sowie in neue Habitate (Savanne im Unterschied zu Waldgebieten etwa) und andere
Prozesse sozialen Wandels geprägt. Eine am Besitz von Vieh anschließenden soziale
Differenzierung gab es, so scheint es zumindest, schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt.
Sie ist im Kontext der Konsolidierung der durch die Kontakte der verschiedenen
eingewanderten Gruppen – wahrscheinlich vor allem durch Bantusprecher69
hervorgebrachten Synthese des agrarischen Wissens (die jedenfalls in den Bantusprachen
ihre Spuren hinterließ) und dem damit entstehenden Agrarregimes zwischen 500 und 1000
n.Chr. anzusiedeln. Das Agrarregime brachte ein System einer gemischten Landwirtschaft
(also diverse Feld- und Baumfrüchte ebenso wie Vieh), das zu einer Produktivitätssteigerung
und gleichzeitig zu intensiveren Formen der Umweltaneignung führte. Seine Eckpfeiler
waren die Einführung von Bananen, die vermehrte Bedeutung des Rinds und die Aneignung
von Hirse-Anbau durch weite Teile der Bevölkerung. Die so entstandene Synthese
ermöglichte bzw. verlangte es, unerschlossene Gebiete, insbesondere die
Savannenlandschaften zu erschließen (Schoenbrun 1993 passim). Die Ausweitung der
67 Auf die Problematik der Rekonstruktion der Geschichte von schriftlosen Gesellschaften soll und kann hier nicht eingegangen werden. Die Rekonstruktion, wie sie hier versucht wird und die hier mehr oder weniger als bruchloses Narrativ präsentiert wird, speist sich aus im wesentlichen vier Disziplinen bzw. -Quellen, nämlich der historischen Sprachwissenschaft, vergleichender Ethnographie, Archäologie und Ökologie [Environmental Studies] von denen nur zwei im engeren Sinn historisch sind (insofern die betreffenden Disziplinen mit genuin historischen Spuren arbeiten), während die beiden anderen aus dem Vergleich synchroner Daten auf historische Vorformen der betreffenden Phänomene (Sprache, Institutionen...) schließen. Zu den methodologischen Problemen siehe Schoenbrun 1998: 28-57 und Sigwalt 1975: passim. 68 soll heißen: in einem Verwandtschaftsidiom artikulierte ‚Organisation’. Kopytoff (1987: 40ff) begründet die Dominanz des Verwandtschaftsidioms mit der spezifischen Form der Staatsbildung in Afrika, nämlich dem ‚Frontierprozeß´’ und der non-territorialen Basis von Herrschaft. Solange Herrschaftsmittel und die Ausdehnung von Herrschaft beschränkt sind, kann das Verwandtschaftsidiom den Zusammenhalt der Gruppe besser gewähren als Allianzen oder anderes. Klientelbeziehungen verlangen dagegen ein Mindestmaß an sozialer Stratifikation und differentiellen Zugang zu Ressourcen – seien diese nun materiell (Land, Vieh oder anderes Kapital) oder immateriell (Status, Sicherheit). Innerhalb des Verwandtschaftsdiskurses bleibt freilich ein breiter Raum für Variationen in der Bestimmung des Verhältnisses der einzelnen ‚Verwandten’. Schoenbrun (1998: 94ff) zeigt, daß die Idee von Linearität in den intergenerationellen Verwandtschaftsbeziehungen eine Innovation war, die er in der Mitte des 1.Jt. v.Chr. ansiedelt. In den darauffolgenden Jahrhunderten kam es laut Schoenbrun zur Herausbildung eines damit verbundenen Vokabulars von Verwandtschaftsbezeichnungen, deren formale Kerneigenschaft in der potentiellen Verwendbarkeit als Ausschlußoperator bestand, also in ihrer Fähigkeit, zwischen ‚uns’ (nahe, sprich: linear Verwandten) und ‚sie’ (die ‚Angeheirateten’) zu unterscheiden. 69 ‚Bantusprecher‘ bezeichnet die Sprecher von Bantu-Sprachen, nicht mehr und nicht weniger. Der Terminus sowie die Verbreitung der Bantusprachen im Großen Seengebiet sagt nichts aus über die Art des Spracherwerbs (oder –besitzes): ob über Herkunft oder durch Übernahme.
58
Viehwirtschaft und die Differenzierung zwischen Ackerbauern und Pastoralisten ist vor
diesem Hintergrund der erweiterten Möglichkeiten, sich die Umwelt anzueignen zu
verstehen. Die Öffnung von Waldgebieten für die Landwirtschaft erlaubte es ‚Pastoralisten’,
die entstandenen Grenzbereiche zwischen den Kulturlandschaften und den Trockenzonen
als Weiden für das Vieh zu nutzen. Die Ausweitung des Pastoralismus ging
dementsprechend parallel zur landwirtschaftlichen Erschließung der Region (Schoenbrun
1998: 76f). Ende des 1.Jt., nach etwa 800 n.Chr., führte der (durch menschlichen Einfluß)
lichtere Waldbewuchs in den Hauptsiedlungsgebieten in der Region, die Herausbildung
technischer Expertise hinsichtlich von Rinderzucht und die verstärkte Nutzung von Getreide
dazu, daß verschiedene Bedingungen gegeben waren, welche die Besiedelung der
Savannenzonen (z.b. Nkores und des nördlichen Karagwe) förderten, wenn nicht erst
erlaubten. Die Erschließung der Savannenzonen für einen spezialisierten Pastoralismus
ergibt sich aus dem Ineinandergreifen verschiedener Faktoren, wobei das Vordringen von
Pastoralisten in die Savannenzonen gleichzeitig als der entscheidende Faktor für die
Herausbildung spezialisierter Pastoralisten gelten kann. Die Ausbreitung des Pastoralismus
erreichte die Ränder des westlichen Hochlandes (Burundi, Ruanda) um eben diese Zeit und
begann sich in der Entwicklung einer dementsprechenden pastoralistischen Ideologie70 zu
äußern.
Ebenfalls in diese Zeit fällt die Herausbildung einer hochspezialisierten Eisenindustrie, die,
getragen von spezialisierten und überregional aufgesuchten Spezialisten, wohl auch ihren
Teil zur Verdichtung der sozialen und politischen Verhältnisse beigetragen hat (Ehret 1988:
634f; Twaddle 1975: 152).
Die Periode intensivierter Besiedlung der Region, des verstärkten Kontakts und Interaktion
der verschiedenen eingewanderten und bereits ansässigen Gruppen und nicht zuletzt die
durch das verbesserte landwirtschaftliche Wissen bedingte Produktivitätssteigerung
spiegelten sich linguistisch in der Ausbreitung der Bantusprachen in die Region und politisch
in der Herausbildung umfassenderer politischer Einheiten: politische Entitäten, die über die
vorherrschende Organisationsweisen, basierend auf Lokalität (als Koresidenzialität) und/oder
auf einem Deszendenzprinzip, sei es in der Form der engeren Lineage (inzu) oder der
umfassenderen Patrilineage (umuryango71), ansatzweise hinausgingen und die in
70 zum Beispiel in der Entwicklung eines entsprechenden Vokabulars (an Viehtypen, Farbschattierungen des Viehs etc.), mit dem gleichzeitig nicht nur faktisches Wissen, sondern ästhetische und andere Ideale artikuliert wurden (Schoenbrun 1998: 79). 71 Die folgenden Begriffe sind die heute bzw. in rezenter Zeit gebrauchten Bezeichnungen und repräsentieren daher nur beschränkt die Verhältnisse in der fraglichen Periode. Im Gegensatz zu ‚umuryango’ scheint ‚inzu’ lediglich ein Terminus für ein Verwandtschaftsverhältnis gewesen zu sein, ohne damit notwendigerweise einen kollektiven Charakter einzunehmen. Jedenfalls wies die Funktion (und die Benennung) diverser Verwandtschaftseinheiten zur Zeit der Kolonialisierung innerhalb Ruandas erhebliche Unterschiede auf, die u.a.
59
unterschiedlichem und für diese frühe Periode nur schwer rekonstruierbaren Ausmaß
Bevölkerungsgruppen verschiedener Herkunft und Lebensweise inkorporierten (Ehret 1988:
636f). Gleichzeitig waren die Zugehörigkeitsideologien selbst einem beträchtlichen Wandel
unterworfen, insofern durch sie verstärkt (Patri-)Linearität herausgestrichen und soziale
Beziehungen und Einheiten in einem patriarchalen Idiom rekonzeptualisiert wurden
(Schoenbrun 1998: 134ff). Die von der lineagemäßigen Organisationsweise (die nichts
anderes bedeutet als eine (patri-)lineare Deszendenzideologie) gebildete Sozial- und
politische Struktur beruhte im wesentlichen auf den als Zugriffsrechte zu verstehenden
‚Besitz‘ über die Produktionsmittel – Vieh und Land (sowie Frauen und Kinder), also den
Besitz der Kontrolle über als essentiell wahrgenommene ‚Güter’ innerhalb der eigenen
Deszendenzgruppe, gleichwie er sich in der Realität gestaltete (Vgl. Linden 1977: 11). Ihr
Vorhandensein beruht auf das Verlangen bzw. die empfundene Notwendigkeit, zwischen
‚Uns’ und ‚Sie’ zu unterscheiden, andersgesagt, über Mechanismen zu verfügen, die andere
vom Genuß der von der Mitgliedschaft in einer Lineage implizierten Vorteile (allen voran
materielle und Statusvorteile) ausschlossen bzw. die gewährleisten konnten, daß es
wirksame Kontrollen gab, die bestimmten, wer und zu welchem Preis jemand Mitglied einer
etablierten Gemeinschaft werden konnte.
Solange Land reichlich vorhanden war – in manchen Gegenden Ruandas bis ins 19.Jh. –
hatten die von der Deszendenzgruppe ausgeübten Rechte über essentielle Ressourcen
einen hauptsächlich symbolischen Charakter, welche die materielle Überlebensfähigkeit der
so reglementierten Individuen nicht oder nur unwesentlich einschränkte. Die Bedeutung der
Zugriffsrechte auf Land, Vieh und Frauen lag dann auch weniger im materiellen Bereich,
anders gesagt: in ihrer instrumentellen Kapazität, als in ihrer symbolischen (oder in
Edelmans Worten: expressiven) Funktion als Symbolisierung von Macht und Status.
Landrechte spezifizierten nicht nur, wer ein Stück Land legitimerweise nutzen konnte/durfte,
wer es erschlossen hatte und wer als sein Besitzer gelten konnte, sondern bezeichneten
dadurch gleichzeitig Status und Zugehörigkeit, mithin das Verhältnis des Individuums zu
seiner Gemeinschaft, sei es die Lineage, die Nachbarschaft oder andere. Im Falle von
Konflikten einzelner Lineagemitglieder mit den lineagepolitischen Führern konnte immer
noch auf unerschlossene Gebiete ausgewichen oder der Anschluß an eine andere Gruppe
bzw. einem neuen Patron gesucht werden. Das implizierte eine segmentäre Tendenz der so
gebildeten Einheiten. Die ‚Tiefe‘ der Lineages (gemeint ist: umuryango) konnte dennoch,
zumindest wo sie die primäre politische Einheit bildete, über 6 Generationen hinausgehen
und repräsentierte zugleich so etwas wie Lokalität (Vgl. d’Hertefelt 1962: 41f).
mit der differentiellen Inkorporation der verschiedenen Regionen in den ruandesischen Staat zu tun haben . (Vgl.
60
‚Klans’ (ubwoko), die mehrere (tausend) Lineages umfaßten72 – in Ruanda gab es 18
derartige Klans73 -, hatten dagegen, wenngleich sie auch eine beschränkt territorialen (im
Sinne von regionalen) Konnotation aufweisen konnten, (mit Ausnahmen) keine unmittelbare
soziale oder politische Bedeutung, sondern spielten lediglich als religiös-rituelle Einheiten,
denen durch ein gemeinsames Totemtier und jährlichen Riten Ausdruck verliehen wurde,
eine gewisse Rolle.
Eine Grundlage der Herausbildung überregionaler politischer Einheiten lag in der
veränderten und über den pastoralistischen Komplex ausgedehnten Haltung zum Rind,
nämlich in seiner Verwendung als ‚Machtmittel‘, die über jene als ‚Überlebensmittel‘, als
bewegliches Kapital74 hinausging, aber doch damit zusammenhing und in einer
symbolischen und quasi-religiösen Wertschätzung des Rinds, der ‚Ideologie de la Vache‘
(Vidal 1969) ausgedrückt wurde. Diese Hypostasierung des Rinds als Symbol des Sozialen
hatte ihren Ursprung bei rinderzüchtenden, nomadisierenden Gruppen, deren politische
Organisation um einen Chief bzw. eine ‚oberste‘ politische Autorität, den Mwami kreiste, der
zunächst aber nicht mehr war als ein primus inter pares unter mehreren viehreichen Chiefs.
Daß Vieh zu einem Machtsymbol wurde und einen instrumentellen Charakter annahm,
verweist auf eine ausgeprägte pastoralistische Ideologie, innerhalb derer zunehmend mehr
Bereiche des Lebens in Relation zur wichtigsten Ressource der Gruppe – dem Rind –
gesetzt wurde und umgekehrt dieses in Relation zum Mensch und mit sozialen und anderen
anthropomorphen Attributen (etwa Namen, Vgl. Gravel 1968: 169) ausgestatte wurde. Vieh
diente gleichzeitig dazu, soziale Transaktionen, mithin das Schließen sozialer Beziehungen
überhaupt zu symbolisieren und zu besiegeln. Der weitgehende Ausschluß von Frauen aus
dem produktiven Bereich, d.h. ihre weitgehende Trennung vom Vieh nahm in dem Maße zu,
in dem Vieh als Symbol und Mittel von Herrschaftsbeziehungen zwischen Führern und
Gefolgschaft an Bedeutung gewann (Schoenbrun 1998: 226ff).
Die Ausweitung der Bedeutung des Rinds als primäres soziales Gut (und Symbol) ist
gleichwohl im Kontext der herausragenden Bedeutung der militärischen Organisationsweise
bei den viehzüchtenden Nomaden und dem Charakter der militärischen Aktionen zu sehen, d’Hertefelt 1962: 41f) 72 Nach einer plausiblen Hypothese des Historikers D.Newbury (1980) ist die geringe Zahl der ruandesischen Klans selbst eine Erscheinung relativ jungen Datums. (Vgl. zu einer ausführlicheren Diskussion FN 89) 73 Die seriöseste Einschätzung stammt von d’Hertefelt (1971: passim, bes.: 49). Er identifiziert 17 Klans (amoko; pl. von ubwoko). Seine 18. Kategorie ist eine Residualkategorie für alle Gruppen, die für sich eine andere Zugehörigkeit als zu den 17 gängigen Klans beanspruchen. Wie d’Hertefelt (ebenda: 3) betont, handelt es sich bei den ruandesischen Klans eigentlich nicht um Klans in der üblichen soziologischen bzw. anthropologischen Definition (als Abstammungsgemeinschaft, mit einem namensgebenden, mithin fiktiven oder mythischen von allen anerkannten Vorfahren), sondern eigentlich um eine soziale Kategorie, die aus pragmatischen und historischen Gründen als Klan bezeichnet wird.
61
die – gleich ob sie auf eine Machtausweitung zielten oder lediglich den Charakter von
Razzien hatten – immer den Raub von Vieh in großem Ausmaß beinhalteten. Die Chiefs der
rinderzüchtenden Lineages bzw. der Mwami als primus inter pares eines assoziationshaften
Konglomerats mehrerer Lineages verfügten über das in Razzien und Kriegszügen erbeutetes
Rind. Sie verteilten es zur Belohnung von ‚Tapferkeit‘ im Kampf oder unterschiedslos an die
Mitkämpfer – an die Mitglieder der Armeen (ingabo), deren kämpferische Kern von den
‚Pagen‘ (intore)75 des Mwami gebildet wurde – und be- und verstärkten damit auch
Loyalitäts- und Abhängigkeitsbeziehungen.
Die Ausdehnung des Viehkomplexes über den militärisch-räuberischen Zusammenhang
hinaus bildete aber die Voraussetzung für seine Generalisierung (Vgl. Ehret 1988: 637).
Doch darf man die Zugriffsmacht der politischen Führer auf das Vieh (und damit in gewisser
Weise, auch auf die mit ihnen verbundenen Menschen) für den größten Teil der Geschichte
der Region, und im Speziellen für die ruandesische Geschichte (zumindest bis ans Ende des
18.Jh.), nicht überschätzen. Religiös-rituelle oder andere ‚Besitztitel‘ waren nicht einfach in
politische oder ökonomische Zugriffsrechte übersetzbar und zudem beschränkt auf Gruppen,
für die die jeweilig zum Objekt vielschichtiger Beziehungen gemachten Güter relevant waren.
Bei den prädominant ackerbauenden Bevölkerungsgruppen nahmen andere Symbole –
religiöse Haine, Schreine, Grabstätten usw., die allesamt mit der Fruchtbarkeit von Land
zusammenhingen, jene Stelle ein, die das Rind für die Rinderzüchter besetzte. Die Basis
politischer Macht stand dann auch in einem engen Nahverhältnis zum Religiösen. Das Gros
der vorkolonialen ackerbäuerlichen Staaten war um die dem Oberhaupt (Umuhinza76)
nachgesagte rituelle Macht als Regenmacher77 (wie etwa das Oberhaupt von Bukunzi), um
seine rituellen Funktionen im landwirtschaftlichen Bereich (Erste Früchte – Fest...)
organisiert. Als politischer Führer besaß er allerdings kaum über andere als symbolische
Sanktionsmöglichkeiten und war im hohem Ausmaß von der Loyalität seiner Anhänger
74 Darin, in der hohen Mobilität und Flexibilität bestand der zumindest theoretische, entscheidende Vorteil der Viehzucht gegenüber dem Ackerbau. 75 wörtlich: ‚die Erwählten’. Die Bezeichnungen entstammen einem späteren Kontext. Vieles deutet aber darauf hin, daß das Intore nicht nur den Kern der späteren Armeeorganisation bildete, sondern auch ihren historischen Kern darstellt. Vgl. zum Charakter der Armeen (d.h. ihre Ausgerichtetheit auf Viehraub und Brandschatzung; vgl. Maquet 1961: 117) 76 Die Bezeichnung Umuhinza entstammt wahrscheinlich dem höfischen Milieu Ruandas und ist den ‚Königen’ der betreffenden Kleinkönigtümer nach der Eroberung und Inkorporation in den ruandesischen Herrschaftszusammenhang übertragen worden. Darauf deutet auch die Bedeutung ‚Rebell’ hin, die das Wort Umuhinza in anderen Kontexten annimmt. Die Selbstbezeichnung der Herrschaftsträger in den Kleinstaaten entlang der Nil-Kongo Wasserscheide war, so ist zumindest anzunehmen, ‚Mwami’. Zu den bekanntesten Staaten gehörten Bukunzi und Busozo (beide in der Region Kinyaga im Süden Ruandas) und Bushiru im Westen. In den historischen Traditionen des Hofes findet sich eine Vielzahl an Referenzen auf derartige politische Führer. Einer der bekanntesten ist Mashira, Umuhinza von Nduga, dessen Königtum von Mibambwe Mutabazi erobert und selbst ermordet worden sein soll (Vgl. D.Newbury 1987: EN26; Vansina 1962: 77ff und 85) 77 d.h. er spielte für Rituale, die Regen bringen sollten, eine herausragende Rolle, ohne sich auf diese Rolle als ‚Regenmacher zu beschränken’.
62
abhängig (Vgl. Linden 1977: 11f). In der Region finden sich damit zwei unterschiedliche
Typen von Herrschaftsformen, die in gewisser Weise mit der dominanten Produktionsweise
der sie hervorbringenden Bevölkerungsgruppen verbunden sind. Mit der Expansion
bestimmter politischer Einheiten ging eine Aneignung verschiedener Institutionen der jeweils
anderen Herrschaftsform und –legitimierung einher. Die Institution der Königinmutter etwa
entstammt aus dem Kontext der Umuhinza – Königtümer. In Ruanda wurde der rituellen und
religiösen Herrschaftslegitimation durch die Institution der Abiru – rituellen Experten
Rechnung getragen (Vansina 1962: 66)78.
Der Staatsbildungsprozeß verlief allerdings subregional in durchaus unterschiedlichen
Bahnen, sowohl was die Dichte der Herrschaft, ihre institutionelle Ausformung und
ideologische Repräsentation, als auch die Adressaten von Herrschaft betraf. Der
semiterritoriale Charakter von Herrschaft – Herrschaft war nie territorial in dem Sinn, in dem
moderne Nationalstaaten ihre jeweils eigenen Territorien besitzen, über die sie spezifische
Rechte haben und systematisch Herrschaft ausüben; nichtsdestotrotz hatten die
vorkolonialen Staaten der Region definierte Zentren und waren in diesem Sinn verortet –
führte dazu, daß sie häufig einen ‚multiethnischen’ Charakter aufwiesen, insofern sowohl
spezialisierte Viehzüchter als auch Ackerbauern innerhalb des engeren Territoriums des
Herrschaftsverbandes lebten oder als Klienten zu ihm oder einer seiner Repräsentanten in
Beziehung standen. Diese Tatsache allein bedeutete allerdings noch wenig:
Die Unterschiede in Form und Reichweite des Königtums , sowie der Charakter der sozialen
und politischen Beziehungen der zwei sich nach Produktionsweise unterscheidenden
Gruppen hing von mehreren Faktoren ab: von der Bevölkerungsdichte, dem Charakter des
Staates (mono- vs. pluriethnisch, territorial vs. verbandsmäßig, zentralisiert vs.
dezentralisiert, reichweitemäßig), der sozialen Distanz zwischen den beiden Pastoralisten
und Ackerbauern, dem Ausmaß der Interaktion über ‚ethnische’79 Grenzen hinaus, das
Ausmaß der politischen Autonomie der jeweiligen ‚ethnischen’ Gruppen und zuletzt, das
Ausmaß der Integration in einen gemeinsamen ökonomischen Zusammenhang, im
Unterschied zum relativ autonomen Verfolgen unterschiedlicher ökonomischer Tätigkeiten
mit lediglich begrenzten Austauschbeziehungen (Siehe Doornbos 1978: 21).
78 Twaddle ist skeptischer als Vansina bezüglich der historischen Tiefe der Institution, die ihre endgültige Form erst am Ende der präkolonialen Periode angenommen hat. Egal wann sie geschaffen wurde, fest steht, daß mit der rituellen Expertise der Abiru eine Festigung der Herrschaftsansprüche und –relevanz des Mwami bezüglich Land und der damit verbundenen rituellen Autorität über Land (und bezüglich der Riten des landwirtschaftlichen Kalenders) einherging (Vgl. Linden 1977: 15) 79 Ethnisch meint hier eine von außen an Bevölkerungsgruppen hineingelesene Qualität, mithin “objektiv ethnisch” und impliziert nicht notwendigerweise ethnische Identifikationen. “Ethnisch” heißt in diesem Kontext in erster Linie die intergenerational relativ stabile vorwiegende ökonomische Tätigkeit (Ackerbau vs. Viehzucht).
63
Der Übergang von Herrschaftssystemen beruhend auf lokale Bezugseinheiten, seien diese
nun eher ko-residentiell im Charakter, oder in einem patriarchalen Idiom gehalten (der
Lineage) zu der Form von pluralen (i.S. von sich nicht als Abstammungsgemeinschaften
konzeptualisierenden) Monarchien erfolgte gleichwohl allmählich und auf ideologischem
Terrain unter Inkorporation diverser religiös-ritueller Vorstellungen und über den Bezug auf
alte, und Schaffung neuer kollektiver Bezugseinheiten in den Zonen intensivsten Kontakts
und habitueller Austauschbeziehungen zwischen ‚Pastoralisten‘, ‚Ackerbauern‘ und
‚Spezialisten‘(Ehret 1988: 637, Ogot 1984: 509f; D.Newbury 1980 passim). Das Ausmaß der
gegenseitigen Interaktion war gleichwohl nicht homogen. In Nkore, einem für
seminomadisierende, extensive Viehzucht perfekt geeignetes Habitat, mit einem gegenüber
anderen Königtümern im Großen Seengebiet viel höheren Anteil an Pastoralisten (zwischen
40% und 60% der Bevölkerung des Kernlandes vor der Expansion Nkores in der zweiten
Hälfte des 19.Jh; Doornbos 1978: 67), bezog sich die Organisation des Staates beinahe
ausschließlich auf die pastoralistischen Gruppen (Bahinda und Bahima). Dies spiegelte den
geringen Grad an gegenseitiger Interaktion zwischen Ackerbauern (Bairu) und Pastoralisten
(Bahinda und Bahima) wider, die sich auf wenige Austauschgüter, wenige soziale
Situationen und wenige davon betroffenen Menschen beschränkte (ebenda: 40f). Eine
ähnliche Einschränkung ist für Ruanda zu treffen, wobei es hier (noch) weniger um die
Interaktionsdichte zwischen Pastoralisten und Ackerbauern geht, als um die eingeschränkte
Rolle des ‚Staates’ an diesem Punkt der Staatsbildung überhaupt.
Die ‚neue’ Klasse, die Chiefs wurden allmählich, im Zuge der Verdichtung der sozialen und
politischen Verhältnisse zu Mittlern zwischen den Interessen verschiedener Lineages,
Klans80 oder ‚ethnischen’ Gruppen und damit zu einem verbindenden Knoten eines sich
entwickelnden politischen Netzwerkes. Für Ruanda erscheint es plausibel, frühe
Staatsbildungsprozesse als eine janusköpfigen Prozeß zu interpretieren, der einerseits auf
militärischer Eroberung beruhte, in dessen Folge dann neue Legitimationsformen und –
funktionen in die Institution des Königtums inkorporiert wurden. Andererseits beruhte die
Transformation eines primär pastoralistisch-militärischen Herrschaftsverbandes wie Kern-
Ruanda zu ausgedehnten, territorial mehr oder minder eingegrenzten ‚Staaten‘ zum Teil auf
die Attraktivität, die die Anbindung an eine primär militärisch organisierte Entität (im
Gegensatz zu der eher rituellen und religiösen Herrschaftsform der Abahinza-Staaten) für 80 Die Verwendungsweise des Terminus ‚Klan’ im Text ist, wo sie sich nicht ausdrücklich auf ‚ubwoko’ bezieht, eine pragmatische und meint eine größere Verwandtschaftsgruppe, und im besonderen derartige größere Verwandtschaftsgruppen in Nordruanda. Meine pragmatische Verwendungsweise des Terminus korrespondiert mit ihrem Vorkommen in der Literatur, die dort eine lange Tradition hat (der deutsche Ethnologe Jan Czekanowski, der 1907/8 im Rahmen der Expedition des Herzogs von Mecklenburg in Ruanda forschte, spricht in bezug auf den Norden und seiner von Zentralruanda abweichenden politischen Organisation von
64
externe Gruppen besaß. Mit der Ausweitung der Armeen (ingabo), in die ab dem 16.Jh
zunehmend ganze Lineages inkorporiert wurden, wurde die Mitgliedschaft in einer Armee zu
einem hervorragenden Mittel, das Bedürfnis nach Schutz befriedigen zu können, während
dadurch gleichzeitig der Machtbereich des Mwami (dem die Armeen ultimativ unterstanden)
ausgedehnt wurde (Vgl. Linden 1977: 13). Umgekehrt bedeutete die Verschiebung des
politischen Brennpunktes von den Lineages und Lineage-Führen zu anderen
Herrschaftsträgern – den diversen Chiefs und ultimativ, zum Mwami –, daß Lineages als
politische Organisationsform wie auch als Brennpunkt kollektiver Identität langsam aber
sicher ihre Bedeutung verloren. Dieser Prozeß war Anfang des 20.Jh. noch nicht
abgeschlossen.
3.3. Von Herrschaftsverband zum Staat: Ruanda, ca.1500 bis 1750.
Der Kern des ruandesischen Staates lag in den Ebenen des östlichen Ruandas, in der Nähe
des Mohasisees, in offenem Savannengebiet. Die Region bot exzellentes Weideland, war
aber schlecht geeignet für die weiter im Westen, in den hügligen Regionen Zentral- und den
bergigen Regionen Nordruandas sowie im äußersten Westens des Landes, entlang des
Kivusees, vorherrschende gemischte Landwirtschaft, deren Feld- und Baumfrüchte eines
feuchteren Klimas bedurften.
In den Savannenlandschaften des Ostens, zu denen innerhalb Ruandas noch Ndorwa,
Bugesera und Gisaka zu zählen sind, an die sich weiter nach Osten die Savannen Karagwes
und im Norden die Nkores anschließen, bestanden eine Reihe von Herrschaftsverbänden
pastoralistischer Gruppen. Ruanda (bzw. der Herrschaftsverband der Abanyiginya81)
entstand aus einem dieser Herrschaftsverbände, die im wesentlichen aus Allianzen zwischen
verschiedenen Gruppen bestanden haben und einen eher losen Charakter aufwiesen. Die
Beziehungen zwischen den Gruppen waren, glaubt man den Traditionen, turbulent und
geprägt von komplizierten Heiratsarrangements, Intrigen und gewalttätigen
Auseinandersetzungen. Im Kontext dieser Auseinandersetzungen verschob sich der Kern
des ruandesischen Staates schrittweise gegen Westen, ein Prozeß, dem die höfischen
Traditionen einen breiten Raum einräumen und die dafür vier Bami (Kigeri Mukobanya
(1506-1528) , Mibambwe Mutabazi (1528-1552), Ndahiro Cyamatare (1576-1600) und
‚Klangemeinden’ ; Vgl. d’Hertefelt 1971: 10). 81 Eigentlich handelt es sich um eine Lineage, die zum Nyiginya-Klan gehört. Angesichts der Funktion von Klans in Ruanda ist es strenggenommen falsch, von einem königlichen Klan zu sprechen (oder von einem matridynastischen Klan hinsichtlich der Königinmutter). Wie bei den anderen Klans Ruandas sind die Mehrheit der Nyiginya Hutu oder Twa, deren Zugehörigkeit zum selben Klan wie die königliche Lineage keinen Einfluß auf ihre soziale Position hatte. Ausschlaggebend für die soziale Position war die Lineage (inzu bzw. umuryango; letzteres galt speziell für aristokratische Familien), der man angehörte. Gleichzeitig war es im gewöhnlichen Sprachgebrauch durchaus üblich, sich auf ‚die Nyiginya’ zu beziehen, wenn man von der königlichen Familie sprach, also die konkret gemeinte Lineage mit dem Klannamen zu bezeichnen (d’Hertefelt 1971: 4).
65
Ruganzu Ndori (1600-1628) 82 als wegbereitend ansehen.
Tabelle 1: Genealogie ruandesischer Könige (Bami) nach verschiedenen Quellen
Mwami (voller
Name)
Kagame
(Generationendauer
33 Jahre)
Vansina
(Generationendauer
24 Jahre)
Rennie
(Generationendauer
27 Jahre)
Nkurikiyimfura
(Generationendauer
23)
I Gihanga 959-992
II Kanyarwanda
Gahima
992-1025
III Yuhi Musindi 1025-1058
IV ? Rumeza 1058-1091
V ? Myarume 1091-1124
VI ? Rukuge 1124-1157
VII ? Rubanda 1157-1180
1 Ndahiro
Ruyange
1180-1213 ?-1386 1424-1451
2 ?Ndoba 1213-1246 1386-1410 1451-1478
3 Samembe 1246-1279 1410-1434 1478-1505
4 Nsoro
Samukondo
1279-1312 1434-1458 1505-1532
5 Ruganzu
Bwimba
1312-1345 1458-1482 1532-1559 1468-1470
6 Cyilima Rugwe 1345-1378 1482-1506 1559-1586 1470-1520
7 Kigeri
Mukobanya
1378-1411 1506-1528 1586-1588 1520-1543
82 Die angegebenen Eckdaten (nach Vansina 1962: 56; vgl. Tabelle 1) sind in Wirklichkeit hochgradig spekulativ. Dementsprechend kommen unterschiedliche Autoren in ihren unterschiedlichen Annahmen zu deutlich verschiedenen Daten für die frühesten, als historische Personen anerkannten Bami von Ruanda und damit der damit als verbunden angenommenen Gründung der Monarchie. Allen Versuchen von Historikern, eine Chronologie der ruandesischen Monarchie zu entwerfen, ist gemeinsam, daß sie von einer im Jahr der Thronbesteigung Mibambwe Seentaabyos beobachteten Sonnenfinsternis ausgehen (1792 nach Vansina ; 1742 die frühere Schätzung des ruandesischen Historikers und Priesters Kagame, der allerdings sichtlich daran interessiert war, den Beginn der Monarchie möglichst weit zurückzuverlegen), und überall dort, wo keinerlei Hinweise auf eine genauere Angabe zur Herrschaftsdauer der betreffenden Bami vorliegen eine feste Anzahl von Jahren als durchschnittliche Generationendauer annehmen (24 Jahre etwa bei Vansina 1962; 27 bei Rennie 1972; 33 bei der Periodisierung Kagames und 23 in einer neueren Arbeit des ruandesischen Historikers Nkurikiyimfura). Das ‚feste Vertrauen’ in die Korrektheit der ruandesischen Genealogie wurde in der Folge zum Ausgangspunkt genommen, die Genealogien vieler anderer benachbarter oder in Ruanda inkorporierter vorkolonialer Staatsgebilde (Burundi, Ankole, Ndorwan, Gisaka, Buhavu u.a.) an die ruandesische anzupassen und in der Berufung auf sie zum Teil drastisch zu ‚korrigieren’, was wiederum die Reputation der ruandesischen oralen Traditionen zusätzlich zu steigern vermochte. D.Newbury hat jüngst (1994) in einer kritischen Analyse der ruandesischen und anderer Genealogien die postulierte Präzision und Korrektheit insbesondere der ruandesischen Königsliste, die vor allem durch den Charakter der Überlieferung (siehe dazu Vansina 1962: 25f) begründet wurde, als Schimäre entlarvt. Die Genealogien, insofern sie formalen und ideologischen Zwecken genügen sollten (der zyklischen Abwechslung der dynastischen Namen; die Eliminierung von gestürzten Königen etc.), erwiesen sich als immer bis zu einem gewissen Grad manipulierbar. Aus Newburys Analyse geht hervor, daß die historische Existenz der Bami zwischen Ruganzu Ndori (Nr.11 in der in Tabelle 1 p.65 wiedergegenen Genealogie) und Cyilima Rujagira (Nr.17) bzw. Rwaaka (Nr.16) stark anzuzweifeln ist und sich die Datierung ihrer Vorgänger, deren histoirsche Existenz plausibler erscheint, dementsprechend um hundert Jahre nach oben verschiebt.
66
8 Mibambwe
Mutabaazi
1411-1444 1528-1552 1588-1593 1543-1566
9 Yuhi Gahima 1444-1477 1552-1576 1593-1603 1566-1589
10 Ndahiro
Cyaamatare
1477-1510 1576-1600 1603 1589-1600
11 Ruganzu
Ndoori
1510-1543 1600-1624 1603-1630 1600-1623
12 Mutara
Seemugeshi
1543-1576 1624-1648 1630-1657 1623-1646
13 Kigeri
Nyamuheshera
1576-1609 1648-1672 1657-1684 1646-1669
14 Mibambwe
Gisanura
1609-1642 1672-1696 1684-1711 1669-1692
15 Yuhi
Mazimpaka
1642-1675 1696-1720 1711-1738 1692-1715
16 Karemeera
Rwaaka
------- 1720-1744 1738-1756 1715-1731
17 Cyilima
Rujugira
1675-1708 1744-1768 1756-1765 1731-1759
18 Kigeri
Ndabarasa
1708-1741 1768-1792 1765-1792 1759-1792
19 Mibamwe Seentaabyo
1741-1746 1792-1797 1792-1797 1792-1797
20 Yuhi Gahindiro 1746-? 1797-1830 1797-1830 1792-1830
21 Mutara
Rwoogera
?-1853 1830-1860 1830-1860 1830-1860
22 Kigeri
Rwabugiri
1853-1895 1860-1895 1860-1895 1860-1895
23 Mibambwe
Rutarindwa
--- 1895-1896 1895-1896 1895-1896
24 Yuhi Musinga 1897-1931 1867-1931 1897-1931 1897-1931
25 Mutara
Rudahigwa
1931-1959 1931-1959 1931-1959 1931-1959
Quellen: Kagame (1959): La notion de génération appliquée à la généalogie dynastique et à l’histoire
de Rwanda dès la Xe-Xie siècle à nos jours, Bruxelles; Nkurikiyimfura J-N. (1989): La revision d’une
chronologie: le cas du royaume du Rwanda, in Perrot C-H. et al. (Hsg): Sources orales de l’histoire de
l’Afrique, Paris beide zitiert nach Takeuchi 2000: 202 sowie Vansina 1962 und Rennie 1972. I – VIII
werden von Rennie und Vansina nicht als historische Personen gesehen. Offiziellen Genealogien zu
Folge soll Mutara Rudahigwa (1931-1959) der 40 Mwami Ruandas gewesen sein (Maquet 1961: 125).
Von der Regierungszeit Ruganzu Bwimbas (zwei Regierungszeiten vor Mukobanya) bis
Cyilima Ndahiro wurde der Großteil Zentralruandas erobert und nach diesen (bis zur
Herrschaftszeit Yuhi Mazimpakas) der Rest des heutigen Zentralruandas in das
67
Kernkönigtzm inkorporiert (Vgl. Newbury 1991: 82; Vansina 1962: 84). Der Kontakt und die
Qualität des Kontakts mit einer politischen Kultur, die in vielerlei Hinsicht eine Mittlerstellung
zwischen Ost und West83 einnahm und mit politischen Traditionen westlich der Nil-Kongo-
Wasserscheide im Waldgebiet des Kongo ähnlich viel gemeinsam hatte wie mit politischen
Traditionen der Savannengebiete und der Uferregionen des Viktoriasees, hinterließ deutliche
Spuren, institutionelle und hinsichtlich der symbolischen Repräsentation von Herrschaft und
ihrer Ideologie. Die Expansion Ruandas in sein heutiges Zentrum veränderte die Qualität von
Herrschaft an sich. In dieser Periode wurde einem bestehenden Ursprungs- und
Gründungsmythos, welcher deutlich einem pastoralistischen Kontext entspringt, eine zweite
Version beigestellt, die auf verschiedene Charakteristika der Bergregionen anspielt (etwa der
Jagd) und die heroische Gründerfigur Gihanga („der Gründer“ vom Verb ku-hanga -
beginnen) als Zivilisationsbringer84 (Feuer, Eisenverarbeitung...) und ersten Mwami Ruandas
darstellt, der das Symbol königlicher Autorität, die Trommel85, eingeführt haben soll. Dieser
soll auch den ersten ‚Trommler’ (Rwoga) eingesetzt haben und enge Beziehungen mit jenen
Familien gepflegt haben, die in späteren Stadien wichtige rituelle Rollen im ruandesischen
Staat einnahmen. Auf ihn, so der Mythos, soll auch die Einführung des rituellen Codes der
Monarchie und die Ernennung königlicher Ritualisten zurückzuführen sein. Seine Söhne, so
der Mythos weiter, seien die Gründer der benachbarten Königtümer gewesen – Bushi,
Burundi u.a. – ein Anspruch, der deutlich aus einer späteren Phase der Expansion stammt
und diese als Mission der ‚Heimbringung’ darstellt (Vgl. Newbury 1991: 84; Chrétien 1999
passim). Eine große Anzahl von Orten, die mit den Namen von Ritualisten verbunden sind
oder Schreine u.a.. beherbergen, die im Zusammenhang mit dem Königtum stehen, befindet
sich an der äußersten Peripherie Ruandas. Diese Orte lagen zum Teil außerhalb seines
effektiven Herrschaftsbereichs und weisen auf die komplexen Beziehungen Ruandas zu der
den Staat umgebenden Region und spätere diskursive Interventionen, die daraus eine
Rechtfertigung eines ruandesischen Expansionismus ableiten wollten (Chrétien 1999: 294).
Die Herkunftsregion einige der bedeutendsten Ritualisten des Hofes scheinen in dieser
Periode, nämlich unter Kigeri Mukobanya, in Ruanda inkorporiert worden sein (Vansina
1962: 47).
Die geographische Verschiebung des politischen Zentrums von Ost nach West ging mit
bedeutenden religiösen Veränderungen einher: in der Verbreitung des Ryangombe – Kultes,
83 Das ist das zentrale Argument in der Studie David Newburys zum Inselkönigtum Ijwi (Newbury 1991). 84 Die zweite Gründerfigur, ein Zivilisationsbringer wie Gihanga in der ruandesischen Mythologie ist Kigwa („der vom Himmel Gefallene“). 85 ‚ingoma’, die Trommel bezeichnet gleichzeitig das Königtum, für das der Mwami das Medium darstellt. In dieser Repräsentation von Macht und Herrschaft erweist sich der Mwami als vom Diesseitigen abgehobenes Einheitsymbol des Landes. Die ostentative Sakralisierung von Politik stammt wohl aus einer späteren Phase Ruandas, nimmt aber gleichzeitig Bezug auf die stark rituelle Grundlage der Institution des Mwami/Umuhinza in der politischen Tradition der Kivu Rift ‚Tales’ (Vgl. Chrétien 1999: 294)
68
der ruandesischen Variante des Kubandwa/ Bachwezi- Komplexes. Wie auch immer seine
konkrete Relation zur Institution des Königtums sein mag, besteht ein deutlicher
Zusammenhang mit ihr und der in den Traditionen gepflegten heroischen Sichtweise
vergangener Bami (pl. von Mwami) als Krieger und Jäger. Mitte des 18.Jh., unter Cyilima
Rujugira, wurde die Verbindung des Königtums zum Kult – in einem Versuch, diesen zu
kontrollieren – in der Gestalt des umwami w’imandwa, einem Repräsentanten des Mwami,
der an seiner Statt in den Kult eingeweiht wurde, institutionalisiert (D. Newbury 1991: 87).
Tabelle 2 gibt einen Überblick über die institutionellen Veränderungen im Zuge der
Verschiebung des Zentrums des ruandesischen Staates von Osten nach Westen, wie sie in
den Quellen, den königlichen Traditionen erzählt werden.
Tabelle 2: Institutionelle Entwicklungen bis ca. 1750
Periodisierung Mwami, dem die institutionelle Innovation zugesprochen wird
Innovation
Vor dem 16.Jh. bereits vorhanden - Formen von Klientelbeziehungen (d.h. Beziehungen zwischen Ungleichen, die tpyischerweise semi-politischer/-privater Natur sind)
- Pagenarmee - Ernennung von Chiefs auf Basis der
Verwandtschaft zur königlichen Lineage
- magisch-religiöse Ideologie (hinsichtlich der Institution des Königtums
- System ‚freier Orten’ (ibwami – Residenzen; bzw. ingarigari, das die Residenzen umgebende Land bezeichnete), die von einer Frau bzw. Konkubine des Königs ‚regiert’ werden später: Orte ähnlichen Status unter der Kontrolle von Abiru (Ritualisten der Monarchie) oder Protegés des Hofes
16.Jh. Cyilima Rugwe, Kigeri Mukobanya und Mibambwe Mutabazi
- ubwiru (‚Ritueller Code der Monarchie’), ausgeführt von (erblichen) Abiru (mit der Eroberung Bumbogos, und des nördlichen Rukomas (Herkunfts- und Wohnort der wichtigsten Ritualisten) insbes. ‚Nominierung’ einer Lineage von Abiru, der die Wahl der Lineage der künftigen Königinmutter oblag.
- Einführung der ‚Wächter des Hammers’ (rituelle Funktion hinsichtlich von Schmieden)
Wende 16./17.Jh.. Mibambwe Mutabazi, Yuhi Gahima
- Armeebildung auf der Basis ganzer Lineages
- Herausbildung der Erblichkeit der Armeezugehörigkeit
- Mit der Armeeorganisation Herausbildung der Assoziation von Armeen mit Provinzen
69
Anfang 17.Jh Ruganzu Ndori - zusätzliche Abiru-Familie - älteste dynastische Heldenlyrik, die
besonders die übermenschlichen Eigenschaften der Bami herausstrichen; Privilegien für Dichter
Mitte 17.Jh. Mutara Semugeshi - Testament des Mwami (durch das u.a. die Erbfolge geregelt wurde) nicht mehr nur einem, sondern drei Abiru anvertraut; damit verringerte Bedeutung einzelner Abiru – Lineages
- Festlegung des Viererzyklus an dynastischen Namen (Mutara, Kigeri, Mibambwe, Yuhi); Assoziation der Namen mit bestimmten magisch-religiösen Eigenschaften und Tabus (Yuhi der Hirte, Kigeri der Krieger...) und Ablegen jener Namen, deren Träger ihre Aufgabe nicht erfüllt bzw. im Kampf versagt hatten
- älteste Heldenlyrik Mitte 18.Jh. Cyilima Rujugira - Mwami w’imandwa (Königlicher
Ritualist, der in den Ryangombe [kubandwa] Kult eingeweiht war) = Versuch der Kooptierung des Ryangombe Kultes in die Ideologie des Königtums
- Unterstellung der Grenzprovinzen unter die Autorität von Armeechiefs; permanente Stationierung von Armeen in den Grenzregionen
Quellen: Vansina 1962: 62ff: D.Newbury 1991: 84ff;
3.3.1 Kontinuität oder Innovation? Staatsbildungsprozesse
Eine Kernfrage der Historiographie können die vorhandenen oralen Quellen nicht
beantworten: jene nach der (ethnisch verstandenen) Herkunft der Monarchie als Institution.
Die vorhandenen oralen Quellen weisen zwar altersmäßig durchaus jenseits des 15./16. Jh.,
bleiben in bezug auf die Herkunft der verschiedenen Bevölkerungsteile bzw. hinsichtlich von
‚Ethnizität’ und Stratifkation qua ihres mythologischen Inhaltes weitgehend stumm (Twaddle
1975: 167). Es ist anzunehmen, daß der Staatsbildungsprozeß weiter zurückreicht und
älteren Datums ist als es das Alter der ältesten oralen Traditionen (meist Gründungsmythen)
vermuten ließ. Mit anderen Worten, Staatsbildung als solche waren nicht unbedingt das
radikal Neue, als welches sie in der Literatur vielfach dargestellt werden (Ebenda: 179; Ogot
1984: 498). Die Staatsbildungen stehen auch nicht in einem unmittelbaren, oft postulierten
kausalen Zusammenhang mit Immigrationen von Pastoralisten, seien diese nun ‚Niloten‘
(Luo) aus dem heutigen Südsudan, im Falle Bunyoros, oder ‚Hamiten‘ (Tutsi/ Hima)
umstrittener Herkunft86 in den südlicheren Königreichen des Großen Seengebiets. Die Frage
86 Das Fehlen substantieller historischer Spuren (sprachhistorischer oder anderer Natur), womit ihre Herkunft als Gruppe rekonstruierbar oder zumindest andeutbar wäre, entlarvt die Rede von Immigrationswellen als weitgehend leere Hülse, selbst wenn, und es ist plausibel anzunehmen, daß dies der Fall war, es ständig Migrationen aus dem Norden (i.e.: dem Nilbecken) durch verschiedene Pastoralistengruppen gab. Das Problem
70
nach den Staatsbildungen bzw. nach der Institution der Monarchie in ethnischen Termini zu
stellen, heißt die Frage nicht nur in anachronistischer Weise zu formulieren, sondern die
Natur des Staates bzw. den Prozeß der Staatsbildung mißzuverstehen. Die als
Unterwerfungsthese sozusagen materialisierte Diffusionshypothese wirft grundsätzliche
Probleme einer an Institutionen interessierten Sozialwissenschaft auf: Zum einen suggeriert
sie eine durch Eroberung und Unterwerfung erreichte ‚Festsetzung’ von Herrschaft, als deren
Protagonisten nicht nur eine irgendwie begrenzte herrschende Dynastie, sondern ganze
‚ethnischen’ Gruppen identifiziert werden. Zum anderen ist die Idee eines
Institutionentransfers, zumal in einer Situation, in der die ‚Means of Destruction’ beschränkt
sind und die politische Durchsetzungskraft daher sehr stark mit der wahrgenommenen
Legitimität korreliert, grundsätzlich problematisch. Die zumeist nur oberflächliche Ähnlichkeit
mit institutionellen Arrangement anderswo läßt darüber hinaus auch nicht zu, eine ‚Quelle’
der Institutionendiffusion angeben zu können, geschweige denn den Prozeß zu
nachzuvollziehen, in dem die institutionellen Arrangements – ‚der Staat’ – auf die eroberte
Gesellschaft übertragen worden sind.
Igor Kopytoff (1987) hat in seiner komparativ angelegten Arbeit vorgeschlagen,
Staatsbildungen in Afrika als eine Folge und im Kontext von ‚Frontierprozessen’ zu sehen –
als einen Prozeß der Segmentierung von Gruppen von einer metropolitanen Einheit und der
sukzessiven Metropole-Werdung des peripheren Grenzlandes (‚Frontier’). Die Anwendung
des aus dem kolonialgeschichtlichen bzw. aus dem erschließungsgeschichtlichen Kontexts
Nordamerikas entlehnten Begriffs der ‚Frontier’ (die Westgrenze), deren Bedeutung für die
kulturelle, soziale und politische Entwicklung der USA von dem Historiker Frederick Jackson
Turner in mehreren Essays87 herausgearbeitet worden ist, impliziert nicht notwendigerweise
die spezifischen, von Turner betonten Besonderheiten der amerikanischen Westgrenze: die
Kolonisierung von Neuland jenseits des metropolitanen Einflußbereiches einer erstarkenden
Metropole (die den Siedlern immer Schritt auf Tritt folgte) und damit das Verschieben der
metropolitanen Grenzen nach Außen sowie die distinktive – nach Turner progressive –
politische Kultur der Grenzlandsiedler. Vielmehr repräsentiert das auf Afrika umgelegte
Konzept des ‚Grenzlands’ die Peripherie bestehender, relativ gefestigter politischer
Einheiten, wobei die Frontier durch ihre Eigenschaft als das institutionelle Vakuum der
Metropole bestimmt ist. Im Kontext der geringen sozialen und politischen Dichte
afrikanischer Gesellschaft ist die ‚Frontier’ nicht eine ‚Tidal Wave’, wie im amerikanischen
Fall, sondern die immer präsente ‚Grauzone’ einer Gesellschaft, in der die von ihr ist also nicht, daß Migrationen stattgefunden haben, sondern, daß sie die weitreichenden und profunden Folgen gehabt haben, die man ihnen gemeinhin attestiert hat. 87 namentlich (1893): ‚The Significance of the Frontier in American History’ in ‘Frontier and Section: Selected Essays; ed. by Ray Allen Billington, Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall und (1922): ‘Sections and Nations’ in: The Yale Review, 12 (October): pp.1-21
71
produzierten ‚Frontiersmen’ – Ausgestoßene, zu kurz Gekommene, Unzufriedene – den
Keim neuer Herrschaftsverbände und Gesellschaften legen. Unter dem vorherrschende
Herrschaftsmodus88 hatten die afrikanischen Grenzbereiche immer einen stark lokalen
Charakter, was Kopytoff dazu veranlaßt, von ‚internen Grenzbereichen’ zu sprechen.
Idealtypisch kann die Herausbildung eines neuen politischen Fokus aus dem Grenzland als
die Festsetzung von in Gruppen migrierenden Siedler in einer (selten völlig leeren)
Grenzregion vorgestellt werden, in der überwiegend die mitgebrachten Vorstellungen einer
legitimen sozialen Ordnung reproduziert werden. Den Nukleus der politischen Einheit bildet
die Verwandtschaftsgruppe, und das Verwandtschaftsmodell (das in der Praxis dann auf
sehr unterschiedliche Weise realisiert wird) fungiert als das Modell politischer Integration.
Zugleich werden mit anderen mächtigen Gruppen oder dem bisherigen Fokus politischer
Zugehörigkeit Allianzen geschlossen. Mit Anwachsen des Herrschaftsverbandes kommt es
zu Hierarchisierungen, die nicht mehr durch das von dem Verwandtschaftsidiom suggerierte
Gleichheitsmodell verdeckt werden können, es kommt zu einer Dichotomisierung zwischen
Herrschern und Beherrschten, während die Idee des Herrschaftsverbandes als Patrimonium
der ‚Gründerverwandtschaftsgruppe’ beigehalten wird. Die Bindung der Angehörigen des
Herrschaftsverbandes an die herrschende Gruppe bzw. an die Figur des Herrschers bleibt
aber lose, und in der Ideologie der Untertanen erweisen sich die Herrscherfiguren als
Kreation der Untertanen. Diesen Legitimitätsvorstellungen wird dann in ‚reifen’ politischen
Verbänden mittels integrativer königlicher Rituale Rechnung getragen, während Herrschaft –
zumindest in den Kernbereichen des reifen politischen Verbandes – zunehmend ihren
kontraktuellen Charakter verliert (Kopytoff 1987: passim). In ihrem Außenbereich expandiert
der ‚reife’ Herrschaftsverband qua Kontrolle des militärischen Apparats, der ‚Means of
Destruction’ (Goody 1971: Kap. 3).
3.3.1.1Kontinuität und Diskontinuität denken: Herrschaftsverbände und ihre ethnische Färbung
Der britische Historiker Michael Twaddle (1975) hat in einer eingehenden Kritik der
Historiographie des Großen Seengebiets auf die bei der Interpretation der oralen Quellen zu
wenig beachteten inhärenten ideologischen Aspekten postulierter Kontinuität bzw.
Diskontinuität hingewiesen, sei dies nun in der Form von Kontinuität in bezug auf heroische
Gründerfiguren oder in der Form manipulierter Kontinuität der Institution des Königtums als
solcher, indem etwa dynastische Wechsel durch sie systematisch verschwiegen oder
euphemistisch gewendet werden. Daß im 19.Jh. – zumindest in Zentralruanda – Chiefs und
der Mwami aus Tutsi-Lineages und einigen wenigen Klans von angeblicher ‚ursprünglicher‘
Tutsi-Zugehörigkeit (etwa Ogot 1984: 518) stammten, bedeutet nicht, daß dies früher der 88 - als Herrschaft über Menschen. Damit verbunden waren die für Afrika so typische ‚Gefolgschaftsprozesse’ und die beschränkten Reichweite von Herrschaft, die in größeren Herrschaftsverbänden typischerweise zur Elaborierung von ‚Technologies of Reach’ - zu Ausdifferenzierung der politischen Inkorporationsverhältnisse
72
Fall gewesen sein müßte, noch wirft die in den höfischen Traditionen zu findende mythico-
genealogische Rückführung der Monarchie (und der Dynastie) auf die mythologische Figur
Kigwa (“Der vom Himmel Gefallene“), gleichzeitig Stifter der Zivilisation wie Erster in der
Linie der ruandesischen Könige) – dessen Abstieg aus einem himmlischen Jenseits
übrigens als metaphorischer, gleichsam kryptischer historischer Beleg für eine Tutsi-Invasion
gelesen wurde (vgl. zu frühen Interpretationen Chrétien 1999: 300f) bzw. wird (etwa Feltz
1971) Licht auf die tatsächlichen ethnischen Verhältnisse der fraglichen Periode, zumal in
den Traditionen selbst nie oder erst für spätere Perioden von den heutigen ethnischen
Gruppen (Hutu, Tutsi, Twa) die Rede ist. Die wahrscheinlich geringe ätiologische Bedeutung
von Immigrationen fremder Gruppen für die politische Landschaft des Großen Seengebiets
ergibt sich – wenn auch nur spekulativ – aus dem Fehlen signifikanter technologischer oder
sozialorganisatorischer Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen, dem Charakter
des natürlichen Habitat und der Natur möglicher politischer Herrschaft, die allesamt
jedenfalls nicht ausreichen, die Invasions- bzw. Usurpationsthese zu begründen. Die
Präokkupation der Literatur mit einer rassischen bzw. ethnischen Interpretation von
Kontinuität und Diskontinuität kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese mit den
vorhandenen oralen Quellen selbst nicht eindeutig zu belegen sind. Neuere Hypothesen
über den Prozeß der Herausbildung von ethnieübergreifenden Klanidentitäten89 (D.Newbury
1980) legen einen Zusammenhang nahe zwischen der Ausweitung des Einflußbereichs des
ruandesischen Hofes und der durch Auflösung früher dominierender lokaler
Identifikationsformen und Verschmelzung zu neuen, übergreifenden und überregionalen
Identitäten erfolgten Bildung der heute vorherrschenden Klanidentitäten. Analog dazu
erscheint es plausibel, daß ‚Hutu‘ und ‚Tutsi‘, vielleicht in geringerem Ausmaße die ‚Twa‘,
entsprechend der Nähe oder Distanz zum Zentrum bestimmt (Vgl. Herbst 2000: 40ff; Kopytoff 1987: passim) 89 In Ruanda finden sich – je nach Autor – 15 bis 18 Klans, die jeweils, wenn auch zu unterschiedlichen Anteilen, Mitglieder aller ethnischen Gruppen umfassen. Tatsächlich bestehen außer den 15-18 großen Klans, deren Charakter Historiker und Anthropologen angesichts der zeitgenössischen ethnischen Gegensätze vor gehörige Erklärungsprobleme stellten, noch einige weitere, möglicherweise bis zu 50 (D.Newbury 1980: 396).In der Historiographie Ruandas wurden die multiethnischen Klans als Schlüssel zum Verständnis der Besiedlungsgeschichte Ruandas gesehen. Dazu wurde versucht, die ursprüngliche ethnische Identität der einzelnen Klans herauszufinden (über den relativen Anteilen von Tutsi bzw. Hutu an einem Klan) und daran anschließend, Hypothesen über die Einwanderung der Tutsi und über die anschließende Interaktion mit vorgefundenen Gruppen sowie über den Mechanismus der Ausbreitung der Klanmitgliedschaft auf alle ethnischen Gruppen aufzustellen (Vgl. zur Historiographie d’Hertefelt 1971: 21ff). Die stark unterschiedlichen Angaben über die Zahl der Klans weist freilich auf tieferliegende Probleme hin, die in bezug auf Klans bestehen, nämlich hinsichtlich der sozialen oder überhaupt semantischen Bedeutung der Klanidentität (in Kinyarwanda ubwoko (sg.), amoko (pl.)) und hinsichtlich der ‚Einheit’ von Klanattributen (etwa Totemtier oder ähnliches). Die Semantik von Ubwoko (‚Ubwoko’ kann neben dem, was gemeinhin als Klan übersetzt wird, ‚Rasse’ , ‚ethnische Gruppe’, ‚Spezies’, Art, Klasse bedeuten, woraus sich eine allgemeine Bedeutung als ‚Begriffsklasse’ herauskristallisiert, anders gesagt, ubwoko gruppiert/ordnet Begriffe/Phänomene hinsichtlich spezifischer Gemeinsamkeiten; Vgl. Takeuchi 2000: 188) weist jedenfalls darauf hin, daß es sich beim ruandesischen Klan um etwas anderes als um eine fiktive Verwandtschaftsgruppe, sozusagen um eine Verlängerung der Lineage, artikuliert in einem patriarchalen Idiom, handelt, sondern im besten Fall um eine soziale Kategorie (so etwa d’Hertefelt 1971: 3), von der in vielerlei Hinsicht heute nicht viel mehr als der Klanname selbst geblieben ist, der allerdings eine gewisse soziale Wirkmächtigkeit nicht verloren hat, sei es auch nur in der Form der einem Fremden gleicher Klanzugehörigkeit dargebotenen besonderen Gastfreundschaft (ebda: 7).
73
sich erst als solche: als Großkollektive aus vormals ebenso vorwiegend lokal definierten
Gruppen konstituieren mußten (bzw. konstituiert wurden). Einige empirische Befunde, auch
aus rezenter Zeit – wie die Existenz von autonomistischen Rindernomaden (Bagogwe und
Bahima im Norden Ruandas), die in Fremddefinitionen gewöhnlich als Tutsi gesehen
werden, dem Selbstverständnis nach sich zuerst anders definieren – scheint in diese
Richtung zu deuten. Die der Frage nach der ethnischen Identität der ‚Staatsgründer‘ bzw. der
mytho-historischen Herrscher eingeschriebene Frage nach der rassischen Identität der
betreffenden Gruppen bleibt davon freilich in gewisser Hinsicht unberührt. Diese beruht
allerdings ihrerseits auf der Prämisse der Präkonstitution der ethnischen Gruppen, die sich
schon aus theoretischen Gründen als unhaltbar erweist. Einerseits verschiebt sie das
Konstitutionsproblem in eine nicht erkennbare Vergangenheit, hebt dieselbe im gleichen
Moment in den Status einer mythischen, vorhistorischen Epoche, in der die Welt als von
einer Vielzahl kleiner, isolierter, ethnisch homogener Gemeinschaften bevölkert gedacht
wird. Zum anderen wird in Anbetracht der politischen Zersplitterung der Region in der durch
die angebliche Invasion- bzw. Usurpation geprägten Epoche ein tieferliegendes
Einheitsmoment unterstellt, das letztlich auf nichts anderem beruht als die den jeweiligen
Gruppen unterstellten Blutsbande: auf der Idee der ‚Rasse’.
Während die oralen Quellen zur ‚Identität’ der von ihnen behandelten Gruppen weitgehend
schweigen, vermögen sie, werden sie ernst genommen einem besseren Verständnis der
Machtverschiebungen und damit der Kontinuitäten und Diskontinuitäten der betroffenen
Herrschaftsverbände zu dienen. Der Inhalt weiter Passagen vieler dynastischer Traditionen
dreht sich um Eroberungen, Raubzüge und interne Konflikte, aus denen das Königreich, das
diese Traditionen zum Inhalt hat, ‚siegreich‘ hervorgeht, zumindest seine Kontinuität wahren
kann. Twaddle hat nun auch die Natur der Konflikt- und Kriegsgeschichte als wesentlichstem
Teil eines politischen Prozesses, worüber die oralen Quellen Auskunft geben, einer Kritik
unterworfen, in der er einerseits die leichtfertige Akzeptanz von behaupteten Eroberungen
durch Historiker und andererseits die gleichzeitige Annahme einer bestimmbaren ethnischen
Identität des Königtums bzw. der zuerst vom ruandesischen Ursprungsgebiet annektierten
Gebiete kritisiert. Weder kann einfach angenommen werden, daß alle von ‚Ruanda‘
bekriegten Staaten in einem linearen Prozeß annektiert, integriert und ihnen (quasi zeitlose)
ruandesische Strukturen übergestülpt worden sind, noch, daß sie alle von Tutsi beherrscht
worden wären, noch, daß die modernen ethnischen Kategorien (Opposition von Hutu und
Tutsi) die selbe Bedeutung in der Vergangenheit gehabt hätten. Der durch häufige
kriegerische und semi-kriegerische Aktivitäten geprägte politische Prozeß in der Periode, die
bis mindestens in das 18.Jh hinein andauerte, dem Beginn der eigentlichen Expansion
Ruandas mit der Annexion der (heutigen) südlichen Teile Ruandas und großer Teile Gisakas
74
(im Osten), spielte sich nicht zwischen ethnischen Gruppen oder ethnisch geprägten Staaten
ab, sondern zwischen Herrschaftsverbänden, die von einzelnen Klans oder Lineages
dominiert wurden. Der Aufstieg eines einzelnen ‚Klans’90 (der Abanyiginya) zum Königsklan
und damit zur dominierenden Kraft in Ruanda, war – im Kontext der Machtkämpfe – ein
durch Eroberungen geprägter Prozeß, in dem dieser wohl erst relativ spät Schritt für Schritt
benachbarte Territorien vormals unabhängiger politischer Einheiten annektierte (in dem er
die an der Macht befindliche Lineage bzw. Klan vertrieb oder absetzte) und in dem die
Ausdehnung des ruandesischen Herrschaftsbereiches nicht, wie häufig angenommen wird,
ein Ergebnis der ‚Vereinigung’ bzw. Assimilation von Tutsistaaten gewesen sei, bevor sie
unabhängige Hutu-Staaten einbezog (Twaddle 1975: 176f).
3.4 Der Charakter früher Herrschaftsverbände
Die politischen Einheiten der Frühzeit (bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert) kann
man sich wohl am besten als eher lose Herrschaftsverbände vorstellen, mit deren
Herrschern die Bevölkerung einerseits durch Tributzahlungen und Klientelverhältnissen
materiell und andererseits, über eine mehr oder weniger starke Herrschaftsideologie
ideologisch verbunden war. In einer Zeit, in der es für die Angehörigen eines
Herrschaftsbereiches beträchtliche Möglichkeiten gab, Druck auf die Herrschenden
auszuüben (durch Emigration in ein anderes Gebiet oder Aufkündigung der Loyalität), in der
die Bevölkerungsdichte noch gering genug war (im Vergleich zum 19.Jh.), um auf noch
unbesiedeltes Land zurückgreifen zu können und in der die militärisch-technischen Mittel
der Herrschenden zu beschränkt waren, um mit Gewalt die Bevölkerung unter Druck zu
halten, konnte politische Herrschaft nicht ohne geeignete ideologische Mittel, politischer
Zustimmung der Herrschaftssubjekte gemeinsam mit militärischem Druck aufrechterhalten,
geschweige denn vergrößert werden (Twaddle 1975: 178). Dauerhafte Expansion eines
‚Staates’ bzw. anderer Gebiete beruhte auf stets prekärem militärischen Erfolg
gleichermaßen wie auf ideologisch-mystischer Manipulation. Die primäre Konfliktlinie hierfür
verlief nicht zwischen ‚Hutu‘ und ‚Tutsi‘, sondern zwischen verschiedenen lokalen Gruppen,
deren Herrschaftsanspruch über ein Gebiet von jeweils anderen mit militärischen Mitteln
strittig gemacht wurde, nicht selten über die Ausnutzung reichlich vorhandener interner
Machtkämpfe zu diesem Zweck (Twaddle 1975: 178). Land war zunächst noch reichlich
vorhanden91 und blieb außerhalb der durch den ruandesischen Herrschaftsverband
repräsentierten Herrschaftsstruktur (aber nicht völlig außerhalb politischer Organisation). Es 90 Gemeint ist die königliche Lineage aus dem Klan der Nyiginya, vgl. vorhergehende FN und FN 81. 91 Die Rede von ‚Landknappheit’ beinhaltet immer auch ein subjektives Element, und die Rekonstruktion institutioneller Innovationen in der Studie der Frühgeschichte der Region von D.Schoenbrun (1998) weist sehr frühe institutionelle Arrangements nach (z.b. der Aufstieg der patriarchalen Ideologie und der zunehmenden Dominanz von Linearität in den Verwandtschaftsmodellen, die ursächlich mit Land bzw. seiner Vererbung (und
75
ist wahrscheinlich, daß sich erst seit Ende des 18.Jh., im Zuge der zunehmenden
Verknappung landwirtschaftlich noch unerschlossener Gebiete, permanent seßhafte Land-
und Viehwirtschaft gegenüber einem durch Brandrodung gekennzeichneten
Wanderackerbau bzw. einer nomadisierenden Viehzucht durchgesetzt hat. Die Periode
davor kannte demnach wohl auch kaum ein Bodenrecht im engeren Sinn (Vgl.
Rwabukumba/ Mudadagizi 1974: 10-12). Wahrscheinlich nicht vor dem 18.Jh., nahm es
zunächst die Form des Erstbesitzrechts an. Die Lineage, die ein Stück Land urbar gemacht
hatte, war der eigentliche (kollektive) Besitzer92 desselben. Später Gekommenen wurde
Land vom Lineage Chief in einem pachtähnlichen System zugeteilt (Feltz 1975: 148).
Innerhalb der (engeren oder weiteren) Lineage wurde es als Familienbesitz aufgeteilt, wobei
die nächstfolgende oder übernächste Generation für die weitere Aufteilung des Landes
zuständig war. In dieser Weise nahm das Bodenrecht schon früh einen weitgehend
individuellen Charakter an, sodaß in Erb-, Weitergabe und Besitzangelegenheiten lineage-
oder klanbezogene Mechanismen kaum mehr in Anspruch genommen werden konnten (Vgl.
Meschi 1974: 44).
Insgesamt boten die sozialen, politischen und ökonomischen Beziehungen vor dem Ende
des 18.Jh. kaum das Bild eines systematischen Herrschaftszusammenhangs und ‚eng
geknüpften Netzes‘, als das es im 20. Jh. erschien und beschrieben wurde (siehe für eine
derartige Interpretation etwa die klassische Studie von Maquet 1954/1961: Kap.VII passim).
Wesentliche Elemente in der politischen Entwicklung der frühen Herrschaftsverbände waren
dagegen Kriege und Razzien, welche primär aus ökonomischen Gründen (Viehraub) geführt
wurden, mitunter in Zusammenhang mit internen Machtkämpfen standen (welche ein ebenso
permanentes Charakteristikum der frühen Periode darstellten) oder unmittelbar zur
Ausweitung des Machtbereichs (üblicherweise durch Tributverpflichtung, nur sehr selten
durch Annexion) dienten. Bis ins 18.Jh. und parallel zur schrittweise erfolgenden
Transformation von Pagen-Armeen (also dem Mwami verpflichteten bewaffneten Gruppen
junger Männer aus dem Umkreis des Hofes) hin zu ‚erblichen‘ Armeen basierend auf der
Inkorporation ganzer Lineages ab Mitte des 16.Jh. (Vansina 1962: 66f) sollen die effektiven
Mittel der Kriegsführung und militärisch gestützte Dominanz nicht überschätzt werden. Die
durch diese militärische Innovation gewonnene höhere Schlagkraft wurde selten in
systematische Expansionspolitik übersetzt. Sie zeigte sich in erster Linie in der
Vervielfachung von Razzien und in deren größeren Entfernungen vom Zentrum des Landes
(ebenda). Der Charakter des Krieges als immer auch ökonomisch motiviertes politisches
Instrument hat sich durch die Ausweitung des Kämpferkreises nicht geändert, wohl aber die
Bedeutung des Krieges als Umverteilungs- und daher als potentieller Machtmechanismus deren Kontrolle) zu tun haben).
76
(Vgl. Heinrich 1978: 27). Über die unmittelbare Bedeutung von Kriegen für Gebietsgewinne
und Machtkämpfe hinaus, erweisen sich Kriege, damit verbundene militärische
Organisationsweisen und militärisch-organisatorische Innovationen für Ruanda als
Leitmuster allgemeinerer gesellschaftlicher und politischer Organisation überhaupt. Dies fand
seinen Ausdruck, noch im engeren militärischen Kontext, in der dualen Struktur der
ruandesischen Armeen: Kämpfer und Viehherden (und ihre Hirten) waren gleichermaßen in
Armeen organisiert. Damit hatten die Armeen über ihre kriegerischen Funktionen hinaus
einen dezidiert ökonomischen und sozialen Zweck, dienten als Ressource für die politische
Elite und wurden zunehmend zu einem wichtigen Element der politischen bzw. der sozialen
Organisation. Der Krieger, der sich durch Tapferkeit, Treue und Großzügigkeit auszeichnete,
galt nicht nur als Idealbild von Männlichkeit93, sondern als (für manche nie erreichbare) Ideal
des Menschen an sich (Heinrich 1978: 136).
Exkurs: Militärische (Re-)Organisation und militärischer Ethos
Höfischen Überlieferungen nach kam es in der Folge eines oder mehrerer Einfälle von
Verbänden aus dem erstarkenden Königtum Bunyoro94 (heutiges Uganda) zu einer Reihe
von Neuerungen in der Organisationsweise der Armeen (ingabo) während der Regentschaft
der Bami Kigeri Mukobanya (1506-1528), Mibambwe Mutabazi (ca. 1528-1552) und Yuhi
Gahima (ca. 1552-1576). Unter dem Eindruck der strafferen Organisation (insbesondere der
einheitlichen Kommandostruktur während eines Feldzuges bei den Armeen Bunyoros)
scheint das Kommando über die Armeen vereinheitlicht und diese dem Mwami unterstellt
worden zu sein. Ab der Regierungszeit Mibambwe Mutabazis oder Yuhi Gahimas wurden
schließlich, so sagen es zumindest die höfischen Traditionen, die existierenden
Pagenarmeen auf der Basis von Lineages rekrutiert und aus diesem Grund Armeen in
Kompanien (itorero) gegliedert.
Die Zugehörigkeit zu einer Armee aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Lineage brachte mit
sich, daß die Mitgliedschaft zu einer Armee schließlich ‚erblich’ wurde – sofern man nicht als
jugendlicher ‚Intore’ (‚Erwählter’) für eine neugegründete Armee ‚auserwählt’ wurde.
Während also neue Rekruten einer Armee auf individueller Basis beitraten, gehörten ihre
Nachkommen der Armee qua Zugehörigkeit zur engeren Familie (‚Inzu’ – ‚Haus’) des
rekrutierten Intore aus der Vorgängergeneration an (d’Hertefelt 1962: 65).
92 Zu lineageinternen landbezogenen Vererbungsusancen siehe Meschi 1974: 40f 93 Ein Indikator dafür geben das semantische Feld der Wortwurzel –ngabo und die daraus abgeleiteten Termini, z.b.: umu-gabo – männlicher Erwachsener, mutiger Mann; Imi-gabo – männlich feste Entscheidung, Projekt, Absicht; I-gabo – Herausforderung, Tapferkeit, Mannhaftigkeit, Tüchtigkeit, Arroganz, Haltung; Ubu-gabo – Virilität, Heldenhaftigkeit (Ndejuru 1983: 103) 94 Die historische Validität dieser Aussage soll dahingestellt bleiben. Hinsichtlich der Benennung anderer als der jeweils eigenen Gesellschaft sind die historischen Überlieferungen (ibitekerezo) notorisch unpräzise.
77
An der Spitze der Armeen standen Notable, die gegenüber anderen Ämtern eine relativ
autonome Position einnahmen, sogenannte ‚Armee-Chiefs’ (umutware w’ingabo oder
umugabo). Doch schloß sie ihre Befehlsgewalt über eine Armee keineswegs von anderen
Ämtern aus, im Gegenteil, die Verfügungsmacht über eine der zahlreichen Armeen wurde zu
einem wesentlichen Element der Machtkämpfe rund um die höchsten Positionen des
Herrschaftsverbandes (Vansina 1962: 65ff; Weinstein 1977: 48f). Die neue
Militärorganisation, die sich in mehreren konkurrierenden Armeen mit Armee-Chiefs an ihre
Spitze manifestierte, war damit zugleich eine wesentliche eine Quelle von Konflikten dieser
Armeen untereinander sowie einzelner oder Koalitionen von Armee-Chiefs mit dem Mwami
(Vansina 1962: 67). Gewöhnlicherweise war ein Armee-Chief ein Notabler, der große Herden
und besaß und eine hohe Position innehatte und der das ihm übertragene Amt und die damit
verbundenen Armeeangehörigen und Armeeherden dazu nutzte, sich Klientel zu schaffen
und zu verfestigen. Gegenüber seinem Klientel – den Armeeangehörigen – fungierte ein
Armee-Chief als Fürsprecher und Protektor, kam es zu Konflikten mit territorialen Chiefs oder
anderen ‚Big Men’ (Vgl. d’Hertefelt 1962: 66f).
Die Armeen waren freilich mehr als reine Kampfverbände, vielmehr (in den Worten Alexis
Kagames) ‚soziale Armeen’ (Kagame 1961). Jede von ihnen hatte einen eigenen (Preis-)
Namen, unter denen sie bekannt wurden und der den Mitgliedern eine kollektive Identität
jenseits der Lineage (inzu bzw. umuryango) oder der ‚Lokalität’ verlieh und infolge des
nonterritorialen Charakters der Armeezugehörigkeit Personen im ganzen Herrschaftsgebiet
(und später, mit der Generalisierung der Armee als Patronagemechanismus auch darüber
hinaus) miteinander verband. Ihnen waren eigene Herden zugeordnet und manchmal die
Betreuung königlicher Herden besonderen Viehs (‚inyambo’ – ein Typus von Rindern mit
besonders langen Hörnern[Sangha-Rind]) überantwortet. Neben den eigentlich Kämpfenden
(deren Kern stets die ‚Intore’ bildeten), taten andere als ‚Hirten’ Dienst. Diese rekrutierten
sich aus jungen Männer vor ihrer Kampftauglichkeit, teils aus Söhnen von Klienten des
Armee-Chiefs oder aus diesen selbst. Die Armeen fungierten gleichzeitig als wichtiger Kanal,
über den Tributzahlungen95 an den Hof gelangten, vornehmlich in der Form des Prestigeguts
‚Rind’. Allerdings verwandten Armeeangehörige (gewöhnlicherweise aus der ‚Hirtensektion),
die aus vieharmen Lineages kamen, durchaus andere Güter, um ihrer Tributpflicht
nachzukommen. Ende des 19.Jh. waren weite Teile der ruandesischen Bevölkerung
Mitglieder der einen oder anderen ‚Armee’, womit die Armeeorganisation einen wesentlichen
Teil des Extraktionssystems darstellte, das die Basis (und einen wesentlichen Sinn) der
administrativen Struktur Ruandas darstellte (siehe auch unten Kap. 4.1 Expansion und
Militär).
95 Zu den verschiedenen Typen von Tribut siehe Kagame 1961: 8ff
78
Die Armee als soziale Institution und Organisationsweise war auch der Ort, an dem
gesellschaftliche Unterschiede artikuliert wurden, Oberschichtsverhalten erlernt wurde. Und
sie gehörte zweifellos zu den vorkolonialen Institutionen, innerhalb derer die Kategorien Hutu
und Tutsi die spezifisch hierarchische Bedeutung – die später generalisiert wurde -
annahmen, sozusagen ‚mit Leben erfüllt’ wurden. Die Artikulation eines hierarchischen
Verhältnisses zwischen ‚Hutu’ und ‚Tutsi’ innerhalb der Armee wurzelte selbst wieder in der
Distanz zwischen Aristokratie und gemeinem Volk, zwischen (Macht) Zentrum und (der)
Peripherie (der Macht; in der Wahrnehmung des Hofes und der mit ihm verbundenen
Personen und Gruppen natürlich dieser selbst), dem Distanzverhalten, das die Aristokratie
an den Tag legte.96 Die Armee wurde so entsprechend der Ausweitung und Generalisierung
des militärischen Modells zu einer der wichtigsten sozialisatorischen Instanzen im
vorkolonialen Ruanda überhaupt, innerhalb derer gesellschaftlicher Status vermittelt wurde.
Ursprünglich regional rekrutiert, verloren die Armeen dieses Attribut mit der Erblichkeit der
Armeezugehörigkeit zunehmend. Mit der Ausweitung der Armeezugehörigkeit auf größere
Teile der Bevölkerung wurde schließlich der Unterschied zwischen denjenigen, die als intore,
als junge Männer vor der Pubertät, am Hof gedient und dort eine umfassende Ausbildung
erhalten hatten und denjenigen, die lediglich einer Armee angehörten, zu einem effektiven
Symbol von ‚Klassenzugehörigkeit’ (D.Newbury 1991: 90). Am Hof, genauer in ihrem itorero
(‚Ort der Auswahl’; zugleich als Synonym für Kompanie gebraucht), rezitierten die intore
Heldengedichte (ibisigo), die zu Ehren besonders ‚heldenhafter’ Mwami gedichtet worden
waren, lernten selber ibyivugo zu komponieren (sg. icyivugo; eine Art von Gedichten, in
denen der Vortragende seine eigenen Heldentaten verherrlicht und zukünftige umschreibt),
erhielten eine Ausbildung im Speerwurf und Bogenschießen in Verbund mit einer
umfassenderen körperlichen Ertüchtigungspraxis und lernten die aristokratische Etikette zu
befolgen (Ndejuru 1983: 108ff). Die Armee stand somit im Mittelpunkt eines ideologischen
Apparats, der für die Reproduktion zentralruandesischer Normen und Sichtweisen eine
essentielle Funktion einnahm und der mit der Transformation der Herrschaft infolge der
Expansion Ruandas – der Verschiebung seines Zentrums in den Westen – die
transportierten Wertvorstellungen zum dominanten Normsystem in der Gesellschaft erhob.
Gleichzeitig wurden diese Normen, die selbst wieder Ausdruck einer sich herausbildenden
Identität Ruandas als Metropole, als kulturelles, soziales und politisches Zentrum waren,
wesentlich von dem Charakter der Staatsbildung geprägt, d.h. in dem Prozeß der
Schwerpunktverschiebung von Ost nach West und der dadurch bedingten Transformation
der Herrschaft. Als (negativer) Bezugspunkt für die Formulierung der spezifischen
96 Siehe zu der Beziehung zwischen Politik, Distanz und Repräsentation von Herrschaft Edelman 1990: 5
79
ruandesischen Werte diente das jenseits des ruandesischen Grenzlandes verortete Andere
(kollektiv benannt als ‚Bushi’ oder ‚Bunyabungo’), Synonym für Barbarei, Unkultiviertheit und
Unzivilisiertheit (Vgl. D. Newbury 1987: passim). Viele der Implikationen der
Armeeorganisation – sei es hinsichtlich der Inkorporation eroberter bzw. beanspruchter
Gebiete und Gesellschaften, sei es hinsichtlich ihrer ideologischen Funktion und Katalysator
von Stratifikation und der Restrukturierung Ruandas nach einem Zentrum (=Hof) –
Peripheriemodell fallen außerhalb der in diesem Kapitel behandelten Periode und zusammen
mit der Expansion Ruandas ab Mitte des 18.Jh., die im folgenden Kapitel behandelt werden
soll.
3.4.1 Herrschaftsdichte
Die Verfügungsmacht des Mwami bzw. der Chiefs betraf in einer Situation noch vorhandener
Landressourcen und der vorherrschenden Weise der Kriegsführung vor allem Rinder. In
diesem Kontext die Genese der Form der von einer Aristokratie von Tutsi-‚Pastoralisten‘97
regierten Monarchie ist wahrscheinlich anzusiedeln. Mindestens ebenso wichtig wie die
Umverteilungsmacht über Vieh war die charakteristische Veränderung der Beziehungen
zwischen Pastoralisten und Ackerbauern, wie sie durch Dürren und Subsistenzkrisen
induziert wurde. Solche Subsistenzkrisen infolge von Dürre waren namentlich in der ersten
Hälfte des 17.Jh. und der zweiten Hälfte des 18.Jh. häufig. Ackerbauern waren davon
tendenziell betroffener als die mobileren Pastoralisten (Webster/ Ogot/Chrétien 1992: 822ff).
Subsistenzkrisen im Kontext von ökologischen und mittel- und langfristigen klimatischen
Veränderungen hatten wahrscheinlich schon in einer früheren Periode wesentlich zur
Ausbreitung pastoralistischer Lebensweisen in der Region beigetragen.98 Die verstärkte
Kontrolle über Zugang und Verteilung von Rind durch Chiefs und den Mwami und
Subsistenzkrisen, die das agrarische Äquilibrium veränderten, führten im Verbund mit der
Verknappung von Land und einer wachsenden Bevölkerung dazu, daß der Mwami bzw. die
Chiefs während des 18.Jh. die Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktion bzw. das
Land selbst erlangten und sukzessive ausweiteten, ein Prozeß, der zweifelsohne am Beginn
des Zentralisierungsprozesses des 19.Jh. steht und ihn erst ermöglicht hat. Die
Zentralisierung und gleichzeitige Verdichtung der Herrschaft war schließlich der
entscheidende Faktor in der Verstärkung und Erstarrung des schon aufgrund der erwähnten
Entwicklungen in Ansätzen vorhandenen Ungleichgewichts zwischen Bauern und
97 Genaugenommen war keiner der Tutsi im engeren Umkreis des Hofes, ebensowenig wie die wichtigen Chiefs mehr Pastoralisten, sondern Grundherren und Viehbesitzer. Die Berechtigung für den Terminus ‚Pastoralisten‘ liegt in der ideologischen Bedeutung des Rinds für ebendiese Aristokratie. 98 Aufgrund des Rodah Nilometers (d.h. Aufzeichnungen über Pegelminima und –maxima des Nils, die seit dem 7.Jh. von ägyptischen Verwaltern gemacht wurden) lassen sich zwei ausgedehnte Trockenperioden im Großen Seengebiet ausmachen, eine von etwa 950 bis 1100 und eine zweite von ca. 1200 bis 1450. Besonders in der letzten breitete sich der Pastoralismus im westlichen Hochland des Großen Seengebietes (i.e.: Ruanda, Burundi, Nkore) besonders stark aus (Schoenbrun 1998: 221)
80
Pastoralisten und dem damit einhergehenden Bedeutungsaufschwung von ‚Hutu‘, ‚Tutsi‘ und
‚Twa‘ als kollektive Identifikatoren.
81
Kapitel IV Zentralisierung und Expansion
Um 1800 umfaßte Ruanda noch weniger als die Hälfte des heutigen Staatsgebietes. Als
1898 die erste deutsche Militärstation – das erste sichtbare Zeichen der deutschen
Inbesitznahme der Kolonie – auf ruandesischem Boden errichtet wurde, war die das 19.Jh.
prägende Expansion keineswegs abgeschlossen. Einige kleinere rituell-monarchische
Staaten (Bushiru, Buhoma, Bukonya, Bugamba-Kiganda, Itare, Cyingogo, Ruhengeri, Kibali,
Rwankeri und Bwananmwali im Norden; Mubali im Osten sowie Busozo und Bukunzi im
Süden) behielten teilweise bis in die Zwanzigerjahre ihre Unabhängigkeit und wurden erst
mit kolonialer Unterstützung bzw. auf kolonialer Initiative hin der Monarchie eingegliedert.
Andere Regionen, insbesondere in den nördlichen Gebieten, standen zwar mitunter unter
nomineller Kontrolle zentralruandesischer Chiefs, de facto wurden die meisten
Angelegenheiten aber innerhalb von Lineages mittels eher diffuser Arrangements geregelt.
Dazu kamen im Norden noch lokale ‚Warlords‘ und Nyabingi-Medien – PriesterInnen einer
‚Gottheit’ namens Nyabingi (bzw. Biheko)99-, die im Gebiet ihrer spirituellen Tätigkeit quasi
autonome Herrschaftszonen etablierten und, in einer Widerspiegelung der monarchischen
Situation in Ruanda, zwischen mehreren Residenzen nomadisierten und Klienten an sich
banden (Linden 1977: 19 und 36f). Die administrativen Strukturen bzw. die Art und Weise
der Integration in den ruandesischen Herrschaftszusammenhang bestanden zu Beginn der
kolonialen Okkupation aus einem Puzzle verschiedenster Arrangements, an deren
Ausgestaltung man das Datum der Annexion und das Ausmaß der zentralgewaltlichen
Durchdringung ablesen konnte (Ntezimana 1990 passim). Gleichfalls war die Herrschaft des
ruandesischen Mwami in den erst in jüngerer Zeit erworbenen Gebieten nicht unbestritten
und äußerte sich in Konflikten zwischen der Monarchie bzw. den zentralruandesischen
Notablen und den jeweiligen ‚angestammten‘ Eliten (Honke 1990a: 120 ;
Mbonimana/Ntezimana 1990: 135). Zugleich war der ungleichmäßige und ungleichförmige
Expansionsprozeß begleitet von einer qualitativen Veränderung der Herrschaftsstrukturen
bzw. der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt, die in den ruandesischen Kerngebieten
99 Die Nyabingi Bewegung hat ihre Anfänge im frühen 19.Jh. und ist möglicherweise als Verehrung einer historischen Person – Biheko oder Kiheko – entstanden. Nyabingi bzw. Biheko/Kiheko wird nach einer Tradition als eine Frau aus der Herrscherdynastie Ndorwas (Nordzentral-Ruanda) stammend (‚Königin von Ndorwa’) betrachtet. Nach einer anderen Tradition kam der Kult vor 1900 aus dem Westen nach Ruanda. Das Phänomen, von ‚Geistern’ hervorragender historischer Personen besessen zu werden, ist jedenfalls in der gesamten Region des Großen Seen-Gebietes ein häufiges und hängt mit den weitverbreiteten religiösen Vorstellung bezüglich Sterben und Tod, d.h. mit der für diese Region spezifischen Kosmologie zusammen. Während es sich beim Nyabingi-Kult, so wie bei kubandwa um einen Besessenheitskult handelt, ist Nyabingi, im Gegensatz zu kubandwa, das mit der Figur Ryangombes verbunden wird, ‚privater’ Natur, in dem Sinn, als daß ein Hilfesuchender allein eine(n) Priester(in) der Gottheit aufsucht und die Sitzung wenig formalisiert organisiert ist. Diese Form einer religiösen Bewegung ist zudem ausschließlich in Gebieten, die traditionell über keine zentralisierten politischen Strukturen verfügten, zu finden (Dorsey 1994: 314; Freedman 1974: 170f; Lemarchand 1970: 100)
82
ihren Ausgangspunkt hatte. Unter den Bami (pl. von Mwami) Yuhi IV. Gahindiro (1797-1830),
Mutara II. Rwogera (1830-1860) und Kigeri IV. Rwabugiri (1860-1895) wurden viele jener
Institutionen und Herrschaftsarrangements eingeführt, die später als typisch für die
oppressiven Verhältnisse in Ruanda gesehen wurde. Sie betrafen im wesentlichen drei
Bereiche:
- das Landregime
- Klientelverhältnisse
- Kontrolle der Arbeitskraft
Die Veränderungen in den drei Bereichen sind zutiefst miteinander verbunden und selbst
wiederum Ausdruck der Verdichtung der Herrschaftsbeziehungen. Vor dem 19.Jh setzte sich
die Verwaltung des Reiches im groben aus drei Ebenen zusammen:
- dem König und seinen Beratern bzw. den Ritualisten (Abiru)
- Provinz- bzw. Armeechiefs
- Distrikt-Chiefs
- lokalen Chiefs (Hügel-Chiefs oder Lineage-Chiefs).
Außerhalb dessen standen die königlichen Residenzen, die von den Konkubinen des Königs
verwaltet wurden und ihm insofern direkt unterstanden. Sie befanden sich theoretisch in
jeder Provinz und beschränkten somit die Macht der Provinz- und der Distrikt-Chiefs (vgl.
Abbildung 7: Schema der Herrschaftsbeziehungen in Ruanda ca. 1750 auf der folgenden
Seite)
83
Abbildung 7: Schema der Herrschaftsbeziehungen in Ruanda ca. 1750
Umwami Umugabekazi
(Königinmutter)
Abiru (sg.Umwiru, ‚rituelle Experten und Berater des Königs
Abiru-‚Lehen‘ Konkubinen d. Königs (Umuja)
Garigari: königliche Residenzen
Abatware b‘intebe Privilegierte Lokale Notablen
(Rat der Würdenträger, schwach instutionalisiertes Königliche Grabstätten, rituelle Haine
beratendes Gremium) etc.
Abatware b’amacibiri
Korps der Provinzchiefs
Abatware b‘ingabo
Armee-Chiefs
‚Armee Sociale‘ ‚Armee Bovine‘
Distrikt-Chiefs,
Hill-Chiefs; Lineage-Chiefs etc.
(vgl. d’Hertefelt 1962: 62f; Heinrich 1978: 36f; Kabagema 1993: 44ff; Feltz 1971: 80)
Ende des 19.Jh hatte Ruanda an die 80 Provinzen. Ihre Zahl und ihre Grenzen waren
instabil, da jeder neue Mwami neue Armeen schuf – und mit ihnen neue Provinzen -, die
dem Chief einer neugeschaffenen Armee oder anderen Notablen (umutware w’umukenke;
umutware w’ubutaka) zur ‚Verwaltung’ übertragen wurde. Die in der Literatur gewöhnlich
‚Provinzen’ genannten Einheiten waren allerdings keine territorial-administrativen Einheiten
im engeren Sinn. Ihr Name bezeichnete eine geographische Region, eine Gegend:
Ruanda besteht aus einer Anzahl von Provinzen, deren Namen geographische Begriffe, nicht
aber administrative Einheiten bezeichnen. (...). Die einzelnen Provinzen weisen keine
84
zentralisierte Verwaltung auf und haben keine Statthalter. (Czekanowski100 zitiert nach
d’Hertefelt 1971: EN 28)
Im Jahresbericht der Residentur Kigali von 1911 heißt es ähnlich: „In sich geschlossene,
abgegrenzte Häuptlingschaften (...) gibt es nicht.“ (zitiert nach ebenda).
Ende des 18.Jh. hatte sich aus dem Amt des Armee-Chiefs das des Provinz-Chiefs, das
praktisch erblich war, entwickelt. Lediglich Grenzregionen bzw. jüngst eroberte Gebiete
unterstanden einer militärischen Verwaltung (Vgl. Vansina 1962: 71). Die Aussagekraft des
Organigramms über die tatsächliche Ausgestaltung der Herrschaft ist freilich beschränkt. Sie
hing von einer Vielzahl von Faktoren ab, unter anderem von der Macht eingesessener
lokaler Eliten bzw. Lineages, von der Nähe zum Zentrum und anderem. Quer zu diesen
hierarchischen Strukturen der Herrschaft lagen Klientelbeziehungen, die über die territorialen
Grenzen der Provinzen und selbst des ruandesischen Machtbereiches hinausgehen
konnten. Gegenüber späteren bzw. später generalisierten Formen (ubuhake, uburetwa...)
unterschieden sie sich durch größere Freiwilligkeit und wahrscheinlich größere
Heterogenität. Im groben gab es drei Typen von Klientelbeziehungen:
(1) Solche, die ein direktes Verhältnis mit dem Mwami begründeten. Ihre konkrete
Ausformung und Bedeutung ist allerdings schwer zu rekonstruieren. Mit einem solchen
direkten Verhältnis zum Mwami war jedenfalls ein Statusgewinn auf lokaler Ebene
verbunden, ebenso wie ‚Klient-des-Mwami-Seins‘ ein deutliche Affirmation der Autonomie
gegenüber lokalen und regionalen Chiefs war. Die häufig gemachte Behauptung lokaler
Lineages, ein nicht so weit zurückliegender Vorfahre sei Klient des Königs gewesen,
kann zugleich als rückwärtsgewandter Ausdruck verlorener Autonomie gelesen werden,
setzt man sie in den Kontext der Verdichtung und Expansion der zentralruandesischen
Verwaltungsstrukturen in periphere Gebiete (Vgl. C.Newbury 1974: 27).
(2) Eine weitverbreitete Form der Abhängigkeitsbeziehung bestand in dem Klientelverhältnis
mit einem ‚Umuheto‘-Patron. Sie wurde zwischen einer (viehbesitzenden) Lineage
(vertreten durch ihren Lineage-Chief) als ‚Klient‘ und einem Armee-Chief (umutware
w’ingabo, auch umutware w’umuheto, daher die Bezeichnung) als Patron
abgeschlossen, brachte einen gewissen Schutz und Statusgewinn und war an die
Mitgliedschaft in einer Armee (ingabo) gebunden (vgl. C.Newbury 1988: 75). Schon ab
einem frühen Zeitpunkt, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Ausweitung der
ursprünglichen ‚Pagen-Armeen‘ zu der reformierten Form der Armeen, waren die
ruandesischen Armeen stets mehr als rein militärische Körper. In gewissen Sinn 100 Jan Czekanowski (1917): Forschungen im Nil-Kongo-Zwischengebiet. Bd.1: Ethnographie. Leipzig: Klinkhardt und Biermann p.266
85
repräsentierten sie schon in der Frühzeit eine potentiell generalisierbare soziopolitische
Organisationsweise, die sich in der typischen Verdopplung als Kämpfer- und
Hirtenverband bzw. als Kampfeinheit und Herdeneinheit (den Armeen waren Viehherden
zugeordnet) äußerte. Ebenso waren Armeen schon früh Abgaben- und
Umverteilungsinstrumente, von denen die jeweils höhere Patronasgeebene profitierte
(d’Hertefelt 1962: 66). Im Kernbereich Ruandas (Nduga u.a.) umfaßten die Armeen
große Teile der Bevölkerung, zum größeren Teil viehbesitzende Lineages. In den
Grenzregionen bzw. in Regionen außerhalb des nominellen Herrschaftsgebietes
Ruandas bestanden Umuheto-Bindungen zwischen Gruppen von höherem Status und
ruandischen Armee-Chiefs, erstere oft Tutsi-Emigranten aus dem Zentralbereich der
ruandesischen Herrschaft.
(3) An Land gebundene Klientelbeziehung waren ein dritter Typ formalisierter
Abhängigkeitsbeziehungen. Ihr Vorhandensein war vor 1800 auf wenige Gebiete
beschränkt. Sie trat dort auf, wo Landknappheit auftrat bzw. wo Pionier-Lineages qua
ihrer Niederlassung an einem bestimmten Ort, diesen oder große Teile davon als eigene
Domäne betrachteten und an später kommende Lineages im Rahmen des Ubukonde –
Systems ‘verpachteten‘ (ebenda: 79).
4.1 Expansion und Militär
Das Ursprungsgebiet Ruandas lag am Mohasi-See, in offenem Savannengebiet. Das
natürliche, für Viehhaltung (aber für wenig anderes) geeignetes Habitat läßt es plausibel
erscheinen, daß dieser Staat tatsächlich ein ‚Tutsi‘-Staat war, in dem Sinn als daß er auf
pastoralistische Gruppen fußte und Organisationsweise und Institutionen auf den
pastoralistischen Charakter der Bevölkerung beruhten. Sein Zentrum verschob sich
schrittweise nach Westen, in fruchtbareres, teilweise stark bewaldetes. Sein
Herrschaftsbereich dehnte sich über Jahrhunderte, in mehreren Phasen und in einem
diskontinuierlichen Prozeß, langsam aus (Vgl. Rennie 1972, Map.4; sowie Vansina 1962:
Kap.5). Mit der Ausweitung und Ausdehnung des ruandesischen Herrschaftsbereiches und
der Inkorporation der betreffenden eroberten Bevölkerungen veränderte sich auch der
Charakter des Staates. Vorgefundene Normen und Institutionen eroberter Gebiete fanden
Eingang in Ideologie und Organisation der Monarchie. Im Gegensatz zum statischen
Eindruck, den die höfischen oralen Traditionen von Ruanda geben wollen, befand es sich
während der Periode seiner bekannten Geschichte in einer Situation permanenten und nicht-
linearen Wandels.
86
Die Periode, die hier interessiert, ist jene unter der Herrschaft Cyirima II Rujugira (Mitte des
18.Jh.101) begann. Unter seiner Regentschaft expandierte Ruanda in den Osten (Gisaka),
den Norden (Ndorwa) und in den Süden bis an die (gegenwärtigen) Grenzen Burundis.
Rujugira konnte gegenüber seinen östlichen und nördlichen Nachbarn die regionale
Hegemonie Ruandas festigen, ohne jedoch die betreffenden Regionen in den ruandesischen
Staat zu inkorporieren. Die Regierungszeit Rujugiras läutete außerdem die Expansion in die
westlichen Gebiete ein und fiel mit einer Periode der Erstarkung der königlichen Macht nach
innen zusammen (Vansina 1962: 88). Rujugira erhöhte die Zahl der Armeen um ein
Vielfaches (ein Drittel aller bekannten Armeen wurden unter ihm bzw. seinem unmittelbaren
Vorgänger bzw. Nachfolger gegründet; D.Newbury 1991: 89) restrukturierte ihre interne
Organisation und führte ein spezielles Verwaltungssystem für Grenzregionen ein, wonach
diese von Armeen administriert werden sollten. Armeemitglieder wurden aus allen Regionen
Ruandas rekrutiert, um einige Jahre in Grenzregionen Dienst zu tun. Die
Bedeutungserhöhung der Armeen, die, weil nicht auf territorialer Basis organisiert102, immer
schon auf die Institution des Königtums konzentriert und orientiert war, war so bedeutendes
Instrument der Machtausweitung der Monarchie und für Rujugira, der auf illegitime Weise
den Thron erworben hatte, seine eigentliche Machtbasis (D.Newbury 1987: EN3 und ders.
1991: 89). Gleichzeitig reflektiert die Positionierung der Armeen unter Rujugira und seinem
Nachfolger Kigeri Ndabarasa die Expansion des erstarkenden Staates. Ursprünglich von
militärischen Überlegungen motiviert, brachte die neue Verwendung der Armeen in den
Grenzregionen grundlegende Veränderungen ihrer Funktionsweise. Ihre sozialisierenden
und verwalterischen Funktionen wurden immer wichtiger. Damit einher ging das Verwischen
der Unteerscheidung zwischen Kriegsbeute und der von den Lineages der Armeemitgliedern
(der umuheto-Gruppe) abgenommenen Abgaben. Ursprünglich hatte die Sendung eines
Rinds oder anderer Lebensmittel den Charakter von Unterstützungsleistungen für die
Armeen in der Zeit der Kriegsführung. Mit der Permanenz des Aktivzustandes nahmen die
Abgaben an die Armee einen Tributcharakter an. Die Organisation der Armeen als
permanente Kollektivorganisationen führte gleichfalls – in großem Ausmaß nach 1850 unter
Mutara II Rwogera und Kigeri IV Rwabugiri – viele Lineages ungeachtet militärischer
Notwendigkeit in Armeen inkorporiert wurden (D.Newbury 1987: 169). Wenngleich die
militärische Funktion weiterhin bestehen blieb (Lineages waren verpflichtet, für militärische
Unternehmungen, bei der die entsprechende Armee mobilisiert wurde, jemanden aus ihren
Reihen zur Verfügung stellen), war der eigentliche Sinn der so eingegangenen Beziehung
101 Wahrscheinlich handelt es sich bei der Rugugira zugesprochenen Regierungszeit um die Regentschaft zweier Personen, nämlich um die Rujugiras selbst und die seines Bruders Rwaka. Gleichzeitig, wahrscheinlich, weil Rujugira den Thron usurpiert hatte, wurde er in den Traditionen zu einem Symbol verschiedener Innovationen, die vermutlich schon vor bzw. erst nach seiner Regentschaft begonnen haben (D.Newbury 1991: 276, EN17). 102 Die nonterritoriale Organisation machte sich ebenfalls verstärkt unter Rujugira bemerkbar (D.Newbury 1987: 169).
87
ein qualitativ anderer. Gleichzeitig war die differentielle Inkorporation weiter Teile der
Bevölkerung in die hierarchische Struktur der Armee Widerspiegelung und zugleich
Katalysator einer Stratifikation, die von der Unterscheidung zwischen (politischem) Zentrum
und (politischer) Peripherie ausging. Ein Indikator für die Ausweitung der Rekrutenbasis und
ihrer differentiellen Inkorporation bzw. Hierarchisierung und der gleichzeitigen
Bedeutungsveränderung der Armeeorganisation ist die erstmalige Formierung von Truppen,
die hauptsächlich aus ‚Hutu’ bestanden während der Regentschaft Rujugiras (D.Newbury
1987: 90). Im Kontext der Expansion Ruandas in der Ära Rujugiras sind die entscheidenden
Entwicklungen eines Konzepts von Klasse oder, wenn man so will, von Ethnizität zu
verorten, die in der Bewußtwerdung der Herrschaftselite des expansionistischen Staates
gründeten. ‚Hutu’ hieß in diesem Kontext jeder, der ursprünglich außerhalb der politischen
Strukturen des Staates stand, nicht Pastoralist war (was gleichzeitig wenig mit Viehbesitz an
sich zu tun hatte, sondern mit einem gewissen Lebensstil) und keine intimen Beziehungen
mit der Herrschaftselite aufweisen konnte (ebenda: 277, EN20). Die Ambiguität der
Klassifizierung ‚Hutu’ und ‚Tutsi’ und ihre Relativität hinsichtlich der vom Hof propagierten
Normen und Werte zeigt auch die Konzeptualisierung von Bevölkerungen peripherer Gebiete
und v.a. des westlichen Grenzlandes unter einer Kategorie des Nicht-Ruandesischen
(Bashi oder auch Banyabungo), gleich wie sehr sie etwa als Pastoralisten innerhalb Ruandas
durchaus als Tutsi wahrgenommen worden wären, während dieselben Personen, mithin
auch ‚Hutu’ ex post in ruandesischen Traditionen als ‚Tutsi’, d.h. als Agenten des Hofes
auftauchen, wenn sie als Wegbereiter der ruandesischen Expansion wahrgenommen werden
(Vgl. C.Newbury 1988: 51; D.Newbury 1987: 171f).
Ein wichtiger Faktor in der Ausweitung der Armeefunktionen und in der Expansion des
Staates waren (Tutsi) Emigranten aus Kriegszonen (unter Rujugira besonders aus Ndorwa
und Gisaka) oder aus den ruandesischen Kerngebieten, die meist, um eine größere
Autonomie zu erhalten bzw. zu bewahren, als ihnen im Kern Ruandas möglich gewesen
wäre, in Grenzregionen ausgewandert waren, und, um ihr Vieh vor dem Zugriff von
militärischen Razzien zu schützen, aber auch aus Statusüberlegungen und kulturellen
Gründen umuheto-Bindungen mit zentralruandesischen Chiefs geschlossen hatten und
damit in Armeen ‚rekrutiert‘ wurden. In den Grenzregionen war das Schließen von Umuheto-
Bindungen und damit die ‚Mitgliedschaft‘ von Lineages in Armeen ein Akt von ambivalentem
Charakter, der den Status der Klienten steigerte und scheinbar die Autonomie der Klienten
stützte, indem sie in gewisser Weise vor den Zugriff lokaler Notablen geschützt wurden.
Tatsächlich war Umuheto verbunden mit einem vorerst nur beschränkten, aber
nichtsdestoweniger signifikanten Autonomieverlust, der von der dadurch erwirkten
88
Einbindung in die hierarchischen Struktur der Armeen, einen entstehenden Teil der
ruandesischen Herrschaftsstruktur herrührte. (C.Newbury 1988: 76f; D.Newbury 1987: 170).
Die Armeen wurden somit zu entscheidenden Instrumenten der Inkorporation peripherer
Gebiete. Umgekehrt festigte ihre erhöhte Bedeutung die Macht des Mwami auch im
ruandischen Kerngebiet, indem die alternative Struktur der Armeen dem Mwami erlaubte,
über die Interessen traditioneller, lokaler und ‚nationaler’ Machteliten hinwegzusehen.
Tutsi-Emigranten, die über umuheto-Bindungen mit dem Hof verbunden waren, wenn auch
nur indirekt und vermittelt über die Armeechiefs, wurden so in gewisser Weise zu
Kolonialisten des Hofs, ‚führten’ sie doch zentralruandesische Normen und Strukturen in die
Grenzregionen mit sich, zumal sie – obwohl sie ursprünglich oftmals politische Flüchtlinge
waren – von höfischen Traditionen als veritable Ruandesen gesehen wurden, welche die
Zivilisation in eigentlich immer schon in ruandischen Herrschaftsbereich fallende ‚aufmüpfige‘
und zugleich kulturell ‚unterlegene’ Regionen brachten (D.Newbury 1987: 170). Dadurch
unterschieden sich diese Tutsi-Emigranten von früher gekommenen pastoralistischen
Gruppen von Pastoralisten, deren Verhältnis zu den lokalen Ackerbauern in erster Linie ein
Ergebnis der konkreten lokalen Interaktion war und nicht oder kaum von Verbindungen mit
dem ruandesischen Hof beeinflußt war. Auf ideologischem Terrain bedeutete die durch die
Expansion Ruandas implizierte Ausdehnung zentralruandesischer Normen und politischer
Verhältnisse in vom Hof als unkultiviert und barbarisch betrachtete Regionen eine verstärkte
Artikulation von sozialer Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten, Pastoralisten und
Agrikulturalisten (z.B. in oralgeschichtlichen Texten). Die wahrgenommene soziale und
kulturelle Distanz gegenüber der Bevölkerung an den Grenzen und darüber hinaus erfuhr so
eine Übertragung auf innerruandesische Verhältnisse. In einem gewissen Sinn spiegelte dies
die stattfindende soziale Differenzierung und Stratifizierung in den ruandesischen
Kerngebieten. Vielmehr allerdings als eine bloße Widerspiegelung bzw. Artikulation von
realen Prozessen waren diese ideologische Reformulierungen und idealisierte
Stereotypisierungen ruandesischer Institutionen selbst wieder ein Motor ideologischer,
politischer und sozialer Veränderungen, indem die veränderte Wahrnehmung der sozialen
Distanz zu den differentiell inkorporierten und im unterschiedlichen Ausmaß in den Staat
eingebundenen Gruppen die Art und Weise der Transformation ihrer Beziehungen zu der
herrschenden Klasse bestimmte (D.Newbury 1987: passim).
Die Expansion des ruandesischen Staates, die Ausweitung der Armeeorganisation und die
einhergehende expansionistische Ideologie und Politik stärkten den Zusammenhalt unter
pastoralistischen Gruppen, indem sie einigen Personen neue Machtpositionen und Zugang
89
zu materiellen sowie immateriellen ‚Gewinnen’ aus der Angehörigkeit zu einer Armee
erschloß. Parallel dazu verstärkte sich der militaristische Ethos der Hof-Ideologie, der seinen
Ausdruck in der Verherrlichung militärischer Unternehmungen in historischen Erzählungen
und der höfischen Poesie103 fand (D.Newbury 1991: 89).
Die Inkorporation eroberter Gesellschaften im Rahmen der Armeen verlief keineswegs
homogen. Die durch die hierarchische Ordnung innerhalb und zwischen den Armeen
bedingte Hierarchisierung der als umuheto-Klienten inkorporierten Gruppen war ein Faktor
verschärfter sozialer Differenzierung. Die Tatsache, daß weite Bevölkerungsteile von dieser
Art der direkten Inkorporation ausgespart und nur indirekt (über Klientel- oder
Unterordnungsverhältnisse zu umuheto-Klienten) und damit wiederum differentiell in das
entstehende Herrschaftsgefüge eingebunden wurden, ein anderer. Ein dritter Faktor für die
zunehmende soziale bzw. ‚ethnische’ Differenzierung infolge umuheto bzw. armeemäßiger
Integration peripherer Gebiete betraf die unterschiedliche Art der Abgaben (amakoro
y’umuheto) und Dienste für pastoralistische Lineages bzw. ackerbauernde Lineages. Die
‚normalerweise‘ erwartete Verpflichtung der Klienten gegenüber dem Patron beinhaltete die
jährliche Überweisung eines Rindes. Von (viehbesitzenden) Hutu-Lineages wurden
zunehmend, und anfangs wohl zunächst vereinzelt, darüber hinaus landwirtschaftliche
Produkte wie Bohnen und anderes verlangt. Der Schwerpunkt der Abgabenlast verschob
sich sukzessive immer stärker auf Naturalabgaben aus der landwirtschaftlichen Produktion
(C.Newbury 1974: 35). Der Charakter der Beziehung veränderte sich dadurch für Hutu-
Klienten entscheidend in Richtung ‚Besteuerung’ durch die politische Klasse. Aus der
Perspektive der Elite wurde die Armee dadurch zu einem essentiellen Teil des extraktiven
Apparats – allerdings nie in dem Ausmaß und mit der Rigidität, die ubuhake in der
Spätphase des Kolonialismus auf der bäuerlichen Bevölkerung lastete. Die Statusvorteile,
welche die Klientelbeziehung normalerweise mit sich brachte, wurde dadurch gemindert,
wenn nicht verkehrt. War höherer Status im Prinzip schon eine Voraussetzung gewesen, um
eine umuheto-Bindung eingehen zu können, wurde sie (und andere Formen der Klientel-
bzw. Patronage und ‚Freundschaftsbindungen‘) zunehmend zu einer Voraussetzung, um den
unabhängig von dem Eingehen von speziellen Beziehungen zu Chiefs oder dem Mwami
103 Im Besonderen in der Form von Preisgedichten (ibisigo). Das Muster der Überlieferung aus den verschiedenen Perioden reflektiert die Entwicklung des ruandesischen Expansionismus. Die Anzahl der überlieferten Preisgedichte ist wie folgt:
Ruganzu Ndori 2 Kigeri Ndabarasa 4 Mutara Semugeshi 0 Mibambwe Sentabyo 21 Kigeri Nyamushera 3 Yuhi Gahindiro 12 Mibambwe Gisanura 6 Mutara Rwogera 30 Yuhi Mazimpaka 11 Kigeri Rwabugiri 41 Cyirima Rujugira 30
(D.Newbury 1987: EN11)
90
zuvor schon eingenommenen höheren Status überhaupt bewahren zu können. Der
Charakter von Umuheto bzw. anderen Formen von Klientelbeziehungen, das Ausmaß,
indem den innerhalb der Beziehung an die Klienten gemachten Forderungen widersprochen
oder umgangen werden konnte, das Verhältnis von ‚Vorteilen‘ und ‚Nachteilen‘ der
Beziehung für die machtloseren Klienten, und daher der relativen (und absoluten)
Machtposition der Patrone hing von zwei miteinander verbundenen Faktoren ab, einerseits
von der rein physischen Nähe/Distanz der Klienten zu ihren Patronen, andererseits von der
Verdichtung der Herrschaftsverhältnisse, die mit der Einsetzung von aus Zentralruanda
stammenden Chiefs als Administratoren in peripheren Gebieten einherging sowie von der im
Zuge dessen von ihnen stärker eingenommen Rolle des Patrons für lokale
Klientelbeziehungen. Waren letztere in den peripheren Regionen normalerweise mit mehr
oder minder mächtigen Chiefs in Zentralruanda und damit außerhalb der eigenen Region
abgeschlossen worden, fanden sich die Klienten mit der Verdichtung der administrativen
Strukturen mit der unmittelbaren Nähe und damit auch mit einer Erhöhung der unmittelbaren
Bedeutung der Patrone konfrontiert – inmitten eines delikaten Systems von Machtbeziehung
und Machtkämpfen, denen nicht mehr im gleichen Ausmaß wie früher entkommen werden
konnte (Vgl. C.Newbury 1988: 73-90).
4.2 Land
Land blieb bis zum 19.Jh weitgehend außerhalb des politischen bzw. durch den ‚Staat’
unmittelbar ‚geregelten‘ Bereichs. Viehzucht fand in einer seminomadisierenden Weise statt.
Als Weide dienten unerschlossenes Busch- oder Waldland und die allgemein von den
Ackerbauern nicht beackerten Niederungen und Tälern, die sich zwischen den für Ruanda so
charakteristischen Hügeln erstreckten sowie an deren Abhängen. Die Hügelplateaus stellten
den eigentlichen Fokus der Besiedlung und der Bebauung durch die (Hutu) Ackerbauern dar
(Rwabukumba/ Mudadagizi 1974: 10). Lokal hatten sich semi-politische
Abhängigkeitsverhältnisse zwischen ‚Pionier‘-Lineages aund später gekommenen Lineages
entwickelt, die auf der oben schon näher ausgeführten Landpacht (ubukonde) beruhten. In
der Herrschaftszeit von Yuhi IV. Gahindiro (etwa 1797-1830) kam eigentliches Urbarmachen
(und dadurch die faktische, wenn auch normativ anderen Gesichtspunkten unterliegende
Inbesitznahme von neuem Land) kaum mehr vor. Die endgültige Seßhaftwerdung der
Bevölkerung, zweifelsohne ein Resultat der größeren Bevölkerungsdichte und der
intensiveren Nutzung des Bodens, war zum einen ein Faktor in der Ausweitung und
schrittweisen Transformation der Funktion der Armeen im ruandesischen Zentralgebiet, wo
sie zu einem generalisierten Abgabeninstrument wurden und sich die Rekrutierung der
Mitglieder einer Armee nicht mehr auf einige wenige, noble Lineages beschränkten, sondern
auch ‚gewöhnliche‘ Tutsi zu umfassen begannen und zu einem geringeren Ausmaß, reiche
91
oder andere Hutu höheren sozialen und politischen Status (ebenda). Gleichzeitig stabilisierte
sich in der Armeeorganisation eine Form der politischen Herrschaft, die um einen
entsprechenden Armee-Chief organisiert wurde (ebenda: 13). Dadurch gerieten die seßhaft
gewordenen Gruppen beider ethnischer Herkunft auch verstärkt in den Machtorbit der Chiefs
und des Mwamis. Die Armee-Chiefs kontrollierten allerdings lediglich Mensch und Vieh. Die
Kontrolle des Landes befand sich nach wie vor in den Händen von Lineage- oder Hügel-
Chiefs (umutware w’umusozi), deren Autorität höchstwahrscheinlich lokal generiert war und
sich nicht auf extralokale Autoritäten (i.e.: den Mwami) bezog (vgl. Vidal 1969: 395). Nominell
(und ideologisch) indes bezog sich jede Machtposition, wenn auch in unterschiedlichem
Ausmaß, auf den Mwami als den eigentlichen Herren über alles Land. Unter Yuhi IV.
Gahindiro kam es zu zwei entscheidenden institutionellen Innovationen, welche die
Diskrepanz, die zwischen dem nominellen Machtanspruch und der faktischen
Verfügungsmacht des Mwami und anderer, mehr oder weniger im engeren Umkreis des
Hofes situierter Chiefs (die mit Einschränkungen als Repräsentanten und Instrumente des
ersteren betrachtet werden) herrschte, radikal verringerte. Die erste und sich lediglich auf
Zentralruanda beschränkende bezog sich auf die politischen Institutionen auf Provinzebene.
Das Amt des Provinz-Chiefs wurde in zwei neue Ämter aufgeteilt, in den Landchief
(umutware w’ubutaka) und den Weidechief (umutware w’umukenke), möglicherweise in
Reaktion auf die zunehmend sich in Konflikten äußernde Knappheit an Weideland (Vgl.
Vansina 1962: 70). Diese Neuerung resultierte in der Einführung eines starken
Konkurrenzelements auf der Provinzebene, dessen ultimativer Nutznießer der Mwami selbst
war. Gleichzeitig ist sie ein Indiz dafür, daß der ‚Staat’ in der Form der Monarchie
zunehmend für beide ethno-sozialen Gruppen an Bedeutung gewann, insofern die wichtigste
Ressource für die ackerbauernde Bevölkerung, Land, einen gesonderten institutionellen
Regulierungsmechanismus erhielt. Mit anderen Worten: die Trennung der Verantwortlichkeit
für Weideland einerseits und Ackerland andererseits war ein Ausdruck der Ausweitung der
‚Regelungskompetenz’ des ruandesischen Herrschaftsverbands.
Die zweite Neuerung, die jedenfalls auf Gahindiro zurückführbar ist, aber möglicherweise
schon früher in Ansätzen ausgebildet war, bezog sich auf die direkte Vergabe von
‚Lehen‘durch den Mwami und später auch durch andere wichtige Chiefs an persönliche
Favoriten (Rabukumba/ Mudandagizi 1974: 13). Diese ‚ibikingi‘ (pl. von igikingi) genannten
Territorien104 fußten ihrerseits auf der Reinterpretation eines existierenden Rechts (inkungu),
das es den politischen Amtsinhabern erlaubte, leerstehendes Land oder Land, für das es
104 Igikingi/Ibikingi bezeichnete eigentlich das Recht bzw. die Qualität qua dessen/ der ein Recht über Land erworben und ausgeübt wurde. In Ausweitung der ursprünglichen Bedeutung wurde schließlich auch das Territorium selbst damit bezeichnet. Ein alternativer Name war imisozi y’ibwami (‚Hügel des Königtums’, vgl. Rumiya 1992: 219)
92
keine Erben gab, zu ‚öffentlichem’ Land (i.e.: Weideland) zu erklären. Ibikingi – dessen
eigentliche Bedeutung ‚Weideland’ war – wurden auch jene Gebiete genannt, die jeweils der
einer Armee zugehörigen Rinderherde als Weideland zugewiesen worden war, ohne jedoch
damit ein exklusives Recht auf das Land, noch exklusive Weiderechte zu instituieren
(Kagame 1961: 5f). War die Gabe von Ibikingi-Land an Notable zunächst nicht viel mehr als
die Gewährung von exklusiven Weiderechten und als solches eigentlich kein ‚Besitzrecht’,
sondern eine politisch instituierte Bestimmung der Nutzungsart des Landes und das
gewährte Vorrecht eines Einzelnen, das vom Nutznießer für seine Herden in Anspruch
genommen wurde, erfuhr der Begriff eine entscheidende Bedeutungsveränderung und
bezeichnete später tatsächlich so etwas wie Besitzverhältnisse im europäischen Sinn,
verstanden als weitgehende Verfügungsrechte über Land.
Zum einen gewährten die ‚Abanyabikingi‘ ( Inhaber des igikingi-Titels) ihrerseits Weiderechte
an andere Herdenbesitzer, die dadurch zu einer Art Klienten wurden, was aber den
grundsätzlichen Charakter von Igikingi als Einräumung einer Nutznießung nicht berührte.
Zum anderen siedelten dieselben Hutu-Bauern auf den Territorien, welche dadurch zu einer
Art Grundpächter wurden (Feltz 1975: 149f). Das igikingi-Territorium wurde dazu in
‚amasambu‘ (pl. von isambu) geteilt und unter den ‚Pächtern‘ (Abagererwa) aufgeteilt.
Formal ähnelte dieses System sehr dem landbezogenen, klientelähnlichem
Abhängigkeitsverhältnis zwischen Pionierlineages und später Gekommenen, das sich unter
‚Hutu’ Bauern im Rahmen des Ubukonde-Landklientelsystem ausgebildet hatte, in einigen
nördlichen Teilen Ruandas bis ins 20.Jh. existierte und dort auch in der postkolonialen
Periode noch weit verbreitet war. Die strukturelle Ähnlichkeit ermöglichte bzw. begünstigte
die Generalisierung des Systems im Rahmen der neuen dualen politischen Struktur auf
Distriktebene. Das ‚normale’ Ackerland (Isambu) unterstand hingegen dem Umutware
w’ubutaka und das Weideland der Autorität des Umutware w’umukenke. Parallel dazu gab
es einen Typus von Abanyabikingi, denen ibikingi-Land auf persönlicher Basis vom Mwami
gewährt worden war. In den Grenzprovinzen, die von einem Armeechief kontrolliert wurden,
traten diese als ibikingi-Grundherren auf (Vidal 1969: 393). De facto beinhaltete mit dem
19.Jh. jedes politische Amt zunehmend einen grundherrischen Aspekt, während die
Beziehung zum Bodenherren zugleich eine persönliche war, die durch die Erbringung von
Diensten oder Gütern durch den Klienten aufrecht erhalten wurde. Der Prozeß der
Ausdehnung der bodenbezogenen Verfügungsmacht der Chiefs verlief aber langsam.
Abgaben und die Verpflichtung bestimmter Landnehmer, an zwei von fünf Tagen für den
Landpatron/Chief (meist der Inhaber eines Igikingi-Titels) zu arbeiten (Uburetwa), wurden
etwa erst gegen 1885, noch unter der Herrschaft Kigeri IV. Rwabugiris (ca.1860-1895) zu
einer generalisierten Praxis (Rwabukumba/Mudandagizi 1974: 21).
93
Die amasambu-Parzellen auf Ackerland, das vom Umutware w’ubutaka kontrolliert wurde,
waren im Prinzip erblich. Konflikte zwischen dem Land-Chief und dem Inhaber der Parzelle
und andere Gründe (Abwesenheit, Krankheit) konnten aber zur Rücknahme der Parzelle
durch den Chief führen. Die ‚juristische‘ Möglichkeit dazu war nichts neues und gründete
letztlich im ideologischen Anspruch des Mwami, Herr über alles Land zu sein. Die
tatsächliche Rücknahme eines Stücks Land weist indes auf die Erstarkung politischer
Autoritäten im ländlichen Raum, die ihre grundrechtliche Rolle erst ermöglicht hatte (Meschi
1974: 48). Der Charakter der Machtposition des Landchiefs und anderer, als Grundherren
auftretender Chiefs wurde durch die isolierte Position der einzelnen Landnehmer vis-à-vis
dem Landpatron zusätzlich verschärft. Dieser, auch in anderen Beziehungen wirksame
ungünstige strukturelle Rahmen für die bäuerlichen Massen begünstigte die Transformation
komplexer Herrschaftsbeziehungen zu einem zunehmend durch Ausbeutung durch die
politische Elite geprägten Herrschaftsverhältnis. In dem Maße, in dem das Netz der
Landklientelsysteme immer dichter wurde und Wegziehen und Suche nach neuem Land
(was früher das wirksamste und einfachste Mittel des Widerstandes dargestellt hatte) keine
Option mehr darstellten verschärfte sich die strukturelle Asymmetrie zwischen der Masse der
Bevölkerung und der Klasse der Chiefs, die immer zugleich auch Patrone und Landherren
waren (vgl. C.Newbury 1988: 113f). Die im System der Landklientelbeziehungen erwarteten
Dienste unterschieden sich für Tutsi und Hutu auf der Basis ihrer unterschiedlichen
ökonomischen Aktivitäten und waren der Ansatzpunkt für eine tendenzielle Mehrbelastung
der Hutu (qua Ackerbauern). Ein gewisser Teil der Bauern, vor allem diejenigen, die sich auf
dem nominellen Weideland eines (reichen) Tutsi (nicht notwendigerweise ein Träger eines
politischen Amtes) niedergelassen hatten, aber zum Teil auch solche, die von einem
politischen Amtsträger als seine Landklienten in dem von ihm kontrollierten Gebiet
angesiedelt worden waren, unterlagen einem gewissermaßen extrapolitischem Regime, das
sich ausschließlich auf das durch die ‚Pacht‘ begründete landbezogene Verhältnis gründete
(Vidal 1969: 393f). Ein Teil von ihnen war zu einem Arbeitsdienst (Uburetwa; zwei von fünf
Tagen) gegenüber ihrem Landherren verpflichtet. Uburetwa wurde erst gegen 1885 als
generalisierte Arbeitsverpflichtung eingeführt, wenn auch die Praxis, für materielle oder
immaterielle Leistungen eines Patron Arbeitsdienste zu leisten, sicherlich schon früher
bekannt war. Sie ist ein beredtes Indiz für die verschärfte Landknappheit und der weit
fortgeschrittenen Institutionalisierung der politischen Kontrolle über Land, die es den Chiefs
und Abanyabikingi ermöglichte, von ansiedlungswilligen Klienten immer mehr Abgaben oder
Dienste einzufordern. Uburetwa wurde, obwohl sie Anfang des 20.Jh. eine äußerst
bescheidene Anzahl von Personen betraf, in den späteren Auseinandersetzungen der
Dekolonisierungsphase zu einem besonders gehaßten Symbol für die Ausbeutung durch die
94
Klasse der Chiefs und, insofern sie nur oder vor allem Hutu (qua Ackerbauern) betraf, zu
einem Symbol des ethnischen Antagonismus an sich (Vidal 1974: 54).
Tabelle 3: Zahl der Ibikingi nach Region (ca.1900)
(geograph.) Großregion ‚Provinzen’ Zahl der Ibikingi Regionale Summe
Nordwesten Bugoyi
Buberuka
3
1
4
Westen Bwishaza
Budaha-Nyantango
1
5
6
Norden und Nordosten Rukiga
Bumbogo
Mutara
Mubari
Gisaka
1
1
1
1
3
6
Osten Buganza
Buriza
Bwanacyambwe
19
4
5
28
Zentrum und Süden
(‚Kernruanda’)
Ndiza
Rukoma
Marangara
Kabagari
Nduga
Busanza
Bulima + Muyaga
Bufundu
Bunyambiliri
Bwanamukali
4
14
4
3
9
12
16
3
11
76
Quelle: Nkurikiyimfura, J-N. (1994): Le gros bétail et la société rwandaise: évolution historique
Paris: L’Harmattan p.95 zitiert nach Takeuchi 2000: 203
4.2.1 Arm und Reich: Tagelöhner
Quer zu der zunehmenden Asymmetrie zwischen Hutu einerseits und der Klasse der Chiefs
und Patrone andererseits, und zu einem geringeren Ausmaß, zwischen Hutu und Tutsi
infolge der differentiellen Betroffenheit durch oppressive Klientel- und
Herrschaftsverhältnisse, war die bäuerliche Schicht selbst hochgradig differenziert und
spaltete sich in jene, die genug Land besaßen und die Arbeitskraft anderer in Anspruch
nehmen konnten, und in den Rest der bäuerlichen Bevölkerung, die aus Mangel an Land
oder anderen Ressourcen, gezwungen war, den reicheren ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu
stellen. Vergleichbar mit Uburetwa (im Kontext von Igikingi-Land), hatte sich eine Form der
Klientelbeziehung entwickelt, die auf der Leihgabe einer Hacke gegen ein bestimmtes
Ausmaß von Arbeitsdiensten durch den Klienten beruhte (Ubuharo). Diese Form von
95
Abhängigkeitsbeziehung, die eine Form von Klientelbeziehung auf unterstem Niveau
darstellte und sich von anderen auf höherem Niveau dadurch unterschied, daß sie keine
Statusvorteile brachte, sondern im Gegenteil die eigene Armut herausstrich, war oft der erste
Schritt dazu, andere, prestigeträchtigere einzugehen (Vidal 1974: 60ff). War die Leihgabe
einer Hacke und die darauf beruhende Abhängigkeitsbeziehung noch wenig formalisiert und
in gewisser Weise kaum von Freundschaftsdiensten unterscheidbar (als welche sie kaschiert
wurde105), waren andere verarmte Personen, denen es unmöglich war eine Isambu-Parzelle
auf igikingi-Land zu akquirieren und bestenfalls ein winziges Stück Land besaßen, auf denen
sich eine Hütte und ein kleiner Acker befand, gezwungen gegen Lebensmittel und Saatgut
auf permanenter Basis für andere zu arbeiten. Extreme Landknappheit und darauffolgende
Verarmung könnte die Hälfte der bäuerlichen Bevölkerung dazu gezwungen haben,
permanent, aber in unterschiedlichem Ausmaß für andere zu arbeiten (ebenda: 63).
Landknappheit allein war freilich kein ausreichender Grund für die Herausbildung eines
derartig großen Anteils einer semiproletarianisierten Masse an der bäuerlichen Bevölkerung.
Der ökonomische Individualismus, der die Wirtschaftsweise und die Sozialstruktur der
ruandesischen ländlichen Bevölkerung in Gebieten mit chronischer Landknappheit
kennzeichnete, aber dessen Wurzeln weiter zurückreichen und in der die (Kern) Familie als
basale Produktionseinheit figurierte, war ein Grund für die Stratifikation, der parallel dazu
fortschreitende ‚Individualismus’ (bzw. vertikale Orientierung auf Patrone und politische
Amtsträger) im politischen Bereich, d.h. die Entgegensetzung des Einzelnen106 (anstatt etwa
der Lineage) gegenüber der jeweiligen politischen Autorität und der daraus resultierenden
grundsätzlichen, strukturellen Schwäche des Individuums im Falle von Konflikten, ein
anderer (Vgl. Meschi 1974: 39).
4.3 Die Ausweitung von Klientelbeziehungen
In bezug auf Armee und Land wurden verschiedene Formen von Klientelbeziehungen
(Umuheto; Uburetwa; Ubukonde) schon diskutiert. Sie sollen hier in einen systematischen
Zusammenhang mit dem Prozeß der Verdichtung des Staates und der gewissermaßen
‚ethnischen’ Stratifikation gestellt werden. Die Klientelstrukturen standen von früh an im
Mittelpunkt des Forschungsinteresses von Historikern und Ethnographen der ruandesischen
Gesellschaft. Die Abhängigkeitsbeziehung zwischen dem Klienten und seinem Patron, die
als persönliches und daher auch affektives Verhältnis einen strikt ökonomischen Sinn
transzendiert, wurde dann auch als der eigentliche ‚Kitt‘ der ruandesischen Gesellschaft
105 Die so eingegangene Beziehung wurde euphemistisch mit dem Satz ‚einen neuen Freund gefunden zu haben’ umschrieben (Gravel 1968: 163) 106 Die männliche Form ist bewußt gewählt. Frauen – je nachdem, ob sie der Tutsi-Aristokratie angehörten oder Hutu bzw. einfache Tutsi waren – fanden sich in einer zwar variierenden, aber immer in einer gewissen Distanz zum politischen System, repräsentiert durch die Chiefs.
96
dargestellt, als das Medium der Integration von Staat und Gesellschaft, das soziale Kohäsion
stifte, während es die Aufrechterhaltung der ungleichen Statuspositionen der drei ethnischen
Gruppen und des Kastensystems, das darauf aufbaue, garantiere (Maquet 1961: 138). Die
Klientelstrukturen waren auch der eigentliche Anknüpfungspunkt für die Charakterisierung
der ruandesischen Gesellschaft als feudale – eben durch ein systematisches und
hierarchisches Gefolgschaftssystem gekennzeichnete Gesellschaft . Die anthropologische
Aufmerksamkeit galt im Speziellen einer hier bislang unerwähnt gebliebenen Form der
Klientelbeziehung: Ubuhake. Ubuhake begründete, wie andere Klientelbeziehungen, ein
persönliches Verhältnis zwischen ungleichen Partnern, allerdings, im Unterschied etwa zu
Umuheto, zwischen individuellen Partnern, wobei der mächtigere und reichere, der Patron,
seinem Klienten gewöhnlich ein Stück Vieh abtrat, über das jener das Nutzungsrecht hatte.
Im Gegenzug war der Klient zu einer Bandbreite von Diensten verpflichtet, die der Patron
von ihm verlangte. Für Tutsi – und Ubuhake war zu aller erst wohl eine Beziehung zwischen
reicherern und ärmeren Pastoralisten, deren breite Institutionalisierung und Generalisierung
wahrscheinlich erst in der ersten Hälfte des 19.Jh. stattgefunden hat und dessen Hochzeit
nicht ganz zufällig in die koloniale Periode fiel – bedeutete das, daß sie oder ihre Söhne eine
gewisse Zeit am Hof des Patron (als Hirten, Tabakträger bzw. um die Gehöfte des Patrons
instand zu halten etc.) dienen mußten (Vidal 1969: 396). ‚Hutu’ – d.h. Personen, die sich
hauptsächlich durch Ackerbau verdingten, erbrachten zusätzliche Dienst- bzw.
Abgabenleistungen in Form eines Teils der Ernte oder handwerklicher Arbeiten (d’Hertefelt
1962: 68f). Die extreme Bedeutung, die Ubuhake seitens der anthropologischen Literatur
beigemessen wurde, speist sich aus der Bedeutung, die der Leihgabe eines Stück Viehs
zugesprochen wurde, die selbst wieder von der Bedeutung, die das Vieh für die
Symbolisierung sozialer Grenzen und politischer Macht in Ruanda hatte, abgeleitet wurde.
Das Rind bedeutete allerdings viel mehr als ein rein ökonomisch relevantes Kapital, an
dessen Zahl man den Reichtum des Besitzers ablesen konnte. Sein Besitz symbolisierte
ökonomischen Reichtum gleichermaßen, wie soziales Ansehen und politische Macht und
war das Mittel, mit der Klientelbeziehungen geschlossen wurden: “Fetischisiert durch die
Gesellschaft, repräsentierte sein Besitz das Erreichen eines erfüllten Lebens.” (Vidal 1974:
73, m.Ü.) Der Besitz von Vieh – fern von seiner wirtschaftlichen Bedeutung, die von
Ackerbau und Dauerkulturen (Bananen) bei weitem übertroffen wurde – markierte so auch
eine Grenze zwischen denjenigen, die durch das System der Herrschafts- und
Klientelbeziehungen privilegiert, und jenen, die darin zunehmend marginalisiert wurden.
Tatsächlich erstreckte sich das Netz von Ubuhake-Klientelstrukturen, im Gegensatz zu dem,
was die allgemeine Literatur zu Ruanda glauben machen wollte, nicht in universeller Manier
über ganz Ruanda. Selbst in Zentralruanda, dem Gebiet der am längsten etablierten
97
Machtstellung von Tutsi-Aristokratien, ging meist nur das Familienoberhaupt eine Bindung
mit einem Patron ein, ganz zu schweigen von Regionen, mit einem geringerem Anteil von
Tutsi an der Bevölkerung bzw. mit späterer zentralruandesischer Durchdringung107.
Forschungen in Südruanda (in der gegenwärtigen Präfektur Butare, also südlich der Region
Nduga) haben gezeigt, daß in vorkolonialer Zeit weniger als 10% der erwachsenen
männlichen Bevölkerung Klienten im Rahmen einer Ubuhake-Beziehung gewesen sind.
Unter Musinga (1897-1931) verdoppelte sich die Zahl der Klienten auf 17%, unter denen
Tutsi weitaus stärker repräsentiert waren als Hutu (Saucier 1974108 zitiert nach C.Newbury
1988: 134). Für viele Klienten war der Patron zugleich der relevante politische Amtsträger
und das Eingehen von Ubuhake-Bindungen somit nicht freiwillig, sondern ein Schutz gegen
allzu große Forderungen durch politische Amtsträger – durch den Patron ebenso wie andere
Chiefs. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Annahme, Hutu hätten nur über Ubuhake Zugang
zu Vieh gehabt, konnten diese auch außerhalb dieses Rahmens – etwa im Tausch gegen
Lebensmittel – eigenes Vieh akquirieren. Selten erlangten die Klienten, Hutu ebenso wie
‚gewöhnliche‘ Tutsi109, selbst nach mehreren Jahren des Dienstes am Hof des Patron mehr
als ein Stück Vieh. Viehreichere Klienten (also gewöhnlich Tutsi) übergaben ihrem Patron
manchmal nach mehreren Jahren Ubuhake ihrererseits ein Stück Vieh, eine nicht unübliche
Praxis, die die Bedeutung von Ubuhake für die Zirkulation von Vieh stark relativiert (Vidal
1974: 73).
Die eigentliche Bedeutung von Ubuhake lag daher in dem Schutz, den die Klientelbeziehung
vor willkürlichem Zugriff auf Eigentum110 bot. Entscheidend für das Eingehen von Ubuhake
war die Nähe und die potentielle Zugriffsmöglichkeit von Herrschaftsträgern auf das
Eigentum des Klienten. Zusätzlich war das durch das Eingehen einer Klientelbeziehung mit
einer reichen und mächtigen Person erlangte Prestige seinerseits eine ausreichende
Motivation, solche Bindungen zu suchen. Ersteres – die Protektion durch den Patron –
erklärt auch das Muster der Ausweitung von Ubuhake als sowohl intra- als auch
interethnische formalisierte Beziehung; ein Muster, das mit dem Ausmaß der politischen
Durchdringung des Landes korrelierte (Vidal 1974: 389ff). In dem massiven Maße, in dem
unter der Regentschaft Rwabugiris Klientelbeziehungen ausgeweitet wurde, kam es zur
107 In Kinyaga (Südwestruanda) wurden Ubuhake und Uburetwa (verbunden mit igikingi) erst unter Rwabugiri eingeführt (C.Newbury 1988: 82) 108 Jean-François Saucier (1974): The Patron-Client Relationship in Traditional and Contemporary Southern Rwanda, Diss. Columbia University, pp.73 und 88 109 Die Kluft, welche die wenigen extrem reichen Viehbesitzer, die einige Tausend Stück Vieh besitzen konnten und immer noch relativ reichen, erfolgreichen Tutsi-Pastoralisten mit mehreren Hundert Stück Vieh von den ‚gewöhnlichen‘ Tutsi sowie viehbesitzenden Hutu mit einigen Dutzend und verarmten Tutsi (bzw. Hutu-Bauern) mit ein bis 10 Stück trennte, war extrem tief. 110 Es ist hier nicht der Ort, um die ruandische Vorstellungen von Eigentum zu diskutieren, die von europäischen, auf römischem Recht beruhenden natürlich abweichen. Für eine Diskussion von Eigentum siehe d’Hertefelt 1962: 36ff.
98
Herausbildung von hybriden Formen, deren konkrete Ausgestaltung lokal variierte. Umuheto-
Bindungen (d.h die ‚Rekrutierung‘ von Männern als Soldaten oder Hirten/Träger für eine
Armee), die ursprünglich nur mit viehbesitzenden Lineages eingegangen waren, wurden
verstärkt mit viehlosen Lineages geschlossen und der Charakter der Abgaben
(normalerweise war ein Rind jährlich an den Patron vorgesehen, eine Praxis, die
ursprünglich wohl die militärische Versorgung der Armeen sicherstellen sollte) änderte sich
dementsprechend. Ebenso hing der Charakter der Klientelbeziehung gleich welchen
Namens von der oder den Herrschaftsposition(en) ab, die der Patron einnahm. Gemeinsam
ist den späten vorkolonialen Klientelstrukturen, daß sie im Unterschied zu früheren (mit
Ausnahme von landbezogenen Beziehungen, auf die dies nie zutraf) nicht mehr den
Charakter einer Allianz zwischen Angehörigen einer sich als Elite verstehenden Klasse
(wenn auch zwischen ungleichen Partnern) aufwiesen. Vielmehr wurden sie zu einer
Notwendigkeit – einer ‚notwendigen’ Bedingung – für das Überleben in der politischen Arena
bzw. aus der Perspektive der gewöhnlichen Bevölkerung, zumindest hilfreich für die
Resistenz und den Schutz gegenüber den extraktiven Forderungen der politischen Eliten, die
in diesem Kontext verstärkter asymmetrischer Machtverhältnisse zunehmend ausbeuterische
Züge trugen (C. Newbury 1988: Kap.V). Überdies hatten verschiedene ökologische und
epidemische Katastrophen (v.a. die Rinderpest 1890-92, durch die Rinderherden um
wahrscheinlich 50%, möglicherweise aber bis zu 70-80% dezimiert wurden und auf Kleinvieh
und Mensch übertragen wurde, sowie die Maul- und Klauenseuche von1892)111, in Verbund
mit den Auswirkungen der Nachfolgekrise nach dem Tod von Kigeri IV. Rwabugiri 1895, die
im Coup von Rucunshu112 (1896) und der Inthronisation des noch minderjährigen Yuhi V.
Musinga (1897-1931) ein Jahr später resultierte (vgl. Botte 1985), und mit den Auswirkungen
des beginnenden europäischen Zugriffs auf Ruanda (insbesondere das Einfallen belgischer
Verbände und Deserteure an der ruandesischen Grenze, Vgl. Ntezimana 1990: 80f und
C.Newbury 1988: 55f zu den Implikationen des Einfalls für Kinyaga) eine einschneidende
Wirkung auf die Ausweitung und für die Akzeleration der Transformation der
Klientelstrukturen. Die Knappheit an Vieh bewog viele Banyarwanda, Ubuhake-Bindungen
einzugehen, um dadurch verlorenes Vieh wiederaufzustocken. Zugleich fiel es manchen
Umuheto-Klienten, die durch die Epidemien einen Großteil ihres Viehs verlustig gegangen
waren, schwer, ihre Verpflichtung (die Gabe eines Rindes jährlich) gegenüber ihrem Patron
111 Beide Epidemien, von denen übrigens ganz Afrika betroffen war, und die sich von Norden in den Süden ausweiteten, waren in Ruanda unter dem summarischen Namen umuryamo bekannt. Angesichts der Bedeutung des Rinds in erster Linie als eine Art soziales Kapital bzw. ‚Zahlungsmittel’, mit denen soziale und ökonomische Transaktionen getätigt wurden, aber, wenn auch für einen geringeren Teil der Bevölkerung, als ökonomische Ressource, kann die Epidemie und ihre Auswirkungen auf die soziale, politische und wirtschaftliche Struktur des Landes durchaus mit einer Depression in kapitalistischen Volkswirtschaften verglichen werden (Vgl. C.Newbury 1988: 118f). 112 Rucunshu war einer der königlichen Residenzen (ibwami) und Schauplatz des Coups, von dem hier die Rede ist. Vgl. zu den Residenzen auch FN 140 sowie zum Palastcoup Kap. 5.1.4 Der Coup von Rucunshu).
99
zu erfüllen. Dementsprechend verwundbarer waren sie gegenüber alternativen oder
zusätzlichen Forderungen ihres Patrons, oder sahen ihr Heil gleichfalls im Eingehen von
Ubuhake-Beziehungen. Zum anderen requirierte Mwami Kigeri IV.Rwabugiri, dem nominell
alles Land und alles Vieh gehörte (Vgl. d’Hertefelt 1962. 36ff), einen nicht geringen Teil des
von den Seuchen verschonten Viehs für die königlichen Herden113, was de facto einer
Umverteilung von ‚Kapital‘ zu den Getreuen des Mwami gleichkam (C.Newbury 1988:119).
Dadurch stieg einerseits der ökonomisch-politische Druck, der auf die so Enteigneten
ausgeübt werden konnte, andererseits stärkte der Mwami damit die Macht der Zentralgewalt,
indem er aus unbedeutenden Familien stammende Personen als ausschließlich ihm loyale
Amtsträger einsetzte (Ntezimana 1990:78) und mit genügend ‚Kapital‘ ausstattete, um sich
über Klientelbeziehungen eine Gefolgschaft zu schaffen und zu halten (vgl. C.Newbury 1988:
83ff). Die verschiedenen Transformationen in der Gesellschaftsstruktur des
spätvorkolonialen Ruanda waren entscheidend für die Ausweitung von Klientelstrukturen.
Letztere brachte aber nur kaum spürbare Veränderungen in deren Qualität. Die
immateriellen Vorteile der Bindung an Mächtigere/ Reichere überwogen weiterhin die ‚Last’
der Verpflichtungen innerhalb einer solchen Beziehungen. Quantitativ betrafen Bindungen
auf einem mittleren und hohem Niveau (Umuheto, ubuhake) weiterhin einen kleineren Teil
der Bevölkerung, wobei ein mittlerer oder höherer Status weiterhin eine Voraussetzung blieb,
um überhaupt als Klient akzeptiert zu werden. Die dramatischen Transformationen der
Klientelverhältnisse (deren inhärente Ungleichheitsbeziehung und damit Abhängigkeit ja von
der ihnen typischen paternalistischen Sprache maskiert wird), die sie zu einem Symbol für
Unterdrückung werden ließen, sind daher in der kolonialen Periode anzusiedeln und fanden
verstärkt erst ab den Zwanziger und Dreißiger Jahren mit der Homogenisierung und
Verrechtlichung der traditionellen Verwaltungsstrukturen und der traditionellen Institutionen
statt (Vgl. Lemarchand 1981: 17; Vidal 1985: 183).
Die dynamische und für Klienten letztlich ungünstige Situation, welche die Ausweitung von
Klientelstrukturen begleitete, führte zu verstärkten sozialen Unterschieden und Spannungen,
mehr als sie jene (um im Jargon funktionalistischer Autoren der Fünfziger und Sechziger zu
sprechen) zu ‚kitten‘ half. Die Klientelbeziehungen, allen voran die Bauern besonders
betreffenden Abhängigkeitsverhältnisse, die in welcher Weise auch immer die Erbringung
von Arbeitsleistungen oder Naturalabgaben beinhalteten, wurden sukzessive zu einem
wichtigen Katalysator einer ‚ethnisch’ gefärbten Stratifikation, anstatt diese vorauszusetzen,
aber auch ohne quer zu ethnischen Trennlinien verlaufende Unterschiede, die ein
wesentliches Element in dem Stratifikationssystem sowohl des vorkolonialen als auch des
113 Das Recht des Mwami, verloren gegangenes Vieh wiederaufzustocken, hieß umurundo.
100
kolonialen Ruanda darstellten, in ihrer Wirkmächtigkeit zu untergraben, im Gegenteil. Die
Stratifikation des vorkolonialen Ruanda erweist sich als wesentlich komplexer als sie sich,
betrachtet mittels eines durch die drei gängigen sozialen Kategorien – Tutsi, Hutu und Twa
gebildeten Kategorienrasters – darstellen läßt. Aus der Zugehörigkeit zu einer der sozialen
Kategorien konnte folglich auch nicht die Position eines Individuums im sozialen Raum
abgelesen werden, wenn auch die Zugehörigkeit zu einer der Kategorien in der späten
vorkolonialen Periode im ruandesischen Kernland einen zunehmenden Einfluß auf die
Lebenschancen eines Individuums hatte und die Kategorien außerhalb des Kernlandes
(etwa in Kinyaga oder im Norden) Eingang in den öffentlichen Diskurs fanden, ohne dort
jedoch dieselbe Bedeutung zu tragen.
4.4 Resümee: Ruanda am Vorabend der Kolonisation
Die Regentschaft Kigeri IV. Rwabugiris (1860-1895), der als Mwami auf Mutara II. Rwogera
(1830-1860) und Yuhi IV. Gahindiro (1797-1830) gefolgt war, zeichnete, obwohl von einer
Reihe von militärischen Kampagnen in benachbarte Königtümer begleitet (D.Newbury 1974),
allen voran eine nach innen gewandte Konsolidierung aus, die die Macht ‚traditioneller‘
mächtiger Familien und Chiefs erheblich minderte, neue, dem Mwami verpflichtete Eliten
schuf und dadurch die Macht des Hofes stärkte (Ntezimana 1990: 78). Die Vielzahl der von
Rwabugiri gegründeten königlichen Residenzen war selbst wieder ein Ausdruck des
verstärkten Wunsches, den ruandesischen Staat zu konsolidieren. Die Verdichtung der
Herrschaftsbeziehungen und ihre Zentralisierung im 19.Jh. wurden durch äußere Umstände
begünstigt, wie den überdurchschnittlich langen Regentschaften der Bami Gahindiro,
Rwogera und Rwabugiri (jeweils über drei Jahrzehnte an der Macht). Die relativ lange
Regentschaften ermöglichte es, dauerhaftere und stärkere, auf persönlicher Loyalität
aufbauende administrative Strukturen zu schaffen und das Problem der jeweils zum Beginn
einer Regentschaft umstrittenen Legitimität und schwache Autorität des Throninkubenten
überwinden zu können, zumal die zwei späteren Regenten auf eine eingespielte Praxis und
bestehende Koalitionen aus der jeweils vorausgegangenen langen Regentschaft
zurückgreifen konnten (Cohen 1989: 274f).
Eine zentrale Bedeutung für die Architektur der Machtbeziehungen im Ruanda der späten
vorkolonialen Periode nahmen die sich ausweitenden diversen Klientelbeziehungen ein, die
auf den ungleichen Zugang zu und der ungleichen Kontrolle über begehrte oder notwendige
Ressourcen (Land, Vieh, Sicherheit...) beruhten und zugleich ein Extraktionssystem
etablierten, durch das die Minderheit der politischen Amtsträger bzw. reicher Personen im
Umkreis der politischen Elite Zugriff auf die von einer Mehrheit produzierten Güter und
Dienste erlangte (Vidal 1974: 53ff). In Verbindung mit den auf Beute und Requirierung von
101
Tribut ausgerichteten militärischen Kampagnen entstand so ein politiko-ökonomisches
System, an dessen Spitze eine zunehmend enger definierte politische Elite stand und auf
Extraktion des produktiven Bereichs innerhalb des eigenen Machtbereichs und, in der Form
von Razzien, darüber hinaus ausgerichtet war. Die dramatische Machtausweitung des
monarchischen Zentrums führte dazu, daß in den letzten Jahrzehnten des 19.Jh. der ‚Staat‘
bzw. die Monarchie Gegenstand eines breiten populären Diskurses wurde. Somit wurde für
das politische Bewußtsein ein Brennpunkt etabliert wurde, dessen Stelle in früheren
Perioden verschiedene Brennpunkte lokaler, regionaler und überregionaler Natur mit jeweils
unterschiedlicher politischer und symbolischer Bedeutung eingenommen hatten, und dessen
personale Inkorporation, der Mwami, in früheren Perioden für die meisten ‚Untertanen’ von
nachrangiger und eher symbolischer Bedeutung war (Cohen 1989: 291).
Ruanda am Ende des 19.Jh. kann als ein in drei geopolitische Räume auseinanderfallender
Herrschaftszusammenhang betrachtet werden, innerhalb dessen sich die einzelnen
geopolitischen Räume durch den unterschiedlichen Grad der zentralruandesischen
Durchdringung und dem damit verbundenen unterschiedlichen Grad an Integration in die
politischen und administrativen Strukturen der Monarchie voneinander unterscheiden lassen:
(1) der Kern um die Regionen Nduga, Marangara und Bwanacyambwe und bestimmte
Regionen im Westen des Landes (Rusenyi und Bwishaza, in der gegenwärtigen
Region Kibuye) entlang des Kivusee, deren weitgehende Integration in den
Herrschaftszusammenhang des Zentrums sie weitgehend ununterscheidbar vom
Zentrum machte;
(2) die seit dem späten 18. bis zur Mitte des 19.Jh. inkorporierten Regionen wie
Bugesera, Gisaka (östlich Zentralruandas), Ndorwa (nördlich des Zentrums) und
Kinyaga im Südwesten; sowie
(3) die lediglich in einem Tributverhältnis stehenden oder lediglich nominell inkorporierten
kleineren politischen Einheiten im äußersten Südwesten (Bukunzi, Busoozo) und die
zahlreichen Kleinstaaten im Norden und Nordwesten.
Letztere waren zwar schon ab den 17.Jh. ruandesischen Inkorporationsversuchen
ausgesetzt, aber nie vollständig unterworfen worden. Vertreter des Hofes, die in die Region
entsandt wurden, um Tributzahlungen der Bevölkerungen zu organisieren, wurden
regelmäßig vertrieben, was ebenso regelmäßig zu militärischen Niederwerfungsversuchen
durch zentralruandesische Verbände führte. Paradoxerweise waren einige Regionen
außerhalb der 1910 mit dem Kivu-Grenzvertrag festgelegten Grenze Ruandas im
Nordwesten (bis Rutshuru und Masisi in der nördlichen Kivuregion des Kongo) stärker
integriert, als es die geographisch dem Zentrum näheren ‚Klanländer’ der sogenannten
102
Bakiga bis in die Kolonialzeit hinein jemals waren (Vgl. Gasana et al. 1999: 143f). Die
geopolitische Strukturierung Ruandas bedeutete gleichzeitig, daß sich das Verhältnis
zwischen Hutu und Tutsi von Region zu Region stark unterschied, je nachdem, wie sehr
Tutsi als soziale Kategorie mit der Nähe/ Distanz zum Hof korrelierte, und je nachdem, wie
die wahrgenommene Nähe/ Distanz der sozialen Kategorien zum Zentrum sich im Zugang
zu (bzw. Verlust von) Herrschaft – Kontrolle über Land, Mensch und Vieh – äußerte. In
Bugoyi etwa, an der Nordspitze des Kivusees, ging die Präsenz von Tutsi (aus Nduga)
hauptsächlich auf Kolonisierungsbewegungen unter Rwabugiri zurück. Sie wurden damit als
Agenten des Hofes gesehen, der für sie auch der eigentliche Fokus ihrer politischen
Aufmerksamkeit und ihres politischen Handelns darstellte. Die schwache Integration der
Region in den ruandesischen Herrschaftszusammenhang, d.h. die Irrelevanz der
zentralruandesischen Strukturen und das Vorherrschen einer Struktur, in deren Zentrum eine
eingesessene Aristokratie von reichen/ mächtigen Lineages stand (sogenannte Abakungu)
bedeutete aber, daß die beiden politischen Strukturen – die regionalen lineagezentrierten,
und die hofzentrierten eingewanderter Pastoralisten – nebeneinander bestanden und kaum
miteinander verbunden waren. Damit einhergehend koexistierten auch die damit
verbundenen Menschen hauptsächlich nebeneinander, also ohne, daß tiefere soziale oder
politische Bande sie miteinander verknüpften, oder anders, gesagt, ohne ein soziales
System im engeren Sinn zu konstituieren (Vgl. Vidal 1985: 178).
Von der Existenz ethnischer Gruppen als selbstbewußte kollektive Einheiten kann daher
nicht die Rede sein. Hutu und Tutsi114 waren zuallererst soziale, zumal sehr breite und
ambivalente Kategorien, deren Bedeutung kontextuell höchst verschieden war. Während in
einigen peripheren Gebieten (z.B. Kinyaga) das kollektive Bewußtsein, ‚Hutu’ zu sein vor
dem späten 19.Jh. kaum vorhanden war und sich erst mit der Kolonisierung langsam
verbreitete (Vgl. C.Newbury 1978: 17), waren die Bewohner der nördlichen schwach bis gar
nicht integrierten Gebiete auch und gerade in Zentralruanda eher als Bakiga denn als Hutu
bekannt und als solche verschrien. In manchen Kontexten war Tutsi ein Synonym mit
‚Patron’ oder politischer Amtsträger, während gleichzeitig die Bezeichnung auch solche
bezeichnen konnten, die nicht überdurchschnittlich reich waren und nicht der politischen Elite
angehörten. Zwischen der Masse der Hutu und Tutsi – die auch in dieser Arbeit bisweilen
synonym als ‚Ackerbauern’ bzw. ‚Viehzüchter’ bezeichnet werden – bestand jedenfalls, sieht
man von der politischen Elite zunächst einmal ab, kein wesentlicher Unterschied hinsichtlich
der Lebensweise – Menschen beider Gruppen lebten hauptsächlich von Erträgen der
Landwirtschaft, wenn auch mit allerdings nur leicht unterschiedlichen Akzenten in der
114 Anders verhält es sich mit der Außenseiterkategorie der Twa, deren Konstitution als selbstbewußte Gruppe aufgrund ihrer systematischen Marginalität bei gleichzeitiger Integration in die ruandesische Gesellschaft, der u.a. im relgiös-rituellen, aber auch im politischen Bereich Ausdruck verliehen wurde.
103
Auswahl der Nutzpflanzen sowie in der Größenordnung und Bedeutung der Rinderhaltung
(d’Hertefelt 1971: EN 1; Gravel 1968: 68ff). Gegen Ende der vorkolonialen, aber erst in der
kolonialen Periode in vollem Ausmaß, wurde das im politischen Zentrum des Landes
verortete Klassifikationssystem, nachdem Hutu die von der Herrschaft ausgeschlossenen,
und Tutsi, die Elite des Landes stellte, zunehmend wichtiger. Dieser Prozeß der Ausdehnung
einer hegemonialen Kategorisierung war begleitet von einer Valorisierung der
entsprechenden Attribute in einem elitär-kulturellem Idiom und somit von einem typischen
Prozeß ‚ethnischer’, zunächst aber wohl eher ‚klassenspezifischer’115 Grenzziehung. Die
damit verbunden Bedeutungsmuster für Hutu und Tutsi als jeweils radikal Andere waren ein
Grund für die verzerrte Darstellung der vorkolonialen Gesellschaft Ruandas, wie sie z.B.
Maquet (1961) vorbrachte.
Ihren eigentlichen Ort hatte die Entgegensetzung von Hutu und Tutsi in der zahlenmäßig
relativ beschränkten Elite politischer Amtsträger und bezieht sich daher auf diese Klasse und
nicht auf alle unter Tutsi gefaßten Personen. Am Ende des 19.Jh. – nimmt man eine
Gesamtbevölkerung von 1-1,7 Millionen an116 - gab es entsprechend der ethnischen
Zusammensetzung Mitte der Fünfziger117 – zwischen 175.00 und 300.000 ‚Tutsi’, allerdings
nur rund 2.500 politische Ämter (Linden 1977: 18)118. Diese Schätzung korrespondiert gut mit
einer von dem Missionar Léon Classe in einem Bericht119 für die belgische Besatzungsmacht
1916 angegebenen Zahl von 20.000 Tutsi, mit der er offensichtlich die politische und soziale
Elite des Landes und nicht die ‚rassische’ oder ‚ethnische’ Gruppe gemeint hatte. Sie ist
gleichzeitig ein beredtes Zeichen für die Ambiguität der sozialen Kategorie ‚Tutsi’ im
spätvorkolonialen Ruanda – selbst noch in der frühen Kolonialzeit -, die erst mit der
Durchsetzung einer ethnischen bzw. rassistischen Lesart der Kategorie und ihrer 115 Wenn hier von Klassen gesprochen wird, dann wird damit ein politischer und sehr breiter Klassenbegriff favorisiert, der im Prinzip auf die Dichotomie zwischen Herrschaftselite und breiter Bevölkerung zielt. 116 Schätzung des Ethnologen Jan Czekanowski 1907 (zitiert nach Maquet 1961: 13). Die Bevölkerungszahlen für diese Zeit sind höchst unsicher. Die Bevölkerung wurde von den Belgiern 1920 und 1930 auf 1 Million bzw. 1,5 Millionen geschätzt. Eine Bevölkerungsabnahme ist zwar nicht völlig unwahrscheinlich, aber in dieser Größenordnung etwas unplausibel. 117 Die Berechnung (nicht notwendigerweise aber der Autor) akzeptiert damit natürlich das genealogische Prinzip von Ethnizität, d.h. wer anfang der 50er Jahre, als die Erhebung stattfand (Victor Neesen [1956]: Aspects de l’économie démographique du Ruanda-Urundi, bulletin de l’Institut de recherches économiques et sociales, 22, 5: 481 zitiert nach Gravel 1968: 21) als Tutsi klassifiziert wurde, dessen Vater war notwendigerweise auch Tutsi usf. Mit Ausnahme dieses freilich höchst fragwürdigen Punktes gibt es keinen Grund, eine Veränderung in der Relation von Tutsi und Hutu anzunehmen. 118 Es ist unklar, wie Linden zu seiner Schätzung kommt. Linden schätzt an anderer Stelle (1977: .IX), daß es Ende des 19.Jh. etwa 50.000 erwachsene Männer gab ‚who never tilled the soil’ und ‚Rwandan society was thus ruled by a minority of about 5% of the Tutsi, men with herds counted in the tens of thousands and corresponding ownership of vast tracts of land’ (ebenda: 18). Während die Einschätzung der Größe der politischen Elite mehr oder weniger mit der im Text angestellten Berechnung (aufgrund einer angenommenen Bevölkerungszahl von 1,7 Mio und einer Tutsi-Population von 300.000) konform geht, ist die vorangestellte Aussage jedenfalls keine zutreffende Beschreibung der Situation, auch wenn es stimmt, daß die Hauptlast der landwirtschaftlichen Arbeit (Jäten, Ernten usw.) in Frauenhänden lag (Gravel 1968: 52) Vgl. auch Codere 1973: 20 mit einer ähnlichen Schätzung der Zahl von Tutsi vis-à-vis der Zahl politischer Ämter.
104
sukzessiven Ausdehnung beseitigt wurde. Die eigentliche politische und soziale Elite des
Landes, folgt man den Angaben von Classe, hatten etwa einen Anteil von 6 bis 11% der
später als Tutsi klassifizierten Gruppe von Personen.
Diese Minorität an Herrschaftsträgern und Patronen konstituierten allerdings, zutiefst durch
chronische und blutige politische Konflikte gespalten, den paradoxen Fall eines
selbstbewußten Kollektivs von Akteuren, das nur in der akzidentiellen Konvergenz von
Interessen (Orientierung auf den Hof, Klientelbeziehung mit mächtigeren usw.) zu
kollektivem Handeln fand. Der grundsätzlich prekäre Charakter von Herrschaft angesichts
der Begrenztheit der traditionellen Herrschaftstechnologien war einer, das Vorhandensein
tiefgehender politischer Konfliktlinien innerhalb der Herrschaftselite ein anderer Grund dafür,
daß de facto die politische Macht (und somit die Verfügungsmacht über die Produktivität der
Bevölkerung) einzelner relativ beschränkt blieb und längerfristige Allianzen von Gruppen
kaum zustande kamen.
Die Konvergenz von Interessen beschränkte sich freilich nicht auf materielle, sondern
gleichfalls auf symbolische Güter und hatte einen dementsprechenden ‚Standesethos’ zur
Folge, auf das oben eingegangen wurde.120 Das Bewußtwerden von unter einer sozialen
Kategorie gefaßten Gruppe von Personen als Kollektiv – und das ist einer der zentralen
Thesen dieser Arbeit – ist ein differentieller Prozeß, der in einem konkreten sozialen Umfeld
und in beschränkten sozialen Gruppen verortet ist, deren Artikulation einer gewissen
Weltsicht (und Kategorisierung bzw. Klassifikation) hegemonial wird. Das bedeutet nicht, daß
die hegemoniale Kraft notwendigerweise von der Elite in einem wie immer gearteten
politischen Zentrum ausgeht (sie kann auch, wie weiter unten deutlich werden wird, auch von
Eliten von subalternen Gruppen der Gesellschaft ausgehen oder überhaupt von der
Peripherie des politischen Zentrums). In Ruanda aber wurde die politische Kollektivität der
Minorität von Herrschaftsträgern und Patronen zum Modell von politischer Kollektivität in
Ruanda an sich, an deren Beispiel zunächst die verallgemeinerte Kategorie der Tutsi, und
sukzessive die Hutu als entgegengesetzte Kategorien konstruiert worden sind. Dabei spielte
allerdings der koloniale Faktor eine fundamentale Rolle. Der koloniale Faktor wird im 3. Teil
analysiert werden. Hier bleibt zu sagen, daß in der Bewußtwerdung in der Elite, in ihrem
Distanzverhalten und in der zum Teil schon in der vorkolonialen Periode zu findenden
strukturellen Entgegensetzung von Elite und Masse der Bevölkerung die Potentialität einer
Kollektivwerdung angelegt war, die über eine Homogenisierung der betroffenen sozialen
Kategorien und der sukzessive Transformation der sozialen Kategorien in Kollektive
vonstatten ging (was sich damals zumindest, wenn auch nur schimärenhaft, andeutete). 119 unter dem Titel : L’organisation politique du Ruanda au début de l’occupation belge’
105
Karte 2: Ruanda am Ende des 19.Jh.
Quelle: Rumiya 1992: 24
120 Vgl. oben ‚Exkurs: Militärische (Re-)Organisation und militärischer Ethos’ p.76ff
106
Abbildung 8: Schema der Machtbeziehungen und Grundverhältnisse im spätvorkolonialen Ruanda
Umwami Umugabekazi
(Königinmutter)
Abiru (Ritualisten und Berater des Königs
Konkubinen d. Königs
(Garigari: königliche Residenzen)
Abiru-‚Lehen‘
Privilegierte Lokale Notablen)
(Königliche Grabstätten, rituelle Haine etc.)
Provinz-Chiefs Grenzprovinzen
Armee-Chiefs
ibikingi
umuheto ubuhake
amasambu-Parzellen Abanyabikingi (Hügel-Chief,
direkt abhängig vom Mwami)
Land-Chief Weide-Chief
Umutware w’ubutaka (umutware w’umukenke) ibikingi
ibikingi ubuhake Abgaben amasambu-Parzellen
Abgaben ubuhake Abgaben
amasambu-Parzellen amasambu Parzellen (uburetwa)
Hügel-Chiefs; Lineage-Chiefs etc. Anmerkung: Ubuhake-Beziehungen wurden durch alle hier aufgelisten Amtsträger in mehr oder großem Ausmaß
eingegangen, sie sind aber nur dort explizit herausgestrichen worden, wo sie in Verbinung oder im
Zusammenhang mit dem Grundsystem auftreten. Für Umuheto gilt ähnliches, da die meisten wichtigen
politischen Amtsträger auch Chief einer Armee waren und als solche Umuheto-Bindungen eingehen konnten. (vgl. d’Hertefelt 1962: 62f; Heinrich 1978: 36f; Kabagema 1993: 44ff; Feltz 1971: 80; Feltz 1975: 154)
Teil 3 Kolonisation und Herrschaft
108
Kapitel V Die Deutsche Periode
5.1 Die Kolonisierung und ihr Kontext
5.1.1 Einleitung
Erst dreizehn Jahre, nachdem auf der Berliner Kongo-Konferenz erstmals für den
zentralafrikanischen Raum eine grobe Aufteilung in die Interessenssphären der maßgeblich
am Scramble beteiligten europäischen Mächte – Deutschland, Frankreich, Großbritannien ,
vertreten größtenteils durch meist kurzlebige privilegierte Gesellschaften sowie jener
‚privaten‘ Unternehmung des belgischen Königs Leopold II, dem Freistaat Kongo, dessen
Existenz den unmittelbaren Grund für die Konferenz darstellte – beschlossen wurde, zeigte
Deutschland mit der Gründung der Militärstation Ishangi (Shangi) am Kivusee (in der Nähe
des heutigen Cyangugu) im November 1898 eine physische Präsenz in Ruanda (vgl.Honke
1990a: 117). Bereits zwei Jahre zuvor war die Militärstation Usumbura (Bujumbura) am
Tanganyikasee an der Peripherie des Königtums Burundi als Nebenstelle des ebenfalls 1896
gegründeten Militärposten Ujiji (am Usumbura gegenüberliegenden Ufer des
Tanganyikasees gelegen) gegründet worden. Mit der Gründung des Postens Ujiji wurde
gleichzeitig der Militärbezirk gleichen Namens ins Leben gerufen. Der bisher nur theoretische
Besitzanspruch, den Deutschland durch Verträge mit einheimischen Chiefs bzw. Abkommen
mit dem Sultan von Zanzibar, dessen Herrschaftsanspruch über die meisten dem Sultanat
zugerechneten Gebiete ebenfalls eher theoretischer Natur war, sowie einer Reihe von
völkerrechtlichen Verträgen zwischen den Kolonialstaaten andererseits abgesichert war,
wurde durch physische Präsenz und Inkorporation in das noch junge Deutsch-Ostafrika121
und dessen embryonale bezirksförmige Verwaltungsstruktur materiell Ausdruck verliehen.
Zunächst war der Stations- und Bezirkchef des Militärbezirkes Ujiji für Usumbura und die
deutschen Aktivitäten in Ruanda und Burundi zuständig. 1901 wurden die beiden Territorien
schließlich in den neugeschaffenen Militärbezirk Usumbura (1962 in Bujumbura umbenannt)
einverleibt (Honke 1990a: 115; Kabagema 1993: 86; Louis 1963: 128). Von Ujiji und
Usumbura nahmen die Expeditionen der deutschen Vertreter vor Ort in die zu
erschließenden Königtümer Ruanda und Burundi ihren Ausgang. Diese bestanden aus
einigen wenigen Offiziere und ‚Askari‘ (afrikanische Soldaten) der deutschen Schutztruppe,
deren Aufgabe es war, das Gebiet sowohl zu kartographieren als auch 'Kontakte' mit den
beiden Königshöfen zu knüpfen und dadurch die faktische Kolonisierung der künftigen
Schutzgebiete einzuleiten bzw. erst zu ermöglichen. Aus einer Kombination von Faktoren -
121 1885 hatte Kaiser Wilhelm I der ‚Gesellschaft für deutsche Kolonisation’, der späteren Deutsch-ostafrikanischen Gesellschaft, einen Schutzbrief ausgestellt. 1890 wurden aufgrund des Bankrotts der Gesellschaft – es war nicht der einzige – die Hoheitsrechte über Deutsch-Ostafrika auf das Reich übertragen. Im selben Jahr (April 1890) war mit der Gründung der Kolonialabteilung im Außenamt der neuen kolonialen Rolle Deutschlands institutionell Rechnung getragen worden.
109
die relativ geographisch isolierte Position Ruandas122 infolge des vulkanischen Massivs im
Norden und Westen, dem weitausgedehnten Sumpfgebiet am Kagera-Fluß im Osten und der
Reputation für Xenophobie und militärische Stärke - war die Region Ruanda-Urundi einer der
letzten noch weitgehend unerforschten Gebiete Afrikas (Louis 1963: 103). Erst in den 1890er
Jahren, mit der fortschreitenden Aufteilung Afrikas, mit der Notwendigkeit, Grenzverläufe
exakter zu bestimmen und dem damit einhergehenden Informationsbedarf, was die
geographischen Charakteristika der beanspruchten Gebiete betraf, wurden Ruanda und
Burundi im Verlauf des fortgeschrittenen 'Scrambles' zunehmend erschlossen. Waren den
europäischen Mächten durch frühe Reisende (Richard Burton, John Hanning Speke, Henry
Morton Stanley), welche seit Ende der 1850er Jahre die Region bereist hatten, die ungefähre
Nord-Süd Ausdehnung Ruanda und Burundis sowie einige wenige markante geographische
Charakteristika (wie das Virunga-Massiv) bekannt, so fanden die für die Ausübung der
Herrschaft so fundamentalen Explorationen der lokalen Geographie, Demographie und
Politik hauptsächlich in den fünfzehn Jahren nach 1892 statt - dem Datum, als der
österreichische Geograph Oskar Baumann als erster Europäer Ruanda an seiner Südspitze
betreten hatte. Die zunehmende Erschließung der Region fand ihren Ausdruck und
umgekehrt, ihre Inspiration im Kontext des 'Scramble for Africa'. In einer Reihe von Verträgen
und anderen völkerrechtlichen Akten (1884, 1885, 1890, 1894, 1909, 1910123) definierten die
regionalen kolonialen Akteure (Deutschland, der Kongo-Freistaat bzw. Belgien sowie
Großbritannien) das als Ruanda-Urundi von Deutschland und später, von Belgien verwaltete
Gebiet und wurden so, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, selbst zu Akteuren in dem
Staatsbildungsprozeß, der bedingt durch die koloniale Präsenz und durch vielfältige koloniale
Interventionen in einem völlig veränderten Kontext stattfand.
Zwei Jahre nach Baumanns Expedition (1894) bereiste Gustav Adolf Graf von Götzen, der
spätere Gouverneur von Deutsch-Ostafrika (1901-1906), im Rahmen seiner, die Wege der
großen 'Entdecker' nachahmenden und größtenteils privat finanzierten Durchquerung
Afrikas, Ruanda. Dort vermaß er die Nordspitze des Kivusees und nahm die Virunga-Kette
geographisch auf. Auf seiner zwar in diffuser kolonialpolitischer Absicht gemachten Reise
traf er Ende Mai 1894 mit Mwami Kigeri IV Rwabugiri zusammen (Honke 1990b: 87ff;
Bindseil 1992:57ff). Die Größe der Karawane und die überlegene Bewaffnung der Europäer
122 Dasselbe, allerdings in einem weniger großem Ausmaß, galt für Burundi, das einerseits nach Westen durch den Tanganyikasee getrennt war (der zugleich aber auch einen ‚Verkehrsweg’ darstellte, also auch in einem gewissen Sinn auch verband), dessen Grenzen nach Osten und Südosten aber im Vergleich zu den Westgrenzen Ruandas weniger markante pyhsisch-geographische Charakteristika aufwies, also durchlässiger war. 123 Deutsch-kongolesisches Abkommen von 1884; Neutralitätserklärung des Kongo-Freistaates 1885; Helgoland-Sansibarvertrag zwischen Deutschland und Großbritannien; Britisch-kongolesisches Abkommen von 1894 (zum Grenzverlauf am oberen Nil); Deutsch-Britischer Vertrag über die Mfumbiro-Frage 1909; Brüsseler Konferenz zwischen Belgien, Deutschland und Großbritannien 1910.
110
bestimmten den Charakter des Kontaktes, in dem beide Seiten versuchten, sich über die
jeweils andere so umfassend wie möglich zu informieren und ihre relative Macht zu testen.
Die Natur und die Implikationen des europäischen Vordringens nach Ruanda wurden freilich
weder erkannt, noch waren sie offensichtlich, noch spielte die Kolonisation eine direkte Rolle
in der Reise von Götzens (Kabagema 1993: 21ff). Die unmittelbare politische Bedeutung der
von Götze’schen Expedition lag daher weniger in dem Zusammentreffen mit dem Mwami als
in den durch die geographischen Erhebungen aufgeworfenen Grenzfragen, die nach einer
Klärung zwischen den betreffenden Staaten – Deutschland, dem Kongo-Freistaat und
Großbritannien – verlangten. Als von Götzen nach seiner Rückkehr nach Deutschland mit
einem kaiserlichen Orden ausgezeichnet werden sollte, würdigte das Auswärtige Amt –
damals noch für die deutschen Schutzgebiete zuständig – die Ergebnisse der Expedition
dementsprechend, nicht aber, ohne auf das koloniale Potential Ruandas anzuspielen: [Seine Ermittlungen erbrachten, daß das] Bergland von Ruanda auch für eine europäische
Ansiedlung günstige Aussichten bietet.(...) Die Feststellung der Expedition sind nicht nur in
geographischer Hinsicht, sondern namentlich auf für die Vereinbarung einer natürlichen
Grenze (...) gegenüber dem Kongostaat von hervorragender Bedeutung (...). (zitiert nach
Bindseil 1992: 77)
Drei Jahre nach der Expedition von Götzens, im März 1897, führte eine weitere Expedition
unter der Leitung des deutschen Offiziers, Hauptmann Hans Ramsay, nach Ruanda und
zum Königshof, diesmal mit dem expliziten Ziel, das Gebiet für die Kolonisierung zu öffnen.
Am Hof traf Hauptmann Ramsay mit einem für den Mwami (Yuhi Musinga, der zur
Jahreswende an die Macht geputscht wurde) gehaltenen Angehörigen des Hofes (‚Pseudo-
Mwami‘) zusammen, übergab ihm den deutschen Schutzbrief und die deutsche Flagge und
‚besiegelte‘ den Bund mit einem Blutspakt. In der lakonisch kurz gehaltenen Beschreibung
dieses Aktes durch Ramsay liest sich das so: (...) In dem äußerst sauber und neu gebauten Dorf, das von einer schönen gepflasterten
Strauchboma [Schutzwall] umgeben war, waren mehr als 1.000 bewaffnete Männer
versammelt, die uns hockend, stillschweigend und mißtrauisch aufwarteten. In seiner
Staatshütte empfing mich Juhi [der vermeintliche Mwami, Yuhi Musinga], umgeben von seinen
ersten Beratern. (....)124 Nachdem ich ihm den Zweck meiner Reise und meine Absichten
durch den Dolmetscher hatte erklären lassen, erwiderte er, daß er ein Freund der Deutschen
sein wolle und bat um einen Schutzbrief und eine Flagge (die er auch erhielt). Er führte
lebhafte Beschwerde über das Eindringen der Belgier. Darauf sagte ich ihm, daß er mir ein
Zeichen seiner aufrichtigen Freundschaft geben und mit mir Blutsfreundschaft machen
möchte. Er war damit einverstanden, sagte jedoch, daß sich nur gewöhnliche Leute in die
Hand schnitten, um gegenseitig das Blut zu trinken. (...) Ein riesiger Mtussi (...) holte darauf
111
einige lange, seidenartige Grashalme. Ich mußte darauf einen Faden Juhi um den Leib
binden, und er band mit einige Fäden um; dann schüttelten wir uns energisch die Hände, und
die Blutsfreundschaft zwischen dem König und mir war geschlossen. Damit war ein
Hauptzwecke der Expedition in friedlicher Weise erreicht. (Ramsay125 zitiert nach Bindseil
1992: 97)
Die relativ unproblematische, in einem ‚amikablen‘ Klima zwischen Deutschen und dem
ruandesischen Hof vonstatten gehende Inkorporation Ruandas in das Protektorat Deutsch-
Ostafrika kam zum Zeitpunkt einer tiefen politischen Krise, die ihrerseits die Bereitschaft, den
Schutzvertrag (soweit er verstanden bzw. explizit gemacht wurde) und damit die Deutschen
als permanente Größe im politischen Feld zu akzeptieren, merklich steigerte. Gleichzeitig
darf die Expedition, die im wesentlichen den Etablierungswillen der deutschen Kolonialmacht
zum Ausdruck brachte, nicht überschätzt werden. Wenig unterschied die Expedition Hans
Ramsays von der Adolf Graf von Götzens. Für die ruandesische Seite erschien die von
Götzen’sche Expedition als ebenso ‚offiziell’ (i.S. von politisch bedeutsam) wie jene
Ramsays, die nun tatsächlich kolonialpolitische Ziele hatte. Spürbare Auswirkungen für
Ruanda zeitigte sie erst drei Jahre später (1900), als die kolonialen Interventionen immer
zahlreicher wurden, die Präsenz spürbarer und dauerhafte wurde und mit der von der
Kolonialregierung unterstützten Niederlassung von Missionaren der ‚Gesellschaft der
Missionare für Afrika’ (‚Weiße Väter’) eine neue Gruppe von Akteuren relevant wurde. Mit der
Ankunft der Weißen Väter war der für die Kolonialperiode charakteristische Herrschaftsnexus
von Hof, Kolonialadministration und Mission – die koloniale Triade – komplett, gleichzeitig
aber weit davon entfernt, einen organischen und harmonischen Herrschaftsapparat
darzustellen. Das Verhältnis der einzelnen Säulen zueinander blieb während der ganzen
deutschen Periode prekär und von Konflikten begleitet, die in punktuellen bis hin zu mehr
strategischen Allianzen zweier Parteien gegen eine dritte ihren Ausdruck fanden. Die
Situation einer stets prekären, von Schwankungen und Unsicherheit gekennzeichneten
‚Cohabitation’ änderte sich erst in der belgischen Periode, als zunächst die
Kolonialverwaltung mit der (von den Weißen Vätern) verkörperten Kirche eine enge
Partnerschaft einging, die dann, nach der Ausschaltung Musingas 1931 zum kolonialen
‚Triumvirat’ – Hof, belgische Kolonialmacht und Kirche ausgebaut wurde.
124Es folgt eine kurze Beschreibung der Berater und des vermeintlichen Königs. 125 Hans Ramsay (1898): Über seine Expedition nach Ruanda und dem Rikwa See in: Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 25, p.313f
112
5.1.2 Koloniale Erschließung und Erbfolgestreit: Ruanda in den 1890er Jahren
5.1.3 Ruandas neue Grenzen: Begegnung mit dem Kongo
Die Krise, in der sich die ruandesische Monarchie befand, hatte zwei von einander
unabhängige, aber sich gegenseitig beeinflussende Ursachen, deren respektive
Auswirkungen das Königtum auf Jahre hinaus schwächten und seine Legitimität auf längere
Zeit hinaus untergruben, ja bleibend beschädigten. Zum einen hatte die europäische
Präsenz in der Region die ersten spürbaren Auswirkungen auf Ruanda. Im Juli 1896 stießen
kongostaatliche Truppen (von der Bevölkerung in Kinyaga – der Region, in der der Einfall
stattfand – ‚Abapari’ genannt) in ruandesisches Gebiet vor. Juristisch durchaus im Rahmen
der Kongo-Akte und nachfolgender Verträge126, aber ohne Notifizierung der deutschen
Behörden, und insofern außerhalb diplomatischer Usancen, fand die militärische Besetzung
des kongostaatlichen Teils Ruandas just zu jenem Zeitpunkt statt, an dem das Außenamt in
Berlin dank der von der Expedition von Götzens erworbenen geographischen und politischen
Kenntnisse, seiner Fehler bei der Festsetzung der Westgrenze Deutsch-Ostafrikas gewahr
wurde. In einem großangelegten Versuch, die kongostaatlicher Truppen zurückzudrängen,
erlitten die ruandesischen Verbände eine vernichtende Niederlage, auf die mit der de facto
Aufgabe des betroffenen Gebiets (Kinyaga im Südwesten Ruandas) reagiert wurde. Die
Truppen des Freistaates gründeten zwei Militärposten auf der ruandesischen Seite des
Kivusees, waren aber Ende 1897, nach dem Einfall meuternder kongostaatlicher Verbände
gezwungen, ihre Stationen wieder aufzugeben und sich nach Usumbura in deutschen Schutz
zu begeben. Die Anwesenheit von Rebellen bot dem deutschen Verantwortlichen vor Ort,
dem Bezirkchef von Ujiji und Nachfolger Hauptmann Ramsays in dieser Position, Hermann
Bethe, die Gelegenheit, Schutztruppen in der betreffenden und völkerrechtlich
kongostaatlichen Region zu stationieren. Die Gründung der Militärposten Shangi im
November 1898 und Gisenyi (an der Nordspitze des Kivusees) im darauffolgenden Jahr ist in
diesem Kontext zu sehen (Vgl. Honke 1990b: 116). 1899 schlugen die kongostaatlichen
Gruppen die meuternden Truppen, die deutschen Stationen wurden allerdings nicht
aufgegeben. Der damit akut gewordene Grenzstreit mit dem Kongo-Freistaat wurde vorläufig
in einem Ad-Hoc Vertrag (Bethe-Hecq-Abkommen) entschärft, der im wesentlichen den
126 Die Grenzen zwischen dem Freistaat Kongo und den von Deutschland beanspruchten Gebieten wurden im Rahmen der Berliner Konferenz mit der Anerkennung des Kongo Freistaates durch Deutschland im November 1884 festgelegt, jedoch vom ebenfalls im Rahmen der Berliner Konferenz getätigten Abkommen signifikant verändert. Die in der von Deutschland im August 1885 ratifizierten Neutralitätserklärung des Kongo-Freistaates festgelegten Grenzen waren dann (wenn auch vorläufig) die juristisch gültigen. Sie verliefen vom Nordwest-Ufer des Tanganyikasees in einer geraden Linie quer durch Ruanda-Urundi, während das ursprünglich deutsch-kongostaatliche Abkommen die Grenzen zugunsten Deutschlands weiter westlich hatte liegen lassen (Vgl. Louis 1963: 3ff).
113
durch die deutsche Besetzung erzielten Staus Quo festfror (Louis 1963: 43). 1900 gründeten
kongostaatlichen Truppen unweit der deutschen Militärstation Ishangi zwei als ‚Protest‘
gegen die versuchte Verdrängung der kongostaatlichen Truppen durch den verantwortlichen
deutschen Offizier gemünzte Militärstationen. Die Grenzfrage wurde formell auf der
Brüsseler Kivu-Mfumbiro Konferenz von 1910 zwischen Deutschland, Belgien und
Großbritannien geregelt und mit der Demarkation der Grenzen, die ein Jahr später erfolgte,
endgültig abgeschlossen (Ebenda: 79ff und 194).127
Mit dem Vordringen kongostaatlicher Truppen auf vom Mwami beanspruchtes Territorium
wurden europäische Gruppen und Akteure merklich und in steigendem Ausmaß zu einer
relevanten und daher einzurechnenden Größe im komplizierten Macht- und
Herrschaftsgefüge Ruandas. Die unmittelbare Auswirkung des Einfalls der Force Publique
(der notorischen Armee des Kongostaates) war eine zusätzliche Destabilisierung des durch
den Tod Rwabugiris aus dem Gleichgewicht128 gebrachten politischen Systems. Gleichzeitig
brachte er eine grundsätzliche Reorientierung der wesentlich auf Expansion basierenden
Politik aller rezenten Regenten Ruandas – jene Rwabugiris und seiner Vorgänger im 19. und
18.Jahrhundert. Die Bereitschaft, eine Allianz mit ihnen einzugehen, die sich in der
Akzeptanz des Schutzbriefes und der kaiserlichen Flagge, den symbolischen Zeichen für
den Etablierungswillen der Deutschen, zeigte, versteht sich aus dieser profunden
Erschütterung eines der Fundamente des ruandesischen Staates. Nach dem Bericht
Hauptmann Ramsays129 über die Audienz am Hof, bei der er dem vermeintlichen Mwami
Schutzbrief und Flagge überreichte, scheint der belgische Einfall ein wichtiger
Diskussionspunkt gewesen zu sein und die ‚Bitte’ um den Schutzbrief (so im Bericht
Ramsays), möglicherweise der bewußte Versuch, einen Bündnispartner gegen die Belgier zu
gewinnen. Den deutschen Schutzbrief ließ der Hof jedenfalls als Zeichen, einen starken
Partner zu besitzen, den Belgiern zukommen (Honke 1990a: 116). Ein Jahr später, 1898,
überreichte Hermann von Bethe Musinga (bzw. dem Pseudo-Mwami) deshalb neuerlich
Flagge und Schutzbrief, nicht ohne dabei die Etablierung einer deutschen Station in Shangi
als die beiden Seiten vorteilige Option zu erörtern und vom ruandesischen Hof die
127 Ein Teil des durch die Brüsseler Konferenz Großbritannien zugesprochenen Gebietes, Kigezi (das den unklaren Terminus Mfumbiro bzw. Bufumbiro als offizielle Bezeichnung des Distrikts ablöste), bekannt auch als ‚Britisch-Ruanda‘, hielt qua eines von den Briten als ‚Paramount Chief‘ anerkannten Halbbruders Musingas und Vertreters des ruandesischen Hofes, Nyindo, bis zum ersten Weltkrieg (als Nyindo gegen die Briten revoltierte und abgesetzt wurde) eine Zwitterstellung inne und führte zum, wenn auch kurzfristigen und infolge der Distanz zu Zentralruanda eher theoretischen, aber nichtsdestotrotz kuriosen Paradoxon, daß ein indirekt regiertes und zugegebenermaßen vergleichsweise gut bzw. zentralistisch organisiertes, mächtiges afrikanisches Königtum koloniale Grenzen transzendierte (Vgl. Louis 1963: 196) 128 damit soll keinem funktionalistischen Gleichgewichtsmodell das Wort geredet werden. Gleichgewicht heißt in diesem Kontext nur so viel, daß in einem hochgradig personalisierten politischen System der Tod einer der physischen Person des Herrschers zugleich eine institutionelle Krise des Herrschaftsverbands impliziert. 129 Hans Ramsay (1898): Über seine Expedition nach Ruanda und dem Rikwasee, in Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 25, p.313-135
114
stillschweigende Unterstützung für die Landnahme der zwischen dem Kongofreistaat und
dem deutschen Reich strittigen Gebiete erhalten zu haben (Vgl. Bindseil 1992: 103ff).
Gleichzeitig bestand die ‚Allianz’ für den ruandesischen Hof in wenig mehr als im Abwarten
und Dulden der ohnedies schwachen deutschen Präsenz, die sich außerdem auf die
Peripherie des Herrschaftsgebietes beschränkte und offen gezeigtes Mißtrauen und
Versuche, die Aktivitäten der Deutschen zu untergraben, nicht ausschloß. Hauptmann
Ramsay hielt im selben Bericht den belgischen Einfall für den Hauptgrund für die feindselige
Haltung, die er von Seiten des Hofes zu spüren glaubte: [In der Folge des Einfalls] war es zu bösen Kämpfen zwischen den Kongolesen und den
Wanyaruanda gekommen. Schließlich ließ König Yuhi die Gegend am Kivu-See von seinen
Untertanen räumen. Die Folge von diesem Kriege, in dem die Wanyaruanda (...) zum ersten
Mal einen Vorgeschmack von der Gewalt der Feuerwaffen erhielten, war jedoch die, daß
König Juhi uns mit Mißtrauen und Angst empfing und daß die Watussi später versuchten, uns
so schnell wie möglich aus dem Land herauszukomplementieren (...). (Ramsay130 zitiert nach
Bindseil 1992: 93)
In der von dem Einfall der kongostaatlichen Truppen betroffenen Region Kinyaga, die erst
unter Rwabugiri effektiv in den ruandesischen Herrschaftsbereich integriert worden war und
bis zu seiner Herrschaft als typische Grenzregion131 unter der Autorität von Armee-Chiefs
stand, bedeutete die über zweijährige Präsenz der Belgier (reguläre Truppen sowie ‚Dhani‘-
Rebellen) zunächst den vorläufigen Rückzug der ‚Banyanduga‘ aus Kinyaga und ermöglichte
anderen, das entstandene Machtvakuum aufzufüllen und in Ausnützung ihres Verhältnisses
zu Europäern Abgaben einzuheben, Viehherden aufzubauen und Klientelbeziehungen zu
schließen. Der Vorfall und seine Konsequenzen machten den prekären Status der
130 ebenda 131 Die Region Kinyaga war zur Zeit der Kolonisierung in drei Provinzen geteilt – Abiru, Impara und Bugarama, wobei letztere eine ‚Halbprovinz’ und Impara (und seinem Provinzchief) untergeordnet war. Weiters befanden sich die unabhängigen Kleinkönigtümer Bukunzi und Busozo innerhalb der Region Kinyaga. Rwabugiri ernannte in seiner Herrschaftszeit Provinzchiefs (abatware b’ubutaka bzw. abatware b’intebe) für die beiden Provinzen Impara und Abiru und setzte damit einen weiteren Schritt in der Inkorporation der Region in Ruanda. Gleichzeitig bestanden die Armeen der beiden Provinzen weiter, und Autoritätsstrukturen waren dadurch relativ komplex (C.Newbury 1988: 40ff). In der Provinz Impara war beispielsweise der erste bekannte Provinzchief ein gewisser Ntizimira, der von Rwabugiri ernannt worden war. Unter ihm standen drei regionale Vertreter (für die Kernprovinz, den nördlichen Teil, der später (1935) als Cyesha eine eigenständige Provinz wurde und für Bugarama. In der Nachbarprovinz Abiru beschäftigte sich der Provinzchief direkt mit den vom ihm eingesetzten Hügel-Chiefs (abatware b’umusozi), die Ntizimira, wie sein Konterpart in Abiru, innerhalb seiner Provinz ebenfalls ernannte, wobei er gleichwohl auf anerkannte Männer (Lineage-Häupter u.a.) zurückgriff. Gleichzeitig war Ntizimira Chief der Impara Armee (umutware w’umuheto w’Impara), zu der allerdings nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung seiner Provinz gehörte. Parallel dazu waren einige Lineages Mitglieder anderer (sozialer) Armeen außerhalb Kinyagas. Nach der Ablöse (und dem Tod) Ntizimiras wurde ein Notabler aus der Lineage der Königinmutter Chief der Impara-Armee, und nach dessen frühen Tod, sein Sohn Rwidegembya. Die daraus folgende Teilung der Herrschaft unter zwei wesentlichen Amtsinhabern glich in vielem der Teilung zwischen Land- und Weide-Chief in Zentralruanda, wobei aber die Funktion des Armee-Chiefs nicht auf Belange, die in irgendeiner Weise mit Vieh oder Weiden zu tun hatten, beschränkt war (ebenda: 45f).
115
zentralruandesischen Herrschaftsarrangements angesichts überlegener militärischer Macht
deutlich, deuten zugleich aber auch auf die Art und Weise, wie die Festsetzung der Europäer
in der Aneignung von und Anpassung an lokale Idiome der Politik (Klientelismus) vonstatten
gehen könnte und es teilweise auch tat (Vgl. C.Newbury 1988: 54ff).
5.1.4 Der Coup von Rucunshu
Die Sukzessionskrise nach dem Tod Rwabugiris bildete die zweite, endogene Seite der
politischen Krise, in der sich Ruanda zum Beginn der deutschen Kolonialherrschaft fand. Die
Gelegenheit, den von Rwabugiri eingesetzten Nachfolger, Mibambwe IV. Rutarindwa (1895-
1896), abzusetzen, hatte sich nach dem Schlag gegen die Monarchie durch den Einfall
kongostaatlicher Truppen ergeben. Beim Gegenschlag ruandesischer Verbände gegen die
einfallenden kongostaatlichen Truppen wurde der Anführer der ruandesischen Truppen,
Bisangwa, getötet. Er war neben seinen Brüdern Sehene und Mugugu einer der drei
führenden rituellen Spezialisten (Abiru). Sie waren, hatten sie doch maßgeblich bei der
Bestimmung des Nachfolgers Rwabugiris maßgeblich mitgewirkt, gleichzeitig seine
prominentesten Unterstützer und Gefolgsleute. Der Tod Bisangwas bildete den Auftakt zu
dem Coup gegen Rutarindwa Ende 1896 in Rucunshu (nahe Kabgayi in Zentralruanda),
hinter dem eine Gruppe von Abega-Notablen stand, zu deren bedeutendsten Kanjogera, die
von Rwabugiri zu Rutarindwas Königinmutter gemacht worden war, ihre Brüder Kabare und
Ruhankiko sowie deren Neffe Rwidegembya gehörten. Mit der Ermordung der beiden
überlebenden Abiru, Sehene und Mugugu, durch Gefolgsleute Kabares und der Übertragung
der respektiven Kommandos über die von ihnen befehligten Armeen war das Lager
Rutarindwas erheblich geschwächt, der Erfolg des Coup praktisch sicher und nur mehr eine
Frage der Zeit. Als die Verschwörer schließlich gegen den isolierten Rutarindwa vorgingen –
er verkehrte nur mehr indirekt mit den Abega einschließlich der Königinmutter -, wurde sein
etwa siebzehnjährigen Halbbruder Musinga zum neuen Mwami ausgerufen, nachdem
Rutarindwa samt seiner engsten Familie in den Selbstmord gedrängt wurde, noch bevor das
Symbol der Monarchie, die Trommel Kalinga aus den beim Coup gelegten Flammen gerettet
werden konnte und nicht nur deswegen im Bruch aller Tradition (C.Newbury 1988: 58f;
Ntezimana 1990: 80).
Sukzessionskämpfe nach dem Tod eines Mwami waren an sich nicht außergewöhnlich, und
der Coup von Rucunshu steht in einer Reihe von gleichartigen Machtwechseln. Die
Sukzession bildete, trotz elaborierter ritueller und ideologischer Praktiken, einen strukturellen
Schwachpunkt in der Kontinuität der Herrschaft, zumal die Zahl der potentiellen
Thronprätendenten stets groß war und die anfängliche relative Machtposition des neuen
Mwami von dem Ausmaß der Unterstützung abhing, die er von den etablierten Chiefs im
Umkreis des Hofes erhielt. Gleichzeitig fanden Sukzessionskämpfe im Kontext von
116
Familien-, Lineage-, oder Klanrivalitäten statt, die den Konflikten ihren kollektiven Charakter
verliehen. Paradoxerweise führten die chronischen Sukzessionskämpfe langfristig zu einer
Stärkung der Institution des Königtums an sich, zur dogmatischen Bekräftigung der
Kontinuität der dynastischen Linie und zur Erhöhung des Prestiges der Institution des
Königtums, gleichgültig wer den Thron einnahm; zur pragmatischen Akzeptanz der im Kampf
um den Thron siegreichen Partei und gegebenenfalls zu einer ex post Manipulation der
historischen Traditionen und rituellen Praktiken, wenn auch kurz- und mittelfristig
Sukzessionskämpfen zunächst meist eine Schwächung des Hofes und damit einhergehend,
eine Stärkung der Position der Chiefs vis-à-vis dem Hof brachten (Vansina 1962: 73).
Der Nachfolgekampf nach dem Tod von Rwabugiri unterscheidet sich allerdings von früheren
Sukzessionskämpfen durch die veränderten Rahmenbedingungen, innerhalb derer die
Sukzession und die darauffolgende Konsolidierung der Herrschaft zu sehen ist: nämlich
durch den bei der Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs Musingas maßgeblichen
kolonialen Faktor, der schließlich auch zur Emanzipation Musingas von den treibenden
Kräften hinter dem Coup von Rucunshu beitrug einerseits und durch die infolge der
Expansions- und Zentralisierungspolitik Rwabugiris bewirkte veränderte Qualität von
Herrschaft in Ruanda andererseits. Beim Coup gegen Rutarindwa ging es letztlich nicht um
die Person des Mwami selbst, sondern um die Wiederherstellung alter, von Rwabugiri in
seiner Politik der Entmachtung eingesessener Chiefs und Lineages genommenen oder
eingeschränkten Privilegien der matridynastischen Lineage132 der Abega-Abakagara,133 was
gleichzeitig die Entmachtung der patridynastischen Lineage Abanyiginya-Abahindiro
bedeutete. Dem Machtwechsel fehlte die soziale Basis – er beruhte im wesentlichen auf den
parochialen Interessen einer kleinen, wenn auch einflußreichen Gruppe des Adels. Die
Gruppe um die Königinmutter Kanjogera versuchte die fehlende soziale Basis und die
fehlende Legitimität Musingas durch klientelistische Politik und Ausschaltung der Gegner –
und schließlich auch mittels der Kooperation mit den Deutschen134 zu kompensieren. Am
spürbarsten waren die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen des Machtwechsels an der
Spitze der Monarchie, die in einer Serie von (erzwungenen) Selbstmorden, Morden (an dem
im Machtkampf Unterlegenen sowie bisweilen auch an seiner kompletten engeren
Gefolgschaft) und der Vertreibung einzelner und ganzer Gruppen von ‚Feinden‘ des Hofes
132 Die Königinmütter (abagabekazi) waren im 19.Jh. in der Regel aus dem Abega-klan, die Bami selbst Abanyiginya. Im 19.Jh.hatten insbesondere Abega-Abakagara und Abanyiginya-Abahindiro das Recht, untereinander bevorzugt Heiratsallianzen zu schließen. Diese bildeten ein bedeutendes Mittel, Interessen der Lineage durchzusetzen. Vgl. Ntezimana 1990: 79 133 Abega (Abayniginya) ist der Name des Klans, Abakagera (Abahindiro) derjenige der Lineage. 134 Gegenüber den katholischen (überwiegend frankophonen‚Weißen Vätern‘) bzw. den weniger zahlreichen evangelischen Missionaren (der Bethelmission) war der Hof zu mißtrauisch und feindselig, um eine Kooperation einzugehen und beschränkte sich darauf, sie soweit wie möglich zu instrumentalisieren, ohne ihnen Zugeständnisse machen zu müssen.
117
ihren Ausdruck fand und damit eine längere Periode politischer Instabilität einläutete (Vgl.
Ntezimana 1990: 80; Vidal 1985: 176). Abanyiginya, bzw. eigentlich Angehörige der
Abahindiro Lineage, die unter Rwabugiri eine Reihe von wichtigen Positionen besetzt hatte,
wurden systematisch verdrängt, durch Abega ersetzt oder marginalisiert. Auf der höchsten
Stufe der Hierarchie war die Position der Amtsinhaber stets prekär gewesen. Nach
Rucunshu war sie aber prekärer denn je und betraf in unterschiedlichem Ausmaß auch die
untersten Ebenen der Hierarchie. Klienten von Patronen, die in Rucunshu auf der
Verliererseite gestanden waren, sahen sich gezwungen, neue Patrone unter dem von dem
Coup begünstigten Personenkreis zu suchen. Klienten von Abega aus der Kagera-Lineage
erfuhren umgekehrt eine Erhöhung ihres eigenen Prestiges und Status, ein Phänomen, das
die lokale Bedeutung von Abega in ganz Ruanda sprunghaft ansteigen ließ. Die
Säuberungen machten auch vor religiösen Würdenträgern nicht halt. So fand der Mwami
w’imandwa, der königliche Delegierte für den Imandwa (Ryangombe)-Kult, bei dem der
Mwami selbst nicht teilnehmen durfte, und also einer der wichtigsten, prestigeträchtigsten
religiösen Funktionäre am Hof, nachdem er als Unterstützer Rutarindwas denunziert worden
war, ebenso den Tod wie viele andere Notable.
Allerdings blieb sich die Gruppe um Kanjogera, die den jungen Musinga auf den Thron
gehievt hatte, nicht lange einig und intrafaktionelle Kämpfe folgten. Kabare, der Bruder der
Königinmutter Kanjogera und Ruhankikos, kam in Konflikt mit letzterem und wurde im Jahr
1900 vom Hof verbannt und kehrte erst drei Jahre später aus seinem Exil Bugesera zurück.
Nach seiner Rückkehr konnte er seine Position wieder festigen und seinen Bruder
Ruhankiko vom Hof verdrängen (Mbonimana/Ntezimana 1990: 131). Ähnliche Bruchlinien
taten sich zwischen dem sich von den Architekten des Coups von Rucunshu
emanzipierenden Musinga und seiner Mutter Kanjogera, auf. In der komplexen und
instabilen Situation wechselten die Fronten fortlaufend. Musinga verstand es mit der Zeit
zunehmend besser, die verschiedenen Parteien gegeneinander auszuspielen:
Einzelpersonen gleichermaßen wie die Abega gegen die Missionare, oder umgekehrt, oder,
mit Hilfe der Deutschen gegen sowohl Abega und Missionare oder eine der beiden Gruppen.
1907, als der Mwami durch seine geschickte Diplomatie im wesentlichen die Situation
kontrollierte, kommentierte Pater Léon Classe, stellvertretender Vikar und einflußreichster
Missionar, die neue Lage: „Er (Musinga) ist kein Minderjähriger mehr; er ist nun ein Mugabo
ukomoye (ein mächtiger Mann).“ (Linden 1977: 81; m.Ü.)
5.1.4.1 Sukzession, Königtum, Widerstand und Legitimität
Der Sturz des schon 1889 zum Mitregenten ernannten Rutarindwa, dessen dem rituellen
Code der Monarchie (Ubwiru) entsprechende Sukzession ihn wenn auch nicht mächtiger
machte, ihm jedenfalls Legitimität verschuf, eröffnete zugleich den Raum für indirekten,
118
latenten sowie für offenen Widerstand gegen den Hof, der in einem Fall zu einer
breitgetragenen, regionalen Rebellion auswuchs. Der Widerstand gegen die neuen
Verhältnisse – der nicht leicht zu unterscheiden ist von Versuchen, die eigene Machtposition
oder die einer Gruppe in Ausnutzung der Umstände zu festigen und auf Kosten des Hofes
auszudehnen – fand seinen Ausdruck im Widerstand einzelner Chiefs (und ihrer Klienten)
und in breiteren, regionalen Protestbewegungen. Gemeinsam war ihnen ein legitimistischer
Diskurs – d.h. die Anspielung auf und Anknüpfung an die fehlende Legitimität der Person des
Mwami. Mit der Verweigerung von Abgaben und ähnlichem oder mit der offen artikulierten
Forderung nach seiner Absetzung blieb der Widerstand innerhalb eines festetablierten
Diskurses, der die Wiederherstellung des als verletzt betrachteten Königtums forderte. Unter
dem legitimistischen Diskurs verbargen sich aber grundsätzlichere Anliegen, die nicht in
erster Linie von der Sorge um das Königtum und der Denunziation der Illegitimität der
Person Musingas getragen war. Sie knüpften vielmehr an den spürbaren sozioökonomischen
und politischen Veränderungen auf lokaler Ebene an – Auswirkungen der Verdichtung der
Herrschaft und ihre Zentralisation unter Rwabugiri und der verstärkten, unkontrollierten
Kolonisation des Nordens unter Musinga –und können so als eine tendenziell
rückwärtsgewandte Verteidigung von als durch die Herrschaftsträger verletzt betrachtete
‚traditionelle’ Rechte bzw. als Verteidigung der in Gefahr geglaubten ‚traditionellen’ Ordnung
überhaupt gelesen werden (Vgl. Des Forges 1986: 325ff). Die ‚Verteidigung des Königtums’
im legitimistischen Diskurs bildete sozusagen den symbolischen Rahmen, in dessen
Mittelpunkt das Königtum stand, und der die Artikulation tieferliegender Anliegen parochialer
oder regionalspezifischer Natur erlaubte. Der Diskurs weist zugleich auf ein in vielen
afrikanischen politischen Systemen vorhandenes Verständnis von Herrschaft als
beschränkte Unterwerfung der Untertanen – der Gefolgschaft – unter die Autorität des
Herrschers hin, als eine Art ‚nützlichkeitsorientierter’ Gestus der Untertanen, in Erwartung,
daß der Herrscher die rituelle, soziale, wirtschaftliche und politische Integrität des Landes
und seiner Bewohner bewahre können werde. Die rituellen Tabus , die der Herrscher
einzuhalten hatte, und die rituellen Praktiken, die er im Falle von Kalamitäten (Ernteausfall...)
auszuführen hatte, können als ein elementarer Bestandteil einer politischen Ideologie
betrachtet werden, in deren Perspektive die Herrschaftsausübung als in letzter Hinsicht von
den Untertanen abhängig erscheint (Vgl. Kopytoff 1987: 66). Die ideologisch postulierte
Reziprozität der zugleich asymmetrischen Beziehung zwischen Herrschern und
Beherrschten weist auf eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit der Organisation von politischer
Herrschaft in der Form des Königtums mit der Struktur und Organisationsweise von Patron-
Klientenverhältnissen auf, wobei allerdings im a-personalen Charakter der Loyalität zum
Königtum, der mit einer religiösen Überhöhung der Institution einhergeht, ein gewichtiger
Unterschied besteht (Vgl. Eisendstadt/Roniger 1981; Lemarchand 1981). In gleichen Maßen
119
wie letztere die Legitimität der Herrschaft als mit der Fähigkeit der Person des Herrschers,
die Integrität des Landes und seiner Bewohner zu gewährleisten, korrelieren ließ, beinhaltete
sie eine grundsätzliche Wertschätzung der Institution des Königtums qua deren Bedeutung
für das Wohl des Landes. Die Institution des Königtums figurierte damit selber als eine
wichtige Quelle von Legitimität, ein Faktum, das – wo keine anderen vergleichbaren Quellen
von Legitimität bestanden – von den Praktiken der gegen Musinga rebellierenden oder
widerständigen Führer eindrucksvoll belegt wird. Tatsächlich traten immer wieder Personen
wirklicher oder fiktiver königlicher Herkunft (d.h. als Söhne oder Brüder Rwabugiris) gegen
den Hof auf, unter denen einer, Ndungutse, 1912, ausgehend von den nördlichen peripheren
Regionen Ruandas, die größte und zugleich letzte große antikoloniale (im doppelten Sinn
des Wortes: sowohl gegen Europäer als auch gegen den Hof gerichtete) Rebellion lostrat.
5.2 Das System kolonialer Herrschaft
5.2.1 Materielle Zwänge und indirekte Herrschaft
(...) den despotischen König Juhi Musinga und den hochmütigen mächtigen Batussi-Adel
allmählich an die Oberhoheit des deutschen Kaisers zu gewöhnen, ohne jeden
Machtaufwand, ohne Kriegsführung, nur mit unerschütterlicher ruhiger Konsequenz geistiger
Beeinflussung, mit [großer] Einfühlung in die Mentalität dieser afrikanischen Menschen, mit
großer diplomatischer Geschicklichkeit. (Hans Meyer135 über die kolonialpolitische Strategie
des deutschen Residenten Richard Kandt in Ruanda, zitiert nach Kabagema 1993: 120)
Die Beschreibung der politischen Strategie Richard Kandts gegenüber dem Mwami durch
den deutschen Geographen und Afrikareisenden Hans Meyer weist über ihren deskriptiven
Gehalt hinaus, und kann gleichermaßen als Beschreibung wie als normative Aussage
gelesen werden und ist damit ein beredter Ausdruck des Herrschaftsmodus und der
Herrschaftsideologie der deutschen Kolonisatoren, welche die belgische Kolonialmacht,
wenn auch wider Willen, zunächst übernahm – ein Prozeß, der zeitgleich mit der
Formalisierung des belgischen Mandatstitels über Ruanda-Urundi Mitte der Zwanziger Jahre
weitgehend abgeschlossen war und letztlich zu einer direkten Ausübung kolonialen
Herrschaft führte. Eine Folge und Begleiterscheinung der in der deutschen Periode
vorherrschenden Herrschaftspraxis war eine Kolonialverwaltung, deren Verhältnis zu den
bestehenden Strukturen, die in der Theorie als ihr subsidiär behandelt wurden, wenig
formalisiert und kaum geklärt war.
135 Hans Meyer (1928): In Ruanda bei Richard Kandt 1911 in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Sonderband zur Hundertjahrfeier der Gesellschaft, Berlin p.154-155
120
Bis 1906, als in Usumbura (Bujumbura) die Residentur Ruanda-Urundi eingerichtet und
damit die Militärverwaltung, repräsentiert durch zwei Kompanien der Schutztruppe, von einer
nominell zivilen Verwaltung (die allerdings wenig vom Charakter einer Militärokkupation
verlor) abgelöst wurde, blieb die deutsche Präsenz in Ruanda eine rudimentäre und bestand
im wesentlichen aus zwei Militärstationen (Ishangi und Gisenyi), wobei nur der Posten
Ishangi dauernd besetzt gehalten wurden (Kabagema 1993: 99; Louis 1963: 178 FN 8). Die
so gezeigte Präsenz zielte, mehr noch als auf den Aufbau einer veritablen
Kolonialverwaltung, auf die Symbolisierung und Bekräftigung der deutschen Ansprüche
gegenüber dem Kongostaat. Die Lage der beiden Stationen Gisenyi und Ishangi unmittelbar
an der Grenze zum Kongo war daher nicht zufällig gewählt und gibt Aufschluß darüber, wo
die eigentlichen Schwerpunkte der frühen deutschen Kolonialpolitik lagen (Vgl. Bindseil
1992: 141). Mit den Ausnahmen eines jeweils nur zeitweilig besetzt gehaltenen, ebenfalls im
Norden und ebenfalls an der Grenze zum Kongostaat gelegenen Postens (Ruhengeri) und
der Errichtung einer ‚Hauptstadt’, dem Residentursitz in Kigali, blieben weitere Investitionen
in die kolonialstaatliche Infrastruktur im engeren Sinn aus. Die deutsche Präsenz und
Aktivität verteilte sich in der Folge ungleichmäßig über Ruanda: der Schwerpunkt deutscher
Interventionen lag in jenen Gebieten, wo sie zumindest eine rudimentäre Präsenz besaßen:
im Südwesten und in den nordwestlichen Gebieten, sowie im Zentrum um Kigali. Der
Charakter der deutschen Präsenz läßt es nicht weiter verwunderlich erscheinen, daß kaum
Ansätze zu einer systematischen Entwicklung des Schutzgebietes entwickelt bzw. solche
Ideen (wie die Kommerzialisierung der Landwirtschaft durch die Kultivierung von Kaffee und
ein Eisenbahnprojekt) erst sehr kurz vor dem ersten Weltkrieg in konkrete Vorhaben
umgesetzt – und – vom Weltkrieg unterbrochen – nie oder erst viel später von der belgischen
Kolonialmacht verwirklicht worden sind. Tatsächlich gelang es den deutschen Behörden in
Ruanda nie, den Übergang von einer an Erschließung von Gebieten und Konsolidierung der
Ansprüche orientierten Militärverwaltung zu einer die wirtschaftliche Nutzbarmachung – der
effektiven Einbindung der ruandesischen landwirtschaftlichen Ökonomie in die nationale
Volkswirtschaft, und ultimativ, in die Weltwirtschaft – vorantreibenden und garantierenden
Kolonialverwaltung zu schaffen. Allerdings gelang es der deutschen Kolonialverwaltung,
Ruanda mit einem Minimum an Ressourcen zu erschließen und zu ‚regieren’, wie es der an
die Umstände äußerer Zwänge angepaßten Vision eines in die Zukunft verschobenen
kolonialen Projekts systematischer Herrschaft entsprach, nämlich in der Form der graduellen
Inkorporation Ruandas und seiner politischen Strukturen in den kolonialen Staat, an deren
Ende eine von indigenen Strukturen und kolonialer Verwaltung gebildete organische
Verwaltungseinheit stehen sollte, mit dem Mwami als Beamten und Vertreter des Kaisers.
Der eigentliche Schwerpunkt der deutschen kolonialen Aktivität in Ruanda lag im Politischen,
in der graduellen Transformation der Strukturen der Herrschaft. Ihre Bedeutung bemißt sich
121
zum einen am relativen Erfolg der kolonialen Interventionen hinsichtlich der Ausweitung und
Konsolidierung der Monarchie, zum anderen an dem Ausmaß, in dem die vorhandenen
Herrschaftsstrukturen (u.a. durch ihre Konsolidierung) zu Instrumenten ‚kolonialer
Verwaltung’ gemacht wurden, mit denen Ressourcen – vor allem Arbeitskraft und
Nahrungsmittel für Truppen, Karawanen und Arbeiter – in der Bevölkerung aufgebracht
werden konnten.
Exkurs: Burundi
Die deutsche Kolonialisierung Ruandas steht in bemerkenswertem Gegensatz zu der
Burundis. Burundis unklare und instabile politische Situation unterschied sich deutlich von
der klaren Herrschaftssituation in Ruanda. Während die Deutschen in Ruanda als
Konsolidierer und Unterstützer der königlichen Macht auftraten, konnten sie in Burundi nicht
auf eine vergleichbare, gleichermaßen als legitim empfundene wie mächtige Instanz
zurückgreifen und wurden in den politischen Kämpfen zwischen den verschiedenen
regionalen und lokalen Kräften um Macht und Einfluß als Akteure unter anderen gesehen,
von allen Seiten extrem mißtraut. Die politische Instabilität, die zum Teil auf den
permanenten kriegerischen Konflikte im Zuge des Versuchs Mwezi Kissabos (Mwami von
Burundi, gest.1908) beruhte, seine Macht zu konsolidieren und auszuweiten, zum anderen in
dessen feindseligen Haltung den Europäern gegenüber und schließlich auf der
Nachfolgekrise nach dem Tod Kissabos und dem kurzen Interregnum seines Nachfolgers
Mutara (1908-1915) begründet war, dauerte über die gesamte Periode der deutschen
Kolonialherrschaft an und machte ein permanentes militärisches Engagement deutscher
Kolonialtruppen nötig, während sie zugleich die Entwicklung und Konsolidierung einer
konsistenten Kolonialpolitik nicht erlaubte. Die hohe Fluktuation des deutschen Personals
(zwischen 1908 und 1914 allein hatte Burundi sechs Residenten; Vgl. Louis 1963: 201), das,
aus dem Militär – der Schutztruppe – rekrutiert, das Amt des Residenten wie jede andere
Armeeposition ausübte – d.h. mit großer Gewissenhaftigkeit, aber mit wenig Interesse an
politischen Konzepten und Entwicklung -, tat das seinige dazu. Nicht nur war die Position des
Mwami in Burundi ungleich schwächer als jene seines gleichnamigen Gegenstücks in
Ruanda, auch die Politik spielte sich in einem völlig anderen Kontext ab, der zentrifugale
Kräfte stärkte und jeglichen Versuch der Zentralisierung scheitern ließ. Anders als in
Ruanda, rekrutierten sich der Mwami und der Großteil der Provinzchiefs aus einer strikt
definierten quasi-ethnischen Gruppe, den Baganwa unter denen der Mwami nicht mehr als
ein ‚Primus inter pares‘ darstellte und seine tatsächliche Macht im Laufe seiner
Herrschaftszeit erst erwerben und durchsetzen mußte. Die Gruppe spaltete sich wiederum in
vier Deszendenzgruppen, die jeweils den Namen eines der vier letzten Bami (Batare, Bezi,
122
Batanga und Bambutsa136, von den dynastischen Namen Ntare, Mwezi, Mutara und
Mwambutsa) trug und zwischen denen sich im wesentlichen politische Konflikte abspielten.
Die einzelnen Chiefs aus den vier Gruppen faßten ihnen unterstehende Provinzen als eine
Art persönlichen Besitz, der zugleich als Machtressource im Konkurrenzkampf mit Chiefs aus
den anderen dynastischen Abstammungsgruppen bzw. mit dem Mwami diente. Der hohe
Grad der Dezentralisierung und die damit einhergehende Bedeutung regionaler Eliten und
relative Schwäche des burundischen Mwami, dessen Macht durch eine Reihe von anderen
Institutionen137 zusätzlich beschränkt wurde, trug paradoxerweise zu einer hohen Legitimität
des Mwami unter der einfachen Bevölkerung – sowohl Hutu als auch Tutsi – bei, die auf
seinem Ruf als ‚unparteiischer‘ Akteur inmitten der politischen Konflikte beruhte und die –
noch ein Paradox – vermutlich erst in der Kolonialzeit, nach dem Tod von Mwami Kissabo,
zum Tragen kam und zu einem relevanten Faktor wurde (Vgl. Louis 1963: 111ff;
Lemarchand 1970: 29f). Die schwierige Situation in Burundi bestärkte lokale deutsche
Beamte und Offiziere und das Gouvernement der Kolonie in Dar es Salaam in der
Überzeugung, die relativ fest etablierte und zentralistische Monarchie in Ruanda unter
keinen Umständen zu gefährden, sondern im Gegenteil zu unterstützen und zu
konsolidieren. Burundi und Ruanda waren somit im kolonialstaatlichen Denken eng
miteinander verbunden, was durch die gemeinsame Verwaltung innerhalb eines Bezirkes
bzw. einer Residentur bis 1906 und dem zumindest engen personellen und ideellen Kontakt
der beiden Residenturen danach noch verstärkt wurde. Burundi war sozusagen das
Negativbild Ruandas, und Ruanda diente als das eigentliche, positiv verstandene Leitmodell
für die deutsche Praxis indirekter Herrschaft im Großen Seengebiet. Wirkmächtig wurde das
normative Modell aber gerade in der Gegenüberstellung, d.h. in der polarisierenden
Betrachtung der beiden Länder.
5.2.2 Die objektiven Voraussetzungen indirekter Herrschaft
Das politische ‚Chaos in Burundi‘ kontrastierte stark mit der dagegen vergleichsweise
unterkomplexen Situation in Ruanda. Wenn auch die Ansprüche des ruandesischen Hofes
auf gewisse Regionen eher theoretischer Natur waren und die Unabhängigkeit der Chiefs mit
der Distanz zum Hof zunahm, erleichterten und ermöglichten Faktoren wie die Kooperativität
des Hofes und die zentralisierte Struktur der Herrschaftsbeziehungen erst die Durchsetzung
136 Nach einem vollständigen Zyklus, also nach 4 Generationen wurden sie zu ‚Bafasoni‘, und damit zu weniger bedeutenden Akteuren (Vgl. Louis 1963: 111). Die zeitliche Tiefe dieser zyklischen Struktur darf allerdings nicht zu hoch eingeschätzt werden. Während die Identifizierung von Zyklen eine ideologische Intervention war, die im Falle Ruandas relativ früh stattgefunden haben mag und in Burundi sicherlich später erfolgt ist, ging die entscheidende Homogenisierung der scheinbar zyklisch organisierten Genealogien auf Intervention in kolonialer Zeit zurück, die es u.a. erlaubten, eine scheinbar stimmige Chronologie für regionale Königtümer (inkl. ihrer kopräsenten Nachbarn) zu erstellen. Vgl. dazu D.Newbury 1994, zu Burundi speziell ebenda: 196ff 137 Etwa dem Tabu vor dem Betreten bestimmter Regionen, was die Machtausübung über diese Regionen sicherlich nicht einfacher machte sowie den ‚Bashigantahe‘ – lokale Notable, die im wesentlichen bei Konflikten zwischen einfachen Barundi und Chiefs bzw. dem Mwami vermittelten.
123
kolonialer Kontrolle und die Errichtung einer Kolonialadministration, während sie zugleich die
Art, wie diese Herrschaft ausgeübt werden sollte, nämlich durch die größtmögliche
Unterstützung des Hofes und der Festigung und Ausweitung der Macht Musingas, mit
anderen Worten: durch ein System indirekter Herrschaft, entscheidend beeinflußte. Die
Entwicklung eines Konzepts von (nie so genannter) ‚Indirekter Herrschaft‘ orientierte sich
nicht an ähnlichen Konzepten im britischen Bereich Afrikas (Nigeria und Uganda), deren, auf
die spezifischen Probleme Britisch-Afrikas gemünzte Theoretisierung mit dem Namen
Frederick Lugards verbunden ist, sondern stellte eine genuine und zugleich ‚logische‘
Anpassung der ‚Aufgaben’ (der koloniale Administration) an die lokalen Bedingungen dar,
das, wenn überhaupt, von den Architekten der Kolonialdoktrin in Ruanda mit dem System
kolonialer Herrschaft in Niederländisch-Indien (Indonesien) verglichen wurde (Louis 1963:
200). Damit war das Indirekte System der deutschen Kolonialherrschaft in Ruanda und
Burundi weniger ein Konzept, denn eine kommentierte Praxis, die weniger systematisch als
ad-hoc, und widersprüchlicher und brüchiger war, als es die Rede von einem System
indirekten Herrschaft erwarten ließe.
Die Praxis indirekter Herrschaft, die in der Verwaltung von Ruanda-Urundi als Residenturen
ihren institutionellen Ausdruck fand und damit ein Amt (den Residenten) schuf, das die
institutionelle Verklammerung der in der Theorie unangetasteten Souveränität des Mwami
mit dem Kolonialregime gewährleisten sollte, war bedingt von mehreren Faktoren:
- die (wahrgenommene) Zentralisierung der etablierten politischen Systeme;
eine Wahrnehmung, die für Ruanda einigermaßen zutreffend war, das
politische System Burundis aber schlecht charakterisierte;
- der zu erwartende Widerstand, sollte versucht werden, eine davon
unabhängige Kolonialverwaltung aufzubauen;
- die notorische Unterbesetzung der deutschen Kolonialadministration;138
- der Klientelkomplex, die Überschneidung von politischem Amt und
ökonomischer Macht, die im wesentlichen auf Zugriffs- und
Extraktionsrechte der Chiefs (bzw. anderer reicher und mächtiger Männer,
also, wenn man so will, der politischen Klasse) beruhte. Der
Klientelkomplex war damit gleichermaßen ein Teil der politischen, als auch
der ökonomischen und sozialen Struktur des Landes; das eine könne, so
138 Deutschland war in dieser Beziehung nicht einzigartig und ähnliche ‚indirekte‘ Herrschaftsarrangements anderswo entsprangen den selben strukturellen Zwänge der respektiven Kolonialverwaltungen. Nichtsdestotroz war die deutsche Kolonialverwaltung eine der personell am schlechtesten ausgestatteten. 1913 verfügte Deutsch-Ostafrika über 70 Beamte (aus meist militärischem Hintergrund), während das in etwa gleich große Nigeria zur selben Zeit über etwas weniger als 200 Mann europäisches Verwaltungspersonal verfügte. Im Vergleich dazu verfügte der Kongo Freistaat über eine Armee von Europäern – 756 zivile Beamte und 482 Militärs. Die Residentur Ruanda war mit 10 (Verwaltungs-)Offizieren ‚bestückt’, die Residentur Usumbura mit nur 6 (Lemarchand 1970: 48-49 und 63; Young 1994: 107).
124
die überwiegende Meinung der Kolonialverwaltung, nicht ohne das andere
zu gefährden, angetastet werden.
- der aristokratische Hintergrund und die dementsprechenden Sympathien
der deutschen Vertreter vor Ort gegenüber den einheimischen
Herrschaftsträgern, die in der Missionsdoktrin der Weißen Väter – bis 1907
die einzige relevante missionierende Gruppe in Ruanda, und von
herausragender Stellung über die Dekolonisierung hinaus – ihre
dogmatische Entsprechung fand (Vgl. Lemarchand 1970: 48f)
Eine seiner frühesten Formulierungen in Bezug auf Ruanda fand das Prinzip gleichzeitig mit
dem Beginn ernsthafter koloniale Präsenz in Ruanda in einem Bericht, den Hauptmann
Werner von Grawert 1901 für das kaiserliche Gouvernement in Dar es Salaam verfaßte.
Grawert war Stationschef des Postens Usumbura und Mitte 1901 auf einer Dienstreise zum
Kivusee unterwegs, auf der der Bericht, in dem Grawert sich für ein indirektes Modell von
Herrschaft ausspricht und gleichzeitig für die Beibehaltung der Einheit Ruandas plädiert,
entstand:
Über das Land kann ich nur schon Anderen Oft-Gesagtes wiederholen. Ruanda
gehört weder zu den übermäßig reichen, noch armen Ländern. Überall macht sich
eine gewisse Wohlhabenheit geltend, das Land ist im Großen und Ganzen gut, häufig
dicht bevölkert und bebaut. Die Leute sind leicht zu lenken, der herrschende
Volksstamm der Watussi ist hoch intelligent und begabt und wird später ganz sicher
ein wichtiger Kulturfaktor werden, wenn es gelingt, ihn ohne große Kämpfe unseren
Diensten nutzbar zu machen. Daß dies möglich ist, halte ich für sicher, wenn man die
Leute ihrer jetzigen Gewalt über die Wahutu (die beherrschten Volksklassen, die sich
aus mehreren Stämmen zusammensetzen und den Hauptteil der Bevölkerung
Ruandas bilden) nur allmählich entkleidet, aber scheinbar sie in vollem Besitz
derselben läßt. Ich denke dabei an eine Verwaltung mit Eingeborenen-Organen und
europäischen Residenten, ähnlich der in Niederländisch-Indien, natürlich aber den
hiesigen weit weniger entwickelten Verhältnissen entsprechend angepaßt. (...)
Ruanda ist eines der wenigen großen zentralafrikanischen Negerreiche, die sich bis
auf die Jetztzeit herübergerettet haben, in unserer Kolonie steht es bezüglich der
Straffheit seiner Organisation einzig da. Es ist deshalb durchaus wünschenswert, daß
das gesamte Ruanda unter deutsche Herrschaft fällt (...). (Grawert zitiert nach
Bindseil 1992: 143f)
125
In einer ausführlichen Instruktion an den Interim-Nachfolger Hauptmann von Grawerts in
Usumbura (1902-1904), Robert von Beringe, bezog sich der 1901 zum Gouverneur Deutsch-
Ostafrikas ernannte Graf Götzen ausdrücklich auf die bisherige Praxis der Kollaboration mit
Musinga durch Beringes Vorgänger: (...) So lange die Verhältnisse und unsere geringen Machtmittel eine unmittelbare Einwirkung
der Station auf die Details der Verwaltung nicht gestatten, erscheint es mir in
Übereinstimmung mit der bisher erfolgten Praxis als zwingende Nothwendigkeit [sic], die
Autorität der Sultans Msinga von Ruanda zu stützen, das Land durch ihn regieren zu lassen
und ihn dadurch der deutschen Sache zugethan [sic] und für die Durchführung diesseitiger
Verwaltungszwecke geneigt zu erhalten (...). (Götzen (1902) zitiert nach Bindseil 1992: 151ff)
In einem späteren Bericht, ebenfalls an das kaiserliche Gouvernment in Dar es Salaam vom
November 1905 monierte Grawert, wieder als Stationschef von Usumbura, daß die
“uneingeschränkte Anerkennung der Autorität der Sultane durch uns” das Ideal sein müsse,
die durch die Einhebung von Steuern oder durch andere Mittel, die für sie mit der geringst
möglichen Belastung verbunden sein müssen, erzielt werden könne, weil so ihre Interessen
mit ‚unseren‘ verknüpft werden könnten (zitiert nach Louis 1963: 119f). Institutionell
formalisiert wurde das System indirekter Herrschaft mit der per Verordnung verfügten
Einrichtung von Residenturen in den Bezirken Bukoba, Urundi und Ruanda 1906 (Bindseil
1992: 153). Mit der Einrichtung der Residenturen wurden gleichzeitig die bisher als
Militärbezirke verwalteten Gebiete in eine zivile Verwaltung übergeführt. Zunächst wurde
Ruanda von Usumbura aus unter dem Residenten und Autor des obigen Zitats, Hauptmann
Grawert mitverwaltet. Im Spiegel der Praxis – in erster Linie an der ruandesischen, die nicht
nur in deutscher Periode zum Modell für Burundi wurde – definierte die Kolonialmacht das
Verhältnis zwischen dem Vertreter der deutschen Kolonialmacht, dem Residenten, und dem
‚Sultan‘ zunehmend genauer. Die Aufgabe des Residenten, präzisiert ein Text des
Gouverneurs Deutsch-Ostafrikas von Götzen, der im in weiten Teilen das Konzept von
Kolonialverwaltung des seit 1897 in der Region weilenden ‚Privatmannes‘ und späteren
Residenten Ruandas Dr. Richard Kandt, widerspiegelt, sollte darauf beschränkt sein [....], eine angemessene Abgabe durch Vermittlung des Sultans
einziehen zu lassen, zwischen diesem und dem europäischen Handel, sowie den Missionen
zu vermitteln, schrittweise auf eine einigermaßen zivilisierte Rechtsprechung zu dringen und
allmählich der deutschen Herrschaft das Vertrauen bis zu einem Grade zu gewinnen, daß
schließlich, nach Verlauf von einem oder mehreren Jahrzehnten, der Übergang zu einem
Zustand, in dem der Sultan zu einem vom Gouvernment bezahlten Verwaltungsbeamten wird,
keine Schwierigkeiten mehr begegnet. (Götzen zitiert nach Honke 1990a:121)139
139 Gustav Adolf Graf vonGötzen (1909): Deutsch Ostafrika im Aufstand Berlin 1909
126
1907 wurde die Mitverwaltung Ruandas von Usumbura aus beendet.
Tabelle 4: Errichtung der deutschen Verwaltung
Jahr Zuständige Verwaltungseinheit (Sitz)
Zuständiger Vertreter d. Kolonialverwaltung
Ausgewählte lokale Gründungen (Moderner
Name) [Postenchef]
1896 Militärbezirk Ujiji (Ujiji) Hauptmann Hans Ramsay
1897 Hauptmann Hermann Bethe Außenposten Usumbura
(Bujumbura) [Von Grawert]
1898 Hauptmann Werner von Grawert Außenposten Ishangi
(Shangi, Südwest-
Ruanda)und Tschiwitoke
(Cibitoke, Nord-Burundi)
1899 Kissenyi (Gisenyi,
Nordwest-Ruanda)
1900
1901 Militärbezirk Usumbura (Usumbura) Ständige Besetzung von
Shangi [von Krieg]
1902 Hauptmann Robert von Beringe [neuer Postenchef in
Shangi von Parish]
1903 [neuer Postenchef in
Shangi Pfeiffer]
1904 Hauptmann Werner von Grawert Verlegung des
Schwerpunkts dt. Präsenz
nach Gisenyi?;
Ruhengeri?
1905
1906 Residentur f. Ruanda und Urundi
(Usumbura)
Hauptmann Werner von Grawert
1907 Residentur f. Ruanda (Usumbura) Richard Kandt
1908 Residentur f. Ruanda (Kigali)
1911 Residentur für Ruanda (Kigali) Richard Kandt Aufhebung des Postens
Schangi
1914 Residentur f. Ruanda (Kigali) Resident ad interim Hptm. Max
Wintgens
Neugründung des milit.
Postens mit
Verwaltungsaufgaben
Cyangugu
Gleichzeitig erhielt Ruanda mit Richard Kandt seinen eigenen Residenten und 1908, mit dem
zentral und damit in der Nähe von Nyanza, dem 1899 gegründeten und praktisch
permanenten Sitz des Hofs140 gelegenen Kigali seinen eigenen Residentursitz, dessen
Ausbau 1913 im wesentlichen fertiggestellt war.
140 Bis um die Jahrhundertwende wechselte der Sitz des Mwami periodisch zwischen verschiedenen königlichen Residenzen (ibwami). Einige Bami(so Rwabugiri) richteten Residenzen gehäuft dort ein, wo ihre Macht schwach
127
5.3 Herrschaft und Herrschaftsidiom: Kolonialadministration und Mission im gesellschaftlichen Kontext
Anfänglich waren die äußerst sporadischen Besuche deutscher Militär-Expeditionen nach
Ruanda auf die weitere Exploration des Landes und der Informationsbeschaffung über seine
politische Landschaft und auf gelegentliche Kontaktaufnahme mit dem Hof beschränkt. Noch
bevor mit der Besetzung mit einem permanent anwesenden Offizier der Schutztruppe
(Leutnant Robert von Krieg) samt der ihm unterstellten Truppe (ein deutscher Unterleutnant
und 25 Askari) im Juni 1901 die Station Shangi den ersten ständigen Vertreter der deutschen
Kolonialmacht in Ruanda erhielt, waren andere Europäer – Missionare, aber auch einzelne
Forschungsreisende – nach Ruanda gekommen, die die schwache kolonialstaatliche
Präsenz zumindest, was die Informationsbeschaffung und den Kontakt mit den
einheimischen politischen Amtsträgern betrifft, teilweise kompensierten. Die
herausragendste Einzelperson unter den parallel zur fortschreitenden militärisch-politischen
Kolonialisierung nach Ruanda gekommenen Personen war der privat 1898 nach Ruanda
einlangende und dabei von der kaiserlichen Regierung in Berlin unterstützte
Forschungsreisende und 1907 zum Residenten der von der Residentur Ruanda-Urundi
abgetrennten und zur eigenständigen Verwaltungseinheit erhobenen Residentur Ruanda
ernannten Richard Kandt. Er hatte sich 1899 im Süden Ruandas in der Nähe von Ischangi
niedergelassen, wo er bis 1902 blieb. Dort widmete er sich, hauptsächlich aus eigener
Tasche finanziert, umfassenden geographischen, ethnologischen, linguistischen,
botanischen und zoologischen Studien, betrieb landwirtschaftliche Kulturversuche und war
so etwas wie ein informeller Vertreter der deutschen Kolonialherrschaft, als der er intensiven
Kontakt mit einheimischen Chiefs und dem Königshof pflegte, Beschwerden entgegennahm,
Informationen sammelte und zuweilen auch in Konflikten vermittelte. Zudem wurde er als
Sachverständiger für die Kivu-Grenzkommission hinzugezogen. (Bindseil 1988:83ff und ders.
1992: 141f). 1905 wieder nach Ruanda zurückgekehrt, setzte er seine Studien in Gakira
(heutiges Bakwira, in der Nähe von Gitarama in Zentralsüd-Ruanda) fort. Wie andere
Europäer der beiden wichtigsten europäischen Gruppen141 auch – die Vertreter der
war. Die Einrichtung einer ibwami war gleichzeitig symbolische Affirmation des Herrschaftsanspruchs faktisch verbunden mit der verstärkten Kontrolle lokaler Autoritäten und im Falle rebellischer Gebiete, mit stärkerer Präsenz von Repräsentanten des Mwami aus dem Zentrum des Landes. Das Abgehen von der Praxis wechselnder königlicher Residenzen hängt einerseits mit der politischen Instabilität nach dem Coup von Rucunshu sowie wohl auch mit dem im Zusammenhang mit der kolonialen Präsenz aufgekommenen Konzept von ‚Hauptstadt’ zusammen. 141 Außer Missionaren, Offizieren der Kolonialmacht und Wissenschaftern (zb. Geometer, Geographen...) im Auftrag der Kolonialmacht und einzelnen Forschungsreisenden (wie R.Kandt) gab es vereinzelte, allgemein als Händler charakterisierte Personen europäischer Herkunft, die (damals) einen eher zweifelhaften Ruf genossen.
128
Kolonialmacht und, im weitaus stärkeren, aber zugleich lokaleren Maße die Missionare –
wurde Kandt tief in das für Ruanda charakteristische Netz politisch/ ökonomischer
Abhängigkeitsbeziehungen hineingezogen. Nicht nur wurde er zu einer Art ‚Fürbittperson’,
von der man Unterstützung in diversen Angelegenheiten erhoffte, sondern er wurde qua
seines privilegierten Zugangs zu kolonialstaatlichen Ressourcen – allen voran, zu den
Schutztruppen, aber auch materiellen Ressourcen, wie in Strafaktionen erbeutetes Vieh – zu
einem direkten Bestandteil des Klientelsystems als Patron. Chiefs, die mit ihm befreundet
waren, konnten durch die Verbindung zu ihm ihre Macht festigen und ausbauen, und zwar
gegenüber lokalen Konkurrenten gleichermaßen wie gegenüber ihren Konkurrenten oder
Patronen am Hof in Zentralruanda (Vgl. C.Newbury 1988: 121ff). Herrschaft war
gleichermaßen weder beschränkt auf die formalen Träger von Herrschaft, die ‚traditionellen’
Autoritäten – die verschiedenen Chiefs und den Hof mit dem Mwami, der Königmutter und
den königlichen Beratern – noch auf die deutschen Kolonialbehörden. In dem Maße, in dem
Macht in Ruanda von der Position im Klientelsystem bestimmt war, die letztlich wiederum mit
dem Zugang zu Ressourcen zu tun hatte, aber sich nicht darauf beschränkte142, waren
Herrschaftsattribute ein Prärogativ derjenigen, die sich eine vorteilhafte Position im
Klientelsystem erkämpft hatten, oder von jenen, denen wegen ihrem Naheverhältnis zu
mächtigen Gruppen, eine solche zugesprochen wurde, selbst wenn sie (als Europäer) sich
dieses Status als Patrone nicht bewußt waren. Allerdings sollte der Patron-Klienten-Nexus
nicht dazu verleiten, diesen für eine umfassende und erschöpfende Beschreibung des
Systems von Herrschaftsbeziehungen in Ruanda zu nehmen. Andere Quellen von Macht
entsprangen auf religiösem Terrain. Das Charisma, über das viele Nyabingi-Geistermedien
in Nordruanda verfügen konnten, bestand zu einem Gutteil in deren Fähigkeit, spirituelle und
politisch-soziale Bedürfnisse ihrer Anhänger zu befriedigen und dies in einem religiösen
Idiom, das gleichermaßen Historisches, Politisches und Persönliches umfaßte, zu
artikulieren. Eine ähnliche religiös-charismatische Herrschaftsbegründung läßt sich für die
‚Regenmacher-Könige’143 (abahinza) ausmachen, von denen oben schon die Rede war -
wobei sich Charisma und Patronage keineswegs ausschlossen. Das Verhältnis der
deutschen Kolonialverwaltung beinhaltete gleichfalls Elemente von Klientel-
Patronageverhältnissen, ging aber, in dem Maße, in dem die koloniale Herrschaft
konsolidiert und der Gestaltungsraum der deutschen Behörden ausgeweitet wurde, weit
darüber hinaus.
Die Mehrzahl der Händler waren aber Inder, Araber, Belutschen und Swahili (d.h. swahiliphone Händler von der Küste bzw. Zanzibar). 142 Da der Zugang zu Ressourcen (Amt, Vieh, Klienten) innerhalb des Rahmens politischer und ökonomischer Abhängigkeitsbeziehungen, dem Klientelsystem, verhandelt wurde. 143 Vgl. Fußnoten 76 und 77
129
5.3.1 Christliche Mission und Herrschaft
5.3.1.1 Die Niederlassung der Weißen Väter in Ruanda
1896, gleichzeitig mit der Errichtung des deutschen Militärbezirkes Ujiji und ein Jahr vor
Gründung des Außenpostens Usumbura, waren ‚Weiße Väter‘- Missionare der 1868 in
Algiers von dem dortigen Bischof und späteren Kardinal Charles Lavigerie gegründeten
Gesellschaft der Missionare von Afrika – bereits zum zweiten Mal144 nach Burundi
gekommen und hatten eine Station unweit Usumbura gegründet. Zwei weitere ständig von
europäischen Geistlichen besetzte Stationen wurden 1898 weiter im Norden, in der Nähe der
Grenze zu Ruanda gegründet. Zugleich hatten sich die Weißen Väter unter der Ägide des
Bischofs der 1894 geschaffenen Diözese Nyanza-Süd, dem Elsässer Jean-Josef Hirth, mit
der Gründung der Station Katoke 1897 von Osten her (Bukoba am Viktoriasee) an Ruanda
angenähert (Linden 1977: 31f). Hinter der strategischen Annäherung (und von
entsprechenden, im militärischen Jargon vorgebrachten strategischen Überlegungen) an die
sowohl kolonial als auch missionarisch noch weitgehend unerschlossenen Königtümer
Ruanda und Burundi stand der unbedingte Wille, allen anderen – ‚dem Islam’ und den
protestantischen Missionaren – zuvorzukommen; ein Wille, der bei den Protagonisten der
Missionierung durch die persönlichen Erfahrungen während der politischen Wirren nach dem
Tod des Kabaka Mutesa I. in Buganda geprägt war. Diese beruhten ihrerseits auf den Kampf
verschiedener, jeweils mit einer Glaubensrichtung (Protestantismus, Katholizismus, Islam)
verbundener Gruppen am Hof um Einfluß und um den Thron. Die teils blutigen
Auseinandersetzungen wurden letztlich, nicht zuletzt durch imperiale Intervention, zugunsten
der ‚Bangereza‘ – der Protestanten in Form der anglikanischen Church Missionary Society –
entschieden und die Weißen Väter (die ‚Bafransa‘ genannt wurden und die Partei der
Katholiken vertraten), mit den Baganda-Konvertiten zunächst an die Peripherie Bugandas,
und schließlich in deutsches Gebiet verdrängt (vgl. Mbonimana/Ntezimana 1990: 128f). Der
Wunsch nach einer Stärkung der Kirche in den kolonialen Neugründungen, in Zeiten, wo die
Kirche in Europa unter dem Druck der Säkularisierung zunehmend in die Defensive gedrängt
wurde, bildete den Hintergrund der Gründung der Gesellschaft der Missionare von Afrika, die
im breiteren Kontext der starken antimodernistischen Strömungen innerhalb der Kirche zu
sehen ist, die kirchenpolitisch im Ersten Vatikanum und theologisch an einer an Thomas von
Aquin orientierten Neoscholastik ihren Ausdruck fanden. Nicht zufällig wandten sich die
Weißen Väter den zentralisierten politischen Gebilden im Großen Seengebiet zu, die sie in
christliche Königreiche zu transformieren trachteten (Linden 1977: 30). 1898 und 1899 traten
144 Die Ermordung eine Gruppe von Weißen Vätern 1881 hatte den ersten Versuch einer Ansiedlung in Burundi vereitelt.
130
die Weißen Väter erstmals in Kontakt mit dem ruandesischen Hof, 1900 erhielten sie, nicht
ohne dabei Unterstützung von den deutschen Behörden zu erhalten, schließlich die
Erlaubnis, zwei Missionstationen, Issavi (Save; im Südosten) sowie Zaza (in Gisaka, im
Osten) zu gründen (Kabagema 1993. 65f). 1901 kam die Station Nyundo (in Bugoyi, im
Norden) dazu, 1903 Rwaza (in Mulera, ebenfalls im Norden) und im selben Jahr, Mbilizi in
der Region Kinyaga und damit in der Nähe des damals einzigen ständig besetzten
deutschen Militärpostens. Wie schon die Etablierung der Weißen Väter in Ruanda stark
strategischen Überlegungen gefolgt war, so waren auch die Neugründungen von derartigen
Plänen – und der Angst vor ein Zuvorkommen protestantischer Missionare – inspiriert.
Allerdings waren die Missionare dem Gutwillen Musingas und des Hofes ausgeliefert, der
verständlicherweise alles daran setzte, die Missionen außerhalb des Kernbereichs des
Königtums zu halten. Die Bereitwilligkeit Musingas, den Missionaren Land für ihre Missionen
bereitzustellen, erklärt sich umgekehrt auch aus der Schwäche der königlichen Herrschaft in
den betreffenden, für Missionstationen vorgesehenen Gebieten; und daraus, daß er wohl
damit rechnete, in den Missionaren Werkzeuge zur Festigung der Herrschaft des Hofes bzw.
zur Festigung seiner eigenen Position gegenüber den Abega (seiner Mutter Kanjogera, ihren
Brüdern Kabare und Ruhinankiko und Rwidegembya) zu erhalten (Vgl.Rutayasire 1987:
19ff). Das von den Missionaren als eines der vorrangigsten Ziele eingestufte Projekt einer
Mission am Hof sollte allerdings am Widerstand des Hofes scheitern, nur über den Umweg
einer ‚Schule’ am Hof in Nyanza ab 1907, in der Form sporadischen Unterrichts für Musinga
und seinen Intore (königlichen Pagen) durch den Katechisten Wilhelmi (‚Guten Willens’,)
konnten die Missionare überhaupt eine Form von Präsenz am Hof erreichen (Linden 1977:
80). Selbst für die Verwirklichung des Ersatzstandorts in Kabgayi (25km vom Hof in Nyanza
entfernt) im Jahr 1905 mußten die Missionare den deutschen Bezirkschef von Grawert um
Hilfe bitten, der vom Mwami die Erlaubnis für eine Missionsstation in Nduga erzwang
(Rutayasire 1987: 22). Weitere Missionen folgten in Kigali (1908), der Residenturhauptstadt,
in Rulindo (1908, in der Provinz Buliza, im Norden) und in Nyaruhengeri (Kansi) 1910 (an der
Südgrenze zu Burundi).
Tabelle 5: Missionsgründungen vor 1919
Jahr Katholische Gründung/ Weiße Väter
(Region)
Evangelische
Gründungen/Bethelmissionare
1900 Save (Bwanamukari)
Zaza (Gisaka)
1901 Nyundo (Bugoyi)
1903 Rwaza (Mulera)
Mibirizi (Kinyaga)
1905 Kabgayi (Nduga)
1907 Kilinda (Bwishaza)
Zinga/Nsinga (Gisaka)
131
1908 Kigali (Bwanacyambwe/Nduga)
Rulindo (Buliza/Nduga)
1909 Murunda (Kanage); kurzfristig
aufgegeben und neugegründet 1912
Rubengera (Bwishaza)
1910 Kansi (Bwanamukari)
1912 Remera (Rukoma/Nduga)
1913 Rambura (Bushiru)
1914 Rukira (Gisaka)
5.3.1.1.1. Grundbesitz, Arbeitskraft und Ausbeutung
Die Missionsstationen waren, um wirtschaftlich autark sein zu können, großzügig mit Land
ausgestattet. Die 1900 gegründeten Stationen Save und Zaza umfaßten 700ha bzw. 750ha
Ein in vieler Hinsicht beachtlicher Landbesitz, der auf Drängen des kaiserlichen
Gouvernements in Dar es Salaam allerdings auf 220ha bzw. 164 ha zurückgestutzt werden
mußte. Mit Stationen, die selbst gegenüber den ursprünglich geplanten Größen noch
großzügig mit Land ausgestattet waren, wurden die Weißen Väter (im Unterschied zu den
protestantischen Missionaren der Bethelmission, die für ihre ersten Stationen Zinga und
Rubengera 25ha bzw. 36ha erworben hatten) zu beachtlichen Großgrundbesitzern, die sie in
gewisser Weise auf eine Stufe mit der Tutsi-Elite stellte, für die – in der Form von Ibikingi-
Land – Landbesitz ebenfalls zu einem sie auszeichnenden Charakteristikum geworden war.
Tabelle 6: Grundbesitz der katholischen Mission
Missionstation Fläche (in Hektar) an Musinga bezahlter Preis (in
Rupien)
Save (1900) 230 450
Zaza (1900) 160 300
Nyundo (1901) 105 250
Rwaza (1903) 135 250
Mibilizi (1903) 130 300
Kansi (1910) 116 ?
Rulindo (1908) 30 30
Murunda (1909) 30 30
Rambura (1913) 40 ?
Quelle: Rutayasire 1987: 395f
Die auf Missionsland ansässige Bevölkerung fand sich als eine Art Pächter wieder, über
deren Arbeitskraft die Missionare im Rahmen der als traditionell verstandenen Uburetwa
verfügten und über die sie Jurisdiktion ausübten, deren Reichweite erst nach mehreren
schweren Konflikten mit von dem Verlust von Klienten, Arbeitskräften, Untertanen
betroffenen Chiefs spezifiziert worden ist (Vgl. Mbonimana/Ntezimana 1990: 132f;
Rutayasire 1987: 37f). Die Missionare griffen überdies auch auf Arbeitskräfte
132
ausumliegenden Gebieten zurück, die freilich nicht angeworben und angestellt wurden,
sondern die ihre Arbeit im Rahmen von Uburetwa-Verpflichtungen gegenüber einem Chief
verrichteten, für deren Zur-Verfügung-Stellen der Chief, nicht aber die Arbeiter bezahlt
wurden. Solcher Art Arbeitskraft war überaus billig und wurde zu einer bevorzugten Methode
kolonialer Arbeitsbeschaffung (Vgl. Linden 1977: 37). Die Mission wurde damit, neben dem
kolonialen Staat, der sich in noch größerem Ausmaß auf Uburetwa-Arbeitskraft stützte,
indirekt zu einem wichtigen Faktor in der Herausbildung einer ländlichen Klasse von Hutu-
Bauern, die keinen unabhängigen Zugang zu Land besaßen, regelmäßig ihre Arbeitskraft zur
Verfügung stellen und überdies einen mehr oder weniger großen Teil ihrer
landwirtschaftlichen Produktion an ihren Chief abgeben mußten. Von vornherein fungierten
die Chiefs als logischer Angelpunkt, über den die Beschaffung von Arbeitskräften für
koloniale Zwecke – für die Mission oder den kolonialen Staat – abgewickelt wurde. Die
komplexen Verfügungsrechte über Personen, die verschiedene Chiefs (Abatware b’umuheto,
Abatware b’ubutaka, Abatware b’umukenke, Abanyabikingi etc.) für sich reklamierten, ließen
Mehrfachverpflichtungen keine Seltenheit sein. Chiefs, die in Verträgen mit den Weißen
Vätern Landansprüche aufgaben, forderten die verschiedenen Verpflichtungen der
Bevölkerung ihnen gegenüber, Arbeitsleistungen gleichermaßen wie Abgaben in Naturalien,
weiterhin ein, während die Patres selbst Arbeitsdienste und Pachtabgaben von den
Missionsbewohnern einzufordern begannen. Wer über welche Zugriffsrechte auf welchen
Personenkreis verfügen konnte, war letztlich das Ergebnis komplizierter
Aushandlungsprozesse zwischen Missionaren, Chiefs, den strittigen Personen selbst und
der Kolonialmacht, wobei in der Regel das Ergebnis zuungunsten der Bauern ausfiel, die
zunehmend, auch wenn sie ‚traditioneller Weise’ davon nicht betroffen waren, zu Uburetwa-
Zwangsarbeiten verpflichtet wurden (Vgl. ebenda: 98).
5.3.1.2 Katholische Mission unter deutscher Herrschaft 1900-1916
Die erste Periode der Mission (bis 1912) war geprägt von einer Expansion der
Missionsstationen. Erst nach 1912 begann eine Phase der Konsolidierung, in der der
Heranbildung einheimischer Katecheten (mit der schon nach 1906, als der Großteil der
berüchtigten Baganda- und Basukuma-Katecheten von den Stationen entfernt wurde,
begonnen worden war) und der Errichtung von Zweigstellen der Missionsstationen in den
umliegenden Gebieten eine verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde (Rutayasire 1987:
64). Die frühe Missionsarbeit wurde hauptsächlich von den die Weißen Vätern begleitenden
Baganda- und Basukuma- Katecheten ausgeübt, in einer Mischung aus Zwang und
materiellen Anreizen für die potentiellen Konvertiten. Die Missionierung wurde durch die
prekären sozio-ökonomischen Bedingungen um die Jahrhundertwende erleichtert, die von
einer Reihe von ökologischen Krisen, insbesondere den Auswirkungen einer seit 1897
andauernden Hungersnot (‚ruyaga’ – der schlechte Wind) bedingt und durch die
133
Auswirkungen der politischen Krise und der Kolonisation verstärkt worden waren. Die
Subsistenzkrise, die die Konversion für die verarmte bäuerliche Bevölkerung zu einer
attraktiven Option machte, hatte auch zu einem merklichen Anstieg des ansonsten in
Ruanda unüblichen Sklavenhandels geführt (Mbonimana/Ntezimana 1990: 132). Die
Missionstätigkeit beschränkte sich, nicht unähnlich mit der Situation anderswo, aber im
Widerspruch mit der Missionsdoktrin der Weißen Väter, auf die einfache Bevölkerung im
Umkreis der Stationen, bzw. darüber hinaus, auf marginalisierte Gruppen. Die Weißen Väter
hatten dagegen, inspiriert von der Lektüre der patristischen Literatur und der Beschäftigung
mit der Missionierung Europas im frühen Mittelalter, gehofft, zuerst den ‚Adel’, und mit ihm
das ganze Land rasch zum Christentum zu bekehren. Tatsächlich zeigten sich die Chiefs
und der Hof jeden Bekehrungsversuchen extrem widerständig. Der Kontakt der Missionare
mit dem Hof blieb zunächst auf Höflichkeitsbesuche oder auf Gelegenheiten beschränkt,
wenn es darum ging, sich für jemanden einzusetzen oder die Erlaubnis für neue
Missionsstationen einzuholen. Erst später traten dazu edukative Maßnahmen, die aber an
der grundsätzlichen ablehnenden bzw. indifferenten Haltung gegen das Christentum nichts
änderte (Vgl. Des Forges 1969: 179f).
5.3.1.2.1 Die Weißen Väter und Nordruanda
Der Schwerpunkt der Missionsarbeit lag bis in die belgische Periode hinein im Norden, was
angesichts des speziellen Status der nördlichen Regionen sowohl hinsichtlich ihrer
schwachen Integration in den ruandesischen Herrschaftsverband als auch hinsichtlich ihrer
zu Zentralruanda deutlich unterschiedlichen politischen Tradition, die im segmentären
Charakter politischer Herrschaft ihren Ausdruck fand, und nicht zuletzt angesichts des
erklärten ‚Bias’ der Missionare oder, präziser, der Sympathie der Missionsführung145 –
Bischof Hirth und Leon Classe – für die ‚legitimen Führen’ des Landes, den Tutsi-Chiefs,
eine delikate Angelegenheit war und nicht unerwartbarer Weise zu schweren Konflikten
innerhalb der Kirche, mit der deutschen Kolonialadministration und mit dem Hof führte. Die
Mission im Norden war zerrissen zwischen dem Wunsch, der einheimischen Bevölkerung,
und speziell den Christen unter ihnen, Schutz vor Banyanduga Tutsi zukommen zu lassen,
welche die Region nach 1900 als Vertreter des Mwami, de facto aber ohne dessen Kontrolle
und in Erfüllung eigener Interesse kolonisierten und damit eine beträchtliche Unruhe speziell
145 Die Struktur der Missionsgesellschaft Kardinal Lavigeries für die Missionierung Afrikas spiegelte die Realitäten europäischer Klassengesellschaften wider: Die Spitzen der Missionshierarchie – Hirth und Classe – waren stets ausnahmslos Aristokraten oder entstammten gutbürgerlichem Haus und pflegten in der Regel gute Beziehungen zu ihren Vis-à-Vis’s in der Kolonialadministration. Die Mehrheit der Missionare dagegen kam aus einfachen Verhältnissen und entwickelte mit der Dauer ihrer (häufig physischen) Arbeit in ihren Einsatzorten eine tiefe Identifikation mit der gewöhnlichen Bevölkerung der Umgebung. Selten erlangte ein gewöhnlicher Missionar eine höhere Autoritätsposition innerhalb der Missionshierarchie, ebenso selten verkehrte er mit kolonialen Amtsträgern anders als beruflich (Vgl. Linden 1977: 66f)
134
unter den ‚Grundherren’ ,den Abakonde146 gestiftet hatten, einerseits und andererseits der
unter Federführung von Léon Classe forcierten Unterstützung für den Hof (Vgl. Des Forges
1986: passim; Linden 1977: 66f). Mittelfristig, mit der Durchsetzung der offiziellen
Missionsdoktrin, wurden die Missionare zu Werkzeugen der Kolonisation des Nordens und
der Durchsetzung eines Gesellschaftsmodells à la Nduga, in der eine Gruppe von
immigrierten Tutsi-Chiefs zunehmend die einheimischen, auf Klans und dem Ubukonde-
Klientelsystem beruhenden Autoritätsmodell untergrub und zur neuen Herrschaftselite
avancierte. Zugleich wurde der Schwenk in der Missionspraxis als Entpolitisierung kaschiert,
als Rückzug der Missionare aus einem Bereich, der außerhalb ihres Handlungsbereiches
sein sollte, auch wenn er es de facto nie war. Die Konsequenz dieser Haltung, die im übrigen
konsistent mit dem Politikverständnis und Weltbild der katholischen Kirche war, die
Gesellschaft als unweigerlich, und in Übereinstimmung mit metaphysischen Prinzipien,
hierarchisch gegliedert sah, war ein Opportunismus der Macht, der bestimmte
Machtverhältnisse a priori akzeptierte, solange die Position der Kirche darin als gesichert147
gelten konnte. Das machte die Kirche (oder die Mission) zumindest in der Doktrin zu einer
prinzipiell konservativen Kraft. Bischof Hirth formulierte den Rückzug auf das Spirituelle, dem
ureigensten Rayon der Kirche in einem Appell an die Missionare in Rwaza ( in Mulera), die
sich der oktroyierten Unterstützung des Hofes am meisten widersetzt hatten: Hâtez-vous de vous débarrasser aussi complètement que possible de tous ces procès et
litiges qui n’ont rien à réclamer de votre juridiction toute spirituelle. Renvoyez à César et à
Musinga tout ce qui peut revenir à César et à Musinga. Vous en serez d’autant plus libres de
remplir les devoir du prêtre et d’autant plus sûrs de vous faire aimer et de gagner la confiance
de tous pour le salut des âmes. (Hirth (1911) zitiert nach Rutayasire 1987: 52)
5.3.1.2.2 Gewalt, Macht und Herrschaft im Geiste und jenseits des Evangeliums
Die Baganda und Basukuma, die mit den Missionaren nach Ruanda gekommen waren,
fungierten in den ersten Jahre der Mission als Katechisten, Soldaten, Hausangestellte der
Missionare, als Verbindungsmänner zu den Chiefs, als Poliere, Tischler u.v.a. In der
Missionsarbeit waren sie weitgehend auf sich allein gestellt, zumal die Sprachkenntnisse der
Missionare in den ersten Jahren eine stärkere Teilnahme der Missionare an der
Evangelisierung verhinderte. Die Katecheten griffen dabei systematisch zu physischer
Gewalt oder anderen Zwangsmitteln, mit denen sie ‚Gläubige’ warben, und vergaßen dabei
nicht auf ihren eigenen Vorteil zu achten.
146 Ubukonde bezeichnet ein Bodenrechtsarrangements, das vor allem in Nordruanda bekannt war, aber auch in anderen Regionen seine Anwendung fand (etwa im Südwesten, in Kinyaga). Die Träger dieses Grundrechts werden Abakonde genannt, die ihrerseits in der Weiterverpachtung ihres Ubukonde-Landes ein beträchtliches Klientel an sich binden konnten. 147 Ideologisch wurde diese Position in der späten Phase der katholischen Erneurung nach dem 1.Vatikanum als
135
Eine beliebte Technik der Katechisten bestand darin, Kinder ‚auszuwählen’, denen dann der
aus höfischen Zusammenhang bekannte Titel ‚Intore’ ( die ‚Erwählten’) gegeben wurde. Sich
der Erwählung zu entziehen, war für die so Auserkorenen freilich keine Option. Die durch
solche Methoden erzielten Erfolge waren jedenfalls quantitiv beachtlich und die Missionare
begannen schon von einer Bekehrungswelle zu sprechen (Vgl. Linden 1977: 35). Der
Militarismus beschränkte sich freilich nicht auf die hauptsächlichen Proponenten der
Evangelisierung, die Katechisten, sondern kennzeichnete auch das Verhalten der
Missionare. Wenn sich auch die Vorgehensweise der Katecheten der Kontrolle der
Missionare weitgehend entzog und die Evangelisierung mit Gewalt – so wie Bischof Hirth –
aus grundsätzlichen Gründen148 mißbilligen mochten, unterschieden sie sich in der
Bereitschaft, Zwang und Gewalt anzuwenden, nicht grundsätzlich von den Baganda- und
Basukuma-Katecheten. Selbst Chiefs konnten nicht auf ihre Position vertrauen, wenn die
Patres sich im Recht wähnten. Der Chronist von Save schreibt anläßlich der Maßregelung
eines Chiefs, der vom Mwami aufgefordert worden war, den Missionaren Baumstämme zu
liefern, dieser Aufforderung aber nur zögerlich und nur teilweise nachgekommen war: [T]u resteras chez nous, lui dit le Père, jusqu’à ce que nous ayons le nombre complet. Les
arbres ne tardèrent pas à venir (...).Ce n’était pas une petite joie pour les Bahutu de voir leurs
chefs, toujours si fiers ennemis de la peine et de la contrainte, porter des briques du matin au
soir comme celui qui travaille pour avoir des étoffes. (Diaire de Save, Juillet/Aôut 1901, zitiert
nach Rutayasire 1987: 28)
Chiefs, denen nachgewiesen wurde oder denen man einfach nachsagte, Christen zu
diskriminieren, wurden gleichfalls von den Patres mit Zwangsarbeit oder Schlägen bestraft.
Im Einklang mit dieser Praxis, aber durchaus im Widerspruch zu den Idealen der Mission
erweckten die Missionsstationen insgesamt eher den Eindruck von Militärposten als von
spirituellen Zentren. Mit Missionsstationen von quasi-exterritorialem Status, in deren Gebiet
die Patres Recht sprachen, Strafen verhängten und zu deren Bewohner die Missionare ein
Patronageverhältnisse pflegten, wurden die Missionare schnell zu einem Machtfaktor, mit
dem sowohl die deutsche Kolonialmacht, als auch der ruandesische Hof zu rechnen hatten;
und den beide nach Möglichkeiten zu beschränken trachteten.
So präzisierten die deutschen Behörden die Jurisdiktion der Missionare, die über die
Missionsstationen nicht hinausgehe und die Bevölkerung der Missionsstationen nicht von der
Verpflichtung gegenüber ihren Chiefs außerhalb der Stationen entbinde, und forderten die
Missionare mehrmals auf, sich in der Ausübung von herrschaftlichen Tätigkeiten zu „Kampf um die Freiheit der Kirche“. Vgl. Mayeur/Bauberot 1992: 9) 148 Idealiter sollte die Konversion aus freien Stücken erfolgen und das Ergebnis einer bewußten
136
beschränken, insbesondere, was das Herausnehmen von Rechten gegenüber den Chiefs
betraf und sich an den von den Behörden vorgeschlagenen ‚Instanzenweg’ für
‚Rechtssachen’ der Banyarwanda zu halten. Gleichzeitig konnten sie den Eindruck nicht
verhindern, daß der deutsche Militärposten in Shangi wenig mehr als den exekutive Arm der
Mission darstellte, der die Empfehlungen auf Rechtsprüche (wobei der Unterschied zu einem
Rechtsspruch für Ruandesen irrelevant war) der Missionare auszuführen hatte (Vgl.
Rutayasire 1987: 37f; Linden 1977: 52 und 98).
5.3.1.2.3 Mission und Elitenpolitik
Die Missionare nutzten ihre Machtposition, die selbst wiederum auf einer Reihe von Faktoren
aufbaute – der Stellung, die sie als Europäer innehatten; der Stellung, die ihnen von der
schwachen Kolonialmacht anvertraut wurde und die auf sie angewiesen war; als Personen,
die Zugang zu beträchtlichen Ressourcen hatten und in der Eigenschaft sie zu Patronen
wurden – auch durchaus aus. Der Einfluß der Missionare und die Auswirkungen ihrer
Anwesenheit beschränkten sich nicht auf die unmittelbare Lokalität ihres Wirkens, auf die
Missionsstationen (was der Hof gehofft hatte, als er den Missionaren Land für
Missionsstationen in peripheren Gebieten zugewiesen hatte), sondern berührte von
Anbeginn ihrer Anwesenheit in Ruanda den delikaten Bereich der Elitenpolitik. Die
Missionare wurden in Machtkämpfe verwickelt, mithin ohne es zu wollen oder dessen
gewahr zu werden. Anläßlich ihrer Niederlassung in Save wurden der Karawane der
Missionare zwei Begleiter zugeteilt, ein königlicher Berater (Umwiru), den die Königmutter
ermordet haben wollte, und Cyitatire, ein Bruder Musingas, der ebenfalls beseitigt werden
sollte. Die Abega am Hof versuchten anfangs, indem sie Notable in Verbindung mit den
Missionaren brachten, sie dadurch zu kompromittieren, der Illoyalität zu bezichtigen und
darauf leichter entmachten zu können. Cyitatire konnte sich Anschlägen entziehen, indem er
den Hof für eine Weile mied. Statt dessen gestattete er den Missionaren, sich in Save
niederzulassen, versorgte sie mit Arbeitern und konnte sich künftig der Unterstützung der
Missionare sicher sein (Vgl. Linden 1977: 33f). Ein Jahr später revoltierte ein gewisser
Lukara (Rukara), der für sich die Abstammung vom Königshaus in Gisaka reklamierte (das
Anfang des 19.Jh. von Ruanda erobert worden war) gegen den Hof und wandte sich um
Unterstützung an die Missionare (und an deutsche Offiziere) in Zaza. Ein Pater, der Lukara
sichtlich Sympathien und Unterstützung entgegenbrachte, mußte daraufhin versetzt werden.
Seine Mitbrüder waren dagegen vorsichtiger gewesen und erhielten von Musinga
dementsprechende Anerkennung (Vgl. Ebenda: 35f; Rutayasire 1987: 34). Den Hintergrund
dafür bildete eine (wiedererwachte) Nostalgie in Gisaka für das in Ruanda inkorporierte
Königtum Gisaka, die in wiederholter Folge zu Restaurationsversuchen führte und zum Teil
Glaubensentscheidung sein.
137
auf der prekären sozioökonomischen Lage infolge der seit 1897 andauernden Hungersnot
(‚ruyaga’), die erst 1903 abzuflauen begann und auf den als um so schwererwiegender
empfundenen Forderungen der die alte Königslinie ersetzenden Tutsi-Chiefs beruhte. Ein
Jahr nach der Aufstandsbewegung Lukaras demonstrierte ein Konflikt zwischen einem
Mitglied der alten Königsfamilie und Chief des Gebietes um die Missionsstation Zaza,
Muhumbika, und Musinga, die Unmöglichkeit, dem professionellen Ethos der katholischen
Kirche, neutral zu sein und strikt zwischen Politik und Kirche zu unterscheiden, zu folgen.
Muhumbika hatte einen kleineren Chief, der einen Taufwerber ermordet hatte, abgesetzt.
Musinga sah darin ein nicht zu vertretbares Entgegenkommen gegenüber den Missionaren
und enthob Muhumbika seines Amtes. Der Superior von Zaza, P.’Terebura’ Brard, der für
sein autoritäres Auftreten und seine Gewalttätigkeit bekannt war, erzwang darauf seine
Wiedereinsetzung. Muhumbikas Vieh, das der Superior vom Missionshügel entfernen ließ,
stellte sich als von Musinga geliehenes Ubuhake-Vieh heraus und mußte wieder auf seine
ursprüngliche Weide geführt werden. Musinga hatte sich indessen an die Deutschen
gewandt, die die Missionare zwangen, Muhumbika den Soldaten des Mwami zu übergeben,
die diesen, samt einer Gefolgschaft von zwei Dutzend Männern zum Hof brachten, wo 20
seiner Männer niedergemetzelt wurden. Die Folgen für Zaza kamen prompt. Die Absetzung
Muhumbikas wurde den Missionaren angelastet, und die Missionare fühlten sich erst wieder
sicher, als eine deutsche Strafaktion die Region zu einem Zoll von 30 Toten wieder befriedet
hatte (ebenda).
Nach den ersten Jahren ihrer Präsenz und deutscher Kolonisation waren die Missionare zu
einem festen Bestandteil der kolonialen Architektur geworden. Anders als in frühen Jahren,
vertraten sie zunehmend die Doktrin der indirekten Herrschaft, eine Entwicklung, der auch
vom Hof Rechnung getragen wurde. Dieser hatte zwar seine prinzipielle Einstellung
gegenüber den Missionaren nicht wesentlich geändert, wohl aber seine praktische Politik,
mußte er doch das Faktum ihrer Anwesenheit und ihrer beträchtlichen Macht berücksichtigen
und in gewisser Weise auch akzeptieren. Das bedeutete allerdings nicht, daß das Verhältnis
konfliktfreier wurde. Krisen im beiderseitigen Verhältnis brachen regelmäßig aus. Anlässe
gab es genug: der Wunsch nach neuen Missionsstationen, der wie bei den Gründungen
Kabgayi (1905) bzw. Rulindo (1908) mit deutschen Zwang realisiert worden war; die
wahrgenommene Störung des Kräfteverhältnis von Hof, Mission und Deutscher
Kolonialmacht zueinander (wie etwa anläßlich der Expedition von Herzog Adolf Friedrich zu
Mecklenburg 1907-8, mit etwa 700 permanenten Teilnehmern, darunter 9 Europäer sowie
weiteren 2.230Trägern, die für die Anlage von Lebensmittel- und Materialdepots, sowie dem
Rücktransport der gesammelten Gegenstände engagiert worden waren); sowie periodisch
138
aufbrechende antieuropäische Stimmung und mit ihr zusammenhängende
Verschwörungstheorien (Vgl. Servaes 1990: 93; Linden 1977: 81ff).
5.3.2 Deutsche Militärokkupation und Herrschaft
5.3.2.1 Die Errichtung des Kolonialstaats(1) ca.1900-1907
Bis 1907/1908, als mit der Errichtung der Residentur Ruanda der Kolonialstaat
institutionalisiert wurde, beschränkte sich die deutsche Herrschaft auf mehr oder weniger
regelmäßige militärische Aktionen in ganz Ruanda. Lediglich in der näheren Umgebung der
Militärposten (v.a. in Shangi, in Südruanda, wo sich der Schwerpunkt der deutschen Präsenz
befand, sowie Gisenyi am Nordufer des Kivusees) waren die Aktivitäten der deutschen
Kolonialmacht umfassender und bestanden in der Übernahme regulärer staatlicher Aufgaben
(Judikatur, Normierung, ‚Infrastrukturentwicklung’), die – gemäß der Doktrin indirekter
Herrschaft und soweit es die Rechtsetzung und Judikatur betraf – in erster Linie dem
Verhältnis von Europäern (Kolonialstaat, Kolonialtruppen, Mission, Händler) und Ruandesen,
galten. Der Bau von Infrastruktur beschränkte sich hauptsächlich auf den Bau der Posten
und der Verbesserung einiger weniger Wege. Alle Formen kolonialstaatlichen Handelns,
insbesondere aber die ‚Polizeiaktionen’, meist gegen ‚Rebellen’ (oder als solche
denunzierte), die sich der Autorität des Hofes nicht beugen wollten149, dienten ultimativ der
Absicherung der indirekten Herrschaft, ohne zunächst weitergehende Ziele zu verfolgen. Ab
1901/1902, als die Deutschen mit einem Offizier und 21 Askari in Shangi und einem weiteren
Offizier mit vier Askari in Gisenyi eine permanente Präsenz in Ruanda etablierten, begann
die Kolonialverwaltung – zunächst allerdings noch in eingeschränktem Ausmaß –
Arbeitskräfte für koloniale Unternehmungen zu organisieren. Dazu griffen sie – wie auch die
Weißen Väter – auf die Chiefs zurück, die über Uburetwa, und manchmal auch über andere
Formen von Klientelbeziehungen (Ubuhake, Umuheto) leichten Zugriff auf die Arbeitskraft
eines Teils ihrer Untertanen hatten. Zunächst waren der Arbeitskräftebedarf der
Kolonialverwaltung, entsprechend dem geringen Grad an Institutionalisierung und dem ad
hoc Charakter der Verwaltung gering. Wenige Arbeiter genügten, um die in den
Anfangsjahren errichteten Stationen Shangi und Gisenyi zu errichten. Schwieriger war die
Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung der mit den Jahren immer zahlreicher
werdenden Militär- und Forschungsexpeditionen sowie der Handelskarawanen, da die
bäuerliche Bevölkerung häufig vor den durchziehenden Karawanen, aber auch vor
ruandesischen Chiefs, die Nahrungsmittel von der Bevölkerung einsammeln sollte, flohen.
149 Vgl. etwa den oben zitierten Fall Mhumbikas und Lukaras in Gisaka. Gegen letzteren unternahm der damalige Bezirkschef von Grawert im Mai 1901 eine Strafexpedition, bei der Lukara gefangengenommen und deportiert und überdies an die tausend Rinder, hauptsächlich für den Mwami konfisziert worden waren (Honke 1990a: 120)
139
Wurde die Versorgung der Militär- und Forschungsexpedition150 im wesentlichen über die
Deckung des Bedarfs durch Chiefs gedeckt, sollten kommerzielle Karawanen ihren
Lebensmittelbedarf (ebenso wie die von ihnen gehandelten Güter) – entsprechend einer der
drei Säulen151 der kolonialen Ideologie im imperialistischen Zeitalter, der Öffnung der
kolonisierten Gebiete für den Handel – theoretisch marktförmig decken. Das erhebliche
Ausmaß an Gewalt und Zwang bei letzteren veranlaßte die Kolonialverwaltung 1905
allerdings dazu, Ruanda und Burundi vorläufig für den hauptsächlich von Indern, Arabern
und Swahili durchgeführten Handel zu sperren, ließ Nahrungsmittel für Karawanen künftig
von Chiefs für den Verkauf sammeln und erwartete davon eine gerechtere Remuneration der
Bauern. In Wirklichkeit stärkte eine Organisationsweise von Handel, die auf der Tätigkeit von
Chiefs beruhte, deren Position in einem System politischer Ökonomie, in dem die Zirkulation
von Gütern von vornherein überwiegend ‚administrativ’ (bzw. extraktiv) organisiert war,
indem sie die Autonomie der bäuerlichen Produzenten beschränkte und die Chiefs mit einem
vitalen Interesse in das Funktionieren des Systems qua ihrer prinzipiellen extraktiven
Kapazität ausstattete (Vgl. Honke 1990a: 118f; Kabagema 1993: 149ff).
Ähnlich wie die Missionsstationen waren die Militärposten embryonale multifunktionale
Zentren, in deren Umgebung Bauern Nahrungsmittel für die Stationen produzierten, die
Handel anzogen und die für Teile der Bevölkerung – den Eliten – einen alternativen
Machtfokus bereitstellte, dessen Beziehung mitunter eine Garantie gegen Repressionen des
Hofs darstellen konnte, manchmal sie aber auch provozierte. Ebenso wie die Missionare,
wenn auch vielleicht in geringerem Ausmaße, wurden deutsche Offiziere zu Patrone, indem
sie Chiefs, mit denen sie gute Beziehungen pflegten, das bei Strafexpeditionen – für die sie
oftmals die Unterstützung eben dieser Chiefs erhielten - konfiszierte Vieh überließen (Vgl.
C.Newbury 1988: 122ff; Honke 1990a: 120). Die Strafexpeditionen unterschieden sich
insofern nicht wesentlich von den traditionellen Razzien ruandesischer Armeen gegen
äußere und innere Feinde, bei denen die Teilnahme durch die Beteiligung an der Beute
belohnt wurde und für deren Durchführung die Aussicht auf Beute ein wesentliches Motiv
dargestellt hatte. Der Personenkreis, der von der Patronage der deutschen Posten profitierte,
war allerdings nicht auf die Chiefs beschränkt. Für einige andere taten sich so Gelegenheiten
auf, als Mittler zwischen Deutschen und Ruandesen sozial aufzurücken und eine Position zu
erlangen, die sie zuweilen mächtiger werden ließ, als die Chiefs selbst. In Ruhengeri
beispielsweise wurde für die Gewährleistung von Arbeitsleistungen und
Lebensmittellieferungen ein Hutu namens Rubashi als Mittelsmann zwischen Deutschen und
dem betroffenen Land-Chief Ruhanga (in Mulera) eingesetzt. Seine Position – er bestimmte
die Familien, die Arbeitsleistungen zu erbringen hatte und bestrafte diejenigen, die seinen 150 die auch remuneriert wurde, oft aber nicht durch direkte Bezahlung der Bauern, sondern der Chiefs.
140
Forderungen nicht nachgekommen waren, zuweilen in gemeinsamen Aktionen mit Askaris
der Schutztruppe, konfiszierte Vieh etc. – erlaubte ihm einen Teil der von der Bevölkerung
abverlangten Leistungen (Arbeitsdienste, Teil der landwirtschaftlichen Produktion) selbst zu
lukrieren, zusätzliche Leistungen zu fordern und gleichzeitig sich einen Namen als Patron zu
machen (Kabagema 1993: 137ff).
Während das ultimative Motiv der deutschen Kolonialbehörden in der Sicherung ihres
Herrschaftsanspruchs und der des Mwami bestand, waren andere Motive materieller und
machtpolitischer Natur stets präsent, wenn es um die Beteiligung oder um die Bitte um eine
Strafexpedition ging. Und diese waren durchaus parochialen Charakters. Die parochiale
Orientierung war selbst wieder im extremen Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen
Amtsträgern begründet, die in der Zersplitterung der Zuständigkeitsbereiche und
Verfügungsrechte über die ruandesische Bevölkerung ihren institutionellen Ausdruck fand
und sich in der Unsicherheit eine einmal erlangte Position, zumal einer höheren, längere Zeit
innezuhaben widerspiegelte. Als Herrschaftssystem kennzeichnete Ruanda ein politischer
Solipsismus der einzelnen politischen Akteure, die das kollektive Handeln der Chiefs,
Patrone und Landbesitzer mehr ein Ergebnis der Logik des Systems sein ließ, als eine Folge
kollektiver Willensfindung und kollektiver Identität. Sie produzierte Widersprüche, die die
scheinbare Simplizität der Doktrin indirekter Herrschaft, der „uneingeschränkten
Anerkennung der Autorität des Sultans durch uns“ Lügen strafte152. In der Region Kinyaga
versuchten deutsche Offiziere der Station Shangi, auf Anraten der Provinzchiefs der drei
Provinzen Kinyagas, Biru, Impara und Cyesha, Nahrungsmittel und Arbeitskräfte aus dem
Kleinkönigtum Bunkunzi zu beziehen, das zu Ruanda in einem symbolischen Tributverhältnis
stand und rituell (der Mwami Bukunzis, Ndagano, war ein bekannter ‚Regenmacher’ ) in
Ruanda integriert war. Ndagano zeigte sich den deutschen Anforderungen widerständig und
weigerte sich, Lebensmittelleistungen und Arbeitskräfte aus Bukunzi zu stellen. Gleichzeitig
war sein Verhältnis zu den Missionaren der nahegelegenen Missionstation Mibirizi gespannt,
inbesondere zum Superior von Mibirizis, Pater Zuembiehl, der das Eingreifen deutscher
Truppen forderte, um die Ermordung behinderter Kinder sowie die ‚Prostitution’ junger
Mädchen (als Konkubinen des Mwami von Ruanda) zu unterbinden. Im April 1907 entschloß
sich Resident Grawert, gegen Bunkunzi vorzugehen, trotz der Bitten Musingas, der der
rituellen Bedeutung Ndaganos für Ruanda und seine damit zusammenhängende
151 den drei C-s in englischer Formulierung: Christianity, Commerce, Civilization. 152 Die Politik Rwabugiris im 19.Jh.,die Rechts-, Besitz- und Amtstitel der führenden Tutsi Lineages aufzusplittern und Amtstitel an Nicht-Elite Personen, die ihm dann persönlich verpflichtet waren, zu vergebem. bestand aus einer bewußten Ausnutzung und Akzentuierung des Politikmodus extremer Konkurrenz unter den etablierten Lineages und ermöglichte zugleich Gruppen ohne entsprechendes politisches oder soziales Kapital den sozialen und politischen Aufstieg. Die durchschnittliche Verweildauer eines Notablen im ‚Amt’ lag bei etwa 10 Jahren. Die Volatilität von Elitenpolitik unter Rwabugiri brachte letzterem den Ruf ein „bon pour le peuple, terrible pour les Batutsi“ (Diaire de Kabgayi, Février 1906) zu sein (Linden 1977: 20
141
Anerkennung als legitime Autorität über Bunkunzi hinaus herausstrich, davon abzusehen.
Ndagano konnte sich allerdings den wiederholten deutschen Strafexpeditionen erfolgreich
entziehen, welche – wiederum auf Betreiben Musingas –, aber wohl auch in Anbetracht der
beschränkten personellen Ressourcen der Kolonialmacht, bald darauf eingestellt wurden
(Kabagame 1993: 97ff). Seine formelle Absetzung blieb daher weitgehend wirkungslos,
führte aber zu Spannungen mit der Bevölkerung, was in erster Linie die Missionare Mibirizis
durch das Ausbleiben der Taufwerber zu spüren bekamen (Linden 1977: 82). 1909 und 1914
wiederholten die Deutschen ihre Expeditionen gegen Bukunzi, wiederum ohne Ndagano
selbst zu fassen (C.Newbury 1988: 62). Hinter den wiederholten Angriffen auf die
Unabhängigkeit Bunkunzis standen zum einen lokale bzw. parochiale Interessen –
Missionare und Chiefs (wie die ‚Banyanduga’ Rwidegembya und sein Sohn Rwagataraka) -,
zum anderen stellten die kleineren politischen Einheiten wie Bunkunzi und Busozo in
Kinyaga und andere im Norden einen Widerspruch zur Kolonialpolitik indirekter Herrschaft
und zu den deutschen Vorstellungen und Zielen kolonialer Verwaltung dar, insofern diese
erforderten, daß die Autorität des Mwami von Ruanda in allen Regionen idealiter in gleicher
Weise anerkennt werde und er an der Spitze einer gleichförmigen Hierarchie von
Amtsträgern stehen solle. Mangels Ressourcen, blieb die Homogenisierung der Hierarchien
nach Maßgabe der kolonialen Behörden in der deutschen Periode beschränkt. Die
semipermanente Präsenz der deutschen Kolonialmacht und ihr Angewiesensein auf
punktuelle Strafexpedition (statt ständiger Besatzung) erlaubte es nicht, Strukturen
systematisch zu verändern.
Die Deutschen bekräftigten sehr früh, etwa ab der regelmäßigeren Präsenz in Ruanda ab
1901/02 den ihren Anspruch auf Oberhoheit, besonders gegenüber denjenigen, die am
meisten von der potentiellen Unterstützung durch die Deutschen profitierten, den
Missionaren und dem Hof. Missionsstationen wurden gegen den Willen des Hofs
durchgesetzt (etwa die Mission in Nduga, Kabgayi, oder Rulindo im Norden), Missionare auf
Betreiben der Behörden versetzt oder nach Europa abgezogen und die Entscheidung über
weitere Missionsstationen auch gegenüber den Missionaren als Vorrecht der Behörden
bekräftigt. Musinga wurde bedeutet, daß seine Autorität als oberste rechtsprechende und
rechtsetzende Instanz ultimativ von der deutschen Kolonialmacht abhänge. Die Regelung
von Angelegenheiten von Fremden – Europäern, Arabern, Indern und afrikanischen Askari –
war von Anfang an außerhalb der Kompetenz der traditionellen Organe einschließlich des
Mwami. Ein Vorfall Ende 1902 demonstrierte deutlich, daß Musinga seine Kompetenzen,
seine bisher beanspruchte judikative Omnipotenz über Ruanda und seine Bevölkerung, nur
mehr unter Vorbehalt der deutschen Kolonialmacht ausüben konnte, die ihm praktisch seine
Souveränität, wenn auch zunächst eher symbolisch und ohne zu versuchen, die Stellung und
142
Kompetenz des Mwami im kolonialen Herrschaftszusammenhang positiv zu beschreiben,
entzogen. Musinga war, nachdem die 20-30 Männer der Gefolgschaft Mhumbikas, eines auf
Betreiben des Hofes (und mit deutscher Unterstützung, siehe oben) des Amt enthobenen
Munyagisaka153, von Schergen des Hofs niedergemetzelt worden waren, von dem die Sache
untersuchenden deutschen Offizier von Beringe für das Massaker verantwortlich gemacht
und Ende 1902/ Anfang 1903 zur Zahlung von 40 Rindern verurteilt worden. Die Strafe war
in Anbetracht des Reichtums Musingas materiell irrelevant, aber dafür ein um so deutlicheres
Symbol für die verlorene Souveränität Musingas, eines Verlustes, der durch die erzwungene
Wiedereinsetzung Mhumbikas zusätzlich unterstrichen wurde (Honke 1990a: 121).
5.3.2.2 Koloniale Durchdringung, Gewalt und ‚antikolonialer’ Widerstand
5.3.2.2.1 Die ‚Petite Revolution’ von 1904
Trotz der weite Regionen Ruandas unberührt lassenden und schleppend verlaufenden
kolonialen Durchdringung durch kolonialstaatliche Akteure im engeren Sinn gleichermaßen
wie durch die häufig als Vertreter und Platzhalter des Staates agierenden Missionaren,
reichten die punktuellen Auswirkungen des Kolonialismus – Arbeitskräfte- und
Nahrungsmittelexktraktionen und Bestrafungsaktionen sowie die Wahrnehmung fremder
religiöser Praktiken und Symbole der Weißen Väter als bedrohlich sowie Xenophobie
gegenüber den Weißen als solche aus, um 1904 eine erste größere Krise der Kolonisation
herbeizuführen.
Die Missionare und die Missionstationen samt den Taufwerbern und Christen waren die
primäre, und europäische und mit Europäern assoziierte Händler (Araber, Inder, Baganda)
die sekundäre Zielscheibe der ‚Petite Revolution’ (Rutayasire 1987: 30) , die gleichermaßen
in vom Hof oder durch andere formale Kanäle organisiertem expliziten ‚Widerstand’ wie eher
spontanen Äußerungen von Unmut sowie opportunistischer Ausnutzung der
‚antieuropäischen’ Stimmung bestand und die ihren Schwerpunkt in den nördlichen
Regionen hatte. Der Hofpolitiker Kabare, seit geraumer Zeit wieder rehabilitiert, ließ
Handelskarawanen überfallen. Dutzende Händler wurden dabei getötet; Arbeiterkompanien,
die für Missionare Holz sammeln sollten, wurden Opfer von spontanen Überfällen, Gerüchte
über den angeblichen Tod des Bezirkschefs Von Grawert (der kurzfristig abwesend war),
hinter dem Musinga stehen sollte, wurden in Umlauf gebracht; Musinga selbst verlangte die
Abreise eines katholischen Katechisten am Hof und die Missionstation in Rwaza wurde von
bewaffneten Hutu unter bekannten ‚Klanführern’ belagert und in Kämpfe verwickelt, an
denen sich auch die von den Chiefs gestellte Hilfstruppen, die eigentlich zur Entlastung der 153 ‚Person aus Gisaka’, analog zu Munyarwanda, Munyakinyaga (Pl. Banyagisaka, Banyarwanda,
143
Missionsstation gesandt worden waren, ebenfalls beteiligten. Ihren Höhepunkt fand die Krise
im Juli/ August 1904, danach beruhigte sich die Lage wieder etwas. Die vorhersehbare
Strafexpedition der Deutschen folgte Ende September/ Anfang Oktober des selben Jahres,
als die Krise im Prinzip schon wieder abgeflaut war. Die Vorgangsweise der bislang größten
Strafexpedition in Ruanda versteht sich aus den beschränkten Machtmitteln der deutschen
Kolonialbehörde: das Ziel war zwar, der Anführer des Aufstandes habhaft zu werden,
gleichzeitig ging es darum, ein Exempel zu statuieren und dementsprechend hart fielen die
Maßnahmen aus: Dörfer wurden niedergebrannt, Bananenhaine und Felder verwüstet, Vieh
konfisziert. Insgesamt wurden in der mehr als ein Monat dauernden Aktion über 500 Stück
Vieh konfisziert und mehrere Personen standrechtlich erschossen (unter ihnen 10 Tutsi154).
Als Konsequenz der Unruhen, deren Ursachen – insbesondere, was die Handelspraktiken
betraf (siehe unten), man durchaus ernst nahm, wurde Ruanda für den Handel „bis auf
Weiteres“ geschlossen (Linden 1977: 52ff; Kabagema 1993: 89ff).
Die Aufstandsbewegung von 1904 hatte zumindest drei unterschiedliche Gründe: zum einen
breit gehegte Ressentiments gegenüber der Präsenz von Missionaren, die zum Teil von dem
spürbar werdenden Arbeitskräftebedarf, den diese über die Chiefs deckten und in der Form
von Uburetwa-Arbeitskräften aufgebracht wurde, provoziert wurde. Uburetwa wurde
besonders in den nördlichen Regionen, wo diese Form von Verpflichtungen für die Chiefs
bislang unbekannt war, von der betroffenen Bevölkerung als schwere Belastung und von der
regionalen Elite der Abakonde-Grundherren als Bedrohung ihrer privilegierten Position
empfunden. Zum Teil wurden die Ressentiments von der Erfahrung der zum Teil unter
Gewaltanwendung und Zwang durchgeführten Evangelisierung geschürt, die auf Widerstand
sowohl unter der so evangelisierten Bevölkerung als auch, und wahrscheinlich zu einem
größeren Ausmaß, unter den von der Missionierung in ihren Zugriffsrechten auf die
Bevölkerung gefährdeten Eliten – Banyanduga-Chiefs gleichermaßen wie die regionalen
Eliten der Abakonde-Grundherren – traf. Unter letzteren - und den ihnen verbundenen
Klienten – dominierte die Wahrnehmung der Missionare als Werkzeuge der vom Hof
betriebenen und in der Form der Landnahme durch Tutsi Chiefs aus Zentralruanda (Nduga,
Marangara etc.) durchgeführten Kolonisierung des Nordens. Letztere setzte allerdings erst
nach der Krise im darauffolgenden Jahr 1905 voll ein (Vgl. Linden 1977: 63). Bischof Hirth
sah in der Kolonisierungsdynamik – dem Versuch von Banyanduga Tutsi, sich im Norden zu
etablieren bzw. ihren Herrschaftsanspruch (den sie über diverse Herrschaftstitel nominell
besaßen) durchzusetzen und in der Reaktion der Bevölkerung der Region Mulera (in der die
von der Belagerung betroffene Missionsstation lag) auf die royalistische Politik der Mission –
Banyakinyaga etc.) 154 d.h. in diesem Zusammenhang Angehörige der politischen Elite.
144
den Hauptgrund für die Aufstandsbewegung, welche die Missionare – und die mit ihnen
assoziierten Gruppen – zum Hauptziel des Unmuts werden ließ: Ces affaires ont eu lieu (...) en grande partie parce que nous nous sommes mis franchement
du côté des Batutsi. Notre vacher a été pris et menacé de mort parce qu’il se trouvait avec le
chef mututsi de l’endroit, qu’il voulait, sur notre désir, faire trancher par lui un procès. Les
Bagarura (eine Ligneage) se jetèrent sur le Muhutu disant qu’ils ne voulaient pas des chiens
de Batutsi chez eux. (...) Nous mettre franchement avec les Batutsi, c’est évidemment nous
ménager des surprises et exciter la haine contre nous. (Diaire de Rwaza, Octobre 1904 zitiert
nach Rutayasire 1987: 31)
Daß die Missionare zwischen den Fronten eines Kampfes um die regionale Hegemonie
zwischen den Kolonisatoren des Hofs, den Banyanduga-Chiefs und ultimativ dem Hof selbst
einerseits, und der regionalen Bevölkerung bzw. ihrer Eliten andererseits geraten war, wird
eindrucksvoll von der stillschweigenden Unterstützung des Hofs für die Aufstandsbewegung
im Norden illustriert, aus der der Hof hoffte, profitieren zu können und letztendlich als
siegreiche Partei aus einem dreiseitigen Kampf um die regionale Vorherrschaft hervorgehen
zu können. Die Opposition des Hofes (insbesondere der Abega Kabare, Ruhankiko und
Kanjogera) gegen die Missionare hatte vom Beginn ihrer Präsenz in Ruanda bestanden, war
aber durch seine tiefe Irritation über die häufige Parteinahme der Missionare zugunsten von
Christen und speziell im Norden mehr oder weniger zugunsten der gesamten regionalen
Bevölkerung, was die Missionare in direkten Konflikt mit dem Hof brachte, verstärkt worden.
Christen wurden als ‚Inyangarwanda’ – als ’Jene, die Ruanda hassen’ und die Missionare als
‚Abagome’ – ‚Rebellen’ – denunziert. Subchiefs155, die Beziehungen zu den Missionaren
pflegten, standen in Gefahr, dafür Sanktionen vom Hof zu ernten (Linden 1977: 63). Die
Feindseligkeit gegenüber den Missionaren beschränkte sich freilich nicht auf den Norden.
Dort allerdings, in einem geringeren, aber in gewisser Weise vergleichbarem Ausmaß in
Gisaka, waren die spezifische regionale Konstellation und das Auf-Sich-Gestelltsein der
Missionare in den täglichen Beziehungen zu der Bevölkerung in der Reichweite der
Missionsstationen (Nyundo und Rwaza), sowie der eigene niedrige soziale Hintergrund
mancher Missionare (der sich von der aristokratischen Herkunft und Identifikation der Spitze
der Hierarchie, Hirth und Classe deutlich unterschied) nicht spurlos an den Missionaren
vorübergegangen. Dazu kam noch der Mißerfolg bei dem Versuch, die Missionsdoktrin einer
‚Missionierung von Oben’ umzusetzen, d.h. die Tutsi-Elite zu konvertieren (der Großteil der
bis 1910 konvertierten 4.500 Katholiken waren Hutu, arme Tutsi, und nur in Gisaka – in einer
155 Die Bezeichnung ‚Subchief’ bzw. französisch Sous-Chef entstammt eigentlich einem späteren Kontext, nämlich der belgischen Periode ab etwa 1930, in der sie die offizielle Bezeichnung der dem Provinzchief untergeordneten Herrschaftsträger wurde. Missionare sprachen davor schon gelegentlich von ‚Sous-Chef’ und ‚Sous-Chefferies’, ebenso hat er als Terminus Technicus in die Literatur Eingang gefunden, obwohl streng genommen das von dem Begriff evozierte Bild einer homogenen und konsistenten hierarchischen Ordnung eher ein Zerrbild der tatsächlichen Verhältnisse ist.
145
Äußerung von gegen den Hof in Nyanza gewandten Regionalismus – traten ‚Tutsi’-Eliten
früh zum Katholizismus über). Dies ließ die ursprüngliche Bewunderung der sozialen und
politischen Strukturen leicht in Verachtung und extremes Ressentiment gegenüber der Tutsi–
Elite umschlagen und brachte die Missionare im Zweifelsfall dazu, sich gegen die Interessen
des Hofes zu wenden und die Ansprüche der regionalen Bevölkerung zu verteidigen (Vgl.
Ebenda: 38 und 85; Mbonimana/Ntezimana 1990: 135).
Ein weiterer, und von der Kolonialverwaltung sehr ernstgenommener Grund lag in dem
breiten Unmut gegen Händler bzw. spezifischer deren kommerzielle Praktiken, die auf
erzwungenen Tausch und der Anwendung von Gewalt basierten und die Bauern und
Herdenbesitzern bestimmter Regionen schwer trafen156, während die Öffnung Ruandas für
den Handel unter der Elite der Chiefs Ängste, die Kontrolle über die Produktion der
bäuerlichen Bevölkerung zu verlieren, auslöste. In Reaktion auf die bei den Unruhen zu Tage
getretenen Schwierigkeiten des Handels wurde der Zugang zu Ruanda durch fremde,
nichteuropäische Händler (Inder, Araber und Beludschen) weitgehend eingeschränkt und
behördlicher Genehmigungspflicht unterworfen. Für eine Beschränkung des Handels waren
die Missionare massiv eingetreten, allerdings nicht nur wegen der problematischen
Handelspraktiken, die als Folge unterentwickelter Märkte, aufgrund fehlender Infrastruktur
und einer fehlenden Tradition dezentralen Handels157 anzusehen, und daher letztlich eine
Frage der Organisation von Handel und der Entwicklung von Märkten war, sondern auch aus
grundsätzlicheren Gründen, die einerseits religiöser Natur waren, andererseits der
antikapitalistischen Geisteshaltung des Erneuerungskatholizismus des ausgehenden 19.Jh. 156 Zwei Weiße – ein Österreicher und ein Bure – sind typische Beispiele für eine große Anzahl an meist indischen bzw. arabischen Wanderhändlern, die Ruanda seit seiner durch den Kolonialismus gebrachten Öffnung für den Handel überschwemmten. Die beiden waren wegen Viehdiebstahls angeklagt worden. Bei der Untersuchung ihres Falls stellte sich heraus, daß sie tatsächlich eine Art Handel betrieben, indem sie Vieh von den Weiden auswählten und ihre Besitzer gezwungen wurden, diese gegen billigen Stoff zu tauschen (Louis 1963: 124). 157 Märkte spielten eine untergeordnete Rolle und bildeten sich in weiten Teilen Ruandas erst in kolonialer Zeit in der Nähe administrativer oder Missionszentren heraus. In vorkolonialer Zeit bedeutend waren Märkte lediglich für den Absatz einiger Gebrauchs- und Luxusgüter aus dem Langstreckenhandel – so der Markt in Kamembe (im Süden), wo ruandesisches Vieh und Feldfrüchte gegen Hacken getauscht wurden; Buberuka für Salz vom Rutanzigesee (vormals Edwardsee); Rwerere (an der Vulkankette im Nordosten gelegen) für Tabak und Fuß- und Armbändern aus der Kivuregion. Bedeutender als Märkte für die Zirkulation und den Austausch von Gütern waren Wanderhändler (ababunzi), die übrigens auch den Handel der auf den spezialisierten Märkten gehandelten Güter in ganz Ruanda organisierten. Zugleich war diese Form des Handels, für die persönliche Beziehungen zwischen Händler und Kunden (oftmals als Verwandte, Blutsbrüder oder ‚Freunde’) eine große Rolle spielten und insofern kaum dem desinteressierten, unpersönlichen Ethos europäischer Handelstraditionen entsprachen, für Europäer relativ unsichtbar. Dazu kam noch, daß dieses informelle Handelsnetzwerk, das Ruanda v.a. mit dem westlich des Kivusees gelegenen Gebieten verband, außerhalb der Kontrolle durch den Hof stattfand (vgl. dazu Newbury 1987: 181). Bedeutend für die Zirkulation von Gütern, insbesondere natürlich für den vorkolonialen Staat und für die Eliten, also, wenn man so will, für den ‚öffentlichen Bereich’ waren Tributzahlungen und der Austausch von Gütern innerhalb klientelistischer Abhängigkeitsbeziehungen, obwohl die Güterzirkulation in bezug auf letztere häufig überschätzt worden ist. In der zweiten Hälfte des 19.Jh hatte das Auftauchen europäischer Güter eine neue Form von (hauptsächlich Luxusguthandel, wie der Handel in Stoffen) entstehen lassen, der vom Hof monopolisiert und kontrolliert wurde (Vgl. zum Handel und zu Märkten
146
entsprangen, nämlich der Angst vor der ‚islamischen Gefahr’ und der Sorge um den mit dem
Handel einhergehenden kapitalistischen Ethos: „la fièvre du gain“, wie es Leon Classe
nannte (Vgl. Rutayasire 1987: 85; Kabagema 1993: 150f).
Zum dritten fanden sich in der Aufstandsbewegung auch Elemente antikolonialen
Widerstands. Ein Großteil der gewaltsamen Übergriffe auf Händler und Handelskarawanen
war vom Hof organisiert oder unterstützt worden, und unter den festgenommenen Personen
fanden sich fünf Vertraute Kabares (Kabagema 1993: 93). Gleichzeitig hatten Übergriffe von
Angehörigen der deutschen Schutztruppe und Lebensmittelrequirierungen158 in einigen
Regionen zu spürbaren Belastungen der Bevölkerung geführt bzw. waren als solche
empfunden worden, und Händler wurden oft als Agenten der deutschen Kolonialregierung
gesehen. Trotzdem war die Kolonialmacht selbst nicht direkt Zielscheibe der
Aufstandsbewegung geworden, dazu war ihre Präsenz zu rudimentär, das Bewußtsein um
den kolonialen Nexus zu gering und auch zu irrelevant, da der Kolonialstaat kaum direkt,
sondern meist vermittelt wahrgenommen wurde.
Daß der Schwerpunkt der Aufstandsbewegung im Norden lag, war ein Resultat der
schwachen Integration des Nordens in den ruandesischen Herrschaftszusammenhang, und
das Ausmaß des Widerstandes ein Indikator für die beträchtlichen Transformationen der
politischen und sozialen Verhältnisse, wie sie durch die doppelte Einwirkung eines dualen
Kolonialismus von Europäern – Missionaren und dem Kolonialstaat – einerseits und
Banyanduga Tutsi (und dem Hof) andererseits hervorgerufen wurden. Der Norden bildete mit
zwei bedeutenden Missionsstationen (Rwaza und Nyundo) und dem deutschen Grenzposten
Gisenyi159 (mit seinem Ableger Ruhengeri) einen Schwerpunkt kolonialer Aktivität und wurde
mit der Wiederaufnahme der nach dem Coup von Rucunshu von den Banyanduga-
Kolonialisten kurzfristig sistierten160 Kolonisierung des Nordens ab 1905 zum Schauplatz
eines intensiven Kampfs um die Hegemonie in der Region und gleichzeitig Ort radikalen
sozio-politischen Wandels, der, wenn auch vom ersten Weltkrieg unterbrochen und teilweise
wieder rückgängig gemacht, die Inkorporation dieser Regionen in den ruandesischen Staat
begleitete und von dem dualen Charakter des Inkorporationsprozesses, als Integration
im Allgemeinen d’Hertefelt 1962: 35f; Honke 1990b: 86; Linden 1977 20f; Maquet 1961: 22) 158 Auch kommerzielle Karawanen waren berechtigt, Lebensmittel zu requirieren. Die Zwangsrequirierung von Lebensmittel wurde schließlich 1911 für unzulässig erklärt (Honke 1990a: 123). 159 Gisenyi (oder Kisenyi, nach damaliger Schreibung) war um 1912 das größte urbane Zentrum Ruandas und dürfte etwa mehr Einwohner als Kigali (420 Fremde, darunter 9 Europäern und insgesamt etwa 2000 Einwohner) gehabt haben. Andere bedeutende Zentren der deutschen Kolonialperiode waren Shangi und Bugarama (Bindseil 1988: 117) 160 Dafür, daß Banyandunga Tutsi zumindest zu einigen Gebieten des Nordens weiterhin mehr oder weniger geregelte (und als mehr oder weniger legitim anerkannte) Herrschaftsbeziehungen pflegten, spricht ein von Rutayasire zitierter Missionsbericht (Vgl. Rutaysire 1987: 32 und EN 50)
147
gleichermaßen in den kolonialen Herrschaftszusammenhang als auch in den
Zusammenhang einer sich herausbildenden Elite von Tutsi-Chiefs geprägt war.
5.3.2.2.2 Die doppelte Interaktion von Zentrum und Peripherie: Dualer Kolonialismus, regionale Revolten und die Kristallisation embryonaler kollektiver Identität in Nordruanda ca. 1904-1912
5.3.2.2.2.1 Die Inkorporation des Nordens
Nach der Krise von 1904 blieb der Norden das Zentrum periodischer Unruhen und
Widerstandsäußerungen gegen die doppelte koloniale Penetration durch den deutschen
Kolonialismus einerseits und den ruandesischen Expansionismus bzw. Subimperialismus
andererseits, die sich 1912 zu einer breiten Rebellion auswuchsen. Insbesondere während
des Jahres 1905 und Anfang 1906 war die Lage äußerst gespannt. Zeitgleich – 1905 – war
das südliche Tanganyika Schauplatz eines Aufstandes, der als ‚Maji-Maji’ bekannt wurde
und der, zusammen mit den Auswirkungen des Herero-Aufstandes in Deutsch-Südwestafrika
(1904) die Grundfeste der deutschen Kolonialpolitik erschütterte und unter dem ersten
Staatsekretär des neugeschaffenen Reichskolonialamts Bernhard Dernburg (Staatssekretär
von 1907-1910) zu einer grundsätzlichen Revision deutscher Kolonialpolitik führte. Die
Erscheinungsform der Unruhen in Ruanda ähnelte in den Augen deutscher Kolonialoffiziere
in beklemmender Weise der der Maji-Maji Revolte, allen voran die Gerüchte, die Waffen der
Weißen seien nunmehr wirkungslos und die Kugeln würden sich, sobald abgeschossen, in
Wasser verwandeln.161
Maji-Maji und die Aufstandsbewegung von 1904 führten kurzfristig zu einer abwartenden
Haltung der Kolonialbehörden gegenüber Wünschen der Missionare und zu verstärkten
Bemühungen, Musinga so wenig wie möglich in seiner Macht anzutasten, und waren ein
wichtiger Grund für die Beibehaltung des Systems indirekter Herrschaft und seiner
Elaborierung innerhalb des Residentursystems.
Der Aufstand, der kurz vor dem 1.Weltkrieg (1912) stattfand und als Ndungutse Rebellion
bekannt wurde, war ein beredter Ausdruck für den Mißerfolg der deutschen ‚Appeasement’-
Strategie – was die Vermeidung von Aufständen an sich betraf – wie oben ausgeführt, kam
Ruanda nach 1904 nie wirklich zu Ruhe -, gleichzeitig aber auch ein Ausdruck eines
161 Dieses Gerücht, bzw. im Falle Maji-Maji der Glaube daran und die damit verbundenen Rituale (Einnehmen einer ‚Medizin’ eines Wassers (Swahili: maji), das vor den Kugeln schützen würde weist auf in der Region verbreitete Vorstellungen religiös-charismatischer Macht. Ähnliche Vorstellungen waren bei späteren Revolten zum Teil essentieller Bestandteil der ‚Ideologie’, etwa bei der Mulele Revolte im Kongo (1966-67) (bei der Rebellen das ‚Mai Mulele’, das Wasser der Rebellion, zu trinken bekamen) oder jüngst, im Rahmen der Krise in der Kivuprovinz der Demokratischen Republik Kongo, wo eine lose Bewegung von ‚Rebellen’ in ihrem Namen (Mai-Mai = Maji-Maji) expliziten Bezug auf diese religiös-charismatische Tradition nahm (Vgl. Ranger 1968: 639f und International Crisis Group 1998).
148
spezifischen Erfolges, der darin bestand die zentralruandesischen Agenten des Hofs als
lokale Amtsträger und damit gleichzeitig, wenn auch indirekt, als Repräsentanten des
Kolonialstaates durchzusetzen. Die Revolte steht in einer Reihe mit vergleichbaren
Erhebungen in Afrika im Frühstadium seiner kolonialen Erschließung162, für die die
Ambivalenz von rückwärtsgewandter Orientierung der Akteure, d.h. einer Zielgerichtetheit
auf die ‚Wiederherstellung’ der als heil imaginierten Vergangenheit einerseits und der im
Aufstehen gegen Kolonialmacht angelegten radikal neuen ‚Einheit’ – einer neuen Form
kollektiven Handelns mit Elementen einer Massenbewegung – und damit einem deutlichen
Abgehen von vergangenen Praktiken andererseits charakteristisch war163. In der Ndungutse-
Rebellion kamen kurzfristig unterschiedlichste Interessen und Akteure zusammen – lokale
Notable, Klanführer und religiöse Führungsgestalten gleichermaßen wie bekannte ‚soziale
Rebellen’ oder ‚Banditen’ und politische Amtsträger des königlichen Regimes, die sich für
den Fall eines Sieges der Rebellion vorsahen bzw. darauf hofften, die Abega-Hegemonie
brechen zu können. Diese bildeten eine kurze Periode lang eine gemeinsame Front gegen
den Hof bzw. Musinga, den Banyanduga–Kolonialisten, den Kolonialstaat und die
Missionare.
Die Niederschlagung der Aufstandsbewegung von 1904 markierte den Beginn einer
intensivierten Kolonisierung und Durchdringung der ruandesischen Peripherie durch den Hof
bzw. seine Agenten, Tutsi aus Zentralruanda, die als Stellvertreter des Hofes agierten,
während sie zugleich seiner effektiven Kontrolle entzogen waren. Letzterer hatte in der
Vergangenheit unter Rwabugiri die Macht der Kolonialisten beschränkt und
162 Im Diskurs der Afrikahistoriker der sogenannte ‚Primary Resistance’ (Terence Ranger). Vgl. Eckert 1997 zu einer Diskussion der historiographischen Debatten zu Widerstand und Darstellung der Entwicklung des Widerstandsparadigmas. Eckert betont die Verortung des Widerstandsparadigmas in der nationalistischen Phase afrikani(isti)scher Historiographie in der unmittelbaren Post-Independence Phase und seine In-Dienst-Nahme für das die Periode bestimmende Projekt des ‚Nation-Building’ . Es ist bezeichnend, daß die Diskussion um ‚Primärwiderstand’ afrikanischer Bevölkerungen gegen den Kolonialismus für Ruanda, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle spielte (Vgl. Ranger 1968) und in dieser Perspektive kaum analysiert wurde, weil die besondere Form des dualen Kolonialismus, die die koloniale Durchdringung Ruandas annahm, sich dafür wohl auch nicht zu eignen schien. Ranger (1968: 451) zieht folgerichtig die Nyabingi – Bewegung (der Besessenheitskult, in dessen Kontext die Aufstandsbewegung in Nordruanda anzusiedeln ist, insofern sie von religiös - charismatischen Führern angeführt wurde, die entweder selbst ‚Medien’ für Nyabingi waren, oder zumindest in engem Kontakt mit dem Kult standen) nur selektiv und unter Vorbehalt heran und beschränkt seine Ausführungen weitgehend auf die im Kontext der Nyabingi-Bewegung erfolgte antikoloniale Mobilisierung im Bezirk Kigezi des Protektorats Uganda (‚British-Ruanda’), die im wesentlichen als gegen die Briten und gegen die von diesen als Agenten des Kolonialstaates eingesetzten Baganda gerichtet empfunden wurde, tatsächlich aber in einem allgemeineren Sinn anarchisch war. Ranger weist allerdings darauf hin, daß sowohl beim ‚Chimurenga’ – der Shona/Ndebele Revolte 1896-97 im heutigen Zimbabwe, als auch beim Maji-Maji Aufstand (1905) in Tanganyika sowie im Falle der Nyabingi-Bewegung der Widerstand nicht einfach gegen ‚den’ Kolonialismus richtete, sondern gegen eine Reihe von als illegitim wahrgenommenen Herrschaftsverhältnisse, d.h. auch gegen ‚Subimperialismen’ durch afrikanische Herrschaftsträger (Vgl. ebenda: 638f). 163 ‚Rückwärtsgewandt’ impliziert keine Abwertung, sondern weist lediglich auf den Ort der Legitimation bzw. Inspiration für die Revolten (nämlich in der Vergangenheit). Die Form der resultierenden Widerstandsformen und Widerstandsdiskurse wird durch die rückwärtsgewandte Orientierung der Akteure nicht betroffen – Innovation und Konservatismus schließen sich nicht aus.
149
dementsprechend die Auswirkungen ihrer Präsenz auf die politischen Strukturen und
gesellschaftlichen Verhältnisse in Grenzen gehalten.
Unter Rwabugiri wurde der Norden relativ gewaltlos, unter Ausnützung der zahlreichen
Machtkämpfe zwischen einzelnen Lineage- und Klanführern, aber lediglich unvollständig in
den ruandesischen Herrschaftszusammenhang inkorporiert. Die ‚Inkorporation’ war somit
weniger ein Ergebnis überlegener Gewaltmittel (über die der Hof nicht verfügte) als ein
Resultat von Allianzen des Hofes mit lokalen Interessen. Zugleich hatte Rwabugiri eine
Reihe von königlichen Residenzen (ibwami) errichtet, die einerseits sichtbare
Manifestationen königlicher Macht und königlichen Herrschaftsanspruchs darstellten und
andererseits gleichzeitig einen ‚Kontrollapparat’ über die königlichen Vertreter vor Ort und
über die nördlichen Regionen als ganze etablierten. Die königliche Präsenz hatte – trotz der
relativen Begrenztheit der Kolonisation unter Rwabugiri im Vergleich zur späteren unter
Musinga – allerdings schon unter ersterem zu einer schleichenden Transformation von
Herrschaftsbeziehungen geführt. In den zentralnördlichen und nordöstlichen Regionen waren
die Tutsi-Kolonialisten aus Zentralruanda in der Regel mit ihrer jeweiligen Gefolgschaft - als
Mitglieder einer Armee (ingabo) oder Ubuhake – Klienten – gekommen, die ihre primäre
Machtbasis darstellten. Sie unterschieden sich darin – der Bedeutung, die der Patron-Klient-
Nexus für ihre Etablierung in der Region und für ihr politisches Handeln hatte – nicht
wesentlich von den regionalen Eliten, den Abakonde-Patronen; mit dem Unterschied, daß sie
qua Verbindung zum Hof eine wenn nicht höhere, so doch weitergehende Autorität
beanspruchen konnten, und sich ihre spezifischen Formen der Klientelpolitik in ein weiteres
Netz von Patron-/Klientenpolitik einfügte, das sie mit dem ruandesischen Zentrum verband.
In ihrem Zugang zu dem überregionalen Netz an Klientelbeziehungen lag dann auch die
primäre Motivation lokaler Gruppen, Klientelbeziehungen zu den Kolonisten zu suchen,
während sie zugleich auch als Alternative zu den lokalen etablierten ‚starken Männern’ per
se neue Klienten anzogen. Das ‚Anwerben’ von neuen regionalen Klienten durch die
Banyanduga-Tutsi bzw. durch ihre mitgebrachte Gefolgschaft brachte erstere freilich in
direkter Konkurrenz mit den regionalen Eliten um Gefolgschaft und folglich um Macht und
Einfluß. Unter Rwabugiri war ihre Zahl freilich gering, und Konflikte zwischen Kolonialisten
und lokalen Eliten bzw. den Kolonialisten und der lokalen Bevölkerung daher beschränkt.
Gleichzeitig gab es auch lokale Akteure, die sich den königlichen Faktor zunutze machten,
und ihre tatsächlichen oder lediglich beanspruchten Beziehungen zum Hof als Legitimation
für erweiterte Zugriffsrechte auf die Bevölkerung benutzten, deren Beanspruchung durch die
Konfiszierung von Vieh oder anderen Gütern artikuliert wurde bzw. umgekehrt, der
prädatorische Zugriff auf Güter mit der Beziehung zum Hof gerechtfertigt wurde. Eine Reihe
150
von Personen konnte sich mit der so demonstrierten Autorität gegenüber anderen Klan- oder
Lineageführern aus der Position eines Primus inter Pares zu einem weitergehenden
Herrschaftsanspruch emanzipieren. Beide Phänomene – der Tutsikolonialismus und der
Opportunismus lokaler Führer – brachte ein mit der Orientierung auf den Hof bzw.
Zentralruanda als Fokus politischen Handelns zuvor nicht gekanntes bzw. kaum relevantes
hierarchisches Prinzip in die regionale Politik im Norden, das sich von dem segmentären
Charakter der ‚klanmäßigen’ Organisationsweise, das bislang dominiert hatte, deutlich
abhob. Hatte der Kolonisierungsprozeß unter Rwabugiri zunächst keine oder nur
geringfügige Auswirkungen auf die politischen Strukturen – der Vorherrschaft von
‚Klanorganisation’ und landbezogenen Klientelbeziehungen unter dem Ubukonde-System,
brachte er eine schleichende, sich zunehmend bemerkbar machende Transformation der
politischen Verhältnisse, insofern ihr Fokus sich von der regionalen Ebene in das Zentrum
des ruandapolitischen Rahmens verschob, was wiederum ein Resultat und gleichzeitig ein
sichtbares Anzeichen für den fortschreitenden Zentralisationsprozeß darstellte. Der
Nordwesten, wo Banyanduga Tutsi lediglich über eine semipermanente Anwesenheit
verfügten, Klientelbeziehungen zu lokalen Gruppen pflegten und für den Hof Tribut einhoben
– nicht unähnlich den Praktiken von Agenten des Hofs in Kinyaga in der zweiten Hälfte des
19.Jh. – , war von der Kolonisationsbewegung unter Rwabugiri zunächst aber kaum
betroffen.
Mit dem Tod Rwabugiris und der Einsetzung Musingas veränderte sich der Modus der
Inkorporation signifikant. Zunächst wurde der zentralistische Angriff auf die regionale
Autonomie gebremst, zum Teil rückgängig gemacht und der Status quo ante teilweise
wiederhergestellt. Zwei primäre Gründe waren für die Gegenbewegung verantwortlich:
nämlich die Konsequenzen des Machtwechsels im Zuge der Absetzung und Ermordung
Rutarindwas, durch die etablierte Machtnetzwerke unterminiert und obsolet wurden und der
eine Periode der Rekonfigurierung des politischen Raums und politischer Netzwerke folgte;
in einem Prozeß, in der der jugendliche Mwami nur einer von mehreren Akteuren darstellte.
Zudem kamen religiös-rituelle Gründe, die mit der elaborierten Ideologie der Monarchie zu
tun hatten, die - wenn auch nach dem Coup von Rucunshu, der ja selbst in einem deutlichen
Bruch mit rituell legitimierten Traditionen erfolgt war, trotzdem ernst genommen wurde oder
zumindest als Rechtfertigung für bestimmte Zustände tauglich war. Dem neuen Mwami
Musinga war als ‚Yuhi’ das Überschreiten des Nyaborongo–Flusses – der die zentralen
Provinzen der Monarchie in einem Halbkreis beschreibt, im Westen entspringt und im Süden
in den Akagera mündet – rituell verboten und für den Fall eines Bruchs dieses Tabus wurden
katastrophale Folgen für die Integrität Ruandas in der Form von Ernteausfällen,
Hungersnöten und anderen Kalamitäten erwartet. Die rituelle Vorschrift war ein Hauptgrund,
151
weshalb Musinga – im Unterschied zu Rwabugiri – keine Residenzen (ibwami) im Norden
errichtete. Gleichzeitig wäre er– infolge der politischen Instabilität, dazu auch kaum
imstande gewesen. Damit verlor der königliche Faktor, wenn auch nicht vollständig, für über
eine Dekade seine unmittelbare Relevanz, was zu einer partiellen Restauration der
regionalen politischen Verhältnisse mit der Orientierung auf Klanpolitik und dem typischen
segmentären Charakter von Politik führte, die durch die Abwesenheit164 der Kolonisten aus
Nduga begünstigt und verstärkt wurde. Die zeitweiligen Versuche des Hofes bzw. Musingas
während dieser Periode, seine Autorität und seinen Herrschaftsanspruch durch die
Einsetzung von Vertrauenspersonen als Chiefs zu manifestieren und zu reetablieren hatten
wenig Erfolg und stieß auf Widerstand, dem der Hof und seine Agenten nicht viel
entgegenzusetzen hatten: Die Einsetzung eines Chiefs namens Biganda in Bushiru führte zu
einer größeren Revolte gegen den oktroyierten Herrschaftsträger. Seinem Nachfolger,
Mutambuka, erging es nicht besser. Er verließ ein paar Tage, nachdem er von Musinga mit
dem Amt betraut worden war und in denen er sich offensichtlich über das Ausmaß seiner
Machtlosigkeit und Gefährdung klar geworden war, Bushiru wieder. In Mulera wurde ein
Vertreter des Königs, Mucocori von lokalen Klanautoritäten auf ihren Beschluß hin aus der
Region verbannt, und, weil er nicht gehen wollte, gewaltsam vertrieben (Lemarchand
1966:606). Im Verhältnis zum Zentrum überwiegten wieder die vor der Kolonisation
vorherrschenden losen und hauptsächlich symbolischen Tributbeziehungen zum Hof, die in
ihrer Intensität von der Distanz zu ihm und seiner angeschlagenen Durchsetzungsfähigkeit
seiner Herrschaftsansprüche bestimmt waren (d’Hertefelt 1962: 70; Des Forges 1986: 311ff).
Mit der Niederschlagung der Aufstandsbewegung von 1904 und der dadurch erfolgten
Schwächung lokaler Führer im Epizentrum des Aufstandes, bei Rwaza in Mulera im
Nordwesten des Landes, setzte eine Rekolonisierung des Nordens ein, die gegenüber der
früheren Kolonisierungsbewegung unter Rwabugiri sowohl quantitativ als auch qualitativ
deutlich intensiveren Charakters war. Im Gegensatz zu Kolonisierungsbestrebungen unter
164 Eine Vorstellung über die prekäre Dominanz der nominellen und unter Rwabugiri eingesetzten Herrschaftsträger vermittelt der exemplarische Fall der Herrschaftsverhältnisse in der Provinz Mulera, wo die Missionsstation Rwaza situiert war. Die ‚Administration’ der Provinz teilten sich drei Chiefs, die alle ihren persönlichen Schwerpunkt in Nduga hatten. Kayondo, ein ‚Ega’ (dadurch ein Begünstigter des Coups) war umutware w’umuheto – „Chief des Bogens“ – Armeechief und verantwortlich damit für die Rekrutierung von Soldaten und Hirten für die Armee (ingabo) und – weitaus wichtiger in der spätvorkolonialen Periode – für die Requierung von Lebensmittel für die Armee, eine Praxis, die in der spätkolonialen Periode praktisch zu einer anderen Form von Tribut geworden war und gleichzeitig eine Klientelbeziehung mit dem Nutznießer des Tributs konstituierte (Vgl. oben p.53 und Weinstein 1977: 51). Kayondo war gleichzeitig der beliebteste unter den drei Chiefs. Die beiden anderen – ein gewisser Rwangewo und der äußerst einflußreiche Nshozamihigo und beide Nyinginya – waren Abanyabutaka – Landherren und gleichzeitig Abatwara b’ubutaka – Land Chiefs. Tatsächlich residierten sie nur beschränkt in der Region und überließen die eigentliche ‚Verwaltung’ in einer Form indirekter Herrschaft lokalen Klanführern. Diese sollten einmal im Jahr dem Mwami Tribut in der Form einer Kalebasse von Honig, eine Platte Bohnen und eine Hacke zollen – selbst wieder Ausdruck des vorwiegend symbolischen Charakters der Abgabe, während in der Praxis die Abstände zwischen den Tributerweisungen durchaus mehrere Jahre betragen konnten (Linden 1977: 36f).
152
Rwabugiri waren die Kolonialisten in der Absenz königlicher Residenzen praktisch frei von
einer Kontrolle bzw. Beschränkung durch den Hof und waren insofern , obwohl nach wie vor
Agenten des Hofes, in einem viel stärkeren Ausmaß als unter Rwabugiri von der
Durchsetzung eigener Interessen motiviert und daraufhin orientiert.
Gleichzeitig verfügten sie gegenüber früher über eine deutlich verbesserte Kapazität ihre
Ansprüche, Herrschafts- und ökonomische Interessen durchzusetzen, die zum einen in der
gegenüber stark angewachsenen Zahl der Agenten dieser Kolonisierung – Banyanduga
Notable samt ihrer Klienten und Krieger – lag. Entscheidend für den Erfolg und das Ausmaß
der Kolonisierung war letztlich aber die strukturelle Position der zu primären
Herrschaftsträgern erkorenen Klasse von Chiefs im kolonialen System, in der die Befriedung
‚unbotmäßiger’ Regionen höchste Priorität zugesprochen wurde und für die – auch und eben
gerade zugunsten der Kolonisten – deutsche Schutztruppen freimütig eingesetzt wurden.
Die bereitwillige Unterstützung der Kolonialmacht beruhte ihrerseits auf der Kolonialdoktrin,
den Herrschaftsanspruch des Hofs über ganz Ruanda durchzusetzen, war aber – so wie
diese selbst – erheblich von der Dürftigkeit kolonialstaatlicher Ressourcen – der prekären
Hegemonie des Kolonialstaates - und der damit einhergehenden Bereitschaft, auf
einheimische Kollaborateure zurückzugreifen, bestimmt : Die Tutsi-Chiefs ‚wußten’, wer zu
bestrafen war, und Strafexpeditionen – wenn sie nicht gegen Agenten des Hofs bzw.
höhergestellten Tutsi-Chiefs gerichtet waren, was selten vorkam – fanden meist als
gemeinsame Aktionen deutscher Schutztruppen und sie begleitender, von Chiefs gestellte
Einheiten statt oder bedienten sich der Chiefs als Informanten in der Vorbereitung und
Ausführung der Strafaktionen. Wenn auch die primäre Motivation der deutschen Behörden,
sich der Banyanduga-Tutsi Kolonialisten zu bedienen, darin bestand, die Verwirklichung des
kolonialen Programms indirekter Herrschaft zu gewährleisten und so gesehen
instrumentellen Charakters war, dessen ultimatives Ziel über die Formfrage von Herrschaft,
also über das Prinzip indirekter Herrschaft hinausging, insofern die Stärkung der Macht des
Hofes zu einer stärkeren Zentralisierung Ruandas, zu einer homogeneren
Verwaltungsstruktur führen und letztlich das Land im kolonialen Sinn verwaltbar machen
sollte; so wurde das deutsche Vorgehen – das Kollaborieren mit den Chiefs und harsche
Vorgehen gegen Widerständler (vor allem im Norden) – von den Notablen als Zeichen
vorbehaltloser Unterstützung durch die Kolonialmacht interpretiert und in diesem Sinn für die
Verfolgung der eigenen Interessen nutzbar gemacht (Vgl. Kabagema 1993: 200ff; Des
Forges 1986: 316). Die ‚Niederschlagung’ der Aufstandsbewegung von 1904, bzw. die
gewalttätige Reaktion in der Form von Strafexpeditionen hatte regionale Interessen der
153
regionalen Eliten des Nordens, den sogenannten ‚Reichen’ (Abakungu165), deutlich
geschwächt und damit entscheidend zur Wiederaufnahme der Rekolonisierung des Nordens
beigetragen.
Zudem konnten die Kolonialisten auf die zwar zögerliche, aber nichtsdestotrotz de facto
vorhandene Unterstützung der Missionare zählen. Sie waren dem Hof und seinen Agenten
beispielsweise bei der Einhebung der jährlich fälligen Ernteabgaben (ikoro) behilflich und
setzten nach der bitteren Erfahrung der Aufstandsbewegung von 1904, die den Missionaren
die Unmöglichkeit der ‚nichtparteilichen Parteilichkeit’ – das Intervenieren zugunsten von
Christen, Taufwerbern und anderen in ‚Schauris’ (Streitigkeiten mit Chiefs, [traditionelle]
Rechtsangelegenheiten) ohne in Konflikt mit Chiefs oder dem Hof zu kommen - deutlich
gezeigt hatte, alles daran ‚ihre Schäfchen’ zum Gehorsam und Ehrerbietung gegenüber der
in den Tutsis verkörperte Staatsgewalt zu ‚erziehen’ (Vgl. Linden 1977: 63; Rutayasire 1987:
40ff) „Le obéissance aux chefs“, schreibt ein Missionar, „est un devoir capital pour les
néophytes“ (P.Dufays au Supérieur Général, 24 avril 1907, zitiert nach Rutayasire 1987: 46).
Der bittere Ton der Reflexionen eines anderen läßt gleichzeitig den tiefen Zwiespalt erahnen,
in dem sich die Missionare infolge ihrer strukturellen Position im sich herausbildenden
System kolonialer Herrschaft – als de facto elementarer Teil des Kolonialstaates und seinen
Interessen untergeordnet – fanden: Soutenir les chefs Batutsi, c’est ce que le Résident nous a demandé dernièrement avec
insistance et comme un grand service à rendre à la colonie: pousser les Bahutu à se
soumettre à leur chefs et aider les chefs à étendre leur influence sur eux. (P. Delmas au
Supérieur Général, 15 décembre 1911, zitiert nach ebenda)
Exkurs: Kolonialer Staat und Hegemonie
Die Priorität kolonialer Staatsbildung in der ersten Phase der Kolonisierung Afrikas – der
Phase der Landnahme und Einrichtung rudimentärer Staatlichkeit – bestand darin, die
elementaren Imperative zur Sicherung der Überlebensfähigkeit und Reproduktion des
Staates zu befolgen und so den weiteren Aufbau des kolonialen Staates zu gewährleisten.
Essentiell war zunächst die Durchsetzung der Hegemonie des kolonialen Staates, ein
Imperativ, der zum einen in Anbetracht des durch den Scramble ausgelösten Wettlaufs um
Territorien in Afrika und der daraus resultierenden Notwendigkeit, die beanspruchten
Territorien intern und extern in ausreichende Kontrolle gebracht zu haben, seine Dringlichkeit
erhielt. Während die ersten Wellen der europäischen Expansion – im 16., 17. und frühen
18.Jh. sich über eine lange Periode erstreckten und die Zahl der kolonialen Akteure in einer
165 Die Verbreitung der Wortes *Mukungu in anderen Regionen des Großen Seengebietes als Bezeichnung für eine erbliche politische Position ist ein interessanter Hinweis auf die Wahrnehmung von Macht als sowohl politische als auch ökonomische Macht. (Vgl. dazu Schoenbrun 1998: 104ff)
154
gegebenen Region stets beschränkt war – nie mehr als zwei oder drei Staaten
(Großbritannien, Spanien und Portugal waren etwa die wesentlichen Akteure in der
Aufteilung der riesigen Landmasse Amerikas, mit Frankreich und den Niederlanden (in der
Karibik) als ‚Nebendarsteller’), traten in Afrika in der kurzen Periode ab 1875-1900 sechs
europäische Staaten (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien in der Person seines
Regenten, Leopold II, sowie Deutschland und Portugal) in einen Wettlauf um die
prestigeträchtigsten und größten Anteile am afrikanischen Kontinent ein. Der normative
Ausfluß dieses Wettbewerbs war das Prinzip effektiven Besitzes (‚effective occupation’), sein
praktischer die schnelle Durchsetzung der kolonialstaatlichen Autonomie (Vgl. Young 1994:
278).
Zum anderen war die koloniale Hegemonie selbst wieder Voraussetzung aller anderer, der
Hegemonie nachgereihten Imperative und Funktionen eines modernen Staates. Die
Hegemonie des kolonialen Staates – die Anerkennung seines Herrschaftsanspruchs durch
die betroffenen Herrschaftssubjekte – war eine Vorbedingung für eine hinreichende
Autonomie seines Handelns und die Basis seiner Reproduktion, und die Fähigkeit des
Staates, seine ultimative Hegemonie durchzusetzen, korrelierte mit der Fähigkeit, diese
gegenüber Ansprüchen (und Beeinspruchung seines eigenen Herrschaftsanspruchs)
anderer kolonialer Akteure zu verteidigen. Dem Imperativ der Hegemonie des Staates
entspricht auf der Ebene der Attribute von Staatlichkeit das Prinzip der Souveränität in seiner
doppelten, nach außen und nach innen gerichteten Bedeutung (Vgl. Young 1994: 35ff). Die
Durchsetzung der Hegemonie des kolonialen Staates konnte praktisch nur über die
Durchsetzung eines spezifischen kolonialen Rahmens – seiner Grenzen – und spezifischer
Herrschaftsstrukturen –, gelingen, sozusagen als notwendiger materieller Ausdruck von
Herrschaft, wobei freimütig auf bestehende Strukturen zurückgegriffen wurde. Die Spezifität
von Ruanda bestand in der Adaptionsfähigkeit und Manipulierbarkeit der von den
Kolonialbehörden vorgefundenen Herrschaftsstrukturen für das koloniale Projekt, nicht in
der Kooption indigener Herrschaftsträger an sich. Das Tempo, mit der die Transformation
der kolonialen Besitzungen in ‚verwaltbare’ administrative Einheiten vonstatten gehen sollte,
war selbst wieder durch den geringen Grad an (hauptsächlich fiskalischer) Autonomie der
kolonialen Besitzungen gegenüber der Metropole bestimmt. In dem Maße, in dem die Kosten
für die Errichtung des kolonialen Staates auf die Bevölkerungen der Kolonien umgewälzt
werden, d.h. die Kolonie sich selbst tragen sollte, erhöhte sich die Notwendigkeit, die Kosten
von vornherein gering zu halten bzw., was damit einherging, möglichst schnell über
administrative Strukturen zu verfügen, durch die der koloniale Staat seine Ausgaben zugleich
decken und die Kosten für die Metropole beschränken konnte. Das Tempo der
Transformation von im wesentlichen auf Subsistenzwirtschaft basierenden Territorien in
155
vergleichsweise teure Verwaltungen tragende Kolonien hebt die Kolonialisierung Afrikas
einmal mehr von der anderer Regionen ab, während das Ausmaß der Extraktion der
ländlichen Produktion und der Arbeitskraft der Bevölkerung an die Kolonialisierung
Lateinamerikas gemahnt.
Der Eifer, mit dem die deutschen Kolonialbehörden die nördlichen Regionen mit
Strafexpeditionen beschickten, versteht sich vor diesem Hintergrund und begründet sich in
der exponierten geopolitischen Lage des Nordens in dem zwischen Großbritannien, dem
Kongo-Freistaat bzw. Belgien und Deutschland umstrittenen Dreiländereck, dessen Grenzen
erst mit dem Abkommen von 1910 endgültig definiert wurden. Mit der Errichtung des Militär-
und Grenzposten Kissenyi (Gisenyi nach heutiger Schreibung) bekräftigte die deutsche
Kolonialverwaltung gleichzeitig den hohen Stellenwert, den der Norden als Grenzregion für
sie einnahm und machte ihn zu einem prioritären Ort kolonialstaatlichen Handelns (Vgl. Des
Forges 1986: 316). Die unsicheren Besitzverhältnisse (zwischen den drei europäischen
Mächten) der Region machten es um so dringlicher, die koloniale Hegemonie gerade dort
auch nach innen durchzusetzen, wo sie von außen bedroht schien. Die Durchsetzung der
kolonialen Hegemonie in Ruanda erfolgte dementsprechend nicht homogen – dies wäre
auch jenseits aller Möglichkeiten des kolonialen Apparats gewesen -, sondern differentiell
und gezielt: dort, wo der hegemoniale Anspruch gefährdet schien, von außen – gegenüber
dem Kongo-Freistaat bzw. Belgien im Südwesten Ruandas und im Nordwesten und
gegenüber Großbritannien im Norden – und/oder von innen, wie im Norden im allgemeinen.
5.3.2.2.2.2 Subimperialismus à la Ruanda: Ausbeutung und Herrschaft
Die (materielle) Attraktivität der nördlichen Regionen lag in dem relativen agrarischen
Reichtum speziell der nordwestlichen Gebiete – besonders der Regionen Bugoyi, Mulera
und Rukiga. Sie hatten wegen ihres verschobenen Regenzyklus eine wichtige Funktion für
die Nahrungsmittelversorgung während der Trockenzeiten anderer Regionen, speziell aber
Zentralruandas, eingenommen. Dies machte die nordwestlichen Gebiete zu so etwas wie die
‚Kornkammern’ Ruandas , eine Funktion, die sich in einer Vielzahl von (eher gut
institutionalisierten) Lebensmittelmärkten äußerte, auf denen in den Trockenperioden
benachbarter Regionen agrarische Güter – v.a. Bohnen und Erbsen gegen Vieh und anderes
aus Zentralruanda getauscht wurden. Daneben beherbergte der Norden eine Anzahl von
professionell organisierten permanenten und spezialisierten Märkten für Güter von jenseits
der die Kongo-Nil-Wasserscheide markierenden Vulkankette, wie etwa Tabak, Hacken oder
Armbänder (amatega) (Vgl. Lugan 1976: 350).
Die als Tribute und Freundschaftszahlungen kaschierte moderate Abschöpfung der reichen
landwirtschaftlichen Produktion des Nordens unter Rwabugiri, von der einige
156
Kleinkönigreiche166 praktisch ausgenommen waren, deren Praxis im Allgemeinen eine große
Variation besaß und oft nur in der Theorie bestand, wich unter der Rekolonisierung nach
1904 unter Musinga einer direkteren Form von Ausbeutung, welche die Region zunehmend
ausnahmslos traf. Tributzahlungen aus Buberuka und Bumbogo, die in der Vergangenheit
irregulär und von lokalen Vertretern direkt dem Hof übergeben worden waren, wurden unter
Musinga von den zentralruandesischen Chiefs den Lineage- und ‚Klanvertretern’
eingesammelt, was gleichzeitig bedeutete, daß diese einen Teil derselben einbehielten und
in Kompensation des Abschöpfungsbetrages die Belastungen insgesamt häufig erhöht und
de facto in ‚geradlinige’ Abgaben gemäß den im Kerngebiet der ruandesischen Monarchie
üblichen Usancen transformiert wurden (Des Forges 1986: 315f).
Einige der notorischsten Chiefs im Norden kamen aus dem engeren Umkreis der Abega um
Kabare, den Bruder der Königinmutter Kanjogera, etwa Nshozamihigo167, Sohn Rwabugiris
und Chief in Bushiru oder dessen Vertreter, Ruhanga in Mulera sowie Rwakadigi, ein
Gefolgsmann Bushakus und Verwandter Kabares in Bugoyi. Zu der verstärkten Belastung
des Nordens mit Abgaben durch die Agenten des Hofs, kam die Belastung durch den
erhöhten Lebensmittelbedarf der infolge der Grenzfragen zwischen dem Kongo-Freistaat
bzw. Belgien, Großbritannien und Deutschland relativ häufigen Expeditionen explorativen
Charakters sowie gewöhnlicher Handelskarawanen, welcher meist mit einem gewissen Maß
an Zwang und unter Zuhilfenahme der lokalen Agenten des Hofes gedeckt wurde (Vgl.
Kabagema 1993: 200ff). Dazu kam die Belastung durch Strafexpeditionen der deutschen
Kolonialverwaltung, im Zuge derer einerseits in beträchtlichem Ausmaß Lebensmittel
requiriert, andererseits zumindest lokal im Rahmen bzw. als Konsequenz der Strafaktionen
Lebensmittelknappheiten produziert wurden. Die Errichtung der Hegemonie von
Banyanduga-Tutsi erfolgte schrittweise, in einem länger andauernden Prozeß zunehmender
Usurpation von Herrschaftsrechten und zunehmender ‚Entrechtung’ der von diesen
Herrschaftsrechten betroffenen Bevölkerungen. Zunächst begannen Notable aus dem
Zentrum – von der Form her ähnlich wie in der ersten Welle der Kolonisation unter
Rwabugiri, aber im Unterschied dazu, unter stärkerer Anwendung von Zwang – als ‚Richter’
in lokalen Streitigkeiten aufzutreten, die früher innerhalb von Klans oder Lineages geregelt
worden waren; ein Phänomen, das teilweise auf lokalen Konflikten aufbaute, wegen denen
sie sich als ‚Richter’ anbieten konnten, teilweise aber auch auf der autoritären Besetzung der
Schiedsfunktion beruhte. Der nächste Schritt bestand in der Einsetzung von Lineage Chiefs.
Die parallel dazu verlaufende Inbesitznahme von Land, auch wenn sie ihren Ausmaßen 166 Das betraf politische Einheiten wie etwa Buberuka und Bumbogo, die über die rituelle Funktion ihrer dynastischen Lineages als rituelle Spezialisten in die ‚Hofliturgie’ integriert waren und andere (z.b.Bushiru, Busigi), deren nominelle Unabhängigkeit aus anderen Gründen vom Hof mehr oder weniger respektiert worden war (Vgl. Des Forges 1987: 316). 167 Vgl. oben FN 164
157
zunächst beschränkt blieb, war ein Anzeichen für das stärkere Gewicht der Herrschafts- und
Besitzansprüche der Kolonisten gegenüber der lokalen Bevölkerung, deren Besitz- und
Nutzrechte nicht mehr automatisch mehr oder weniger respektiert wurden, sondern die dafür
Tribut zu zahlen hatten. Gleichzeitig begannen die Chiefs, zunächst beschränkt auf die
Bevölkerung im unmittelbaren Umkreis des ‚feudalen Kerns’ ihrer Gehöfte Arbeitsdienste
einzufordern – ein weiteres Symptom für die schleichende Erosion der Land- und
Bodenrechte der eingesessenen Bevölkerung und zugleich – regional gesehen eine
Innovation, und vom Zentrum aus betrachtet, eine Adaption eines bewährten
Extraktionsmechenismus (uburetwa), für welche die allemal bevorzugte Alternative eine
Form von Abgabe war, die, als weniger erniedrigend empfunden, in einem
politikoökonomischen Sinn etwas sehr ähnliches darstellte: nämlich die partielle Aneignung
der Produktivität lokaler Bevölkerungen, sei es direkt durch Uburetwa, oder vermittelt über
die Aneignung eines gewissen Teils der landwirtschaftlichen Erträge.
Die Kolonialisierung des Nordens kann als ein Prozeß verstanden werden, der sich auf drei
unterschiedlichen, aber in der Praxis verschwimmenden Ebenen vollzog: (1) der Ebene des
Kolonialstaats; (2) der Ebenen des ‚Subimperiums’ – der ruandesischen Monarchie; und (3)
der Ebene des lokal wirksamen Konnex von Herrschaft und Besitzverhältnissen. Jeder
dieser Ebene entsprachen Akteure, die spezifisch auf einer Ebene verankert, gleichzeitig
aber mit den beiden anderen Ebenen strukturell verbunden waren. Am deutlichsten wird
dieses gegenseitige Interdependenzverhältnis am Beispiel individueller Banyanduga
Kolonisten, die einerseits die Autorität des Hofs repräsentierten, indem sie etwa die
jährlichen Tribute (ikoro) für ihn einhoben, gleichzeitig jedoch ihre eigenen Interessen
verfolgten und sich unabhängig vom Hof als Grundherren und Patrone etablierten. Letzteres
lag durchaus in der Logik der in der zweiten Hälfte des 19.Jh. dominant gewordenen
Herrschaftspraxis, für die Kontrolle über Land, Vieh und Leute (Arbeitskraft) zu einem
ständig an Bedeutung zunehmenden Bestandteil geworden war. Zum dritten waren sie
Werkzeuge gleichermaßen wie Manipulateure der deutschen auf der impliziten Doktrin und
der Überzeugung der Herrschaftsfähigkeit der ‚Tutsi’ fußenden Kolonialpolitik.
158
Abbildung 9: Modell der Herrschaftsausübung in Nordruanda während der deutschen Periode
Hierarchie Herrschaftsinstrument Herrschaftsäußerung
Kolonialstaat Schutztruppen
(Bezirk/Residentur) Mwami (Symbol der Autorität
und ‚Transmitter’) Strafexpeditionen
Chiefs Extraktionssystem
Mission
Mwami Chiefs Extraktion, Jurisdiktion
traditionelle Armeen ‚Bestrafung’, Symbol.
deutsche Schutztruppen Bekräftigung von
Herrschaft
Notable (Chiefs) aus Nduga Chiefs(selbst)/Klienten
Mwami (Quelle der Legitimität) Extraktion,
Deutsche Schutztruppen Enteignung
Mission direkte (r) Zugriff/Befehlsgewalt/Verantwortung
gemäßigte(r) Zugriff Befehlsgewalt/Verantwortung
indirekte(r) Zugriff/Befehlsgewalt/Verantwortung
Exkurs: Kolonialer Staat und Zwangsarbeit
‚Uburetwa’ als formalisierte Verpflichtung von Landklienten an ihre Patrone war im Norden
weitgehend unbekannt. Ihre Einführung war damit eine Innovation, die um so schwerer wog,
als daß sie nicht nur die politische Machtlosigkeit und sozial niedrigere Stellung der
einheimischen Bevölkerung unabhängig von ihrer sozioökonomischen Potenz gegenüber
den Kolonisten bedeutete (auch wenn uburutwa, so wie im übrigen Ruanda, nur jene traf, die
sich nicht davon freikaufen konnten; Vgl. Vidal 1974: 54), sondern ein vom Kolonialstaat
gleichermaßen wie von der Mission geschätzter Mechanismus war, mit dem fehlende
monetäre (oder gleichwertige) Einkünfte lukriert werden konnten. Sowohl der Kolonialstaat168
selbst als auch die Missionare nutzten das Reservoir an nicht- oder nur minder
remunerierten Arbeitskraft. Für Arbeiten im Zusammenhang mit der Errichtung des Postens
Ruhengeri beispielsweise wurden Arbeiter eingesetzt, die von vier verschieden Chiefs aus
dem Bereich ihrer Jurisdiktion gestellt wurden. Ein einzelner Arbeiter versah für eine Periode
von einem Monat, ohne Remuneration und mit lediglich einem Tag arbeitsfrei seinen Dienst.
Beim Bau der Kirche in Rwaza arbeiteten zu den Höchstzeiten 800 Arbeiter täglich, von 168 Eine Verordnung, die die Verpflichtung und Remuneration für öffentliche Arbeiten in Deutsch-Ostafrika
159
denen nur die regulären Kräfte, in der Regel ‚Spezialisten’ – Mauerer, Zimmerer etc. bezahlt
wurden, während der Rest – die Mehrzahl von Hilfsarbeitern - von Notablen als Geschenk für
militärische Hilfe oder auf Bitte der Missionare diesen zur Verfügung gestellt worden war. Für
die Errichtung der Residenturhauptstadt169 Kigali von 1908-1912/1913 wurden zahlreiche
Arbeiter für den Bau selbst und für den Transport (durch Träger) der Baumaterialien, etwa
Baumstämme170 benötigt. Zusätzlich wurden Pfade und Wege gebaut und renoviert. (Vgl.
Kabagema 1993: 137f und 175ff; Des Forges 1986: 317). Im kolonialstaatlichen Rahmen im
engeren Sinn kam dieses System von Arbeitskräfterekrutierung de facto einer Steuer auf die
Arbeitskraft der afrikanischen Bevölkerung gleich. Von einer Steuer unterschied es sich
lediglich darin, daß die verlangten Arbeitsdienste verschiedene Teile der Bevölkerung
äußerst unterschiedlich trafen, rechtlich kaum geregelt waren und nie in kolonialen Budgets
vermerkt wurden (Vgl. Young 1994: 131f).
5.3.2.2.2.3 Die Protagonisten (Symbolfiguren) der Aufstandsbewegung: Muhumusa, Basebya, Rukara und Ndungutse
Zwei der wesentlichen Symbolfiguren in den Aufstandsbewegungen im Norden, nämlich
Rukara (rwa Bishingwe; auch: Lukara lwa Bishingwe) und der Twa-Rebell/’Bandit’ Basebya
waren notorische Irredentisten und Dissidenten, Rukara zudem ein extrem reicher Mann. Die
beiden anderen, Muhumusa und Ndungutse kamen aus dem Umkreis der Nyabingi-
Bewegung. Daß erstere zu Symbolfiguren des Widerstands gegen koloniale Durchdringung
gleichermaßen wie gegen den Tutsi-Subimperialismus werden konnten, war ein historischer
Zufall – das Ergebnis einer spezifischen historischen Konjunktur und ihrer Interpretation, und
zu einem weitaus geringeren Grad das Ergebnis bewußt gesetzter Widerstandshandlungen.
Muhumusa
Muhumusa war lediglich eine von vielen ‚Priesterinnen’ Nyabingis,171 eine von vielen
charismatischen religiösen FührerInnen (die Mehrzahl davon weiblichen Geschlechts)172, die
über den religiös-rituellen Bereich hinaus – bzw. über religiös-rituell gewonnene Antworten
auf Fragen des Alltags (Unfruchtbarkeit, Krankheit, Kinderlosigkeit, Streit, usw.) als
politische FührerInnen auftraten und Gefolgschaft an sich binden konnten. Während der
regelte, wurde 1905 erlassen (Kabagema 1993: 176) 169 Die Planung sah vor: ein Wohnhaus für den Residenten mit Nebengelassen; 1 Haus mit zwei Europäerwohnungen; Nebengelassen und Schreibstube für den Polizeiwachtmeister; 1 Haus mit Kassenraum, Munitionsraum, Kammer und weiterer Europäerwohnung; 1 Hospitalhaus mit Poliklinik, Arzneimagazin, Operationsraum, Europäerkrankenstube, Postzimmer; 1 Haus mit Residenturmagazin und für Handwerkstuben; 1 Gefängnishaus mit Reittierstall; 29 Askarihäuser; 6 Bastionen, Torhaus mit Wache und eine Umfassungsmauer (Bindseil 1988: 113). 170 Der Transport eines Baumstammes benötigte ingesamt etwa 20 Mann: 10 Träger für den Baum selbst und 10 weitere als Ersatzträger und als Transporteure der Verpflegung (Kabagema 1993: 176). 171 Vgl. zu einer ausführlicheren Darstellung des Nyabingi-Kults FN 99. 172 entsprechend dem Maße, in dem ‚Geistesbesessenheit’ als weibliches Attribut interpretiert wurde und sexuell kodiert war.
160
Ursprung der Nyabingi-Bewegung im 19.Jh. anzusiedeln ist und zwar in einer Zeit verstärkter
Integration der Regionen, in denen die Bewegung beheimatet war, in den ruandesischen
Herrschaftszusammenhang, bzw. zumindest des Versuches durch den ruandesischen Hof
(d.h.: Rwabugiri), sie in einem Tributverhältnis (oder anders artikulierten
Unterordnungsverhältnisses) zu Ruanda zu bringen, folgt daraus keineswegs, daß die
Bewegung und ihre Verbreitung in Nordruanda ausschließlich durch ihre Funktion (bzw.
Dysfunktion) innerhalb eines bzw. gegenüber einem wie auch immer definiertes politisches
System erklärt bzw. beschrieben werden können und auf seine Fähigkeit, als Vehikel für die
Artikulation politischer Inhalte (‚Unabhängigkeit’, Widerstand gegen den Tutsi-
Subimperialismus und europäischen Kolonialismus...) zu dienen, reduziert werden kann. Die
Priesterinnen fungierten zwar prinzipiell als alternative Machtfoki, eine spezifische Richtung
oder Verwendungsweise ihrer Macht war damit allerdings nicht präjudiziert. Ihr Verhältnis zu
den respektiven Kolonialmächten nahm dadurch (zumindest vorerst) nicht a priori einen
oppositionellen und konfliktiven Zug an, im Gegenteil. Deutsche Schutztruppen hinterließen
Vieh, das in Rahmen von Polizeiaktionen konfisziert worden war, gelegentlich auch bei
Nyabingi-Priesterinnen und Muhumusa, die herausragendeste Symbolfigur für die
Aufstandsbewegungen im Norden kooperierte bereitwillig mit den Offizieren der Britisch-
Belgischen Grenzkommission (Linden 1977: 82). Vielmehr als das natürliche Vehikel für die
Artikulation von Opposition und Widerstand gegen das ‚Zentrum’ zu sein, glichen die
Nyabingi-Medien und die Orte, an denen sie wirkten, in der Regel selbstgenügsamen
Zentren, die nur selten über den lokalen Kontext hinaus Gefolgschaft anziehen konnten und
eher in Konkurrenz zueinanderstanden, als daß sie gemeinsame Sache gegen die koloniale
(und subkoloniale) Durchdringung machten (Des Forges 1986: 312). Die Wirkungsweise
politischer Agitation (die ja nicht die Regel darstellte) von Nyabingi-Priesterinnen beschrieb
der Assistant District Commissioner von Kigezi, wo erstere insbesondere unmittelbar nach
dem ersten Weltkrieg erhebliche ‚Unruhe’ (in den Augen des A.D.C.s) verursachten, als „(..)
revolutionary in method and anarchic in effect“, wobei er in weiterer Folge den angeblichen
Anarchismus der ‚Sekte’ (wie er es nennt) relativiert und ihr eine, wenn auch ‚dumpfe’
Zielgerichtetheit zuspricht: Fanatism and terror are everywhere inculcated (...). The whole appeal is to fear and to lower
instincts, to the masses, Bahutu, against the classes, Batussi (...) The whole aspect of the
Nabingi is of a fanatic anarchic sect as opposed to the liberal and religious principles of the
indigenous Kubandwa cult. (Report by Captain J.E.T. Phillips. A.D.C. Kigezi, 31.7.1919 zitiert
nach Ranger 1968: 451f)
Seit der Jahrhundertwende und in Reaktion auf die ökologischen Krisen der 1890er und den
ersten Auswirkungen des zentralruandesischen Kolonialismus des Nordens häuften sich
allerdings die Fälle, in denen Nyabingi-Priesterinnen als politische Führungsgestalten
161
auftraten.
Über die historische Person Muhumusa selbst existiert nur wenig gesichertes. Bekannt auch
als Nyiragahumuza und Muserekande, soll sie einer Tradition zufolge eine Frau Rwabugiris
gewesen sein und nach dem Coup von Rucunshu mit ihrem Sohn Biregeya in den Norden
geflüchtet sein, ein Gerücht, das von Muhumusa als Muserekande spricht und seit der
Inthronisation Musingas in Umlauf war (Kabagema 1993: 127; Honke 1990a: 124f). Möglich
ist (und angesichts der Bedeutung und Funktionsweise von Gerüchten – in denen nicht
selten mehrere Personen zu einer verschmolzen werden bzw. Beziehungen zwischen
mehreren Personenkreisen hergestellt werden, ähnlich übrigens, wie das auch zuweilen bei
der institutionalisierten und formalisierten Form historischer Überlieferung am ruandesischen
Hof der Fall ist, sehr wahrscheinlich), daß Muhumusa vor ihrem Auftreten als politische
Symbolfigur lediglich eine von vielen Priesterinnen war, möglicherweise aber, um ihre
Bedeutung und ihren Status zu erhöhen, beanspruchte, eine verwandtschaftliche Beziehung
zu Rwabugiri zu haben (so wie Ndungutse, von dem weiter unten die Rede sein wird und
der ebenfalls eine genealogische Beziehung zum ruandesischen Herrscherhaus für sich
beanspruchte). Erstmals trat sie (unter dem Namen Muserekande) 1898 als politische
Führungsgestalt hervor, als sich in den Regionen Mutara, Buriza und Ndorwa eine Rebellion
gegen die (unter Rwabugiri gekommenen) Vertreter des Hofs entzündete, die selbst wieder
in den Bemühungen lokaler Eliten gegründet war, die Rekonfigurierung des politischen
Raums nach dem Coup von Rucunshu für sich zu nutzen. Mumuhumusa173 war jedenfalls
den Kolonialbehörden bekannt – Hauptmann von Beringe hatte sie während seiner
Expedition 1901 getroffen. ‚Bekannt’ bzw. berüchtigt war sie auch am Hof. Im Kontext der
allgemeinen Schwäche der ruandesischen Monarchie und der angeschlagenen bzw. nicht
vorhandenen Legitimität Musingas in den Augen vieler Ruandesen sowie auch im
Zusammenhang mit den wiederaufgenommenen Versuchen, den Norden zu kolonisieren,
hatte Musinga die deutschen Kolonialbehörden wiederholt gebeten, Muhumusa zu
‚entfernen’ - offensichtlich ,ohne daß besondere Vorfälle, in die Muhumusa involviert sein
sollte, stattfanden; die verschiedenen Gerüchte, die über sie im Umlauf waren, genügten, um
den Hof Maßnahmen gegen sie ergreifen zu lassen (Louis 1963: 147). Mitte 1909 machte sie
eine deutsche Patrouille dingfest und brachte sie als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und
Störfaktor in der Beziehung des Hofs mit den nördlichen Regionen in die
Residenturhauptstadt Kigali. Sehr schnell verbreiteten sich Gerüchte, sie sei nach Kigali
gekommen, um Musinga zu stürzen, Kanjogera als Königinmutter abzulösen und ihren Sohn 173 Nach verschiedenen Überlieferungen wurde die eigentliche Muserekande bei den Kämpfen 1898 getötet. Muhumusa sei nach einigen Quellen eine Dienerin Muserekandes gewesen, nach anderen ein Nyabingi-Medium, das nach dem Tod Muserekandes deren Namen angenommen hat (Kabagema 1993: 128). A. Des Forges (1986: 318) datiert die Bezugnahme Muhumusas auf Muserekande und die Annahme deren Namens in die Zeit nach 1905.
162
Biregeya als rechtmäßigen Herrscher einzusetzen. Selbst Chiefs in einflußreichen Positionen
machten ihr den Hof, um für eine eventuelle Machtübernahme gewappnet zu sein. Um dem
ein Ende zu bereiten, deportierte die Kolonialverwaltung sie nach Bukoba174, von wo sie zwei
Jahre später (im Juli 1907) nach Mpororo175 in das britische Protektorat Uganda floh und an
ihren ursprünglichen Wirkungsort, Rutobo, zurückkehrte (des Forges 1986: 320; Honke
1990a: 124f; Kabagema 1993: 129ff; Louis 1963: 147f). Dort angekommen, begann sie
wieder als Medium und politische Führungsgestalt aktiv zu werden und Kontakte mit
verschiedenen Persönlichkeiten (Basebya, Rukara u.a.) zu schließen, hauptsächlich, so
scheint es zumindest, um ihren eigenen, durch die Deportation angeschlagenen Status und
Einfluß zurückzugewinnen. Zwar nicht unmittelbar aufgrund ihres Wirkens, aber unter
wesentlicher Beteiligung ihrerseits, verstärkte sich die Agitation sowohl gegen Tutsi-Chiefs,
als auch gegen die Europäer in den betreffenden Regionen Nordruandas.176 Auf Bitten der
deutschen Kolonialbehörden und nachdem sie einige regionale Abakungu aus angesehenen
Familien des Abasigi-Klans, sowie ein bekanntes Ryangombe-Medium antagonisiert hatte,
wurde sie in einer gemeinsamen britisch-deutschen Aktion im September 1911 gefangen-
genommen und von den britischen Behörden nach Kampala deportiert (Linden 1977: 105).
Zu diesem Zeitpunkt stand Nordruanda bereits unmittelbar vor dem Aufstand, der im Januar
des folgenden Jahres (1912) mit voller Wucht ausbrach.
Rukara rwa Bishingwe
Rukara rwa Bishingwe war einer jener lokalen Führungsgestalten des Nordens, die aus der
Schwäche der Monarchie und dem Verebben der ersten Kolonisierungswelle, die mit dem
Coup von Rucunshu endete, Vorteil ziehen und ihre eigene Position innerhalb der lokalen
Machtkämpfe stärken konnte. Er selbst erwies sich – obwohl eine lokale Hutu177-
Führungsgestalt – als ein Machtpolitiker, dessen Art und Weise, sich ein Gefolge zu
schaffen und Rivalen gegeneinander auszuspielen, von dem vorherrschenden Modus
politischen Handelns im Zentrum – d.h. der Monarchie und der mit ihr verbundenen Eliten -,
174 In der Begründung an das kaiserliche Gouvernement in Dar es Salaam heißt es: „Ich (Hauptmann Gudowius, A.K.) hatte an Ort und Stelle festgestellt, daß die Klagen ihrer Nachbarn und des Musinga über Bedrückungen und Beunruhigungen durch die Muhumuza begründet waren und daß die durch ihre Parteinahme für die unbotmäßigen Watuale [i.e. Abatware, Chiefs] des Musinga und das Anwachsen ihres Ansehens und ihrer Macht eine dauernde Gefahr für den Landfrieden, und die Ruhe in der dortigen Gegen bildeten.“ (Schreiben von Gudowius vom 17.7.1911 an das Kaiserliche Gouvernement, zitiert nach Kabagema 1993: 130) 175 Name der Region, in der sich das vorkoloniale Königreich Mpororo befand. Das historische Mpororo wurde durch die koloniale Grenzziehung geteilt. 176 In British-Ndorwa (der Teil des ehemals unabhängigen und in Ruanda inkorporierten Königreiches Ndorwa, der auf der ugandesischen Seite (Bezirk Kigezi) der kolonialen Grenze zu liegen kam) führte die Errichtung eines Grenzpostens bei Kumba dazu, daß die Mehrzahl der bisher apolitischen Nyabingi-Medien mehr oder weniger offen gegen die Europäer zu mobilisieren begannen (Linden 1977: 104). 177 Rukara gab sich nach seiner Ernennung als Lineage-Chief als ‚Tutsi’ und wurde – auch aufgrund seiner Physiologie (d.h. seine Konformität mit dem am Hof vorherrschenden Schönheitsideal, das in gewisser Weise den Ursprung der modernen Stereotype bezüglich des Körperbaus von Hutu respektive Tutsi darstellt) – auch als solcher wahrgenommen (Vgl. dazu Kabagema 1993: 203; Servaes 1990: 110)
163
für das eine brutale Konkurrenzlogik kennzeichnend war, kaum unterschied. Sein Vater
(Bishingwe) war von Rwabugiri zu seinem direkten ‚Vasallen’ (umugaragu) gemacht worden.
Damit war dieser (und sein Sohn, Rukara, der diese Position von seinem Vater nach dessen
Tod178 erbte) nicht von irgendwelchen Vertretern des Hofes abhängig, sondern hatte das
Privileg, seine Angelegenheiten direkt mit dem Mwami zu regeln. Zugleich waren sowohl der
Vater als auch der Sohn dadurch in ihrer Position als Lineage-Älteste gestärkt worden, wobei
Rukaras Position nicht unbestritten blieb. Rukara gelang es allerdings, sich über die
Belehnung/ Verpachtung von Land eine Gefolgschaft außerhalb des eigenen
Lineageverbands179 zu schaffen. Damit sicherte er sich eine Position von Macht und Einfluß
innerhalb der Region und hatte damit gleichzeitig einen größeren Spielraum gegenüber dem
Hof und konnte sich so in weiterer Folge gegen Konkurrenten innerhalb des eigenen
Lineageverbandes weitgehend durchsetzen (Servaes 1990: 110).
Während des Jahres 1907 war er in Auseinandersetzungen mit ‚Vertretern’ des Hofes
(Ruhanga und Ruzirampuhwe) in Mulera um die Kontrolle dieser Region verstrickt und
entging nur knapp seiner Ermordung am Hof in Nyanza180. Ein Jahr später war griff er ein
Tutsi-Mitglied einer deutschen Expedition an, was die deutsche Kolonialmacht (nicht zum
ersten Mal) an eine Strafexpedition denken ließ (Linden 1977: 82 und 92, EN 82) In den
Augen der Kolonialmacht wie der Missionare war Rukara allerdings weniger eine legitime
regionale Führungsgestalt, denn ein Rebell und Bandit – und gehörte für sie damit in die
Klasse von unberechenbaren und außerhalb der Kontrolle durch den Hof (und damit für den
Kolonialstaat) stehenden Warlords/ Banditen, die den Norden Ruandas gegenüber den
geordneten Verhältnissen in Zentralruanda auszeichneten. Seine Beziehungen zu den
Europäern – Missionare und Kolonialbehörden – waren dementsprechend von Konflikten
geprägt.
Während seiner Inhaftierung am Hof in Nyanza hatte ein Konkurrent innerhalb der Abarashi
die Position Rukaras als Lineage-Chief zu usurpieren versucht. In dem resultierenden
Konflikt, der Anfang 1910 eskalierte, als dieser und ein weiterer Konkurrent mit über 600
Stück Vieh und einer großen Schar an Gefolgschaft sich ‚unabhängig’ machten, wurden die
178 Bishingwe wurde von einem Mitglied einer der zahlreichen Grenzkommissionen getötet. Daß ein derartiger Vorfall zumindest einen Anknüpfungspunkt für antieuropäische Agitation – die einen wesentlichen Zug der Aufstandsbewegung von 1912 darstellte – bot, erscheint evident. Rukara soll sich jedenfalls mehrmals einschlägig zur Ermordung seines Vaters geäußert und Rache geschworen haben (Vgl. Kabagema 1993: 206). 179 Nach Schätzungen Jan Czekanowskis umfaßte der Lineageverband der Abarashi zum Zeitpunkt seiner Forschungen (1907/8) etwa 6.000-8.000 Personen. (Czekanowski op.cit. p.247 zitiert nach Kabagema 1993: 205). 180 Offensichtlich auf Betreiben von Kanjogera. Musinga scheint weniger am Tod, noch an der Schwächung Rukaras gelegen zu sein (Kabagema 1993: 208, FN50). Die Aufteilung des Nordens unter den zentralen Chiefs, insbesondere der Reichen Regionen Mulera und Bugoyi, war die Quelle zahlreicher Konflikte unter diesen sowie von Spannungen im engeren Kreis des Hofs an sich (Vgl. Linden 1977: 82).
164
Missionare von den Streitparteien sowie von Musinga um Vermittlung gebeten. Während der
Vermittlungsversuch, der Anfang April unter Beisein des Missionars Pater Loupias und eines
Repräsentanten des Hofes stattfand, in der Sache selbst erfolgreich war, kam es bei der
Diskussion um einen Rukara angelasteten Viehdiebstahl181 zu einem Streit, in dessen Folge
der vermittelnde Missionar, Pater Loupias von einem Anhänger Rukaras getötet wurde. Die
deutschen Kolonialbehörden – obwohl sie dem Pater eine erhebliche Mitschuld an seinem
gewaltsamen Tod gaben - reagierten mit einer präzedenzlosen Vergeltungsaktion, bei der
zahlreiche Hütten und Felder niedergebrannt und Höhlen, in denen sich ganze Lineages, vor
allem aber Frauen und Kinder, zurückgezogen hatten, ausgeräuchert wurden (Des Forges
1986: 319; Kabagema 1993: 209f). Rukara konnte sich allerdings der Vergeltung entziehen
und floh zunächst in den Kongo und später nach Bufumbira (District Kigezi, Protektorat
Uganda), von wo er sich später der Aufstandsbewegung um Ndungutse anschloß. Die
Ermordung des Pater Loupias jedenfalls wurde in der Region (und darüber hinaus – Rukara
erlang bald eine überregionale Reputation für den Tod Loupias, der ihm zugerechnet wurde,
auch wenn er den Mord nicht selbst begangen hatte) als Widerstandshandlung gelesen, als
deren Objekt Europäer und der Hof gleichermaßen galten. Nach kurzer Zeit kehrte er nach
Mulera zurück. Die Tatsache, daß er den Strafaktionen der Kolonialbehörden entgangen
war, brachte ihm zusätzliche Reputation und zusätzliche Gefolgschaft. Selbst der Hof, der
vor allem an dem Aspekt interessiert war, daß Rukara sich erfolgreich gegen den
Kolonialstaat wenden konnte (in der Form der Mission, die als ein Arm des Kolonialstaates
gesehen wurde) ließ ihm Vieh als Auszeichnung für Tapferkeit im Kampf zukommen (Des
Froges 1986: 319).
Basebya
Basebya war - ähnlich wie Rukara - eine legendäre Outlaw-Gestalt. Während letzterer
allerdings dieses Attribut vor allem in den Augen der Mission, des Kolonialstaates und
zuweilen auch in den Augen des Hofes und folglich innerhalb eines sehr spezifischen
politischen Kontexts innehatte, genoß Basebya die Reputation auf einem breiteren Niveau.
Dazu trug sicherlich bei, daß Basebya als Twa Ordnungsvorstellungen in einem viel weiteren
Sinn transzendierte als Rukara, und zudem ein Twa aus der Region Buberuka war. Die
Stereotype bezüglich der Batwa und ihr Status im allgemeinen setzte diese in einen
Gegensatz zur Zivilisation, die durch den Hof verkörpert wurde, aber auch zur Zivilisation in
einem allgemeinen Sinn. Im Falle der Batwa aus Buberuka wurde dieser Gegensatz durch
181 Die Affäre von 1907 hatte sich ebenfalls um Viehdiebstahl gedreht, der vor dem Hintergrund eines längeren Streits zwischen den Abarashi in der Person Bishingwes, Rukaras Vater, und nach dessen Tod, Rukara selbst einerseits und dem lokalen Chief und Vertreter des Hofes, Ruhanga andererseits zu sehen ist. Bezeichnend für die Dynamik von Gefolgschaftsprozessen ist die Geschwindigkeit, mit der aus persönlichen bzw. semi-privaten Disputen kollektive Angelegenheiten wurden, die sich zwischen der Gefolgschaft und den Verwandten Rukaras einerseits und den Klienten/ Verwandten des Chiefs, Ruhanga, andererseits abspielten.
165
ihr Habitat (eine Sumpfgegend) noch akzentuiert. Das Modell der Stereotypisierung folgte
dabei einem bekannten rassistischen Schema, nämlich der Entgegensetzung von Natur
(Wald, Sumpf, wilde Tiere, Promiskuität usw.) mit Zivilisation (Ackerland, Kultur, Nutztiere
usf.). Nichtsdestotrotz war Basebya tatsächlich kein Außenseiter innerhalb der politischen
Arena, die durch die ruandesische Monarchie konstituiert wurde, sondern verfügte als Klient
des zentralruandesischen Chiefs Rwidegembya über exzellente Verbindungen zum Hof
(Bourgeois 1957: 176; Dorsey 1994: 181; Kabagema 1993: 212ff). Allerdings setzte er sich
mehr oder weniger bewußt in Ungnade des Hofs, indem er – um 1900 – verweigerte, dem
Mwami Tribut zu zollen und Dissidenten aus der engeren königlichen Familie Unterschlupf
und Schutz gewährte. 1905 versuchte Musinga erstmals seiner habhaft zu werden, was den
Kriegern Musingas aber ebenso mißlang, wie einer deutsche Strafexpedition, die auf
Betreiben Kanjogeras und Musingas, mit dem Ziel, Basebya zu inhaftieren, 1909
durchgeführt wurde (Des Forges 1987: 319; Dorsey 1994: 181f).
Ndungutse
Ähnlich Muhumusa war Ndungutse eine charismatische Führungspersönlichkeit, die
gleichermaßen als ein Ergebnis einer spezifischen historischen Konjunktur wie persönlicher
Führungs- und Symbolqualitäten zu sehen ist. Ebenso wie im Falle Muhumusas, ist wenig
über die Person Ndungutse bekannt. Wahrscheinlich ein Tutsi und ein Fremder in
Nordruanda, stand er – in nicht geklärter – Verbindung zu Muhumusa und zur Nyabingi-
Bewegung. Schon 1907 kursierten Gerüchte, Ndungutse würde Musinga stürzen (Bourgeois
1957: 175). Bereits während der Deportation Muhumusas in Bukoba begann Ndungutse,
politisch aktiv zu werden und ließ sich für einige Zeit bei Basebya nieder. Nach der (zweiten
und endgültigen) Deportation Muhumusas nach Kampala, beanspruchte Ndungutse, ihr
Nachfolger zu sein und reklamierte für sich die Führung der 1911 entstandenen
Aufstandsbewegung. Ndungutse spielte bewußt mit der fehlenden Legitimität Musingas182,
umgab sich mit königlichen Insignien, rasierte sich gemäß der Hofetikette den Kopf,
organisierte sich Musiker aus den traditionellen Musiker-Lineages des ruandesischen Hofes,
stand in Kontakt zu bekannten Regenmachern und ließ sich als Mwami titulieren. Dazu
paßte auch, daß er als Sohn Rutarindwas und Muserekandes (i.e.: die Person, die
Muhumusa zu sein beanspruchte) angesehen wurde – ein Gerücht, das zwar nicht von ihm
stammte, dem er aber auch nicht entgegentrat. Andere sahen in ihm eine Art Erlöserfigur,
der die Monarchie wieder ‚heilen’ würde, wieder andere als ein Bote für die Wiederkunft
Nyabingis (Des Forges 1986: 322ff; Kabagema 1993: 214ff; Linden 1977: 106f). Im Jänner
1912 begann er von seiner Niederlassung in Butaro – östlich des Sumpfgebietes, in dem
Basebya lebte – aus nach Süden vorzurücken, mit dem dezidierten Ziel, Europäer wie 182 Seine Herrschaft wurde häufig mit ‚ Cyiimyamaboko’ – ‘Es ist Gewalt, die regiert’ umschrieben (Des Forges
166
ungeliebte Tutsi-Chiefs zu vertreiben. Basebya war von Anfang an sein wichtigster
Verbündeter und vermittelte ihm Kontakte zu zahlreichen lokalen Führungsgestalten und
Nyabingi-Medien.
Im Laufe des Vormarsches und nach einer Serie von Erfolgen fanden sich unter seiner
Gefolgschaft eine Reihe von lokalen Notablen – inklusive einiger zentralruandesischen
Chiefs. Ndungutse kam dabei zugute, daß er als Fremder kaum über keine Netzwerke, d.h.
weder über ‚Freunde’, Günstlinge noch über Feinde verfügte. Unterstützt wurde er insgesamt
von breiten Teilen der Bevölkerung – die meisten (aus demographischen Gründen) davon
Hutu. Aber auch ein großer Teil der vereinzelten seminomadisierenden Rinderzüchter der
Region, welche die Expansion des ruandesischen Staates ähnlich wie die übrige ‚Bakiga’-
Bevölkerung183 als Beschränkung ihrer traditionellen Autonomie empfanden. Noch im Jänner
1912 nahm er Kontakt mit Rukara – der allerdings die Rebellion auf die Vertreibung der
Europäer beschränken wollte. Wie ambivalent die Rebellion als ganze und Ndungutse im
Speziellen zu sehen ist, zeigt sich daran, daß Ndungutse einerseits als Antikolonialist
gesehen wurde, der die Europäer vertreiben würde (so etwa in Bugoyi), andererseits bewußt
den Kontakt zu Europäern (in der Form der Missionare von Rulindo) suchte, in der Hoffnung,
europäische Unterstützung erlangen zu können. Der Resident ad interim, Hauptmann
Gudowius zögerte dann auch zunächst, nicht zuletzt wegen der widersprüchlichen Ziele der
Rebellion, gegen sie vorzugehen und erbat ausdrücklich Instruktionen aus Dar es Salaam.
Inzwischen versuchte Ndungutse mit der Auslieferung Rukaras eine Polizeiaktion
abzuwenden, die allerdings Mitte April 1912 mit voller Wucht materialisierte. Bei der
Erstürmung des Lagers Ndungutses wurde dieser von Gudowius erschossen – was nicht
verhindern konnte, daß zahlreiche Gerüchte über eine Flucht Ndungutse und seine baldige
Rückkehr zu kursieren begannen. Basebya und Rukara wurden im Mai 1912 standrechtlich
hingerichtet und die Region der Rekolonisierung durch zentralruandesische Chiefs und ihre
Gefolgschaft geöffnet (Des Forges 1986: 322ff; Kabagema 1993: 216ff). Der Chronist der
Missionstation Rwaza beschreibt letztere so: Die Batutsi massakrieren, ohne Gnade; die Hälfte der Bevölkerung (....) wird vernichtet
werden. Gruppen von Frauen werden weggeführt und werden die Beute einiger großer Chiefs
werden. (Diaire de Rwaza, 3.Mai 1912, m.Ü. zitiert nach Des Forges 1986: 325f).
Die Befriedung der Region hielt allerdings nicht lange an. Während des ersten Weltkrieges
wurden eine Reihe von zentralen Chiefs wieder vertrieben und wurden, mit belgischer Hilfe,
erst nach dem Ende des Krieges, 1919, in einer Art Gegenbewegung wieder eingesetzt. 1986: 322). 183 Eine geläufige Kollektivbezeichnung für die Bevölkerung des Nordens Ruanda sowie angrenzender Gebiete auf dem Boden Ugandas, welche die Differenz diese so gefaßten Bevölkerungen gegenüber den eigentlichen
167
5.3.2.2.2.4 Herrschaft, Revolte und kollektive Identität in Nordruanda
Die verschiedenen Unruhebewegungen, die, wenn auch nicht völlig auf die nördliche
Peripherie Ruandas beschränkte, jeweils ihr Epizentrum in bzw. die größten Aus- und
Nachwirkungen auf eben diese Region hatte, sind hier so ausführlich dargestellt worden, weil
sie die komplexe Dynamik, die hinter diesen Revolten stand sowie die Heterogenität der
Bewegungen, von denen die Initiative zu Aufstand bzw. Widerstand und Revolte ausgingen,
eindrücklich belegen. Teilweise gegen den Tutsi-Kolonialismus gerichtet, deren Träger Tutsi
aus den zentralen Regionen waren, verhinderte dies nicht, daß bisweilen – etwa 1904 der
Hof selbst Aufständische unterstützte oder zumindest eine ambivalente Haltung gegenüber
den Aufständischen an den Tag legte. Gleiches wie über die Ambivalenz der
Gegenübersetzung von Zentrum (= Hof) und Peripherie, ist über partikulare Interessen
einzelner Akteure der Aufstandsbewegungen zu sagen, was so glaube ich, klar aus
Kurzdarstellungen der vier Protagonisten im Umkreis der Ndungutse-Rebellion hervorgeht.
Wesentlich für den Erfolg letzterer, so scheint mir, war gerade diese Ambivalenz, die es
erlaubte, eine breite Palette von partikularen Interessen zumindest für einen kurzen Moment
innerhalb einer Bewegung zu artikulieren. In dem Sinn war die hinter der Ndungutse
Rebellion stehende Bewegung gleichzeitig antieuropäisch, anti-‚Tutsi’, millenniaristisch und
legitimistisch sowie sie Elemente einer sozialen Bewegung in sich trug. Nicht zuletzt waren
einige der Akteure – etwa Rukara – relativ stark von persönlichen Gründe (vergangene
Konflikte mit Europäern bei letzterem) motiviert.
Eindrücklich zeigt sich auch die Bedeutung von Randfiguren der Gesellschaft – Basebya,
Ndungutse oder auch die charismatische Führungsgestalt Muhumusa – als Katalysatoren
politischen Handelns (Vgl. Des Forges 1986: 326f). In ihrer Botschaft beinhaltete die
Rebellion embryonale progressive Elemente – in dem Sinn, als daß sie eine völlig neuartige
Handlungsarena auf faktisch regionaler, aber potentiell überregionaler Basis schuf und
bestimmte Elemente einer popularen Bewegung annahm -, war aber von ihrem
Grundcharakter her konservativ, indem sie in erster Linie auf die Wiederherstellung einer als
verletzt betrachteten legitimen Ordnung gerichtet war. Die Vorstellungen legitimer Ordnung,
die in der Aufstandsbewegung artikuliert wurden, waren de facto nichts anderes als ein
Spiegelbild der in der ruandesischen Monarchie verkörperten Ordnungsvorstellungen.
Dementsprechend verwundert es nicht, daß die ‚befreiten Gebiete’ nach ruandesischem
Vorbild in einer perfekten Imitation gängiger ruandesischer Herrschaftsstrukturen organisiert
waren (ebenda: 322). Im engeren Sinn handelte es sich bei der Aufstandsbewegung
eigentlich keineswegs um eine Bewegung, sondern um ein Konglomerat von partikularen
Bewegungen mit je verschiedenen partikularen Interessen, die freilich in der Allianz zwischen
Banyarwanda Zentralruandas artikuliert und zudem so etwas wie ‚wilde Bergbevölkerung’ transportiert.
168
Ndungutse, Basebya und Rukira eine, wenn auch schwache, organisatorische und jedenfalls
symbolische Einheit erlangten. Es verwundert daher auch nicht, daß der Aufstand für
verschiedene Gruppen eine verschiedene Bedeutung annahm. Tatsächlich ist die inhaltliche
Entleerung der zentralen Einheitsattribute von Kollektiven jeder Art, also auch politischen
Bewegungen, folgt man Ernesto Laclau (1996; 1999), ein universeller Prozeß, der auf die
zwei fundamentalen und einander widersprüchlichen Logiken zurückzuführen ist, die bei der
Konstitution von Kollektiven am Werk sind, nämlich die Differenzlogik einerseits – also die
Tatsache daß eine Bewegung insgesamt je partikulare, voneinander verschiedene Ziele und
Interessen verfolgt werden – und die Äquivalenzlogik andererseits, d.h. die Äquivalenz der je
partikularen Inhalte hinsichtlich eines gemeinsamen Außen. In der Differenz der einzelnen
Elemente, die eine Bewegung ausmachen, liegt eine potentielle Sprengkraft, welche die
Äquivalenz zwischen den einzelnen Elementen der Äquivalenzkette wieder sprengen kann.
Umgekehrt hebt die Äquivalenzrelation die Differenz der einzelnen Elemente nie auf, führt
aber notwendigerweise zu einer gewissen Entleerung ihrer spezifischen Bedeutungen.
Abbildung 10: Rebellion und Kollektivität
Elitenkonkurrenz = Abgaben an Chiefs = Landknappheit = Arbeitskräftebedarf = Xenophobie = ...X....= (Abakonde) (ärmere Bauern) (ärmere Bauern) der Mission und des Kolonial- staates (ärmere Bauern) = ... Äquivalenzrelation <S> ...Symbol der Einheit der Bewegung (partikulare Elemente, die für die Äquivalenzkette stehen) <X>...Ausschlußelement Lies: In der Ndungutse Rebellion war die Einheit der Bewegung im wesentlichen eine symbolische, die dadurch erreicht wurde, daß partikulare Forderungen/ Interessen als äquivalent zu einander empfunden wurden. Wesentlich für die Konstitution der Bewegung war eine historische Konjunktur, die es erlaubte, sich gegen ein antagonistisches Element (als historische Akteure: Banyanduga-Tutsi und Europäer) zu wenden, das selbst so breit definiert war, um verschiedene Akzente (Antikolonialismus, Legitimismus etc.) inkludieren zu können, aber gleichzeitig konkret genug war, um eine gewisse Mobilisierung für ein die partikularen Forderungen transzendierendes Ziel zu erlauben.
<S> Ndungutse, Rukara, Muhumusa, Basebya
<X> Banyanduga-Tutsi Europäer
partikulare
Fd
169
Ähnlich wie bei der Expansion des ruandesischen Staates nach Westen etwa 200 Jahre
früher184 hatte die Inkorporation des Nordens in Ruanda und insbesondere ihr besonderer
Modus (mit Gewalt anstatt einer friedlichen Integration und sukzessive Assimilation
regionaler Eliten) einen entscheidenden Effekt auf die Symbolisierung sozialer Distanz, mit
anderen Worten: auf das Verhältnis von Peripherie und Zentrum, wie es sich einerseits aus
Sicht des Hofes, und andererseits aus Sicht der betroffenen Bevölkerungen darstellte. In der
ungleichen Interaktion zwischen Kolonisatoren und der Bevölkerung nahmen die Termini
‚Hutu’ und ‚Tutsi’ eine spezifische Konnotation an, nicht unähnlich wiederum mit den
Bedeutungsverschiebungen, die sich im Rahmen der ersten Expansion Ruandas ergeben
hatten, aber in einer gewissen Weise in einem allgemeineren Sinn, da die
Verwendungsweise der Ethnonyme gleichermaßen die hauptsächliche Okkupation der
jeweiligen Gruppen – Viehbesitzer im Falle der Kolonisatoren und Ackerbauern im Falle der
überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung des Nordens, als auch die Nähe zum politischen
Zentrum, und folglich das Prinzip politischer Asymmetrie zu kennzeichnen begann.
Im Unterschied zu früheren Expansionsphasen war der Rahmen, innerhalb dessen sich die
Expansion abspielte, mit den kolonialen Grenzen fixiert. Die kolonialstaatliche Präsenz war
auch ein wesentlicher Faktor, der die Expansion überhaupt ermöglicht hatte, während
zugleich die Kolonialverwaltung diese massiv betrieb. Die Schwäche des Kolonialstaates
erlaubte allerdings nicht, Kontrolle über die Art und Weise der Herrschaftserstreckung
auszuüben und konnte so die Expansion lediglich motivieren, aber umgekehrt ihr keine
Beschränkungen auferlegen. Jedenfalls akzentuierte der Modus der Inkorporation die
Distanz zwischen Peripherie und Zentrum und die Distanz zwischen der Machtelite und der
Bevölkerung, die keinen oder nur einen beschränkten Zugang zum politischen Raum hatte.
Im Norden jedenfalls war die Bevölkerung nach der Niederschlagung des Aufstandes 1912
de facto politisch entmündigt und fand sich an der Peripherie des politischen Raumes
wieder. Die politische Marginalisierung der Bevölkerung, die in einem weniger
verallgemeinerten Ausmaß auch eine ökonomische und soziale Marginalisierung mit sich
brachte, traf den Norden Ruandas mit seiner langen Tradition der Autonomie gegenüber
Ruanda und andere vergleichbare Königtümer (Norwa, Mpororo) besonders stark. In dem
Maße wie dies zum Mittelpunkt der Aufstandsbewegung gemacht wurde, artikulierte sich
dadurch auch so etwas wie eine regionale kollektive Identität, als deren Gegensatz und
Element des Ausschlusses, um mit Ernesto Laclau zu sprechen, die Zentralmacht bzw., in
einem viel stärken Maße noch, die Agenten des Hofes – und die Europäer, also Missionare
und Kolonialbehörden fungierten. In der im Zuge der Expansion der zentralen Monarchie
sowie der Niederschlagung von Aufstandsbewegungen im Norden geschaffenen 184 Siehe zu einer Diskussion des Zusammenhangs von Expansion und interner Statusdifferenzierung im
170
Herrschaftsarchitektur waren Elemente einer Opposition zwischen Herrschern und
Beherrschten etabliert worden, die in gewisser Weise mit der sozialen Stratifikation
korrelierten und so etwas wie eine embryonale politische Kollektivität repräsentierten, die
jedenfalls in späterer Zeit mit dem Gegensatz zwischen Hutu und Tutsi artikuliert werden
konnten. Daß der Gegensatz zwischen Peripherie und Zentrum vorerst nicht oder nur in
ephemerer Weise so artikuliert worden ist, ist in sich selbst signifikant und zeugt von der
Ambiguität der politischen Kämpfe dieser Periode, die nicht leicht auf einen symbolischen
Nenner zu bringen waren. Gleichzeitig fällt auf, daß die wesentlichen Akteure der
Aufstandsbewegung weder unbedingt an einer hegemonialen Deutung der Rebellion
interessiert waren, noch ihr eine konsistente Bedeutung zusprachen. In der Absenz einer
solchen symbolischen Operation wurde die Deutung des Hofes, es handle sich um den
illegitimen Aufstand von Untertanen des Mwami und die Niederschlagung des Aufstands
bedeute lediglich die Wiedererrichtung der monarchischen Ordnung und der
Wiedereinsetzung verläßlicher Agenten des Hofes jedenfalls bei dem wesentlichen Teil der
europäischen Akteure – allen voran die Kolonialbeamten und beim dominanten Teil der
Missionare – bereitwillig aufgenommen.
5.3.2.3 Die Errichtung des Kolonialstaates (2) – Versuche der Institutionalisierung und Reform
Mit der Einführung des Residentursystems 1906 und der Errichtung der eingeständigen
Residentur Ruanda ein Jahr später war der erste Schritt der Institutionalisierung einer
systematischen Kolonialverwaltung getan. Allerdings gelang es der Kolonialverwaltung bis
1914 – als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs alle Pläne der Behörden zu Makulatur
werden ließ – lediglich einige Ansätze institutioneller Reform zu implementieren. Die daraus
resultierende institutionelle Schwäche des Kolonialstaates führte in weiterer Folge dazu, daß
nur ein Teil der anvisierten Maßnahmen auf wirtschaftlichem Gebiet realisiert werden
konnte.
Mit der, wenn auch beschränkten Konsolidierung des Kolonialstaates wurde das Verhältnis
zwischen deutschen Kolonialbehörden und dem Mwami bzw. der ‚traditionellen’
Herrschaftsstruktur zunehmend präziser in Richtung einer hierarchischen Ordnung definiert.
In ihr figurierte die europäische Kolonialverwaltung als Superstruktur und oberste Instanz,
während die ‚traditionellen’ Strukturen als die hierarchisch untergeordneten Organe definiert
wurden. Das Ziel bestand darin, bestehende ‚Organe’ der traditionellen Herrschaftsstruktur
letztlich zu reinen Exekutivorganen der von der europäischen Kolonialadministration
repräsentierten Regierung im eigentlichen Sinn und der von ihr definierten Kolonialpolitik zu
machen. Dieses Fernziel eines „Zustand[es], in dem der Sultan zu einem vom Gouvernment
Zentrum D.Newbury 1987 und meine Diskussion in Kap. 4.1 Expansion und Militär) pp.85ff.
171
bezahlten Verwaltungsbeamten wird“ (von Götzen)185 blieb freilich in der deutschen Periode
unerreicht, obwohl einige Schritte in diese Richtung gesetzt wurden.
Für den Justizbereich beanspruchte die Kolonialmacht ein Vetorecht bei Strafsachen, die
eine gewisse Schwere überschritten bzw. wenn die Natur der Strafsache oder die dafür
vorgesehene Ahndung fundamental europäischen Grundsätzen und Vorstellungen von
Gerechtigkeit widersprach (Vgl. Bindseil 1988: 161f; Louis 1963: 150f). Ein Richtlinienerlaß
des Residenten von Ruanda, Richard Kandt, von 1910/1911, in dem der Status und die
Kompetenzen des Mwami vis-à-vis der Kolonialmacht, und gleichzeitig auch die
Kompetenzen und das Verhältnis des Kolonialstaates zu Ruanda und seinen (‚traditionellen’)
Herrschaftsträgern positiv beschrieben werden, kann als Ausdruck der zunehmenden
Konsolidierung der kolonialen Herrschaft gelesen werden, genauso wie als ein Versuch,
Herrschaft in Ruanda nach dem Vorbild moderner europäischer Staatlichkeit in
bürokratischer Weise zu modellieren und dem Kolonialstaat so etwas wie eine Verfassung186
zu geben: 1. Sultan von Ruanda heißt der jeweils unter den traditionellen Formen von den gesetzmäßigen
eingeborenen Instanzen gewählte, von dem Kaiserlichen Residenten befürwortete und von dem
Kaiserlichen Gouvernemnet bestätigte Herrscher (Mwami) von Ruanda.
2. Als Zeichen der Anerkennung durch die Kaiserliche Regierung erhält der Sultan von Ruanda eine
Urkunde, das Recht, in seiner Boma die Reichsdienstflagge zu führen, und eine nur ihm gestattete
Insignie, (z.b. wie in Niederländisch-Indien einen Ehrenschirm).
3. Die Bestätigung der Kaiserlichen Regierung enthält nicht nur den Schutz gegen innere und äußere
Feinde des Sultans, sondern auch die Anerkennung, daß Handlungen des Sultans, die im
Einverständnis oder auf Anordnung der Residentur erfolgen, den Charakter von amtlichen Handlungen
tragen.
4. Der jeweilige Sultan von Ruanda ist Besitzer alles bebauten, beweideten oder sonst nutzbar gemachten
Bodens, desgleichen aller Kult- und Begräbnisstätten. Ihm steht das Recht zu, Grundeigentum zu
verschenken, verpachten, verkaufen oder als Lehen zu vergeben. Doch bedarf die Abgabe von Land in
jeder der genannten Formen, sobald die genannte Partei landfremd ist, die behördliche Genehmigung
[sic].
(...)
7. Die Eingeborene-Rechtsprechung in Ruanda liegt in den Händen des Sultans und der Häuptlinge, denen
der Sultan seine richterlichen Rechte delegiert hat.
(....)
13 Jeder Mnjaruanda, gleichviel ob Mtussi, Whutu oder Mutwa [sic], soll die religiöse Lehre, der er
anhängen will, frei wählen können und in ihrer Ausübung den Schutz des Sultans genießen [sic]. Es ist
die Pflicht des Sultans, seine christlichen Untertanen in dieser Hinsicht zu schützen, wogegen die
Residentur den heidnischen Wanjaruanda den gleichen Schutz gewährt. (...)
185 Vgl. das vollständige Zitat oben, p.107. 186 Kandt spricht in einem Brief an die Mission in Rwaza vom August 1911 in bezug auf diesen Text, dessen letztlich effektiver rechtlicher Status nicht ganz klar ist, von einer „Constitution, die das Kaiserliche Gouvernment dem Sultanat Ruanda als Richtschnur für die Entwicklung des nächsten Jahrzehntes geben will“ (zitiert nach Bindseil 1992: 233).
172
14 Die Mission der christlichen Konfessionen steht das Recht der Niederlassung in Ruanda zu. Doch ist der
Sultan nicht gezwungen, ihnen an solchen Plätzen Land zu verkaufen, an denen ihm eine Niederlassung
unerwünscht ist (...)
(...)
15 Die bisherige politische Organisation mit ihrer Dreiteilung der Gerechtsame unter Häuptlinge (mtuale)
des Bodens, der Rinder und der Schildleute [ umutware w’ubutaka, umutware w’umukenke, umutware
w’umuheto, A.K.] soll erhalten bleiben. Doch soll der Sultan auf jedem Berge eine Instanz schaffen, die
ihm und der Residentur für die Erfüllung aller Anordnungen haftbar ist, welche seitens der kaiserlichen
Behörden direkt oder durch den Sultan getroffen werden.
16 Dies Amt des Polizei-Mtwale wird einem auf dem Berg wohnenden Häutpling, in der Regel dem
Häuptling des Bodens, als Ehrenamt übertragen. Mehrere Polizei-Watwale sind je nach Bedarf einem
von der Residentur auf Vorschlag des Sultans ernannten Obmann zu unterstellen, dem sie in Ausübung
seiner amtlichen Obliegenheiten unbedingt zu gehorchen haben.(...).
(...)
21. Den Polizei-Watwalen können seitens der Residentur die Obliegenheiten eines Steuererhebers gegen
eine Remuneration übertragen werden. (..)
(Aufzeichnung des Residenten Kandt über die Verwaltung von Ruanda zitiert nach Bindseil 1992: 233ff)
Die im obigen Dokument vorgesehene Stellung eines ‚Regierungsmutware’ wurde erstmals
1911 in Mutara im Nordosten Ruandas eingerichtet . Weitere Schritte in diese Richtung
scheinen allerdings nicht ergriffen worden zu sein (Honke 1990a: 122).
Bereits 1905 war vom Vertreter des Kaiserlichen Gouverneurs von Götzen, Stuhlmann eine
Verordnung über die Steuerpflicht der afrikanischen Bevölkerung in Deutsch-Ostafrika
erlassen worden, die 1912 novelliert wurde und die eine schrittweise Einführung der
Steuereinhebung vorsah (Bindseil 1988: 121; Kabagema 1993: 158f). Erstmals wurden im
Juli 1914 in ausgewählten Regionen (die als Steuerbezirke den Kern einer vereinfachten und
homogenen Verwaltung bilden sollten) Steuern eingehoben (Ebenda; Louis 1963: 153f). Die
Einhebung von Steuern sollte – so wie übrigens anderswo auch – nicht nur den steigenden
finanziellen Bedarf der Kolonialadministration decken und somit die Expansion der
Kolonialadministration finanzieren, sondern indirekt zu einer Monetarisierung der Wirtschaft
und damit auch zu einer Anbindung Ruandas an die Weltwirtschaft führen.
Dementsprechend wurde 1913 in Gestalt der indischen Rupie als Währung die
Geldwirtschaft, mit der seit 1908 experimentiert wurde, in ganz Ruanda offiziell eingeführt.
Zum einen sollten die Steuern den Arbeitskräftebedarf des ‚kommerziellen’ Sektors – zu der
Zeit im wesentlichen den Handel decken helfen, indem ein Anreiz (bzw. ein Zwang)
geschaffen wurde, die Arbeitskraft gegen Entgelt zu ‚verkaufen’, zum anderen war mit
diesem Ziel auch die Propagierung einer kapitalistischen Ethik verbunden – wenn auch zu
einem geringeren Maße als in anderen afrikanischen Kolonien.
Tatsächlich war der Arbeitskräftebedarf an Trägern enorm – Ruanda verfügte über keine
Eisenbahn, noch über eine befahrbare Straßenverbindung mit den Hauptverkehrswegen (der
173
Eisenbahn von Tabora nach Dar es Salaam, sowie zur Kampala-Mombasa –Strecke). Die
Deckung des Arbeitskräftebedarfs für den Außenhandel (der Export bestand hauptsächlich in
Häuten und wurde über Bukoba187 abgewickelt, das als Hafenstadt am Viktoriasee indirekt
über eine Anbindung an die Hauptverkehrswege Ugandas und Kenyas verfügte) erfolgte mit
steigender Tendenz durch Ruandesen selbst, während der Binnenhandel ausschließlich von
Ruandesen erledigt wurde (Vgl. Honke 1990a: 122
Gleichzeitig wurden Steuern als Anreiz und Steuerungsmittel im Bereich der Agrarpolitik
angesehen, deren Kern in der Einführung kommerzieller agrarischer Güter und in einer damit
bezweckten Kommmerzialisierung des Agrarsektors (‚Peasantization’) bestand. Seit einiger
Zeit hatte man mit verschiedenen Kulturen – Baumwolle, Erdnüsse, Kaffee experimentiert
und sich schließlich aufgrund entsprechender Versuche der Missionare, die seit 1903 mit
verschiedenen Kaffeesorten experimentierten, für Kaffee entschieden. 1913 begannen die
Kolonialbehörden erstmals mit der großflächigen Verteilung von Kaffeepflanzen. Die erste
Ernte wurde für 1917 erwartet, eine Prognose, die sich infolge des Krieges, aber auch infolge
des Widerstandes Musingas nicht materialisierte (Dorsey 1983: 33f).
Während in der ersten Phase der Kolonisierung, eine zumindest beschränkte Ansiedlung von
deutschen Siedlern als realistisch angedacht wurde, verwarfen die Kolonialbehörde in
Anbetracht der äußerst hohen Bevölkerungsdichte188 Ruandas und nach der Erfahrung des
187 Für die Strecke Kigali-Bukoba wurden 8 bis 14 Marschtage veranschlagt. Die Transportstatistik für die Route Kigali-Bukoba (angegeben in Anzahl von Lasten = 30kg) zeigt deutlich die Außenhandelsfrequenz sowie der damit verbundene steigende Arbeitskräftebedarf: Jahr Lasten à 30kg Träger 1910 11.379 13.519 1911 13.523 15.523 1912 20.961 23.971 1913 23.521 25.541 Quelle: Jahresbericht Ruanda 1912 und 1913 zitiert nach Honke 1990a: 122 188 Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsdichte in Ruanda Jahr Bevölkerung Dichte
(Person/km²) 18991 ±2,000,000 ±75 19072 ±1,710,000 ±64 1920 ±1,000,000 ±38 1930 ±1,500,000 ±57 1940 1,913,322 72,64 1950 1,899,776 (1949) 72,13 1960 2,634,00 (1959) 100,00 1970 3,380,00 (1968) 128,33 1980 5,103,000 193,75 Quelle: Reyntjens 1985: 21; Bethe und Czekanowski zitiert nach Maquet 1961: 13 (aufgrund Czekanowski 1917) und eigene Berechnungen 1 Schätzung Hptm. von Bethe ² Schätzung Czekanowski Die Tabelle berücksichtigt nicht das tatsächlich verfügbare Acker-, Weide- oder Wohnland. Von den 26.300 km² Ruandas waren Mitte der Siebziger Jahre 16.250 km² tatsächlich landwirtschaftlich – sowohl als Weide, als auch
174
Maji-Maji sowie des Herero-Aufstandes, dies relativ bald, wenn auch nicht explizit (Vgl.
Bindseil 1988: 147; Kabagema 1993: 167ff). Da eine Ansiedlung von weißen Siedlern,
zumindest innerhalb der Koloniallobby in der Metropole, eine wesentliche Rechtfertigung für
den Besitz von Kolonien darstellte und diese gleichzeitig immer wieder als
Entwicklungsinstrument propagiert wurde, mußten alternative Wege gefunden werden, um
die Kolonie zu entwickeln. Eine Maßnahme in diesem Zusammenhang war die schon
angesprochene Entwicklung einer kommerziellen kleinbäuerlichen Landwirtschaft über den
Anbau von Kaffee und anderen geeigneten Nutzpflanzen. Ein anderer bestand in der
Entwicklung der Verkehrswege, für die der Bau einer Eisenbahn als von fundamentaler
Wichtigkeit betrachtet wurde und deren Fehlen zugleich eine Rechtfertigung für die,
kolonialwirtschaftlich gesehen, enttäuschende Entwicklung Ruandas darstellte. Seit 1907 in
Planung, wurden die dafür benötigten Mittel 1914 vom Reichstag genehmigt. Die
Realisierung blieb aber infolge des Krieges aus und die belgische Kolonialverwaltung
verfolgte den Plan nicht weiter (Kabagema 1993: 163ff; Louis 1963: 172f).
Unklar blieben – und Richard Kandt wies explizit darauf hin – in welcher Weise die Kolonie
entwickelt werden sollte. Die einzige Möglichkeit, so Kandt, sei die Entwicklung der
bäuerlichen Landwirtschaft, da die Rinderzucht189, die kurzfristig auch als entwicklungsfähige
Branche galt, infolge der Verwendung des Viehs als soziales und politisches Kapital, das nur
beschränkt einer ökonomischen Verwertung zugeführt wurde (der Fleischkonsum, eine der
potentiell ins Auge gefaßten Verwertungsmöglichkeiten, war in Ruanda
vernachlässigenswert und dementsprechend gering die Bereitschaft, Vieh als Fleischlieferant
zu züchten) als realistischer Entwicklungsweg ausschied. Die Richtung, in die die
ergriffenen und geplanten Maßnahmen deuteten, war jedoch eindeutig und bestand in der
möglichst effizienten Nutzung und Entwicklung der Ressource, über die Ruanda im Überfluß
verfügte: Arbeitskraft.
5.4 Resümee
Die Inkorporation Ruandas in das deutsche Protektorat Deutsch-Ostafrika führte zu der
Errichtung einer Parallelstruktur zu den indigenen Strukturen der Herrschaft. Angesichts der
beschränkten Ressourcen waren die zwei parallelen Strukturen – der (europäische)
Kolonialapparat einerseits, und die indigenen Strukturen der Herrschaft bzw. der Strukturen,
die als Basis der kolonialen Herrschaft tauglich erachtet wurden, andererseits – relativ
als Ackerland nutzbar, bei einer geschätzten Bevölkerung von etwa 4 Mio Mitte der Siebziger ergibt dies eine Bevölkerungsdichte von 246 Personen/ km² . Sieht man von Weideland ab (de facto ist die Zuordnung weniger einfach als sie erscheinen mag), kommen auf 1km² landwirtschaftliches Land 495 Personen (Silvestre 1974: 104) 189 Der Rinderbestand wurde auf 1 Million geschätzt. Gleichzeitig erachtete man die Qualität der Rinder (sowohl ihr Fleisch als auch der Milchproduktion) als gering ein (Honke 1990a: 122; Louis 1963: 173).
175
schwach integriert. Diese Parallelität blieb während der gesamten deutschen Periode
erhalten und die Hegemonie des Kolonialstaates insofern immer eine prekäre. Die
Herrschaftsarchitektur in der deutschen Periode kommt dem Idealbild von ‚Indirekter
Herrschaft’, wie sie als veritable Herrschaftsideologie190 am Anfang der Kolonisierung Afrikas
von mehreren europäischen Akteuren entwickelt wurde, dadurch allerdings viel näher als
andere Beispiele dieser Art oder Ruanda unter der belgischen Verwaltung. Die deutschen
Kolonialbehörden veränderten im Gegensatz zu ihren belgischen Nachfolgern die
Herrschaftsstruktur Ruandas kaum. Politische Maßnahmen wurden hauptsächlich über
vorhandene Hierarchie exekutiert und dem Mwami somit ein beträchtliches Maß an Kontrolle
über den politischen Prozeß belassen. Selbst bei der Requirierung von Arbeitskraft und
Lebensmittel – die Tätigkeit, die der logische Ansatzpunkt für dezentrale Interventionen des
Kolonialstaates war – hielten sich die Kolonialbehörden an den ‚Instanzenzug’, indem
zumindest die Zustimmung und eine dementsprechende Anordnung Musingas eingeholt
wurde.
Die Kolonisierung Ruandas brachte aber signifikante Änderungen in dem Charakter von
Herrschaft. Mit der Errichtung von Kolonialstaaten veränderte sich der Charakter des
Staatensystems, in das Ruanda eingebunden war und damit auch der Charakter von
(politischer) Macht und Herrschaft. Während Herrschaftssubjekte gleichermaßen wie
Herrschaftsträger in vorkoloniale Staaten in Afrika vor der Kolonisierung entsprechend des
fundamentalen Problems der Reichweite von Macht und Herrschaft überwiegend eine
pragmatische und realistische Theorie von Staatlichkeit und politischer Autorität hatten,
gleich wie hochtrabend im einzelnen Ansprüche über riesige Landstriche und Bevölkerungen
artikuliert wurden, instituierte das Staatensystem, das in der Berliner Konferenz entwickelt
und in Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg vor Ort etabliert wurde, ein an normativen
Gesichtspunkten orientiertes System, das, insofern die Realität von Herrschaft in Afrika nie
mit der fundamentalen Fiktion dieses Systems – der Doktrin der Souveränität über ein
definiertes Territorium in Übereinstimmung gebracht werden konnte – eine grundsätzliche
Spannung zwischen den Realitäten von Herrschaft und ihrer Theorie brachte. Das Modell
politischer Herrschaft im vorkolonialen Afrika kann am besten als ein konzentrisches System
beschrieben werden kann, bei dem Macht des Zentrums (im Sinne der Fähigkeit zur 190 Einmal mehr erweisen sich koloniale Herrschaftsideologien – sei es das Konzept der ‚Assimilado’ in den portugiesischen Kolonien , sei es ‚Indirekte Herrschaft’ – als Rationalisierung von der vor Ort gegebenen Situation sowie den Reaktionen der Kolonialbehörden auf diese und damit als normative Ausflüsse von spezifischen Herrschaftspraktiken, wobei die Praxis der Theorie nur sehr unvollkommen entsprach (Vgl. zu einer Diskussion der kolonialstaatlichen Herrschaftspraxis in Afrika Herbst 2000: 81ff). Gleichzeitig war die Doktrin indirekter Herrschaft nie mehr als eine temporäre Rationalisierung der beschränkten Reichweite und der knappen Ressourcen des Kolonialstaats, die, in Verbindung mit den weiteren Zielen des Kolonialstaats – der ‚Zivilisierung’ der kolonisierten Gesellschaften in der Form von wirtschaftlicher Entwicklung, kultureller Transformation und der Errichtung von Herrschaftsbürokratien europäischen Zuschnitts – die Aufhebung der
176
Durchsetzung des im Zentrum generierten Herrschaftswillens) proportional zur Distanz zum
politischen Zentrum abnahm. Die Grenzen von vorkolonialen Staaten waren entsprechend
diesem Modell notwendigerweise unscharf und die Peripherie vorkolonialer Staaten
entweder faktisch autonom oder gleichzeitig Peripherie für mehrere mächtigere politische
Zentren. Die daraus resultierenden Beziehungen zwischen Staaten bzw. politischen
Einheiten verschiedener Größe ließen daher auch beträchtlichen Interpretationsraum: was
aus der Sicht eines Zentrums als mehr oder weniger regelmäßige Tributzahlung einer
abhängigen politischen Gemeinschaft gesehen wurde, konnte aus der Sicht dieser als
Geschenk für einen Bündnispartner betrachtet werden, ohne daß diese
Interpretationsdifferenz Anlaß zu einem Konflikt um die Definition der Beziehung gegeben
hätte – dazu war die hauptsächlich symbolische Herrschaftsbeziehung zwischen Zentrum
und Peripherie zu irrelevant, abgesehen davon, daß das Fehlen eines geeigneten
Herrschaftsapparats (Infrastruktur wie Kommunikationswege oder Kommunikationsmittel wie
der Schrift usw.) es nicht zuließ, die Distanz zwischen Peripherie und Zentrum zu
überbrücken.
Das Außen’ und ‚Innen’ vorkolonialer Staaten unterschied sich folglich nicht durch einen
differierenden Politikmodus und spezifischen Beziehungen zu Herrschaftssubjekten
einerseits und konkurrierenden Staaten andererseits, sondern eher nach der Intensität der
Beziehung zu den betreffenden Einheiten (Vgl. Herbst 2000: 53ff). Mit der Errichtung von
klaren Grenzen durch das Staatensystem der Berliner Konferenz wurde jedenfalls für
Ruanda – wo die Grenzen des Kolonialstaates im Großen und Ganzen mit dem Gebiet
übereinstimmten, das von der ruandesischen Monarchie beansprucht wurde – das ‚Außen’
klar definiert und ebenso das ‚Innere’ als der eigentliche Lokus des Staates und staatlich
ausgeübter Herrschaft umschrieben. Die kolonialstaatlichen Grenzen etablierten auch
erstmals so etwas wie einen ‚Puffermechanismus’ gegenüber dem internationalen
Staatensystem, mit dem verschieden Ströme (Güter, Menschen, Geld) wenn nicht regelbar,
so doch in einem viel höheren Ausmaß beeinflußbar wurden und jedenfalls mediatisiert
wurden und durch die Staatsterritorium, und sukzessive auch Staatszugehörigkeit zu
relevanten Kriterien von Staatlichkeit wurden.
Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß zeitgleich mit der Kolonisierung die regelmäßigen
Razzien in die Peripherie Ruandas und darüber hinaus (insbesondere nach Osten und
Norden, wie sie unter Rwabugiri geführt worden waren, praktisch zu einem Ende kamen. Die
letzte nach außen gewandte militärische Operation der traditionellen Armeen war der Angriff
auf kongostaatliche Truppen 1895 bei Shangi. Dem Verlust der Autonomie hinsichtlich der
realen Form indirekter Herrschaft bereits in sich trug.
177
äußeren Sicherheit folgte noch in der Frühzeit des Kolonialismus der Verlust über die
Autonomie hinsichtlich der inneren Sicherheit und enthoben somit der traditionellen
Militärorganisation jeglicher realer Bedeutung in ihrer militärischen Funktion. 1906 wurden
die traditionellen Armeen gegen abtrünnige Truppen und deren Befehlshaber eingesetzt und
brachten 1911, in der letzten eigenständigen militärischen Kampagne dieser Art und unter
dem Kommando des letzten Armee-Chiefs des Mwami, Nturo191, eine rebellische ehemalige
Königin in ihre Gewalt und zum Hof Musingas nach Nyanza (Weinstein 1977: 52). Alle
anderen Operationen, in denen die traditionellen Armeen eingebunden waren, fanden
praktisch auf Initiative oder zumindest auf ausdrücklichem Wunsch oder Billigung der
Kolonialbehörden statt. Damit verlor langsam aber sicher eine wesentliche Institution der
ruandesischen Monarchie, die jedenfalls unter den Notablen, aber auch bis zu einem
gewissen Grad in der weiteren Bevölkerung, eine Quelle von Kohäsion und Legitimität
darstellte, insofern nach jedem Kriegszug Beutegut unter den Armeeangehörigen verteilt
werden konnte und Kriege gegen äußere Feinde von inneren Konflikten ablenkte, ihre
frühere Bedeutung, die sie jedoch sozial – als Klientelnetzwerk –die Armeen für eine gewisse
Periode weiterhin beibehalten konnten.
Das Ende der Armeen als militärische Einheiten ist ein starker Ausdruck der schwindenden
Autonomie des Mwami, dem dadurch und durch weitere, ähnliche Maßnahmen sukzessive
die Kontrolle über einen fundamentalen Daseinsgrund von Staatlichkeit (mithin ein Kriterium
von Staatlichkeit an sich), nämlich über die Aufrechterhaltung und ‚Reproduktion’ von
Sicherheit und Ordnung entzogen wurde, diese aber zunächst nicht völlig verlor. So war dem
Mwami schon sehr früh von kolonialstaatlicher Seite das Recht auf Leben und Tod entzogen
worden. Tatsächlich umging der Hof diese Maßnahme, indem er zum Tode verurteilte
heimlich ermorden ließ. Die Folge der Einschränkung war aber ein Rückgang der Zahl der
vom Hof umgebrachten Personen, die auch nicht mehr der obersten Klasse der Chiefs
angehörten, weil deren ‚Verschwinden’192 zu auffällig gewesen wäre (Vgl. Reyntjens 1985:
79).
Die Einschränkungen der Macht des Hofes durch die koloniale Präsenz wurden aber
weitgehend von den Vorteilen, die diese brachte, aufgewogen. Die Reichweite der Macht –
das, was Jeffrey Herbst in seiner Analyse von Staatsbildungsprozessen in Afrika mit dem
Begriff ‚broadcasting of power’ umschreibt, wurde beträchtlich gesteigert. Nicht nur
ermöglichte dies die physische Expansion der Monarchie, der Kolonisierung des Nordens, 191 Dessen Sohn Nkuranga wurde im November 1959 auf Betreiben konservativer royalistischer Kräfte vom jungen Mwami Kigeri Ndahindurwa in der kurzlebigen Gegenrevolution royalistischer Kräfte zum Oberbefehlshaber der aus der Versenkung geholten Armeen eingesetzt (Vgl. Willame 1994: 313). 192 Im Umfeld derartiger Morde wurden vom Hof Gerüchte in die Welt gesetzt, die Opfer seien ins Exil gegangen.
178
der oben so breiter Raum eingeräumt worden ist, sondern sie brachte auch eine Verdichtung
von Herrschaft im Zentrum des Landes sowie in jenen Gebieten, die erst in relativ rezenter
Zeit in Ruanda inkorporiert worden waren, etwa Kinyaga. Während die Expansion
monarchischer Strukturen in Kinyaga schon unter Rwabugiri begonnen hatte, beschleunigte
sich der Prozeß unter deutscher Kolonialherrschaft dramatisch. In Abiru, einer der drei
Provinzen Kinyagas, war bis 1917 die Position des Lineage-Chiefs schrittweise durch Hügel-
Chiefs (abatware b’umusozi) ersetzt worden. In der Provinz Impara war dieser Prozeß
ähnlich weit gediegen. Die meisten der eingesetzten Hügel-Chiefs waren Klienten von
Sekabaraga oder Nyankiko, die ihrerseits Klienten und Repräsentanten des Provinz- und
Umuheto-(Armee)-Chiefs von Impara, Rwidegembya waren und deren gute Beziehungen
zum deutschen Posten Shangi und dem Residenten von Ruanda, Richard Kandt, ihre
Attraktivität als Klienten und gleichzeitig ihre Macht merklich steigerte (C.Newbury 1988:
127). Schon vor der Einführung von Hügel-Chiefs war politische Macht auf lokaler Ebene
ungleich verteilt, insofern einige Lineage-Chiefs qua ihres Prestiges und über ihre Netzwerke
beträchtlichen Einfluß auf die Regelung verschiedenster Angelegenheiten ausüben konnten.
Die Hügel-Chiefs unterschieden sich allerdings durch die externe Basis ihrer Macht, sie
wurden extern, vom Provinzchiefs oder anderen mächtigen Personen eingesetzt und ihre
Loyalität war daher zumindest gespalten – wenn sie schon lange eingesessen waren, was
zunehmend seltener vorkam. Die Bewohner eines Hügels befanden sich – im Unterschied zu
vorher – nun als Herrschaftssubjekte gegenüber einem Herrschaftsträger wider, dessen
Position ultimativ davon abhing, wie er den Wünschen seiner ‚Patrone’ auf höherer Ebene
der Hierarchie entsprechen konnte und in weiterer Folge, wie seine eigene Position als
Patron bzw. Klient in den diversen formalisierten und informellen Klientelnetzwerken
beschaffen war. Als Richter in lokalen Konflikten um die essentiellen Ressourcen Land und
Vieh war seine Macht beträchtlich, was wiederum die Notwendigkeit, sich Patrone zu
suchen, drastisch erhöhte, zumal ja der Hügel-Chief seine eigene Macht zu einem Gutteil
von seiner Position als Klient einer politischen Größe bezog. Mit der Ausweitung
‚zentralstaatlicher’ Strukturen in der Form der Institution des Hügel-Chiefs ging eine
entsprechende Ausweitung von Ubuhake-Klientelverbindungen einher und war ihr
wesentlicher Motor (Ebenda: 108). Tatsächlich führte die Verdichtung von Herrschaft im
Rahmen des Kolonialstaats, der alles daran setzte, die vorhandenen Strukturen zu stärken,
in weiten Teilen des Landes zu einer ähnlichen Expansion von Klientelbeziehungen, allen
voran Ubuhake, das an Bedeutung Umuheto zu übertreffen begann, insofern die Institution
eine intensivere Beziehung zwischen Patron und Klienten implizierte.
In einem engeren Zusammenhang zur kolonialen Präsenz stand hingegen die Ausweitung
von Uburetwa, die im Zentrum des Landes insbesondere zwischen 1906 und 1908 stattfand
179
und noch 1916 in den nordwestlichen Regionen (Bugoyi, Bushiru, Kingogo, Mulera...), in
denen sie vor 1900 praktisch unbekannt war, nur spärlich eingefordert wurde (Reyntjens
1985: 134). Mehr als nur ein Fall bloßer Konvergenz von europäischer Expansion und
Ausweitung von Uburetwa zu sein, ging letztere zu einem großen Teil auf den steigenden
Arbeitskräftebedarf des Kolonialstaates und der Mission zurück.
Die koloniale Präsenz brachte, zusammenfassend gesagt, eine Stärkung einer spezifischen
Herrschaftsstruktur, die äußerlich nur mäßig verändert wurde. Damit einhergehend wurden
bestehende Ansprüche und (Zugriffs-)Rechte der Chief und des Mwami gefestigt sowie de
facto beträchtlich ausgeweitet. Gleichzeitig konnte die monarchische Elite ihre Autonomie
gegenüber den Europäern in dem durch die Kolonisierung gesetzten Rahmen
paradoxerweise größtenteils wahren. Dies deshalb, weil der Hof aus der Position relativer
Schwäche die Kolonialherrschaft und die europäische Präsenz, wenngleich nicht in ihren
Konsequenzen durchschaute, jedenfalls als Gelegenheit begriff, die eigene Position zu
stärken und der Kolonialstaat in einem ähnlichen Kalkül den Konflikt mit den traditionellen
Herrschaftsträgern scheute. Die daraus resultierende Architektur des kolonialen Gefüges –
des Machtdreiecks, gebildet von Hof, dem Kolonialstaat und als drittem Eckpfeiler, der
Mission – erlaubte es dem Hof, Kredit aus der während der deutschen Periode
vorherrschenden Konfliktualität und Konkurrenz zwischen den drei Pfeilern des
Kolonialssystems zu schlagen und die Situation in einem gewissen Sinn als eine Ausweitung
des ‚traditionellen’ Klientelsystems, das die ruandesischen Herrschaftseliten seit langer Zeit
miteinander verband, zu betrachten.
Die Wahrnehmung der Europäer – Mission und Kolonialbehörden gleichermaßen -, die Tutsi
seien die eigentlichen Herrscher – bezog sich in erster Linie auf die zentralen Strukturen der
ruandesischen Monarchie und war, bezogen auf die engere Umgebung des Hofes, keine
unzutreffende Beschreibung der Situation. Allerdings beruhte diese Wahrnehmung auf einer
simplizistischen Deutung der traditionellen Monarchie und berücksichtigte nicht die
beträchtlichen regionalen und situativen Variationen in der Herrschaftsstruktur Ruandas.
Signifikant für das Ausmaß, in dem Vorstellungen von Rasse und Herrschaft Einfluß auf die
Kolonialpolitik nahm, ist das Nebeneinanderstehen dieser Wahrnehmung, die von den
deutschen Behörden normativ gewendet und zur Grundlage ihrer Version von indirekter
Herrschaft gemacht wurde, mit realistischeren Beschreibung von Macht und Herrschaft in
Ruanda.193 Allerdings, im Unterschied zur belgischen Kolonialmacht, versuchten die 193 In den veröffentlichten Reiseaufzeichnungen Richard Kandts (Caput Nili, Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nil; Berlin 1921: 264) beschreibt Kandt seinen Eindruck von der Herrschaftsstruktur und Reichweite der Herrschaft in Ruanda, die die Variabilität von Herrschaft sowie die beschränkte Reichweite des Hofes deutlich macht. Nachdem er (1898) bei seiner ersten Expedition vom Hof entfernt hatte, sah er weder eine große Anzahl von Tutsi mit ihren Herden, noch traf er konversationsgierige Chiefs, sondern sah sich statt dessen
180
Deutschen nicht, systematisch Herrschaft in Ruanda zu einem Tutsi-Monopol zu machen. In
dem Maße, in dem die durch die koloniale Präsenz ermöglichte Herrschaftsausweitung und –
verdichtung, eine engere Gruppe von (überwiegend) Tutsi Notablen um den Hof in Nyanza
zum Nachteil anderer Herrschaftsträger bzw. zum Nachteil der Autonomie von mäßig
integrierten Regionen begünstigte, marginalisierte die deutsche Kolonialpolitik alternative
traditionelle Eliten (Lineage Chiefs, ‚Abakungu’ im Norden etc.) und damit in gewisser Weise
auch die Hutu Bevölkerung insgesamt, weil damit eine Tendenz zur Monopolisierung von
Herrschaft innerhalb einer (rassisch bzw. ethnisch definierten) Gruppe von Personen
angelegt wurde.
von Räubern angegriffen und folgt daraus, daß die Macht des Mwami wenig entfernt von dessen Residenz offensichtlich nur mehr fiktiv war. Ebenso beschreibt er den Wechsel des Landschaftsbildes: weniger Weideland, mehr bepflanzte Flächen. Weiter, in Kingogo werden die Tutsi für ihn unsichtbar (zitiert nach Vidal 1985: 174).
181
Kapitel VI: Die belgische Periode
6.1 Die Ökonomie der Besatzung: Erster Weltkrieg und Übergang bis 1925
6.1.1 Krieg und Besetzung
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 hatte zunächst keine (militärischen)
Auswirkungen auf Ruanda-Urundi. Noch im August 1914 wurde über Deutsch-Ostafrika der
Kriegszustand verhängt. Deutsche Truppen erbeuteten in einer der wenigen größeren
militärischen Operationen während des Krieges zwei kongolesische Boote auf dem Kivusee
und besetzten im September 1914 die Insel Ijwi, die bei dem Grenzabkommen 1910 dem
Kongo zugesprochen worden war. Gleichzeitig wurde sowohl von deutscher Seite die
Einhaltung der in den Kongo-Akten festgelegte Neutralität des Kongo-Freistaats, dessen
Rechtsnachfolger die belgische Kolonie war, erwartet und erhofft194, als auch von belgischer
Seite diese am Anfang des Krieges proklamiert (Louis 1963: 209f). In einem geheimen
Übereinkommen auf einer Konferenz nahe Kabati (im Zentral-Kongo) im Oktober 1914
vereinbarten Belgien und Großbritannien, daß die Truppen des Kongo im Falle eines Krieges
in Ostafrika die britischen Truppen unterstützen würden195 (Reyntjens 1985: 33; Louis 1963:
214f.)
Die personalarmen deutschen Kolonialtruppen konzentrierten ihre Kraft auf die Uganda-
Bahn und die Briten, während Ruanda-Urundi nur einen Nebenschauplatz darstellte und
militärisch mehr oder weniger auf der Basis vorhandener Truppenbestände und indigener
Hilfstruppen (Indugaruga) organisiert wurde. Das Ziel der Kolonialbehörden nach Ausbruch
des Ersten Weltkrieges unterschied sich dann auch nicht wesentlich von dem primären
Staatsziel des embryonalen Kolonialstaats unter der deutschen Kolonialherrschaft
insgesamt, nämlich der Aufrechterhaltung von ‚Ruhe und Ordnung’ bzw. der Gewährleistung
der öffentlichen Sicherheit. Dieses Ziel versuchten die Behörden mit praktisch demselben
Personalaufwand wie vor dem Krieg zu erreichen. Insgesamt befanden sich 24 deutsche
Offiziere und 152 Askari in Ruanda-Urundi, von denen die Mehrzahl in Burundi stationiert
war. In Ruanda befand sich der Stützpunkt der deutschen Truppen in Kisenyi (Gisenyi), dem
alle 5 deutschen Offiziere und alle 47 in Ruanda stationierten Askari zugeordnet wurden
(Ebenda: 211). 194 Dennoch legten die Deutschen, insbesondere, nachdem ein deutscher Gesandter, der die Haltung der kongolesischen Regierung in Boma erkunden sollte, unter Hausarrest gestellt wurde, ein erhebliches Mißtrauen gegenüber dem Kongo an den Tag. Dieses Mißtrauen gegenüber der zukünftigen Haltung der kongolesischen Kolonialregierung gegenüber den Deutschen war das vorrangige Motiv für die Erbeutung der Insel Ijwi und der dadurch gewonnenen Vorherrschaft über den Kivusee. (Vgl. Rumiya 1992: 26). 195 Belgische Truppen kamen den Briten im Rahmen dieses Abkommens erstmals im Jänner 1915 bei der Niederschlagung des Aufstands, der auf Initiative Musingas von dessen Halbbruder Nyindo im ugandesischen Distrikt Kigezi (‚British Ruanda’), wo dieser Chief war, losgetreten worden war, zu Hilfe (Louis 1963: 214; Vgl.
182
Während Ruanda-Urundi von Kampfhandlungen zunächst kaum betroffen war, waren die
zivilen Auswirkungen des Krieges viel weitreichender, als es die Bedeutung Ruandas für die
deutsche Kriegsführung erwarten lassen würde. Im Zuge der Kriegsanstrengungen erhielten
die Behörden weitgehende Rechte hinsichtlich von Lebensmittel- und
Arbeitskräfteaufbringung, und, was noch schwerer wog, nicht nur steigerte der Ausbruch des
Krieges die Notwendigkeit systematischer einnahmeseitiger Politik (durch verstärkte Natural-
, Arbeits- und monetäre Abgaben), sondern auch die Notwendigkeit, die Effizienz und
Reichweite der anlaßspezifischen Requirierungen, genauso wie die der regulären
Steuereinhebung zu erhöhen. Dementsprechend brachte der Ausbruch des Ersten
Weltkriegs eine spürbare Steigerung der an die Bevölkerung gestellten Forderungen und der
von ihr erbrachten Leistungen, sei es in der Form von Arbeitskraft196 für die Befestigung der
deutschen Posten, für Straßenarbeiten, für Trägerdienste und als Hilfstruppen, sei es in
monetärer Form (der Kopfsteuer) oder in der Form von Naturalleistungen (Lebensmittel). In
Ausnutzung der Bedeutung, die von Seiten der Kolonialverwaltung den Chiefs für die
Kriegsführung zugesprochen wurde, gingen diese ihrerseits daran, zusätzliche Forderungen
an die Bevölkerung zu stellen. In Nduga und Marangara erhöhten sie die Uburetwa-
Verpflichtung von zwei von fünf Tagen um einen weiteren Tag. In den nordwestlichen
Regionen kam Uburetwa überhaupt erst im Zuge des Krieges zu einer breiteren Anwendung.
Die verarmten Missionsstationen – die katholischen Missionare waren bis auf wenige
allesamt ‚Ausländer’, in erster Linie Franzosen und frankophone Belgier und wurden daher
von den Kolonialbehörden mit Mißtrauen beäugt und mit zusätzlichen Leistungen überfordert
– gaben den materiellen Druck, dem sie ausgesetzt waren, an die Bevölkerung weiter, die
auf den weitläufigen Gebieten der Missionsstationen lebte. In Rwaza (Nordwesten Ruandas,
Region Mulera) wandelte die Mission die gebräuchliche Lieferung von Bananenbier in eine
Arbeitsverpflichtung von zwei Tagen pro Woche für zwölf Wochen im Jahr um (Linden 1977:
124). In Reaktion auf den Ausbruch des Krieges und auf die verstärkten kolonialstaatlichen
Forderungen an die Bevölkerung kam es an mehreren Orten, besonders aber im notorisch
unruhigen Nordwesten sowie in Gisaka zu Unruhen, die etwa in Mulera einen anarchisch
milleniaristischen Unterton mit stark xenophobem Einschlag aufwies197 und die zum Teil – wo
zu Nyindo und der paradoxen Stellung Britisch Ruandas oben FN 127). 196 Grundsätzlich wurden Arbeiter, die direkt von den deutschen Behörden angestellt wurden entlohnt, jedenfalls am Anfang des Krieges. Nachdem aber ein Großteil der Arbeitskräfteaufbringung über die Chiefs im Rahmen von Uburetwa organisiert wurde, wurde de facto nur ein geringer Teil des eingesetzten Personals entlohnt. Gleichzeitig war der verstärkte Arbeitskräftebedarf ein Motor der Ausweitung von Zwangsarbeit in der Form von Uburetwa. 197 Ein Mann namens Bicu bzw. im vollen Namen Bicubirenga (‚die Wolken ziehen vorüber’) tauchte im Dezember 1915 in Rwaza auf und präsentierte sich als Bote eines zukünftigen Königs, der die Europäer vertreiben und eine neue Ordnung errichten würde. Bedrohlicher als die anarchische Botschaft der Nyabingi-Medien, die ebenfalls vermehrt Zulauf bekamen, erlangte er zahlreiche Anhänger unter den Tutsi-Chiefs, unter ihnen auch Nyindo, Chief im Kigezi District Ugandas (Vgl. zu Nyindo oben FN 127 und der von Nyindo
183
sie von den Kolonialbehörden als Bedrohung wahrgenommen wurden – mit aller Härte
niedergeschlagen wurden. Bei einer exemplarischen Polizeiaktion im September 1914 in
Gisaka, die von traditionellen Armeen unter Rwidegembya durchgeführt wurde, wurden 226
Männer getötet (Kabagema 1963: 296).
Im Laufe des zweiten Kriegsjahrs, 1915, begannen kongolesische Truppen regelmäßige
Angriffe auf deutsche Stellungen entlang des Rusizi und bei Gisenyi. Mit über 1.000 Mann
regulärer Truppen waren die Belgier den Deutschen bei weitem überlegen, führten zunächst
aber nur kleinere Zermürbungsangriffe, in einer Art Guerilla-Taktik aus (Louis 1963: 213). Die
Folgen der Angriffe aber waren drastisch. Sie führten zu Massenflucht aus den
Grenzregionen um Gisenyi und Ruhengeri, brachten den landwirtschaftlichen Kalender
durcheinander ebenso wie sie den Verlust von Viehbeständen bedeuteten. Die
Destabilisierung des Nordwestens – der Region, in der der Krieg in Ruanda v.a. geführt
wurde - durch die Kampfhandlungen und die parallelen Lebensmittel- und
Arbeitskräfteaufwendungen war der Hauptgrund für eine der schwersten Hungersnöte
Ruandas, ‚Rumanura’198, die 1916 in Bugoyi (der Region um den Grenzposten Gisenyi)
ausbrach, sich sukzessive auf immer mehr Regionen ausweitete und bis 1918 andauerte.
Nach einer Schätzung des Superiors von Nyundo sind ihr allein in der betroffen Region um
Nyundo 20.000-25.000 Personen von einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 100.000
zum Opfer gefallen.
Der Erste Weltkrieg kam nach Ruanda in der Form einer mehrfachen Krise, in der etablierte
Vorstellungen von Ordnung an sich, genauso wie spezifische Herrschaftsstrukturen
erschüttert wurden und die gleichzeitig eine bedrohliche Substistenzkrise beinhaltete.
Die Deutschen Truppen zogen sich noch 1915 vom Posten Gisenyi zur Missionsstation
Nyundo zurück und räumten Ruanda nach dem Beginn der belgischen Invasion im April
1916 - praktisch kampflos, 199 aber nicht ohne drastische Übergriffe auf die Bevölkerung, die
zu Trägerdiensten und Lebensmittelbereitstellung verpflichtet wurde. Die belgischen Truppen
konnten daher ohne größere Probleme die beiden Territorien Ruanda und Urundi besetzen
losgetretenen Revolte, in der ein gewisses antikoloniales bzw. xenophobes Sentiment eine Rolle spielte oben FN 195). In für derartige charismatische Führungspersönlichkeiten tpyischen ambivalenten Weise verfochte Bica eine vehement antieuropäische Ideologie und Symbolik, während er gleichzeitig um die Unterstützung des Deutschen Residenten ad interim, Hauptmann Wintgens, warb und diese auch erhielt. Zweimal griff er, offenbar erst nach dem Abzug der Deutschen, mit Gefolgsleuten belgische Posten an. Die weißen Väter waren allerdings seine Hauptzielscheibe – ein Zeichen für die Unbeliebtheit der weißen Väter infolge der Pro-Tutsi (d.h. Pro-Chief) Haltung der Missionssführung in der Person von Leon Classe (Linden 1977: 123; Rumiya 1992: 75f). 198 Bedeutet‚seine Vorräte erschöpfen’ (Lugan 1976: FN 5). Hungersnöte waren regelmäßig, allerdings meist nur eher von lokaler Bedeutung. Rumanura betraf praktisch das ganze Land. Nur Bwanacyambwe im Osten und der äußerste Süden der beiden Regionen Bwanamukari und Kinyaga, beide im Süden blieben von ihr verschont. 199 D.h., Gegenwehr der Deutschen gab es nur soweit diese für einen geordneten Rückzug notwendig waren.
184
und stießen darüber hinaus, nachdem sie am 11. Mai 1916 Kigali, am 19.Mai Nyanza und
Usumbura am 6.Juni erreicht hatten - und auf Initiative der Offiziere vor Ort - bis nach
Tabora (Tanganyika) vor, das sie am 19.September besetzten (Reyntjens 1985: 35).
Als okkupiertes Gebiet, das eine Besatzungsarmee zu unterstützen und das die Kosten für
den Aufbau einer rudimentären Militärverwaltung zu tragen hatte sowie in seiner Funktion als
Brückenkopf für den Nachschubtransit zu dem von belgischen Truppen besetzten Teil
Tanganyikas wurden von Beginn der belgischen Okkupation an massive Forderungen an die
Bevölkerung gestellt, die zumindest am Anfang der Okkupation in ungeregelter Weise, sprich
mit Gewalt befriedigt wurden. Da die Bevölkerung und mit ihnen die Chiefs, die die
natürlichen Ansprechpartner für Requisitionen darstellten, sich den Forderungen teilweise
entzogen, setzten die Belgier eigene Gewährsleute als Chiefs ein, denen die Organisation
von Sach- und Dienstleistungen für die Besatzungsmacht übertragen wurde (Kabagema
1993: 304ff).
Der Bruch mit der Verwaltungspraxis der Deutschen Kolonialbehörden hinsichtlich deren
Praxis von indirekter Herrschaft – die Belgier versuchten gar nicht, den traditionellen
Herrschaftsapparat in seiner monarchischen Form für ihre eigenen Zwecke zu nutzen - in
der Situation des durch die Besatzung vollzogenen Bruchs und der damit initiierten
Übergangsperiode eine erwartbare Handlung. Selbst die mit der Besatzung geschaffene
Struktur der Militärverwaltung Ruandas – Ruanda wurde in zwei Zonen geteilt, in denen je
zwei Orte zu ‚Hauptorten’ designiert wurden, deren Kommandanten beschlossene
Maßnahmen von (ausgewählten) Chiefs exekutieren ließ – kann als ein typisches
Transitionsphänomen betrachtet werden. Allerdings wurde der status quo ante nie mehr
völlig hergestellt. Mit größeren Personalressourcen, einer langen und intensiven
Kolonialerfahrung im Kongo und einem tiefen Mißtrauen gegenüber Musinga – ein Mißtrauen
das von den Missionaren übernommen wurde - verzichteten die Belgier auf eine
‚Billigversion’ von Herrschaft, wie sie die Deutschen vor ihnen betrieben hatten, aber auch
betreiben konnten – man denke an das langsame Tempo der ‚Inbesitznahme’ Ruandas und
das Klima gegenseitigen Einverständnisses zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Die
Belgier votierten dagegen für ein Herrschaftssystem, das, wenn auch die Monarchie
äußerlich beibehalten bzw. nach ihrer praktischen Ausschaltung 1916 wieder restauriert
worden war, nur mehr die Karikatur eines indirekten Herrschaftssystems trug oder, wie es
ein belgischer Administrateur de Territoire (AT) 1930 unverblümt ausdrückte: [C]’est de la politique directe, la plus ‚directe’ qu’il soit possible d’imaginer. (Rapport annuel
1930, Territoire de Nyanza zitiert nach Rumiya 1992: 228)
185
6.1.2 Nicht nur Besatzung: Militärverwaltung und Transformation von Herrschaft in Ruanda
6.1.2.1 Einrichtung
Die besetzen Gebiete wurden von den belgischen Behörden unabhängig vom Kongo und mit
dem Militärpersonal vor Ort administriert, das einem vom belgischen König ernannten
Hochkommissar (Haut Commissaire Royal) unterstand. Dieser hatte seinen Sitz zuerst in
Kigoma (Tanganyika, am Tanganyikasee) und später in Usumbura (Reyntjens 1985: 39).
Aus praktischen Überlegungen wurde Ruanda in zwei Zonen geteilt, in eine Westzone mit
Gisenyi als Hauptort und eine Ostzone mit Kigali als Sitz des Zonenkommandos. Beide
Zonen waren lose in Verantwortungsgebiete der jeweiligen Militärposten unterteilt, die für die
Exekution von Verwaltungsaufgaben verantwortlich waren und diese in direkter Weise über
die Chiefs – sowohl Hügel-Chiefs als auch die Provinzchiefs bewerkstelligten. Damit wurde
Musinga effektiv umgangen – die Aufteilung des Landes in zwei Zonen war selbst schon ein
Indiz dafür, denn die Kompetenzen des Kommandanten und ‚Residenten’ in Kigali, Scharfes,
betrafen nur die militärische Koordination beider Zonenkommandos (Rumiya 1992: 39;
Reyntjens 1985: 39). Die Umgehung des Hofes bedeutete nicht nur die Schwächung
Musingas vis-à-vis der Kolonialmacht, sondern notwendigerweise auch einen Verlust von
Stärke und Macht gegenüber den Chiefs, die sich zunehmend autonomer gerierten.
Bezeichnend für den status quo post und Ausdruck des zwischen Musinga und den
Kolonialbehörden entstehenden Konflikts sowie für die Art und Weise, wie bestimmte Chiefs
aus dieser Situation Kredit schlagen konnten, sind die mehrmaligen Versuche der
Kolonialbehörden, Musinga krimineller Vergehen zu bezichtigen, die zweimal beinahe zu
einer Anklage und einmal zu einer kurzfristigen Inhaftierung Musingas führten. Nicht nur war
dies ein Ausdruck des starken Mißtrauens der neuen Kolonialadministration gegenüber dem
ruandesischen Mwami, der unter anderem deutscher Sympathien verdächtigt wurde,
während er zu anderen Gelegenheiten in Verdacht kam, von den Briten in der Person des
umtriebigen District Commissioners von Kigezi, A.D. Phillips gegen die Belgier mobilisiert zu
werden (Rumiya 1992: 97).
Der erste derartige Konflikt kam im Zuge der Entwaffnung der von den Deutschen
ausgebildeten Hilfstruppen, der Indugaruga200. Ein weiterer, als die Belgier Musinga aufgrund
einer Anzeige eines Notablen in Bugoyi verdächtigten, Waffen nicht an die Belgier
200 Rwagataraka, der Sohn Rwidegembyas und der an dessen Statt zum 1911 Provinzchief von Impara (Kinyaga) avancierte, zunächst, um seinen Vater zu vertreten, hatte zusammen mit einem seiner Klienten, Gisazi, Chief in Bugarama (Kinyaga), das Kommando über die Truppen übertragen bekommen. Zunächst hatten sie sich dem deutschen Rückzug angeschlossen. Nach der Konsolidierung der belgischen Militärverwaltung kehrte Rwagataraka nach Ruanda zurück und bat um die Wiedereinsetzung als Provinzchief von Kinyaga, was ihm auch gewährt wurde (C.Newbury 1988: 128f).
186
ausgeliefert, sondern große Bestände heimlich ins benachbarte Ausland (Karagwe,
Tanganyika) bzw. zu den Gehöften von Klienten des Hofs innerhalb Ruandas verschoben zu
haben, um Waffenlager anzulegen (Ebenda: 44f).
Bis zu einem gewissen Grad versuchte Musinga erfolgreich, den durch die
Besatzungssituation bedingten Niedergang der etablierten Ordnung für seine Zwecke
auszunutzen. Als im September 1916 zwei Askari nahe der Missionsstation Save ermordet
wurden, lieferte er fünf (daran offensichtlich unschuldige) Männer aus, um die
Besatzungsmacht milde zu stimmen. Gleichfalls war er (und unabhängig von ihm, die
Missionare) wesentlich daran beteiligt, daß Rwidegembya, einer der gewichtigsten Bega-
Führer, im Dezember 1916 von den belgischen Behörden mit der Begründung in Haft
genommen wurde, daß er der Drahtzieher einer Revolte gewesen sei, die nach Gerüchten
im Oktober 1916 durchgeführt hätte werden sollen (Rumiya 1992: 41)201. Die belgische
Kolonialverwaltung sah die Inhaftierung als eine Machtdemonstration, mit deren Hilfe man
den allerorts kursierenden Gerüchten, ein Aufstand gegen die Belgier stünde unmittelbar
bevor, effektiv entgegenzuwirken hoffte (Vgl. Linden 1977: 126; C.Newbury 1988: 129).
Gleichzeitig unterstreicht das drastische und unbeholfene Agieren der Kolonialbehörden ihre
Hilflosigkeit gegenüber der krisenhaften Situation im Lande, die durch das Fehlen
kolonialstaatlicher Informationskanäle noch verschärft wurde. Möglicherweise in Reaktion
auf die von Musinga betriebenen Inhaftierung Rwidegembyas wurden Gerüchte in Umlauf
gesetzt, Musinga hätte nach wie vor Kontakt zu den Belgiern. Rwagataraka, Provinzchief in
Impara (Kinyaga) und Sohn Rwidegembyas, der von manchen als die Quelle des Gerüchts
angesehen wurde, bestätigte die Anklage, wohl um im Gegenzug seinen Vater frei zu
bekommen und seinen Posten als Provinzchief offiziell wieder antreten zu können.202
Aufgrund der Anschuldigungen autorisierte der Commissaire Royale in Kigoma die
Inhaftierung Musingas und die Erhebung einer Anklage wegen Spionage. Allerdings mußte
noch vor Verfahrensbeginn vor dem zuständigen Militärgericht – ein Schuldspruch hätte die
Absetzung Musingas und, wenn die Höchststrafe ausgesprochen worden wäre, seinen Tod
bedeutet – aus Mangel an Beweisen wieder fallen gelassen werden. Stärker als die
201 Neben Rwidegembya wurden die beiden Chiefs Kayondo und Rwabusisi ebenfalls in Haft genommen. Alle drei stammten aus der Lineage der Königinmutter (C.Newbury 1988: 130). 202 Vgl. zu seiner Wiedereinsetzung als Provinzchief oben FN 200. Kurz nach seiner Wiedereinsetzung als Provinzchief erhoben sich mehrere der wenigen Chiefs in Impara, die noch aus der Region Kinyaga stammten (die meisten anderen stammten aus dem Zentrum), gegen Rwagataraka, in der Hoffnung, die Belgier würden sie wegen der Kollaboration Rwagatarakas mit den Deutschen unterstützen. Gleichzeitig berücksichtigten sie die offensichtlich angeschlagene Position Rwidegembyas (Rwagatarakas Vater) und der abnehmenden Macht Musingas und hofften, daß sie, indem sie sich direkt dem König unterstellten, ihre verloren gegangene Autonomie wiederherstellen können würden. Die Revolte, bekannt geworden als ‚Ibaba Revolte’ hatte nur temporären Erfolg – Rwagataraka verfügte schlicht und einfach über die besseren Kontakte. In Reaktion auf die Revolte enthob Rwagataraka eine Reihe von Chiefs und statt mehr Autonomie erlebte die Region eine stärkere Integration ins Zentrum, während Rwagatarak sich einer gefestigten Position erfreuen konnte (Vgl. C.Newbury 1988: 130f).
187
juristische Dürftigkeit der Beweise wogen die politischen Folgen der ‚Yenga-Yenga’-Affäre.
Traditionelle Abgaben an den Hof (ikoro) wurden von kleineren Provinzchiefs
zurückgehalten, während die traditionelle Herrschaftselite von den Belgiern als
Herrschaftsklasse und Herrschaftsstruktur weitgehend umgangen wurde. Statt dessen
verwaltete die Administration Ruanda direkt mit Hilfe einzelner Chiefs, die den Forderungen
der Kolonialmacht nachkamen, während andere, die dies nicht taten, mit schwerwiegenden
Sanktionen (Schläge, Demütigungen usw.) zu rechnen hatten. Insgesamt waren die Chiefs
für die Militärverwaltung nur soweit interessant, soweit sie für die Zwecke der Verwaltung
instrumentalisiert werden konnten. Die Verwaltung hatte dabei selbst einen eher ziellosen
Charakter und beschränkte sich zunächst darauf, die Präsenz der Europäer in Ruanda zu
gewährleisten, die belgischen Operationen in Tanganyika zu unterstützen und für ein
Mindestmaß an Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Im Anschluß an die Yenga-Yenga Affäre
kam Musinga ein weiteres Mal in Verdacht, sich krimineller Handlungen schuldig gemacht zu
haben (er soll versucht haben, europäische Offiziere vergiften zu lassen). Auch diese
Anschuldigung konnte mangels an Beweisen nicht vor Gericht weiterverfolgt werden, zudem
bevorzugte das Militärkommando in Gitega (Burundi) unter General Malfeyt eine politische
Lösung, die in der Form einer Reorganisation der belgischen Kolonialherrschaft und der
Restauration des Residentursystems 1917 materialisierte (Linden 1977: 127; C.Newbury
1988: 130; Rumiya 1992: 45ff).
6.1.2.2 Konsolidierung des Staates: die Wiederrichtung der Residentur
Mit einer Verordnung im April 1917 stellte der zum königlichen Hochkommissar ernannte
General Malfeyt das Residentursystem, so wie es in der deutschen Periode existiert hatte,
und gleichzeitig die Verwaltungseinheit Ruandas innerhalb seiner Vorkriegsgrenzen wieder
her. Die Verordnung blieb praktisch bis 1943 die rechtliche Grundlage von Herrschaft in
Ruanda. Sie sah unter anderem vor, daß die deutsche Verwaltungstradition in der
Verwaltung Ruandas, also auch das öffentliche und private Gewohnheitsrecht, so sie es von
den Deutschen praktiziert worden ist und soweit nicht ausdrücklich anderweitig durch
Verordnung bzw. Rundschreiben des Hochkommissars bzw. des Residenten geregelt, in
vollem Umfang als Organisationsgrundlage der Verwaltung in Ruanda zu gelten habe. Die so
gesuchte Kontinuität mit dem deutschen Verwaltungspraktiken hatte allerdings keinerlei
Auswirkungen auf die tatsächlichen Herrschafts- und Rechtspraxis in den besetzen
Gebieten, zumal das belgische Militärpersonal über nur ungenügende Rechtskenntnisse
verfügte, ganz zu schweigen von einer intimeren Kenntnis des deutschen Verwaltungs- und
Kolonialrechts (Reyntjens 1985: 37 und 39ff).
Die Verordnung trat im Mai 1917 in Kraft, und damit die neue Untergliederung der Residentur
in zunächst drei Territorien, deren Zahl entsprechend der Stärke der belgischen Präsenz
188
1921 auf vier, und Ende der Zwanziger Jahre, als ihre Grenzen erstmals genauer definiert
wurden, auf 9 bzw. 10 anwuchsen. Diese zunächst ‚Secteur’ genannten Einheiten, die im
Laufe der Zwanziger zu ‚Territoires’ umbenannt wurden, wurden von einem ‚Délégué’ (des
Residenten), der später mit dem Titel ‚Administrateur de Territoire’ bezeichnet wurde,
vorgestanden. Diesem waren als administratives Personal sogenannte ‚Agents Territoriaux’
beigestellt.
Abbildung 11: Organisation der europäischen Verwaltung in Ruanda
Der königliche Hochkommissar vereinigte exekutive und legislative Funktionen, ebenso wie
der Resident diese Funktionen als abgeleitete Autorität ausübte und zusätzlich judikative
Aufgaben vollzog. Praktisch war damit das Kolonialregime ein monokratisch organisiertes
Verwaltungsregime, und der von ihm konstituierte Staat ein (autoritärer und paternalistischer)
Verwaltungsstaat, in der die indigenen Organe im Grunde nur als Vollzugsorgane der
Direktiven der Verwaltung auftraten und der Volkswille selbst in einem abgeschwächten (z.B.
akklamativen) Sinn keine Rolle spielte (Reyntjens 1985: 53ff)203.
Das Verhältnis der Residentur zum ‚Sultan’ – wie die Position des Mwami von der
Verordnung gemäß der deutschen Tradition der Nomenklatur in den ostafrikanischen 203 Eine kuriose Ausnahme bildet das Ende 1918 und Anfang 1919 durchgeführte sogenannte ‚Referendum’. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Einholung von Unterstützungserklärungen für die belgische Präsenz bei insgesamt etwa 300 Chiefs. Das Ergebnis der ‚Umfrage’ wurde bei den Friedensverträgen in Versailles als ‚Wille der Bevölkerung’ präsentiert (Vgl. Reyntjens 1985: 61; Rumiya 1992: 51ff). Teilweise deuten die Aussagen auf die Manipulation der Schreiber hin, teilweise geben sie möglicherweise allerdings auch gut den pragmatischen Umgang ruandesischer Chiefs mit der neuen Situation wieder, wie das folgende Zitat nahelegt: „ Pourquoi aimez-vous les Belges? - Parce que les Allemands nous ont abandonnés et les Blancs de Bulamatari
Belgischer König (als Legislativorgan) ; Ministre des Colonies (Exekutive ; Judikative), Conseil Colonial (parlamentarisches Beratungsorgan) Haut Commissaire Royale ( ab 1925 : Vice-Gouverneur Général, gleichzeitig Gouverneur du Ruanda-Urundi)
Résident (ab 1926 rechtlich einem Commissaire kongolesischer Distrikte gleichgestellt) Délégué, Administrateur Territorial (AT)
189
Besitzungen genannt wurde – blieb dagegen relativ diffus definiert. Die Verordnung bleibt
aber eindeutig hinsichtlich dessen, wer als die eigentliche legitime Quelle von
Herrschaft(srechten) anzusehen sei. Diesbezüglich geht sie in Klarheit über vergleichbare
Texte aus der deutschen Periode deutlich hinaus (vgl. z.B. den oben zitierten
Verfassungsentwurf p.171f). Sie spiegelt damit zwei miteinanderverwobenen Entwicklungen
wieder, einerseits die Konsolidierung des Kolonialismus und des kolonialen Systems, welche
die diversen Protektoratsformeln (Schutzverträge usw.), aufgrund derer Souveränitätsrechte
abgetreten wurden, zunehmend überflüssig machten. Zum anderen reflektiert die
Verordnung die mit ersterem einhergehende Entwicklung völkerrechtlicher Normen und des
staats- und völkerrechtlichen Denkens überhaupt, durch die ‚Staatlichkeit’ zunehmend
präziser definiert wurde, während Souveränität zu dem fundamentalen Kriterium von Staat
und staatlicher Herrschaft erhoben wurde. Mit dem Wichtigerwerden des Konzepts von
Souveränität und Souveränitätsansprüchen sowohl in der politischen Praxis als auch in der
Theorie wurde zugleich das Monopol des Staates auf Souveränitätsrechte festgeschrieben,
das ‚Teilen’ von Souveränität bzw. die Übertragung von Souveränitätsrechten auf
substaatliche Akteure (‚Company-Kolonialismus’) sukzessive ausschloß und entsprechende
Herrschaftsarrangements obsolet werden ließ.204 Les sultans exercent sous la direction du Résident, leurs attributions politiques et judiciaires
dans la mesure et de la manière fixées par la coutume indigène et les instructions du
Commissaire royal. (Ordonnance N.2/5, 6 Avril 1917 zitiert nach Reyntjens 1985 : 59)
Entsprechend entzog die Verordnung – wie dies bereits unter der deutschen
Kolonialverwaltung praktiziert wurde – Musinga eine der symbolisch stärksten Vorrechte des
durch den Mwami repräsentierten Staates: das Recht über Leben und Tod (Reyntjens 1985:
79). In weiteren, auf der Verordnung aufbauenden Erlässen und Maßnahmen wurde das
dahinter stehende Ziel – die Bürokratisierung der indigenen Herrschaftsstrukturen und ihre
Unterordnung unter die eigentliche Quelle von Herrschaft, der europäischen
Kolonialverwaltung – konsequent anvisiert und spätestens mit der Absetzung Musingas auch
realisiert.
Während das primäre Staats- und Verwaltungsziel immer noch in Begriffen von ‚Recht und
Ordnung’ gesehen wurde205, ermöglichte die Einrichtung der Residentur und der Ernennung
des Majors De Clercks206 zum ersten belgischen (aber immer noch militärischen) Residenten
sont arrivés après eux.“ (zitiert nach Rumiya ebenda : 53). 204 Vgl. für eine organischen Betrachtung von Staatsbildung innerhalb des jeweiligen internationalen Regimes bzw. innerhalb der jeweiligen historischen Staatssysteme Herbst 2000 passim. 205 „Le Haut Commissaire royal s’efforça avant tout d’assurer la paix et la ordre public en maintenant l’équilibre qui existait entre les groupements indigènes. “ (Resident E.Van den Eede, Note sur la situation politique actuelle au Ruanda, Bruxelles, 26.7.1921 zitiert nach Reyntjens 1985: 40) 206 auch Declercq, entsprechend flämischer (nationalistischer?) bzw. französisch/ wallonischer Schreibweise.
190
Ruandas die Verfolgung ziviler Verwaltungsziele im engeren Sinn und dies in einem
zunehmend größeren Ausmaß. Mitte des Jahres 1917 begann die Residentur, Maßnahmen
zur Linderung der Hungersnot zu ergreifen, deren Auswirkungen – Hunger, Seuchen,
Wiederauftreten von Sklavenhandel, Arbeitskräftemangel usw. – das Leben in Ruanda
zunehmend dramatischer gestaltete (Linden 1977: 128). Sie ergänzte damit die
Anstrengungen der Missionare (derer sich die Administration im übrigen bei der Organisation
der Hilfsaktionen bedienten). Diese hatten schon relativ früh damit begonnen, Saatgut an die
betroffene207 Bevölkerung auszugeben und Notküchen zu organisieren.
Die wichtigsten administrativen Konsequenzen der Hungersnot bestanden jedoch in den
Maßnahmen, die die Verwaltung ergriff, um die Subsistenzsicherheit der Bevölkerung zu
erhöhen. Ein Teil der Maßnahmen zielte auf die Beschränkung von Weiderechten und der
Einschränkung von Viehzucht zugunsten einer Ausweitung der landwirtschaftlich genutzten
Flächen. Dies beinhaltete die Modifizierung des Privilegs von Tutsi (bzw. Viehhirten im
Allgemeinen), Vieh auf dem Ackerland von Bauern grasen zu lassen208 sowie in der
Aufhebung des Weidemonopols, das die Tutsi (qua Hirten) in den für den Anbau von
Nutzpflanzen genützten, sumpfigen Talsohlen zwischen den Hügeln traditionell besaßen. Die
Talsohlen sollten künftig verstärkt für den Anbau von Feldfrüchten – insbesondere für den
Anbau von Süßkartoffeln und Maniok, das von den Belgiern zu diesem Zwecke in Ruanda
eingeführt wurde - genutzt werden und wurde auch - 1924 zwangsweise vorgeschrieben
(Dorsey 1983: 49ff; Lugan 1977: 355f). Die zweite, im Zusammenhang mit der Hungersnot
getroffene Maßnahme, betraf Uburetwa. Viel stärker als die Deutsche Kolonialmacht vor
ihnen, nahmen die Belgier eine extrem ambivalente Haltung gegenüber den traditionellen
Herrschaftsträgern, den Tutsi, ein, die in der Frühzeit der belgischen Verwaltung tendenziell
in die Richtung eines verallgemeinerten Mißtrauens gegen die ‚rückwärtsgewandten
Traditionalisten’ ging und die Kolonialmacht darin bestärkte, möglichst schnell ein europäisch
ausgebildetes Kader an indigenem Verwaltungspersonal zu produzieren. Major De Clerck
war bei seinem Amtsantritt als Resident mit dem erklärten Ziel angetreten, die Mißbräuche
der Chiefs einzudämmen, von denen die den Belgiern zu Ohren gekommenen Mißbräuche
207 Christen wurden freilich bei der Inanspruchnahme von Nahrungsmittelhilfe gegenüber Andersgläubigen bevorzugt (Lugan 1976: 355 und FN 44 ). 208 Damit gemeint ist das Recht von Viehhaltern (also nicht notwendigerweise Tutsi), ihre Herden nach der Sorghum Ernte (eine Hirseart), auf den Stoppeln weiden zu lassen. (Dieses Recht hieß isigati). Im Allgemeinen war es üblich, Vieh spezialisierten Hirten zur Betreuung zu übergeben, die entweder dafür entlohnt wurden oder denen gewisse Nutzungsrechte über das Vieh abgetreten wurde. Die Herden bestanden daher aus Rindern verschiedener Besitzer, darunter auch viele viehbesitzende Hutu. In bezug auf das Grasen von Vieh kam es häufig zu Konflikten, z.B. wenn das Vieh nicht auf den abgeernteten Sorghumfeldern, sondern darüber hinaus auf anderweitig genutzte Flächen graste und unabhängig davon, ob sich Rinder der Besitzer der Felder in der betreffenden Herde befanden. Nach der Hungersnot Rumanura mußte der Besitzer des Sorghumfeldes theoretisch um seine Einwilligung gebeten werden (Gravel 1968: 100). Das entsprechende Rundschreiben des Residenten von 1917 bezog sich allerdings explizit auf ‚Tutsi’ bzw. ‚Hutu’ (Vgl. den Text des Rundschreibens, der in Harroy 1984: 88 auszugsweise wiedergegeben wird
191
bei Uburetwa (Arbeitsverpflichtungen von 3 von 5 Tagen usw.) ein prominentes Beispiel
waren (Dorsey 1983: 48). Uburetwa, also die Verpflichtung für einen Chief zu arbeiten,
wurde vor diesem Hintergrund administrativ auf 2 von fünf Tagen (der traditionellen
ruandesischen Woche) und auf insgesamt 146 Tagen im Jahr beschränkt (Lugan 1976: 356).
Statt allerdings eine Erleichterung für die bäuerliche Masse der Bevölkerung zu bringen,
ermöglichte die Regelung die Verallgemeinerung von Uburetwa in Regionen, in denen sie
bislang nicht oder kaum eingefordert wurde. Anstatt ‚traditionelle’ Arbeitsverpflichtungen zu
beschränken, brachte die Kolonialverwaltung diese zu einer systematischeren Anwendung
und transformierte sie zu einer individuellen Verpflichtung gegenüber dem Chief bzw.
Patron.209
Tabelle 7: Belgische Residenten und Vize-Gouverneure 1917-1962
Gouverneur Ruanda-Urundi Resident Justin.P.Malfeyt (1916-1919) J-F. De Clerck (1917-
1921)
E.Van den Eede (1921-
1923)
G. Mortehan (1923-1925,
1925-1929)1
Alfred.F.Marzorati (1920-1929)
(?) Keyser (1925)
Louis J.Postiaux (Vize-Gouverneur Ruanda-Urundis und amtierender Gouverneur
Ruandas/ Vize-Gouverneur des Kongo 1929-1930
Charles H. Voisin (1930-32)
H.Wilmin (1929)1
Eugène J. Jungers (1932-1946) O.Coubeau (1929-1932)1
M.Simon (1932-1940) Léon A.Pétillon (1946-1952)
( ?) Graul ; Paradis 1
Alfred M. Boúúaert (1952-55) G.Sandrart (1944 ?-51 )
M.Dessaint (1951-59) Jean-Paul Harroy (1955-1962)
G.Logiest (1959-61) 1 Häufige Ämterrotation in kurzer Zeit
Quellen : Dorsey 1994 (Namenseinträge und Chronologie) ; Harroy 1984 : 81f)
6.1.2.3 Formalisierung des Staates und seine Modernisierung
Dieser Abschnitt beschreibt die Formalisierung der belgischen Herrschaft, die 1919 mit dem
Milner-Orts-Abkommen eingeläutet und 1924, als das belgische Parlament das
Völkerbundmandat über Ruanda-Urundi ratifizierte, abgeschlossen wurde. Mit der
Formalisierung der Herrschaft ging ihre Systematisierung einher, die sich auf der Ebene der
‚traditionellen’ Strukturen in einer permanenten Reformbewegung äußerte. In ihrem Verlauf 209 Vgl. auch die Diskussion von Uburetwa unten pp.208ff
192
wurden der Status und die Rechte der vorgefundenen Verwaltungsstrukturen geklärt und
der Grundstein für weitergehende Verwaltungs- und Entwicklungspläne gesetzt.
6.1.2.3.1 Der internationale Status Ruandas
Die belgische Besatzung Ruandas war, solange keine Friedensverträge geschlossen
wurden, vorläufigen Charakters und beruhte auf informeller Übereinkunft der Alliierten (zu
denen Belgien nicht zählte). Zudem war das belgische Interesse für Ruanda ein indirektes:
Ruanda-Urundi sollte als Faustpfand bei den Verhandlungen dienen und über den Weg einer
größeren territorialen Umstrukturierungen zwischen Belgien, Großbritannien und Portugal
gegen Teile der portugiesischen Kolonie Angola (der Enklave Cabinda) ausgetauscht
werden und so dem Kongo einen Zugang zum Meer verschaffen. Die diesbezüglichen Pläne
zerschlugen sich allerdings recht bald, obwohl die Belgier bis zuletzt mit einem für sie
positiven Ausgang der Verhandlungen rechneten. Belgien war zudem von den eigentlichen
Verhandlungen über die Zukunft der deutschen Kolonialbesitzungen ausgeschlossen und
hatte zudem als einer der kleineren Staaten in Europa auch kaum indirekte Mittel in der
Hand, um die Richtung der Verhandlung mitzubestimmen. Es war daher gezwungen, das für
Belgien eher ungünstige Ergebnis der Verhandlungen, die zwischen Lord Milner, dem
britischen Colonial Secretary und Pierre Orts, dem belgischen Sondergesandten für die
Verhandlungen der ‚Zehn’ geführt worden waren, im Mai 1919 zu akzeptieren. Gemäß dem
‚Milner-Orts’ Abkommen erhielt Belgien per 30. Mai 1919 formell die Herrschaftsrechte über
Ruanda, die im August 1919 auf Beschluß der Alliierten als Übertragung eines Mandat B im
Rahmen des mit den Pariser Vororteverträgen geschaffene Mandatssystem modifiziert
wurde, mußte aber den östlichen Teil Ruandas (hauptsächlich die Region Gisaka) an
Großbritannien abgeben, das die in Frage stehenden Gebiete aufgrund der geplanten Kap-
Kairo Bahnlinie (die bekanntlich nie realisiert wurde) für sich reklamierte (Vgl. Louis 1963:
226ff ). Die Abtretung Giskas wurden von weiten Teilen des kolonialen Establishments –
Kolonialfunktionäre und Missionare – als unbillig und in seinen möglichen Auswirkungen als
Bedrohung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit empfunden und war sukzessive
Gegenstand massiver, auch massenmedialer Kampagnen.210
210 Einer der wichtigsten Protagonisten der medialen Kampagne war der belgische sozialistische Abgeordnete Mathieu. In einem Interview mit einer kongolesischen Zeitschrift verteidigte er die territoriale Einheit Ruandas als fundamental für das Selbstverständnis der herrschenden Gruppe, der ‚Tutsi’ und für deren Kohäsion als Gruppe sowie ihrer Funktion als Verwaltungselite Ruandas. Durch die Zession würde die Gruppe selbst massiv gefährdet werden und zum anderen die Beziehungen der Tutsi zu den Europäern leiden. Ähnliche Argumente wurden übrigens auch von anderer Seite (z.B. von Seiten Leon Classe, der 1920-22 nicht zuletzt aufgrund des Wiederaufbrechens alter Konfliktlinien unter den Missionaren in Algiers weilte und von dort aus zugunsten der Erhaltung der territorialen Einheit Ruandas schrieb) vorgebracht. Ein Auszug aus dem Interview Mathieus unterstreicht den tendenziell rassistischen Charakter des Arguments: „Les ‚bahutu’ sont une race très primitive, sans culture, dont l’intelligence est encore en sommeil. Impossible pour nous d’agir sur eux directement, et de les appeler à la lumière. Il nous faut passer par l’intermédiaire de leurs maîtres. C’est ainsi seulement que nous
193
Gisaka wurde jedenfalls im März 1922 an Großbritannien zediert211. Im Rahmen der
Integration des Mandatssystems in das Völkerbundsystem wurde die Abtretung in den
Gremien des Völkerbunds jedoch neu aufgerollt. Der Wechsel an der Spitze des zuständigen
Colonial Office in London ermöglichte schließlich die Neuverhandlung der Angelegenheit und
der anschließenden Rückgabe der fraglichen Gebiete an Belgien per Jahresende 1923
(Rumiya 1992: 126ff).
Tabelle 8: Rechtlicher Status Ruandas, 1917-1925
Jahr Kolonialer Status Ruandas internationaler Status
1917 Ordinnance-Loi n°2/5
30.5.1919 Formelle Übertragung der
Herrschaftsrechte über Ruanda
(Milner-Orts-Abkommen)
30.6.1919 Verzicht Deutschlands auf die
Kolonien im Rahmen der Versailler
Verträge ;
21.8.1919 Übertragung des Mandats über
Ruanda (Mandat B)
31.8.1923 Bestätigung des Mandats durch die
Versammlung des Völkerbundes
20.10.1924 (belgisches) Gesetz über die
Annahme des Mandats
21.8.1925 Gesetz über die administrative
Vereinigung Ruanda-Urundis mit
dem Kongo, von dem es ein Vize-
Gouvernement darstellt;
4.10.1943 Ordonnance Legislative n°347
‚Verfassung’, Auflistung der
Hierarchie der Verwaltung und
Auflistung der Kompetenzen der
einzelnen Verwaltungsorgane;
Charakter der Verordnung: Ex-post
Kodifizierung
Quelle: Bourgeois 1957: 157; Maquet/d’Hertefelt 1959: 12ff
6.1.2.3.2 Die Konturen des Staates, 1919-1924
6.1.2.3.2.1 Das Problem indirekte Herrschaft und der Legitimität
les ferons progresser.“ (zitiert nach Rumiya 1992 : 105). 211 Mit der Zession wurden die kolonialen Grenzen – und nicht nur die östlichen - zunehmend dichter. Das kurze britische Interregnum brachte einige radikale Reformen: Uburetwa als generalisierte Praxis wurde verboten, Musinga loyale Chiefs abgesetzt oder marginalisiert, Favoriten des Mwami bei der Postenvergabe übergangen, ein ehemaliger Katechist aus der Herrscherdynastie Gisakas als Chief eingesetzt u.a.m. (Vgl. Linden 1977: 152f).
194
Eine der Hauptargumente der Belgier gegen die Zession bestand darin, auf ihre negativen
Rückwirkungen auf das traditionelle Herrschaftssystem, repräsentiert durch Musinga und die
Chiefs, hinzuweisen. Die Haltung der Kolonialadministration blieb diesbezüglich allerdings
stets ambivalent: Die Aussicht, Musinga aus ‚Sicherheitsgründen’ absetzen zu können stellte
für manchen Administrator durchaus eine attraktive Option dar. Dies spiegelte die
zunehmende Kluft zwischen der Rhetorik indirekter Herrschaft und der Herrschaftspraxis
wieder. In dem Maße, in dem der koloniale Staat konsolidiert wurde und seine Aufgaben
über die eines rudimentären Ordnungsstaates hinauszuwachsen begannen, wurde die
Existenz einer sich traditionell legitimierenden Monarchie, mit einem wider- und eigenwilligen
Mwami an seiner Spitze zu einem Anachronismus und einem Hindernis für die
Transformation indigener Autoritätsstrukturen in eine rational organisierte Bürokratie nach
europäischem Vorbild. Die belgische Kolonialverwaltung reagierte darauf zum einen mit
periodisch wiederkehrenden Überlegungen, Musinga abzusetzen und durch eine andere
Person zu ersetzen oder das Amt des Mwami überhaupt abzuschaffen. Zum anderen
begann sie zunehmend, ihre eigenen Vorstellungen über die Rolle des Hofes und der Chiefs
durchzusetzen. Die Kluft zwischen Rhetorik und Praxis ‚indirekter’ Herrschaft reflektierte
nicht nur einen Widerspruch, welcher der Ideologie und Praxis indirekter Herrschaft inhärent
war, sondern repräsentierte einen fundamentalen Widerspruch von kolonialer Herrschaft (in
Afrika) an sich: den Widerspruch zwischen Bewahrung und Veränderung, der sich in bezug
auf die vorgefundenen politischen Strukturen als Widerspruch zwischen der Bewahrung und
Instrumentalisierung der den ‚traditionellen’ Institutionen zugesprochenen ‚traditionellen’
Legitimität einerseits und der Ausübung einer weitgehenden Kontrolle über sie und der
Beschränkung ihrer Handlungsautonomie andererseits, äußerte. Die koloniale
Herrschaftstheorie sah Legitimität des ‚traditionellen’ Regimes essentiell in moralischen
Begriffen und sah sie als ein Attribut, die den Chiefs als Personen sowie qua Chief zukam.
Da die Legitimität der ‚traditionellen’ Autoritäten so als Teil der (vorgefundenen) moralischen
Ordnung gedacht wurde, trat sie in der kolonialen Theorie als quasi außerpolitische
Ressource auf, derer sich der Kolonialstaat bedienen könne und die durch die Veränderung
der Rolle der ‚traditionellen’ Autoritäten nicht beschädigt würde. Im Gegenteil, die
‚traditionelle’ Legitimität der Chiefs wurde als Kapital angesehen, mit dessen Hilfe
weitreichende Reformen in der Gesellschaft als ganze durchgesetzt werden konnten.
Pierre Ryckmans, der umtriebige belgische Kolonialfunktionär, 1921 Commissaire Royal ad
interim, 1924 zum ersten zivilen Residenten Burundis ernannt, später der Präsident der
kongolesischen siedlerkolonialen Farmervereinigung Union Agricole des Regions du Kivu
(UNAKI) und von 1934 bis 1946 Gouverneur-Général des Kongo, als der er wesentlich die
Landwirtschaftspolitik in Ruanda mitbestimmte, hatte aus der bitteren Erfahrung des Kongo
195
heraus, wo die Absetzung ‚traditioneller’ Herrschaftsträger in weiten Teilen des Landes zu
einer tiefen Herrschaftskrise geführt hatte, vehement die Nutzung der ‚traditionellen’
Legitimität der vorgefundenen Herrschaftsträger als notwendige Bedingung für die
Gewährleistung der Regierbarkeit und damit für die Ausübung von (rationaler) Herrschaft
überhaupt eingefordert. Ohne die zur Kenntnisnahme und Instrumentalisierung der
‚traditionellen’ Legitimität der Chiefs würde das fundamentale koloniale Problem von
Government und Governance ungelöst bleiben (Rapport sur l’Administration Belge au
Ruanda-Urundi 1925, zitiert in Lemarchand 1970: 63).
Wesentlich beeinflußt von der Situation in Burundi, wo Chiefs und König zwei stark
konkurrierende Säulen der (vorkolonialen) Herrschaftsarchitektur darstellten und der Mwami
als die eigentliche Quelle von Legitimität erschien212, betonte Ryckmans zudem die
Unabdingbarkeit des Mwami für die Stabilität des kolonialen Herrschaftssystems. Der
Mwami, so Ryckmans in einem häufig zitierten Grundsatzartikel über die belgische
Herrschaftspraxis in Ruanda und Burundi213, sei „die vertraute Kulisse, die es uns erlaubt,
auf den Nebenkulissen zu handeln, ohne die Massen zu alarmieren.“ (meine Übersetzung,
A.K., zitiert nach Lemarchand 1970: 66). Und weiter: „Legitimität ist mächtiger als Gewalt.
Das einzige reibungslos funktionierende Organ zwischen uns und der Bevölkerung sind die
legitimen Chiefs. Sie allein, weil sie über Legitimität verfügen, sind fähig, die Akzeptanz für
notwendige Innovationen hervorzurufen.“ (Ryckmans ebenda, zitiert nach Dorsey 1983: 45)
6.1.2.3.2.2 Die Lösung des Problems: Reform der indigenen Herrschaftsstrukturen und Verrechtlichung der Herrschafts- und Klientelbeziehungen
Der Hof wehrte sich allerdings, so gut es ging, gegen die Versuche der belgischen
Kolonialverwaltung, die traditionellen Strukturen zu modifizieren. Gleichzeitig sah er sich
aufgrund der kolonialen Präsenz und der zunehmenden kolonialen Interventionen mit einem
stetigen Schwinden seines Einflusses besonders unter der wachsenden Zahl von Chiefs
konfrontiert, die ein gutes Verhältnis zu den Europäern (meist in der Person des
Administrateur de Territoire) vorweisen konnten und die Europäer als die mächtigere Quelle
von Patronage erkannten214, während gleichzeitig die europäischen Funktionäre des
Kolonialstaats angesichts der stagnierenden ökonomischen Lage und dem Nicht-Erreichen
der sich selber gesteckten Ziele, den Hof und Musinga als relevante politische Institution, mit
212 Vgl. zur wahrgenommenen Legitimität des Mwami in Burundi die Ausführungen zu Burundi oben pp.121f sowie Lemarchand 1970: 29ff 213 Pierre Ryckmans (1925): Le problème politique au Ruanda-Urundi, in Congo (1), pp.407-413, p.410f 214 Anfang der Zwanziger Jahre hatten sich die Chiefs am Hof in zwei Fraktionen gespalten. Die ‚Inshongore’ („Beschwerdeführer“), welche ihre guten Beziehungen zu den Belgiern als Quelle von Patronage und Macht benutzten einerseits, und die vom Nyiginya-Führer und letztem effektivem Heerführer Ruandas Ntulo so genannte Abayoboke – „diejenigen, welche nur einen Weg kennen“ – und die dem Mwami loyal verbunden blieben (Linden 1977: 157).
196
der so etwas wie ‚Entwicklung’ erreicht werden könne, zunehmend umgingen (Dorsey 1983:
50). Tatsächlich war der Erfolg bei der Implementierung von Maßnahmen gering und
abhängig von dem Ausmaß an Kontrolle, die von Seiten der Gebietsverwalter ausgeübt
werden konnte. Zum Teil blieb ihre Umsetzung überhaupt zunächst auf die Bewohner von
Missionsareal beschränkt. Der Jahresbericht der belgischen Verwaltung von 1922 (Rapport
de l’Administration belge215, 1922) konstatiert die Stagnation, die mit der Minimalversion von
Kolonialherrschaft à la Deutschland einherging, und nimmt in seiner Kritik die aus der
unbefriedigenden Situation gezogenen Lehren (verstärkte Kontrolle der Chiefs durch den
Kolonialstaat, Homogenisierung und Bürokratisierung der Herrschaftsstrukturen) praktisch
schon vorweg: Le protectorat tel qu’il fut exercé les premières années de l’occupation européenne était
synonyme de stagnation. Il n’était d’ailleurs qu’un stade ; nos prédécesseurs ne voulaient pas
gaspiller dans le pays de petits efforts et leur occupation purement nominale n’avait pour objet
immédiat que de préserver l’avenir. (zitiert nach Feltz 1971 : 87)
Als einer der Konsequenzen aus dem Unbehagen über die Funktion der indigenen
‚Verwaltungsstrukturen’, verstärkte die Kolonialverwaltung die Kontrolle über die Einsetzung
von Chiefs. Ab 1919 wurde der Hof dazu verpflichtet, jede Umbesetzung eines Amtes zu
melden. 1922 wurde die Kontrolle – nachdem der Informationspflicht nur unvollständig
nachgekommen worden war – noch einmal verschärft und Chiefs, die ohne Zustimmung der
Residentur eingesetzt wurden und ein Amt ausübten, mit bis zu zwei Jahren Knechtschaft
bedroht. Gleichzeitig wurde die Meldungspflicht auf alle Amtsinhaber – Chiefs (i.e.
Provinzchiefs), die vom Mwami eingesetzt wurden und ‚Subchiefs’ (i.e. Hügel-Chiefs), die
von den einzelnen Chiefs bestellt wurden, ausgedehnt. 1923 verfügte schließlich die
Residentur über eine komplette Liste von Amtsinhabern und erlangte so eine weitreichende
Kontrolle über einen der wenigen Vorrechte, die dem Mwami noch geblieben waren
(Reyntjens 1985: 116).
Ab 1918 war die belgische Kolonialmacht dazu übergegangen, mehr oder weniger
systematisch gegen wahrgenommene Mißbräuche bei der Ausübung von traditionellen
Rechten der Chiefs sowie gegen Mißbräuche innerhalb der formalisierten
Klientelbeziehungen (Uburetwa, Ubuhake, Umuheto) auf legistischem Wege vorzugehen–
die Maßnahmen gegen Uburetwa bildeten sozusagen den Anfang einer permanenten
Reformbewegung –, während sie mit der Gründung der Regierungsschule in Nyanza und
ähnlich angelegten Ausbildungsinstituten im ganzen Land den Grundstein für die
215 Die ab 1921 erstellten Jahresberichte entstanden in Erfüllung der Berichtspflicht gegenüber der Mandatskommission des Völkerbundes. Im Laufe der Geschichte ihres Erscheinens wurde ihr Titel mehrmals geändert. Im folgenden wird auf sie in der Form ‚Bericht bzw. Jahresbericht + Jahr’ verwiesen.
197
Heranbildung einer europäisch gebildeten Verwaltungselite legte, welche die Performanz bei
der Implementierung der verschiedenen Maßnahmen steigern helfen sollte.
Die Reformen – die Verrechtlichung des ‚traditionellen’ Herrschaftssystems und die
Homogenisierung und systematische Bürokratisierung der indigenen Herrschaftsträger –,
waren darauf ausgelegt, eine Modernisierung und damit Veränderung hervorzurufen,
während sie gleichzeitig darauf bedacht waren, das ‚traditionelle’ System von Herrschaft zu
bewahren.216 Darin bestand der oben bereits angesprochene fundamentale Widerspruch des
– und nicht nur des belgischen – Kolonialsystems, der weitreichende Konsequenzen hatte
und dessen Auswirkungen sich in der Phase der Konsolidierung der belgischen Herrschaft
ab 1926 zunehmend zeigten. Der Widerspruch äußerte sich in zumindest zweifacher Weise:
Zum ersten hatten die belgischen Kolonialverwalter, nicht unähnlich den Deutschen vor
ihnen, eine Wahrnehmung von Ruanda, die in sich selbst bereits höchst widersprüchlich war.
Während den ‚Tutsi’ unmißverständlich die wichtige, wenn auch gegenüber der
Vergangenheit drastisch veränderte Rolle als traditionelle Autorität und als Funktionäre des
Kolonialstaates zugebilligt und den ‚Hutu’ die untergeordnete Rolle zugewiesen wurde217,
wurde dieses Herrschaftsverhältnis als Quelle von Mißbräuchen durch die Tutsi und folglich
als Quelle von Unterdrückung und Ausbeutung der Hutu durch die Klasse der Chiefs
gesehen. Das asymmetrische Verhältnis zwischen Hutu und Tutsi war in dieser Sicht freilich
nicht allein auf die Ungleichheit in der Verteilung von politischer Macht zurückzuführen, auf
die Ungleichheit, die Herrschaftsträger jeder Art von der übrigen Bevölkerung unterscheidet,
sondern die Ungleichheit war eine ‚tiefere’, in den Augen der Europäer, eine natürliche.
Dieses systematische Ungleichverhältnis zwischen Tutsi und Hutu – in der Definition der
Kolonialverwalter bzw. kolonialer Intellektueller im Allgemeinen – war, soweit sie zugleich als
Bedrohung der untergeordneten Bevölkerungsgruppe gesehen wurde, der eigentliche Lokus
der paternalistischen Intervention des Kolonialstaates. In einem Memorandum von 1920
umreißt der belgische Kolonialminister Franck diese ‚Pflicht’ gegenüber der subalternen
Klasse: A coté de nos obligations de politique générale, nous avons des devoirs envers les Wahutu.
Nous devons les protéger contre les actes arbitraires dont ils sont souvent victimes, et leur
assurer la paix, la sécurité de leurs biens et de leur travail et la justice. Mais nous n’irons pas
216 Siehe für einen beispielhaften Text der Konzeption von Indirekter Herrschaft und Entwicklung das vertrauliche Memorandum des Kolonialministers Franck vom 15.6.1920, teilweise wiedergegeben in Reyntjens 1985: 65f 217 Im ersten Jahresbericht der belgischen Verwaltung heißt es vage: „[que le autorité belge] s’inspire de la ligne de conduite suivie antérieurement par par l’autorité allemande: assurer la paix et l’ordre public en maintenant l’équilibre qui existait entre les groupements indigènes.“ (zitiert nach Maquet/d’Hertefelt 1959 : 11). Der letzte Teil der Passage ist so mißverständlich wie offenbarend. Das ‚Gleichgewicht’, das als solches als eine natürliche Balance gedacht wird, meint natürlich die Asymmetrie zwischen Masse der Bevölkerung und der herrschenden Klasse, die als naturalisierend als ‚Hutu’ und ‚Tutsi’ gedacht werden.
198
plus loin; il ne s’agit pas, sous prétexte d’égalité, de toucher aux bases de l’institution
politique ; Nous trouvons les Watuzi établis d’ancienne date, intelligents et capables ; nous
respecterons cette situation. (zitiert nach Reyntjens 1985 : 66)
Die Schutzverpflichtung gegenüber den Hutu war gewissermaßen das Ergebnis der
kolonialen Festschreibung ihrer Position und die zweite Weise, in der sich der Widerspruch
von Konservierung und Modernisierung äußerte. De facto beschränkte sich die koloniale
Politik nämlich nicht darauf, bestehende Strukturen zu konservieren, sondern indem sie
darauf abzielte, die Herrschaftsstrukturen zu homogenisieren, zu bürokratisieren und in ganz
Ruanda durchzusetzen, schuf sie einen Mechanismus, durch den die fundamentale
Ungleichheit von Tutsi und Hutu nicht nur reproduziert wurde (wir haben in den
vorangegangenen Abschnitten gesehen, daß die soziale und politische Stratifikation
wesentlich komplexer war), sondern in großem Ausmaß erst produziert wurde.
Trotz der vorerst bescheidenen Erfolge in der Implementierung getroffener Maßnahmen,
konnte der belgische Kolonialstaat von Anfang an auf gewisse Erfolge verweisen. Zunächst
zeigte er eine hohe Präsenz vor Ort und besaß damit ein vergleichsweise höheres Maß an
Handlungsautonomie gegenüber der deutschen Kolonialverwaltung: 1918 beschäftigte die
Kolonialverwaltung 30 Europäer auf 12 Posten, was einer Verfünffachung des Personals
gegenüber der (deutschen) Vorkriegsperiode darstellte (Rumiya 1992: 50).
Gleichfalls wurde bereits 1917 mit einer systematischen Steuereinhebung begonnen, die zu
einer zentralen Einnahmequelle des Kolonialstaates werden sollte. Ab den 20er Jahren, als
die Kolonialverwaltung begann, größere Infrastrukturprojekte (Bau von Straßen etc.)
durchzuführen, wurde – ähnlich der deutschen Praxis – systematisch mit der Requirierung
von Arbeitskraft für koloniale Zwecke begonnen. Im Unterschied allerdings zur deutschen
Periode, und auch im Unterschied zu der Anwerbung und Zwangsverpflichtung von Arbeitern
(meist Trägern) während des Ersten Weltkriegs, betraute die belgische Kolonialverwaltung
ab den Jahren 1922-1923 einen einzigen Chief pro Region mit der Aushebung von Arbeitern
und der Lieferung von Lebensmittel und setzte diesen formell als Akazi-Chiefs (von Swahili =
kazi: Arbeit) der betreffenden Region ein, da sie die meist unter politischen Kriterien
vollzogene Zuweisung von Arbeitsverpflichtungen für ineffizient hielt (Dorsey 1983: 51ff).
Damit wurde Musinga, der bis dahin (theoretisch) für die Aufbringung von Arbeitskräften für
öffentliche Arbeiten verantwortlich war und dementsprechende Anfragen der
Kolonialverwaltung an die Chiefs weiterleiten hätte sollen, in einem Bereich
kolonialstaatlichen Handelns umgangen, der im Laufe der Zwanziger Jahre rasant an
Bedeutung gewann. Mit der Bündelung gewisser administrativer Aufgaben in der Person
eines einzigen Chiefs setzte die Kolonialmacht zudem den ersten Schritt zur Abschaffung
199
der v.a. in Zentralruanda vorherrschende Tripelhierarchie auf Provinzebene, die 1926 mit der
formellen Abschaffung von Umuheto-Gruppen besiegelt wurde (C.Newbury 1988: 112;
Reyntjens 1985: 114f).
Ein wesentliches Element der frühen belgischen Kolonialpolitik (und Fortführung der
diesbezüglichen deutschen Praxis bestand in der Durchsetzung einer einheitlichen, sprich
Tutsi-dominierten Verwaltung über ganz Ruanda. Im Unterschied zur deutschen Periode
hatte die Expansion von (hauptsächlich zentralruandesischen) Chiefs als Herrschaftsorgane
in die peripheren Regionen nicht mehr den Charakter einer Expansion der Monarchie, den
vorangegangene Expansionsbewegungen zumindest teilweise hatten, auch wenn bereits in
früheren Perioden andere Interessen (der Kolonisten, des Kolonialstaates usw.) bei der
Expansion in die Peripherie wesentlich mitgespielt hatten. Auch im Rahmen der belgischen
Ausweitung des zentralruandesischen Herrschaftsmodells in die Peripherie waren, wie unter
der Deutschen Periode, hochrangige Banyanduga-Tutsi Nutznießer der Entwicklung.
Allerdings kamen zunehmend Tutsi aus bescheidenen Verhältnissen bzw. Tutsi, die, wenn
auch nicht arm, innerhalb der traditionellen politischen Arena über relativ wenig politisches
Gewicht verfügten, in den Genuß von politischen Ämtern. Worin sich die Inkorporation der
Peripherie von der (unvollständigen) Inkorporation in der deutschen Periode am meisten
unterschied, war das Ausmaß an Kontrolle, das die belgische Kolonialverwaltung über den
Inkorporationsmodus der Peripherie ausübte und ausüben konnte. Anfang der 20er Jahre
waren immer noch einige Regionen - die bekanntesten Fälle derartiger Regionen sind –
Bushiru im Nordwesten, sowie Bukunzi und Busozo im Südwesten - weitgehend autonom
und nicht in das zentralruandesische Herrschaftssystem integriert. In Bushiru verfügte der
Umuhinza Nyamakwa, die traditionelle Führungsgestalt der autonomen Region, zunächst
über gute Beziehungen zum belgischen Administrator in Mulera. Als Nyamakwa sich aber
zunehmend außerstande sah, seine traditionelle Rolle mit der Rolle als Verwaltungsorgan
des belgischen Kolonialstaates zu verbinden und Anordnungen des Administrators nicht
nachkam und er sich offen gegen die Einhebung von Teilen der Ernte als Abgabe auflehnte,
wurde an seiner statt ein Tutsi-Chief installiert, der die Region unter seinen Klienten aufteilte.
Für den zuständigen Administrator war das Scheitern des Umuhinza in seiner ihm
zugestandenen Rolle als Verwaltungsorgan ein Beweis für die Unfähigkeit der Hutu,
Regierungsaufgaben zu übernehmen, zu ‚regieren’ (Reyntjens 1985: 98ff). Der neu
eingesetzte Tutsi Chief Nyangezi nahm zunächst von jeglichem Triumphalismus Abstand,
bemühte sich gute Beziehungen zu der Familie der alten Bahinza zu pflegen und beeilte
sich, seine Rolle als Untergebener der Europäer zu betonen – ein beredter Kommentar des
veränderten Kontexts kolonialer Herrschaft (Rumiya 1992: 234). In Busozo (Region Kinyaga)
lag der Fall ähnlich. Angesichts der gewaltsamen Okkupation des Nachbarkleinkönigtums
200
Bunkunzi durch die Belgier und Rwagataraka, dem lokalen ‚starken Mann’218 entschloß sich
der Mwami Buhiga von sich aus Kontakt mit dem belgischen Administrator in Cyangugu
aufzunehmen, um ihm seine Anerkennung der belgischen Oberhoheit mitzuteilen. Als er
allerdings den belgischen Forderungen (Arbeitskräfte, Steuerzahlung usw.) nicht nachkam,
wurde er ebenfalls, wiederum mit Hilfe Rwagatarakas abgesetzt. Letzterer erhielt das
Territorium beider inkorporierter Gebiete seinem Einflußbereich zugeschlagen (Rutayisire
1987: 138).
Im Laufe der Zwanziger Jahre wurden sukzessive alle autonomen Regionen Ruandas
Bukonya, Bugarura, Bumbogo, Bushiru, Kibali, Ndorwa, Mutara und Mulera im Norden und
Nordwesten, sowie Bukunzi und Busozo der ruandesischen Monarchie eingegliedern und mit
der Einsetzung von Chiefs nach zentralruandesischem Vorbild, formal annektiert
(Lemarchand 1970: 73). Mit der Annexion Bumbogos 1928, dessen Herrscherlineage für die
Abhaltung des 1926 verbotenen ‚Erste-Früchte-Festivals’ (umuganura) verantwortlich
gewesen war und dadurch eine wesentliche ideologische Funktion im vor- und
frühkolonialem Ruanda eingenommen hatte, wurde die Ausweitung eines einheitlichen, auf
dem Monopol von Tutsi beruhenden Verwaltungsmodells auf ganz Ruanda zum formalen
Abschluß gebracht (Linden 1977: 162). Der Kolonialstaat beschränkte sich allerdings nicht
darauf, die Inkorporation der Region und ihre ‚Inbesitznahme’ durch die Tutsi-Aristokratie zu
ermöglichen – wie schon erwähnt, gehörte ein gar nicht geringer Teil der eingesetzten Chiefs
eben nicht mehr zur traditionellen Herrschaftselite, sondern erhielten ihre Posten qua ihrer
Ausbildung (1923 absolvierten die ersten Secrétaires Indigènes den administrativen
Ausbildungsgang der Regierungsschule in Nyanza) -; sondern der Kolonialstaat sah die
Ausweitung der Tutsi- Herrschaft (die diesem Namen zunehmend gerecht wurde) als eine
Möglichkeit, ihre Reformvorstellungen bezüglich der Verwaltung zu verwirklichen. Eine der
vorrangigsten Projekte war die territoriale Konsolidierung der Verwaltungseinheiten, der
Chieftümer. Diese waren im traditionellen System notorisch zwischen Domänen
unterschiedlichen Charakters zersplittert. In den inkorporierten Gebieten ermunterte die
Kolonialverwaltung die eingesetzten Chiefs daher, sich vergleichsweise große und
einheitliche Gebiete anzueignen. Damit einher ging auch der Versuch, die Zersplitterung der
Herrschaftsrechte zu begrenzen. Innerhalb eines abgegrenzten Territoriums, der Chefferie
war dementsprechend ein Chief für die Aufgaben hinsichtlich der Bevölkerung, und wenn er
die Zustimmung der Bevölkerung erlangen oder erzwingen konnte, auch für alle
Landnutzungs- und –besitzangelegenheiten zuständig. Als Agent des Kolonialstaates hob er
die Steuern ein und rekrutierte Männer für Öffentliche Arbeiten. Als Substrukturen wurden
218 Vgl. zu Rwagataraka und seiner Rolle in bezug auf die Inkorporation von Bukunzi und Busozo in der deutschen Periode oben p.140f. Zur Rolle Rwagatarakas im Allgemeinen siehe oben FN 200 und FN 202 sowie unten FN 220.
201
Sous-Chefferies geschaffen (in weitgehender Entsprechung der Position des Hügel-chiefs,
des Umutware w’umusozi) (Dorsey 1983: 59f). Die Zentralisierung politischer Macht und der
übertragenen Verwaltungskompetenzen in der Form eines einzigen ‚traditionellen’
Herrschaftsträgers war gleichzeitig der erste Schritt zu einer Homogenisierung und
Vereinfachung der ruandesischen Herrschaftsstrukturen, die typischerweise durch die
Tripelhierarchie von Weide-Chief, Land-Chief und Armee-Chief repräsentiert wurde. Diese
Bündelung politischer Macht in der Person des Chiefs hatte zudem dramatische
Auswirkungen auf das Klientelsystem. Während die Zersplitterung von Herrschaftsrechten im
vorkolonialen Regime in gewisser Weise auch ein pluripolares Klientelsystem begünstigt
hatte, dessen Charakter sich aus der größeren Zahl an Patronen und damit aus der Existenz
einer zumindest beschränkten Wahlmöglichkeit auf Seiten des potentiellen Klienten
zwischen verschiedenen Patronen ergab, konvergierte unter dem neuen, zentralisierten und
unitaristischem System von Verwaltung das Innehaben eines politischen Amtes mit der
Funktion des Patrons. Anders gesagt: Um vor Mißbräuchen der Chiefs geschützt zu sein
bzw. um ihre ‚Gunst’ zu erlangen, mußte man ihr bzw. des Sub-Chiefs Klient werden,
gewöhnlicherweise im Rahmen einer Ubuhake-Beziehung (Vgl. Dorsey 1983: 59; C.Newbury
1988: 137). Die ausbeuterische Dimension der so transformierten Beziehung ist evident.
Im Rahmen der Inkorporation der Peripherie, die vom Kolonialstaat ähnlich den Deutschen
mit der rhetorischen Floskel der ‚Restauration königlicher Macht und Herrschaft’
gerechtfertigt wurde (Reyntjens 1985: 98), nahm die belgische Kolonialadministration
erstmals in direkter Weise das königliche Vorrecht, Herrschaftsdomänen zu verteilen und
von ihr ausgesuchte Personen als Chiefs einzusetzen, für sich in Anspruch. Damit verlor der
Hof eine seiner letzten realen Möglichkeiten, Einfluß auszuüben, die er trotz der Pflicht zur
Einholung der Zustimmung des Residenten bei Postenneu- bzw. Umbesetzungen immer
noch besessen hatte (Vgl. Dorsey 1983: 60).
6.1.2.3.3 Die Konturen der neuen Elite – Staat und Bildungspolitik
Gleichzeitig mit dem Übergang zu einer zivilen Verwaltung 1919, als Van den Eede dem
militärischen Residenten De Clerck als erster genuin ziviler Resident nachfolgte, setzte die
Kolonialverwaltung mit der Gründung der Regierungsschule in Nyanza den ersten Schritt für
die Entstehung einer neuen, europäisch ausgebildeten Verwaltungselite, welche die
modernisierungsresistente ‚alte’ Schule der Chiefs sukzessive ersetzen sollte. Das
Bildungswesen war bis dahin nahezu ausschließlich in der Hand der verschiedenen in
Ruanda operierenden Missionsgesellschaften gelegen, von denen die Katholiken mit den
alles dominierenden Weißen Vätern die überaus wichtigste darstellte. Anfang der 20er Jahre
waren drei von vier Bildungseinrichtungen im Territoire Nyanza missionsbetrieben, wovon
Kabgayi, mit zwei Seminaren, einer Primär- sowie einer Berufsschule, so etwas wie ein
202
Bildungszentrum repräsentierte und in den Augen des belgischen Delegierten am Hof,
Defawe, diesen an Bedeutung als Zentrum Zentralruandas zu übertreffen begann (Dorsey
1983: 75; Linden 1977: 134). Die Dominanz des katholischen Schulsektors änderte sich
allerdings auch nach der Gründung der Schule in Nyanza nicht wesentlich. Sie stellte
allerdings den Hauptgrund für die Gründung einer konfessionsfreien Schule dar, da Musinga
und die große Mehrheit der Chiefs nach wie vor ein großes Mißtrauen gegenüber den
Missionaren und den Missionsschulen an den Tag legten. Musinga hatte 1918 in einen Brief
an den damaligen Commissaire Royal, General Malfeyt, explizit darauf hingewiesen
(Reyntjens 1985 108). Auf die Aufforderung, die Söhne von Chief in Schulen zu schicken,
forderte Musinga seine Chiefs seinerseits auf, statt ihren Söhnen uneheliche Söhne, Söhne
von Klienten bzw. geistig zurückgebliebene Jungen (wie dies bereits unter den Deutschen
praktiziert wurde) das ‚Gift’ (Uburozi)219 westlicher Bildung schlucken zu lassen (Dorsey
1983: 76; Das Resultat des Mißtrauens gegenüber den missionsbetriebenen Schulen war,
daß missionsnahe Personen – also überwiegend Hutu und Tutsi aus bescheidenen
Verhältnisse – über die beste Ausbildung verfügten, während die traditionelle
Herrschaftselite kaum oder nur beschränkten Kontakt mit westlicher Bildung hatten. Dies
hatte insbesondere im ersten Jahr der belgischen Präsenz, während dem die ‚traditionellen’
Strukturen ausgeschalten oder umgangen worden waren, zu einer partiellen Reversion der
Machtverhältnisse geführt. In der Gegend um die Missionsstation Save, die während des
Krieges eine wichtige Funktion als Versorgungsposten für die belgischen Truppen und die
belgische Verwaltung eingenommen hatte, agierte der Superior der Mission, Pater
Huntzinger, praktisch wie ein Chief und betraute seinerseits seine ausgebildeten Hutu
Protegés mit ähnlichen Funktionen, wodurch die eingesessenen Chiefs praktisch zu
Befehlsempfängern der christlichen Elite gemacht wurden. Am Beginn der belgischen
Kolonialherrschaft nutzten viele Christen, die bei den Missionaren in den Genuß von
Schuldbildung gekommen waren, die Gelegenheit und boten sich den belgischen
Verwaltungsorganen als Übersetzer an. Der Katechist Wilhelmi (‚Guten Willens’), der seit
1907 für den Mwami Unterricht abgehalten hatte, trat etwa 1917 als Guillaume in belgische
Dienste ein, viele andere taten es ihm nach. Die privilegierte Rolle als Organe der Belgier
führte zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse: Nicht-Christen hatten die undankbaren
Trägerarbeiten zu vollführen, und Chiefs waren diejenigen, welche Abgaben zu leisten
hatten, wenn die Forderungen der Mission oder ihres Klientel nicht erfüllt wurden, etwa,
wenn sie ihre Söhne nicht zur Schule sandten (Vgl.Linden 1977: 131; Rumiya 1992: 195). 219 Die Bedeutung von Uburozi (zu abarozi-Hexen) ist etwa folgendermaßen: ‚Gift, das die Gesellschaft als ganzes Bedrohen kann’ oder, in der Folge auch eine durch Hexerei/ bösen Zauber verursachte Krankheit (des Körpers/ der Gemeinschaft), die immer als eine Art Vergiftung gedacht wird. Eine solche Art von ‚Vergiftung’ wäre in der traditionellen Gesellschaft Ruandas ein Fall für einen Umufpumu, dem traditionellen Heiler, dem es obliegen würde, die als Uburozi symbolisierte bzw. artikulierte Bedrohung oder Störung des sozialen Gleichgewichts wiederherzustellen (Vgl. Reyntjens 1985: 107; zu ruandesischen Vorstellungen von Krankheit
203
Während mit dem Amtsantritt De Clercks und dem einhergehenden Politikwechsel (der
Wiederherstellung einer Art indirekter Herrschaft) die besondere Rolle Saves als lokaler
Fokus von Macht und Klientelismus revidiert wurde, blieb die prinzipielle Gefährdung der
‚traditionellen’ Elite durch eine embryonale (christliche) Bildungselite bestehen, welche diese
aber erst im Laufe der Zwanziger Jahre zu realisieren begann, nachdem die belgische
Verwaltung nach 1925 nur mehr Personen mit einem Mindestmaß an Schulbildung als
Chiefs einsetzte und gegen Ende der Zwanziger von ihr als inkompetent eingeschätzte
Chiefs massenweise abzusetzen begann (Vgl. Dorsey 1983: 79).
Die Regierungsschule in Nyanza – in gewisser Weise die Nachfolgeinstitution der schlecht
ausgestatteten und dahinsiechenden von den Missionaren betriebenen ‚Schule’, die diesem
Namen eigentlich nicht gerecht wurde, wurde 1919 eröffnet und sollte explizit der
Ausbildung von Söhnen von Notablen zu ‚Sécretaires Indigènes’ dienen. Entsprechend des
Schulziels, sowie in Widerspiegelung des Tutsi-Monopols über politische Posten auf der
oberen Ebene der Hierarchie und der Marginalisierung der noch bestehenden semi-
autonomen Regionen in Nordwestruanda (v.a. Bushiru) sowie in Südruanda (Bukunzi und
Busozo) setzten sich Schüler in Nyanza (im Unterschied zu den Schülern einer
vergleichbaren Regierungsschule in Muramvya, Burundi) fast ausschließlich aus den
Angehörigen der niederen und höheren Tutsi-Aristokratie zusammen220. Gleichzeitig mit der
Eröffnung der Schule in Nyanza wurden in den bestehenden Verwaltungszentren semi-
formelle Vorbereitungskurse organisiert und 1924 schließlich Schulen in allen vier
Territorialhauptstädten sowie in dreizehn der traditionellen Provinzen (die unter den Belgiern
als ‚Chefferies’ firmierten). Im selben Jahr wurde eine Berufsbildungsschule in Shangugu
(Cyangugu) gegründet, die wie alle neugegründeten Schulen von Europäern geleitet wurde
(Dorsey 1983: 75ff). Ab 1925 nahm die Schule in Nyanza die Schüler aufgrund ihrer
‚Ethnizität’ – als Tutsi - auf, wodurch Hutu qua Hutu ausgeschlossen wurden (Lemarchand
1970: 189). Dies ist vor dem Hintergrund der steigenden Akzeptanz der Schule durch die
Tutsi-Aristokratie zu sehen, in deren Folge häufige Auseinandersetzungen zwischen ‚noblen’
und ‚gemeinen’ Tutsi dazu führten, von einer statusblinden Rekrutierungspolitik völlig
abzugehen (Reyntjens 1985: 109)
Die Schule wurde wie ihr deutscher Vorläufer auf traditioneller Basis organisiert – alle
Schüler waren zugleich Intore Musingas. Die Schule eröffnete mit 73 Schülern. 1921 waren und sozialem ‚Heil’ vgl. Taylor 1999 sowie Gravel 1968: 144ff). 220 Die Schule in Nyanza hatte 1925 349 Schüler, von denen alle Tutsi waren, während ihr Gegenstück in Muramvya (Burundi) 1928 insgesamt 177 Schüler hatte, von denen 50 Schüler Söhne von Chiefs (d.h. Baganwa)waren , 67 Tutsi, 53 Hutu, 1 Mulatto, 1 Asiate und 5 Schüler Söhne von Soldaten unbekannter Herkunft (Vgl. Lemarchand 1970: 75). In Kinyaga war auf Initiative von Rwagataraka, dem Provinchief von Impara, bereits eine Schule für Söhne von Chiefs, eingerichtet worden, die allgemein als ‚École de Batutsi’
204
es bereits 105 Schüler in drei Klassen und 1930, kurz vor ihrer Schließung und Ablöse durch
das Bildungsinstitut der Groupe Scolaire in Astrida (späteres Butare), hatte die Schule 342
Schüler in 6 Klassen (Reyntjens 1985: 124; Rumiya 1992: 160). Kolonialminister Franck
(Minister von 1918-1924) strich in einer Rede anläßlich der Eröffnung der Schule deutlich die
Zielstellung der Schule heraus: sie sollte die Verwaltung rationalisieren (nach den
Grundsätzen europäischer Verwaltungstraditionen, also nichts anderes als bürokratisieren),
aber keineswegs die als ‚traditionell’ und daher als legitim wahrgenommene politische
Ungleichheit zwischen Hutu und Tutsi gefährden: Il ne s’agit pas, sou prétexte d’égalité, de toucher aux bases de l’instutition politique; nous
trouvons les Watuzi établis d’ancienne date, intelligents et capables; nous respectons cette
situation. (zitiert nach Rumiya 1992 : 138).
1923 traten die ersten 30 Absolventen der Chiefs in den belgischen Verwaltungsdienst in
dessen Rahmen sie die für sie vorgesehenen Posten als Secrétaires Indigènes antraten.
Nach sechs bis zwölf Monaten derartiger Praxis konnten sie politische Ämter übertragen
bekommen, gewöhnlicherweise zuerst als Sous-Chef. Die Secrétaires Indigènes wurden
analphabetischen Chiefs zugeteilt und waren in erster Linie für die Ausführung der für den
zentralen Kolonialstaat vollzogenen Verwaltungsaufgaben – Bevölkerungsevidenz,
Steuereinhebung und alle Aufgaben, die damit zusammenhingen, verantwortlich (Reyntjens
1985: 124). Die Sekretäre waren indes extrem jung. Manche Absolventen der Schule in
Nyanza waren nicht älter als 16/17 Jahre und waren, sowohl in der Position des Sekretärs
als auch in der Position des Subchiefs oder Chiefs wegen ihres geringen Alters mit
erheblichen Autoritätsproblemen konfrontiert. Absolventen der Schule aus ärmeren
Verhältnissen hatten dagegen, z.T. zusätzlich zu ihrem geringen Alter, wegen ihrer relativen
materiellen Armut mit Disrespekt zu kämpfen, zumal es ihnen dann auch schwer fiel, ihre
obligate Rolle als Patron zu übernehmen. Da Macht und Reichtum (an Vieh und Klienten)
zumindest in bezug auf die politische Elite als synonym miteinander angesehen wurden,
konnte selbst die starke politische Unterstützung, die das neue Kader von ihren belgischen
‚Patronen’ erhielt, den Mangel an Reichtum (und am als proportional dazu
wahrgenommenem Durchsetzungsvermögen) völlig kompensieren. Die Kolonialverwaltung
reagierte damit mit der Übertragung allen Viehs und aller Klienten der Amtsvorgänger der
neu eingesetzten Chiefs, nicht unähnlich der vorkolonialen Praxis, wo die Übertragung von
an ein Amt gebundenes ‚Kapital’ an neu bestellte Amtsinhaber üblich war, aber dies in
weitaus systematischer und weitreichender Weise (Dorsey 1983: 77f.). Verständlicherweise
schuf diese Praxis die Voraussetzung für schwere Konflikte zwischen der jungen,
aufsteigenden Elite von künftigen Chiefs und älteren, traditionell bestellten Herrschaftsträger,
deren Position durch die administrative Praxis nach 1925, nur mehr Personen mit bekannt wurde (C.Newbury 1988: 61, EN 31).
205
europäischer Bildung zu Chiefs zu machen und die gleichzeitige territoriale Konsolidierung
(Verkleinerung der Zahl der traditionellen Provinzen, Abschaffung von Ibikingi usw.)
zunehmend prekärer wurde.
Exkurs: Klientelismus und Abhängigkeit unter den veränderten Bedingungen von Herrschaft
Die Veränderungen in der Struktur und Praxis politischer Herrschaft in Ruanda, die von den
belgischen Reformen (die bewußte Bildung einer indigenen Verwaltungselite, die Bündelung
politischer Autorität in der Figur des Chiefs, die territoriale Neugliederung usw.) induziert
wurden, weisen zum größten Teil über die in diesem Kapitel behandelte Periode (1916-1924)
hinaus. Die territoriale Konsolidierung, die Abschaffung der Tripelhierarchie (umutware
w’umukenke, umutware w’ubutaka, umutwara w’umuheto) wurden erst ab 1926, der Periode
intensivster Veränderung, effektuiert. Dennoch werden einige ihrer Konsequenzen auf die
Herrschaftsstruktur und die Machtverhältnisse in Ruanda schon an dieser Stellte diskutiert.
Insbesondere deshalb, weil viele der Reformschritte nicht erst mit ihrer Dekretierung
eingeleitet wurden, sondern schon davor schrittweise ausgeführt und mitunter exemplarisch
vorexerziert wurden, wie dies bei der Diskussion der Ausweitung des zentralruandesischen
Herrschaftsmodells in die Peripherie klar geworden sein sollte. Die durch die Reformen
induzierten Veränderungen der Herrschaftsstruktur beschränkten sich nicht auf die formellen
politischen Strukturen, sondern führten zu einer Transformation der Machtverhältnisse in
einem viel weiteren Sinne. Im Speziellen brachten sie eine Transformation der formalisierten
Abhängigkeitsbeziehungen und die massive Expansion von Ubuhake und Uburetwa,
während Umuheto in Fortsetzung einer bereits mit dem Beginn von Musingas Regentschaft
festzustellenden Tendenz zunehmend verschwand.
Die Transformationen des Klientel- und (des analytisch davon unabhängigen)
Herrschaftssystems werden deutlich, wenn bei der Analyse auf der Ebene der politischen
Institutionen (Chefferie, Sous-Chefferie) angesetzt wird. Die oben angesprochenen
Autoritätsprobleme des jungen administrativen Kaders innerhalb des traditionellen Rahmens
und ihre damit einhergehende Abhängigkeit von den Belgiern förderte ihre ‚Loyalität’ und
folglich auch Abhängigkeit gegenüber den Belgiern und machte sie zu bemühten
Vollstreckern ihrer Direktiven. Obwohl klientelistische Beziehungen zu bekannten Chiefs
bzw. zum Mwami dadurch nicht völlig verdrängt wurden, verlor das ‚traditionelle’
Klientelnetzwerk seine Funktion als elitenbestimmender und elitenstabilisierender
Mechanismus und wurde durch ein neues System von Abhängigkeiten ersetzt, in deren
Zentrum der Resident und die einzelnen Administratoren der Territorien standen. Die
Abhängigkeit der Chiefs von einer positiven Bewertung durch den verantwortlichen
Administrateur de Territoire bzw. in letzter Instanz, dem Residenten in Kigali, bedeutete
auch, daß die neuen Chiefs sich weniger stark an ‚traditionelle’ Obligationen gegenüber
206
ihrem Klientel bzw. gegenüber den Einwohnern des Gebiets ihrer Jurisdiktion gebunden
fühlten, als daran, den Forderungen der Kolonialmacht möglichst umfassend zu
entsprechen. Dadurch verlor der allgegenwärtige Paternalismus, der bislang die Asymmetrie
zwischen Herrschern und Beherrschten zumindest teilweise verdecken konnte, zunehmend
seine praktische Realität. Der veränderte Kontext von (administrativer) Herrschaft verschob
in weiterer Folge auch die Struktur des Klientelsystems als ganzes. Es genügte nun nicht
mehr, einen mächtigen Umuheto- oder Ubuhake-Patron hinter sich zu wissen, sondern dem
um Schutz bemühten Ruandesen221, der in früherem Kontext darauf vertrauen konnte, durch
seine Beziehungen zu einem oder verschiedenen Patronen einigermaßen ‚sicher’ vor
Gefährdungen durch die politischen Autoritäten zu sein, blieb nur die Möglichkeit sich bei der
nun relevanten Instanz, dem Administrateur Territorial, Gehör zu verschaffen. Dies gelang
am ehesten dadurch, daß man den Chief oder einen Subchief als inkompetent denunzierte
und idealer weise dafür einen anderen Chief/Subchief (oder auch einen Missionar) fand, der
die Anschuldigung dem zuständigen Administrator oder dem Residenten zutrug.222
Abgesehen davon, konnte er nur versuchen, möglichst gute Beziehungen zum relevanten
Subchief oder Chief zu pflegen, indem er sich dem (von Pierre Gravel in anachronistischer,
aber paradoxerweise dennoch irgendwie treffender Weise als ‚Nuclear Feudal Cluster’
bezeichnetem) Klientelkomplex anschloß, der sich um die Person des Chiefs/Subchiefs
formierte; sein Ubuhake-Klient wurde und/oder zusätzlich andere ‚freiwillige’ Dienste und
‚Dankgeschenke’ machte (Vgl. Gravel 1968: 158ff).
Die Beschreibung eines ehemaligen (von den Belgiern abgesetzten) Subchiefs gibt beredt
Auskunft über den oppressiven Charakter der Beziehung zwischen administrativem Organ
und Bevölkerung: It was in 1930 (....) [that] I was designated sous-chef and the people of the colline were afraid
of me. Every morning I received many pots of liquor. In those days people had boundless
respect for sous-chefs. No one passed me without a formal salutation. They had to bow down
before me, then I would respond with a greeting. My wife had cultivated the land before I
became sous-chef, but afterwards she no longer recognized what a hoe was. (in Codere 1973:
79).
Der Charakter von Klientelbeziehungen hatte sich schon seit der Regentschaft Rwabugiris
zunehmend verändert. In Kinyaga z.B. hatte die Einsetzung von Hügel-Chiefs – meist 221 Dieser Kreis von Personen potentieller Umuheto- oder Ubuhake-Klienten war selbst in kolonialer Zeit nicht besonders groß. Zu diesem Kreis zu gehören bedurfte es eines Mindestmaßes an ‚Besitz’ oder an Minimum an Verfügungsrechten, die man schützen wollte und innerhalb einer Klientelbeziehung auch konnte und eines Mindestmaßes an Ressourcen (z.B. Arbeitskraft der Lineagemitglieder, Prestige usw.), welche man beim Eingehen einer formalisierte Klientelbeziehung einsetzen konnte (Vgl. oben: Kap.4.3 Die Ausweitung von Klientelbeziehungen) pp.95ff). 222 Für ein instruktives Beispiel aus der Sicht eines abgesetzten Subchiefs siehe die Autobiographie von Mihana
207
Personen außerhalb der Region – die Verdrängung des älteren Ubukonde-Landrechts (in
dessen Rahmen die Landrechte in den Händen von ‚zu erst gekommenen’ Lineages gelegen
hatten) bedeutet und Ubukonde-Land zu Isambu-Land transformiert, über dessen Verteilung
die politische Autorität (der Hügel-Chief) bestimmte. Zum Teil waren an die Vergabe von
Land Uburetwa-Verpflichtungen gebunden. Parallel mit der politischen Zentralisierung in der
Form der Einsetzung von zentralruandesischen Chiefs weiteten sich Klientelbeziehungen
entscheidend aus – ein Prozeß, der in der südwestruandesischen Region Kinyaga vom Ende
der Regentschaft Rwabugiris bis ca. 1935 andauerte (C.Newbury 1978: 20ff). In Kinyaga
hatte sich zudem eine zweite Form von Ubuhake-Klientelbindung herausgebildet, die im
Gegensatz zur klassischen Form von Ubuhake keinen Transfer eines Rindes beinhaltete und
mit ‚guhakwa y’ubutaka’ - „den Hof für Land machen“ umschrieben wurde. Die
(prestigeträchtigen) Dienstleistungen, die innerhalb dieser Beziehung dem Patron geleistet
wurden (Tragen der Pfeife, des Tabaks usw.) unterschieden sich von den Dienstleistungen
der klassischen Form von Ubuhake. Der Name für diese Art von Ubuhake weist darauf hin,
daß der Patron in diesem Verhältnis der Hügel-Chief, und später der Subchief war und der in
dieser Periode die Landverteilung hauptsächlich kontrollierte (C.Newbury 1988: 134f).
Die Tendenz zu Konvergenz von politischem Amt und Patron-Status war daher schon in der
spätvorkolonialen Zeit angelegt und hatte dementsprechend schon vor den belgischen
Reformen zu einem Anwachsen der Macht der Chiefs geführt. In einem gewissen Sinn
brachten daher die belgischen Reformen diese Tendenz lediglich zu ihrer Vollendung. Die
vor diesem Hintergrund zu sehende Transformation von Ubuhake von einer
prestigeträchtigen Bindung an einen mächtigen Patron, für die ein relativ hoher Status, mithin
die Mitgliedschaft in der Herrschaftselite eine Voraussetzung war, zu einer zunehmend
ausbeuterischen Beziehung zwischen zwei weitgehend statusungleichen Personen hatte
zumindest drei Gründe: zum einen das Verschwinden der alten Form von Umuheto
Beziehung, die zwischen einer Verwandtschaftsgruppe und einem Patron geschlossen
wurde, während Ubuhake auf die individuelle Beziehung zwischen Patron und Klient beruhte.
Das einzelne Individuum hatte zwangsweise weniger Möglichkeiten, die Bedingungen der
Beziehung zu bestimmen. Im direkten Zusammenhang mit der Ausweitung von Ubuhake
steht die Schwächung der Einheit der Lineage Dazu trug bei, daß die verschiedenen
Mitglieder einer Lineage zunehmend Ubuhake-Bindungen mit verschiedenen Patronen
schlossen (Vgl. C.Newbury 1988: 102ff). Ein zweiter Faktor für die stärkeren
ausbeuterischen Züge von Ubuhake war die Ausweitung der Beziehung auf weniger
mächtige und reiche Teile der Bevölkerung. Der dritte und bei weitem bedeutendste Grund
lag in der Homogenisierung der Herrschaftsstruktur, wie sie von den Belgiern effektuiert
in Codere 1973: 73-83
208
wurde (Vgl. ebenda: 136).
Die Situation in bezug auf Uburetwa unterschied sich von anderen Formen von
Klientelbeziehungen deutlich. Ihr fehlte jegliches Prestige, im Gegenteil, sie war Anlaß von
Scham und jegliche Erwähnung dessen, daß man Uburetwa Verpflichtungen versah, wurde
gegenüber Nachbarn, Freunden und Verwandten, möglichst vermieden. Ihre Einführung
(Vgl. oben: pp. 93ff) war jüngeren Datums und sie betraf nur die schwächsten Glieder der
Gesellschaft. Wenn auch Uburetwa während der deutschen Periode eine deutliche
Ausweitung erfuhr, blieben ein weiter Teil der Bevölkerung von ihr unbetroffen. Die in diesem
Verhältnis implizierten Arbeitsdienste wurden gleichfalls nur unsystematisch eingefordert,
entsprechend dem Ausmaß, mit dem ein ‚Patron’ (gewöhnlicherweise ein Chief) diese
gegenüber dem ‚Klienten’ (in der Regel der für den Zugang zu Land vom Patron/Chief
abhängig war) durchsetzen konnten. Von der uneinheitlichen Praxis, die mit Uburetwa
verbunden waren, rührten auch die widersprüchlichen Darstellungen, die koloniale
Funktionäre oder Missionare von ihr machten. So schreibt zum Beispiel der 1922 zum
Bischof von Ruanda geweihte Missionar Leon Classe in einem Brief an den Nachfolger von
Eede als ziviler Resident, George Mortehan (Resident von 1923-1929) in bezug auf den
Nordwesten Ruandas: (...) Par erreur de leur politique indigène, les Allemands imposèrent, d’abord indirectement
puis par des actes, le buretwa ou, autrement dit, reconnurent par une fausse généralisation,
aux chefs politiques le droit aux terres qui appartenaient aux familles Bahutu. Da là surtout est
venue l’hostilité contre les Batutsi, non pas donc en tant que chefs politiques percevant
certaines redevances, imposant certaines corvées (…), mais bien en tant qu’accaparteurs des
terres, se substituant aux chefs de familles, par le fait du buretwa. (Classe an Mortehan, Mai
1928 zitiert nach Rutayasire 1987 : 143)
An anderer Stelle spricht er von einer ‚traditionellen’ Verpflichtung der Untertanen gegenüber
der politischen Autorität, die seit undenkbaren Zeiten bestehe und unterscheidet sie von, in
seinen Augen unbilligen Requirierungen von Arbeitskraft als Uburetwa für Hacken,
Lebensmittel usw. (vgl. z.B. den Brief von Classe an den Residenten Simon [1933-1940]
teilweise zitiert in Rutayisire 1987: 146, sowie dazugehörige EN 39). In einem vehementen
Brief von 1933 präzisiert Classe seine Vorstellung von Uburetwa und seine Vorstellung von
ihrem Stellenwert als Ausdruck der Loyalität der Untertanen gegenüber ihrem Chief: La corvée [gemeint ist uburetwa] est la redevance en travail que les sujets paient à leurs chefs
respectif ou à leurs supérieurs pour les terres qu’ils tiennent de ce chef ou de ses
prédécesseurs (…) La corvée est l’affirmation et la réalisation pratiques d’un droit de propriété
(…) Ne pourrait-on pas dire qu’un chef qui ne peut utiliser lui-même tous ses corvéables en a
trop et, par suite, le nombre de ses journées corvéables devra être réduit ? Non, certes! À
cause de ceux qu en ont trop, ceux qui n’en n’ont pas assez seront privés. Le
209
mécontentement et le manque de confiance des chefs ne tarderaient pas à ses montrer (…)
Ce serait une erreur de psychologie (…) les chefs perdraient la confiance de leurs gens parce
qu’ils deviendraient simplement des ‘Agents du Gouvernement’, qui font seulement travailler
et exécuter les ordres, des employés placés dans le pays, comme d’autres les sont auprès de
MM. les Administrateurs (…). (zitiert nach Vidal 1973 : 38)
Das erste der beiden wiedergegebenen Zitate ist deshalb so interessant, weil aus ihm
hervorgeht, daß Classe Uburetwa ausschließlich in ihrer Funktion als Verpflichtung
gegenüber der politischen Autorität als eine berechtigte Abgabe, und betrachtet man das
zweite Zitat, als eine notwendige Form der Loyalitätsbekundung sieht. Lediglich die mit der
Einführung von Uburetwa in Nordruanda verbundenen Bodenrechtsänderungen, also der
Übergang des Landbesitz von der Lineage zu den Chiefs lehnt er als unbillig ab. Gleichzeitig
gesteht er ein, daß Uburetwa in Nordruanda erst in der kolonialen Periode eingeführt worden
ist. Damit nimmt er Classe Uburetwa aber als etwas wahr, was es in vorkolonialer Zeit eben
nicht gewesen ist: nämlich ein mit einem politischem Amt verbundenes Privileg der Chiefs.
Vielmehr war Uburetwa mit der Gewährung von Ibikingi-Vorrechten über ein bestimmtes
Territorium verbunden und keinesfalls ein generelles Vorrecht der politischen Klasse, auch
wenn diese als Land-Chiefs die Verteilung von Gründen kontrollierte (Vgl. Dorsey 1983: 66).
Die Kolonialverwaltung sah dies in Begriffen, die den Ausführungen von Classe durchaus
ähnlich waren und kommentierte die Entscheidung, die Verpflichtung zu Uburetwa aufrecht
zu erhalten, trocken: In Anbetracht dessen, daß das Prinzip, wonach ein Hutu einem Notablen eine Anzahl von
Arbeitstagen zur Verfügung stehen muß, ein Ausdruck von Gehorsam gegenüber der
politischen Autorität ist, entschied die Verwaltung, die Erlaubnis für eine monetäre Zahlung an
der Stelle dieses Typus von Zwangsarbeit nicht zu geben. (Historique et Chronologie223, m.Ü.
zitiert nach Newbury 1988: 141f).
Uburetwa war – sieht man von Ubuhake ab – die einzige der ‚traditionellen’ Abgabe, die in
ihrer Naturalform erhalten blieb und erst 1949 vollkommen monetarisiert wurde,
Mit der Festsetzung von Uburetwa auf zwei von fünf Tagen für jeden ‘Home adulte valide’,
wie der bezeichnende Terminus Technicus für erwachsene Männer lautete, transformierte
die belgische Verwaltung Uburetwa zu einer prinzipiell allgemeinen Naturalleistung
zugunsten der (indigenen) Verwaltungselite. Im Prinzip war nun jeder erwachsener Mann zu
Uburetwa verpflichtet, wobei in der Praxis ihre Durchsetzung weit weniger allgemein war.
223 Historique et chronologie du Ruanda, Kabgayi 1956: p.27 . Es handelt sich dabei um eine anonyme, wahrscheinlich von einem belgischen Kolonialbeamten redigierte Synthese von historischen Essays und Berichten der einzelnen Territorialzentren.
210
Dies hing zum Teil mit der bis Ende der Zwanziger Jahre unvollständigen Inkorporation
peripher Gebiete zusammen. Am wichtigsten jedoch war, daß die Frage, ob man zu
Uburetwa verpflichtet wurde oder nicht, entscheidend von dem Verhältnis zum jeweiligen
Chief bzw. Subchief abhing. Die potentielle Verallgemeinerung der Zwangsarbeit für den
Chief war damit ein weiterer Grund für die Ausweitung von Ubuhake, durch das man sich die
‚Gunst’ bzw. Patronage des Chiefs sichern konnte. Das Nichterfüllen der Verpflichtung
konnte dagegen den Verlust von Nutzungsrechten über Land zur Folge haben. Die dadurch
geschaffene Situation der Ausweglosigkeit für breite Teile der Bevölkerung, die sich dem Teil
der Bevölkerung, der sich auf die eine oder andere Weise von Uburetwa loskaufen konnte,
als Zwang, die Entbindung von der Verpflichtung durch andere Leistungen zu kompensieren,
manifestierte, ließ Uburetwa einem der bedeutendsten Symbole für die Ausbeutung durch
die Chiefs werden (Dorsey 1983: 67). Mit der Reform von Uburetwa verlor die Beziehung
jeden Anschein von Klientelismus – wenn sie diesen überhaupt jemals erfüllt hat. Die Last,
die mit ihr auf der Bevölkerung lastete, wurde durch die massive Einforderung von
Arbeitsleistung im Rahmen öffentlicher Arbeiten für Infrastrukturprojekte, die Mitte der
Zwanziger Jahre einsetzten, noch vergrößert. Die sukzessive Reduktion von Uburetwa auf
zunächst einen von fünf Tagen 1924, die Begrenzung der jährlichen Verpflichtung zwei Jahre
später auf insgesamt 42 Tage/Jahr 1926, eine weitere, auf die (europäische) Woche
gerechnete Reduktion auf einen Tag pro sieben Tagen 1927 und die Beschränkung der
Arbeitsverpflichtung für persönliche Zwecke des Chief im Jahr darauf, reduzierte somit die
Gesamtbelastung für die Bevölkerung nicht, sondern, in den Worten Ian Lindens: The qualitiy of peasant life was little changed by the new ubuletwa regulations, they merely
freed the Hutu for more onerous kazi [Zwangsarbeit für koloniale Infrastruktur, A.K.] labour for
the Belgians. The weak and unprotected would end up with both. (Linden 1977: 187).
Die Reduktion der jährlichen Uburetwa-Gesamtverpflichtungen auf 15 Tage (1928) für
private Zwecke des Chiefs beließ die kommunalen Arbeitsverpflichtungen unverändert bei
48 Tagen. Für den einzelnen Hutu unterschied sich Uburetwa als Verpflichtung für den Chief
kaum von Akazi Zwangsarbeit, zu der auch die kommunalen Verpflichtungen zu zählen sind
(Dorsey 1983: 71) Die Kontrolle über die Arbeitskraft weiter Teile der Bevölkerung, welche
die Chiefs in der Form von Uburetwa und Akazi hatten, erlaubte es ihnen, diese gezielt als
‚Waffe’ einzusetzen, um damit Abhängigkeit zu produzieren (indem die davon Bedrohten
versuchten, Klienten des Chiefs bzw. Subchiefs zu werden) und gleichzeitig die Kontrolle
über Arbeitskraft und Land zu vertiefen (C.Newbury 1988: 143).
Ebenfalls 1928 war den Chiefs nahegelegt worden, Arbeiter für die Arbeit zum Zuge des
Anbaus kommerzieller Nutzpflanzen durch erstere (geringfügig) zu remunerieren.
Gleichzeitig wurde im entsprechenden Jahresbericht (1928) die Sorge geäußert, diese
211
Maßnahme könnte ‚das Gleichgewicht zwischen den einheimischen Gruppen’ – also die
soziale und politische Position der Chiefs gefährden, deren Hang zu ostentativem Konsum
(conspicuous consumption in der luziden Formulierung von Thorstein Veblen in seiner
Theory of the leisure class) sie Gefahr laufen lasse, sich zu verschulden und zu verarmen,
was letztlich wieder zu größerer Ausbeutung der Hutu durch die Chiefs führen müsse
(Dorsey 1983: 72). Besser kann der fundamentale Wiederspruch der kolonialen
Herrschaftsideologie – das Konservieren der Herrschaftsstruktur bei gleichzeitiger völliger
Transformation ihrer Funktionen gegenüber der Gesellschaft – nicht formuliert werden.
6.1.3 Die Neudefinition des Verhältnisses von Mission und Staat, ca.1917-1945
6.1.3.1 Staat und Mission, Mission und Gesellschaft
Während der Dauer des ersten Weltkrieges waren die missionarischen und
Bildungstätigkeiten der Weißen Väter – immer noch die einzige katholische Kongregation in
Ruanda – praktisch zu einem Stillstand gekommen (Rutayisire 1987: 102). In den letzten
beiden Jahren der deutschen Kolonialherrschaft in Ruanda hatten überdies die Spannungen
mit der deutschen Kolonialmacht stetig zugenommen, nicht zuletzt, weil die Loyalität der
Missionare, von denen nur ein sehr geringer Teil Deutsche waren, von den deutschen
Kolonialbehörden als unsicher eingeschätzt wurde.
Der Rückgang der Missionsaktivitäten zusammen mit den Auswirkungen der materiell
prekären Situation der Mission und den Konsequenzen der der Mission übertragenen
Aufgaben im Rahmen der Kriegsanstrengungen zu einem merklichen Rückgang der
Taufwerber geführt. Der Krieg war damit auch eine Krise der Mission (Linden 1977: 124)
Nach dem Ende der Kampfhandlungen in Ruanda wurde mit einer Synode in Kabgayi der
pastorale Neubeginn eingeleitet. Der Schwerpunkt und die Zielrichtung der Missionsarbeit
sollte (in Anknüpfung an die Position unmittelbar vor dem Weltkrieg) in der Durchdringung
der ländlichen Gebiete bestehen, wo man auf Gebietskonzessionen (ibibanza) semi-
permanente Zweigstationen der großen Stationen gründen wollte (Rutayisire 1987: 102).
Auf politischem Terrain nahmen die Missionare von Anbeginn der belgischen Präsenz an
eine hervorragende Stellung ein, die über die kolonialpolitische Funktion während der
deutschen Periode weit hinausging. Zum einen war die Besatzungsmacht auf das Wissen
der Missionare um die soziale und politische Struktur des Landes angewiesen. Die
Erfahrung, welche die Kolonialfunktionäre aus dem Kongo mitbrachten, beinhaltete wenig,
das auf Ruanda übertragen hätte werden können. Zudem verfügten die (frankophonen)
Missionare über eine intime, wenn auch tendenziöse Kenntnis des Landes, die sie in ihrer 15
212
jährigen Präsenz in Ruanda erworben hatten. Noch 1916 verfaßte Leon Classe eine
Monographie über die Gesellschaft Ruandas, das auch einen Abriß der politischen
Geschichte beinhaltete und von den belgischen Kolonialfunktionären eifrig zitiert wurde (Vgl.
Rumiya 1992: 133).
Zum anderen stützte sich die belgische Kolonialverwaltung bei der Errichtung der
Übergangsverwaltung wesentlich auf die Mission. Save fungierte als eine Art
Verwaltungszentrum, in dessen Umkreis in einer Rückkehr zu früheren Praktiken der
Missionare, die ‚traditionelle’ Hierarchie und damit die Elite von Tutsi-Chiefs ausgeschaltet
oder umgangen wurde, während die Missionsstation Rwaza (im Nordwesten) auf
Ermunterung durch den zuständigen Administrateur de Territoire Tribunale einzurichten
begann. Diese sollten die Unsicherheit, die durch die de facto Abwesenheit der vor dem
Krieg eingesetzten Tutsi-Chiefs entstanden war, kompensieren, errichteten in Wirklichkeit
aber Institutionen mit dezidiert regionaler Basis und Orientierung und somit in krassem
Widerspruch mit der ‚bedingungslosen’ Unterstützung der Tutsi-Chiefs und der Monarchie,
was seit spätestens die 1908 offizielle Politik der Mission war (Linden 1977: 125f; Rutayisire
1987: 136). Mit der (Wieder)Errichtung der Residentur 1917 und dem damit verbundenen
Wechsel zu einem Regime in indirekter Herrschaft, in dessen Rahmen die belgische
Kolonialverwaltung, wenn vielleicht auch nicht bedingungslos, so doch faktisch die
‚traditionelle’ Oligarchie von zentralruandesischen Tutsi-Chiefs und zu einem geringeren
Ausmaß, den Mwami als Repräsentanten des Kolonialregimes aufbaute und ihre Position
stärkte, fand das Experimentieren mit alternativen Herrschaftsstrukturen (das allerdings nie
ein Experimentieren mit alternativen Herrschaftsmodellen gewesen war) ein Ende. Das
beendete auch die Theokratie à la Rwaza und à la Save, die um charismatische
Patriarchenmissionare – ganz nach dem Modell ruandesischer Chiefs – entstanden war und
welche lokale, alternative Brennpunkte von Herrschaft darstellten. Nichtsdestoweniger
hielten die Weißen Väter nach wie vor eine hervorragende Rolle innerhalb des
Kolonialregimes inne, auch wenn ihnen die Arena für direkte Ausübung von
Herrschaftsfunktionen entzogen wurde: als Kommunikationsorgan der Verwaltung, das
sowohl Maßnahmen unter der Bevölkerung bzw. den Chiefs verbreitete, als auch umgekehrt,
Mißbräuche der Chiefs und über lokale Zustände im Allgemeinen berichtete; als Berater der
Verwaltung in Entscheidungen jeder Art; als Quelle von Patronage und damit bis zu einem
gewissen Grad auch als Instrument/Leiter sozialer Mobilität.
Die guten Beziehungen der Weißen Väter zu der Kolonialadministration begünstigten die
physische Expansion der Mission, die sowohl durch die Gründung neuer Missionsstationen
als auch durch die massive Ausweitung der Außenposten erreicht wurde. Im Zuge der
213
kurzfristigen Zession Gisakas hatten Protestanten (Anglikaner und Adventisten) in Ruanda
fußgefaßt und wurden zur prinzipiellen Zielscheibe und Motivation der Ausweitung der Zahl
der Niederlassungen. Obwohl Belgien in den Mandatsstatuten zur Garantie der Religions-
und Konfessionsfreiheit verpflichtet wurde, war der Staat de facto keineswegs religiös
neutral. Die protestantischen Missionare gehörten weit weniger stark zu dem von
Kolonialfunktionären und höher gestellten Missionaren gebildeten kolonialen Establishment.
Der Zugang zu diesem Netzwerk von Funktionären bot für die katholischen Missionare eine
hervorragende Möglichkeit, informell wesentlich Einfluß auf Politikentscheidungen aller Art zu
nehmen. Zum zweiten begünstigte die staatliche Regulierung der Einrichtung von
Missionsstationen und Außenposten die katholische Expansion gegenüber ihren
Konkurrenten.224 Für die Mission war darüber der Rückhalt des Kolonialstaates bei der
Durchsetzung neuer Missionsstationen – welche in der belgischen, im krassen Gegensatz
zur deutschen Periode, in der Regel von Seiten des Staates grundsätzlich gutgeheißen
wurden – bei Musinga von praktischer Bedeutung, da die Unterstützung Musingas für die
Missionsprojekte trotz seiner offensichtlich eingeschränkten Macht für die Expansion nicht
vernachlässigenswert war und insbesondere dabei half, die Ausweitung der protestantischen
Aktivitäten so langsam wie möglich zu gestalten (Linden 1977: 157).
Zu guter Letzt kontrollierte die Mission den Bildungssektor. Zwar wurde mit der Gründung
der Schule in Nyanza und vergleichbarer Schulen in den einzelnen Territorien sowie der
Berufsschule in Cyangugu ein staatliches Schulsystem geschaffen, das aber das katholische
System nicht duplizierte, sondern – als Spezialschulsystem für die Ausbildung des
Verwaltungskaders – die Defizite des katholischen Sektors kompensierte und auf ihm
aufbaute. Von 1921 an kamen die Missionare in den Genuß staatlicher Unterstützung für die
Errichtung und Aufrechterhaltung von Schulen. Ab 1924 wurde das System von
Budgetzuschüssen regularisiert und 1930, nach einer entsprechenden Vereinbarung des
Vizegouverneurs (für Ruanda-Urundi) mit den betreffenden Kongregationen in Ruanda und
Burundi, übernahm die Mission die Verantwortung für das gesamte Schulsystem, für das
einheitliche Lehrpläne konzipiert wurden und in dessen Rahmen die Mission systematische
Subventionszahlungen des Staates erhielt (Vgl. Linden 1977: 155; Rutayisire 1987: 298). Die 224 Die bedeutendste war, daß Niederlassungen verschiedener Denomination eine bestimmte Distanz voneinander aufweisen mußten, die auf externen Druck im Laufe der Zwanziger Jahre von 10 auf 5 km verringert wurde. Die Konsequenz dieser Regelung war, daß der ‚Schnellste’ andere Konfessionen effektiv aussperren konnte. Ein regelrechter Verdrängungswettbewerb, in dem die katholischen Missionare ob ihrer Zahl die besseren Karten in der Hand hielten, war die Folge. Ab Mitte der Zwanziger Jahre mußte die ‚effektive Besetzung’ der Außenstationen (durch zumindest einen Katechisten) nachgewiesen werden, was die katholische Expansion etwas dämpfte (Vgl. Rutayisire 1987: 206ff). Der Wettbewerb war allerdings nicht nur ein interkonfessioneller, sondern auch einer zwischen den verschiedenen Kongregationen, wobei die Weißen Väter naturgemäß wiederum die besseren Karten in der Hand hielten. Erst auf Druck der Regierung ließ Classe – der als Bischof darüber bestimmte, wer in Ruanda missionieren durfte und wer nicht – Mitte der Zwanziger Jahre weitere Kongregationen zu, von denen der Orden, der die Schule in Astrida (späteres Butare) betrieb, bei weitem
214
Mission verfügte über die Kontrolle des Bildungssektors nicht nur über einen Apparat, der
zumindest der Missionierung hilfreich war (der Gedanke, daß ‚Zivilisierung’ in der Form von
schulischem Unterricht früher oder später aus den Schülern Christen machen könne, war ja
der eigentliche Grund für das Engagement der Mission im Schulwesen), sondern die
dadurch erlangten staatlichen Zuschüsse ermöglichten auch die genuine Expansion des
Missionswesens an sich, da die Schulen immer auch religiöse Zentren und als solche
(nämlich als chapelles-écoles) konzipiert waren (Vgl. Rumiya 1992: 208, Rutayisire 1987:
207).
Darüber hinaus gestand der Staat den Missionaren Zollfreiheit zu, räumte ihnen (gegenüber
anderen Europäern) Privilegien hinsichtlich von Gebietserwerbungen ein und finanzierte die
ab den Zwanziger Jahren exponential wachsende Anzahl von soziologischen,
ethnographischen und linguistischen Studien der Missionare225 (Rumiya 1992: 211).
6.1.3.2 Der katholische Schulsektor- Segregation und Ausschluß
Der Schwerpunkt der belgischen Bildungspolitik für die Masse der Bevölkerung lag, nicht
unähnlich der Praxis anderswo, auf der Vermittlung von Grundkenntnissen in Rechnen und
Schreiben sowie auf der Vermittlung von berufsrelevanten Fertigkeiten, was in Ruanda
notwendigerweise die Vermittlung landwirtschaftlicher und handwerklicher Tätigkeiten
bedeutete. Die Mission folgte im wesentlichen dieser Philosophie. Gleichzeitig expandierte
die katholische Schultätigkeit auch in bezug auf die Söhne von Chiefs, deren Rolle als
koloniale Subelite eine andere Art von Ausbildung erforderte. Der Druck, der von Seiten des
Kolonialstaates auf die Tutsi-Chiefs ausgeübt wurde, ihre Söhne ausbilden zu lassen, der
1926 im Ausschluß von Analphabeten von jeglicher Art politischem Posten kulminierte, führte
mit Beginn der Zwanziger Jahre zu einem regen Andrang von Tutsi auf die
Missionsstationen, während zur gleichen Zeit die Gesamtzahl der unterrichteten Schüler
dramatisch anstieg. Von etwa 5.500 Schülern 1922 stieg die Zahl binnen drei Jahren auf
erstaunliche 17.475 (Linden 1977: 158). In Reaktion auf die Kombination von insgesamt
steigenden Schülerzahlen und des neu erweckten Interesses der traditionellen
Herrschaftselite an der durch die Mission vermittelten Bildung, bildete sich ein deutlich
segregiertes Schulsystem heraus, wobei das Zugangskriterium zunehmend die ‚ethnische’
Zugehörigkeit – also die Zugehörigkeit zur sozialen Kategorie ‚Tutsi’ darstellte und auf diese
Weise von der früheren Praxis, ‚Tutsi’ mit der herrschenden Oberklasse zu identifizieren,
deutlich abgegangen wurde. Umgekehrt wurde das Schulsystem für Tutsi aus ärmeren
bedeutendste war (Ebenda: 241). 225 Eine der bekanntesten Forscher-Missionare war der Deutsche Missionar Peter Schuhmacher. Er wurde 1928 von der Mission für seine Forschungstätigkeit freigestellt, ging später nach Wien und erhielt dort ein Doktorat der Universität Wien und kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg für weitere Studien nach Ruanda zurück (Dorsey 1994: 365).
215
Verhältnissen ein entscheidender Faktor sozialer Mobilität, mit dessen Hilfe sie sich vom Los
als Kleinbauern (welche der größere Teil der Tutsi waren) emanzipieren konnten. Die
Segregation der Schulen verstärkte die Funktion des Schulsystems als Motor und
Determinant gesellschaftlicher Stratifikation, welche das Schulsystem ohnehin einnahm
(Ebenda: 157ff). 1928 erließ Bischof Classe explizite Richtlinien in bezug auf die
Besserstellung der Tutsi-Schüler, die in nahezu allen katholischen Schulen implementiert
wurden (C.Newbury 1988: 115).Die diesbezüglichen Instruktionen von Classe sind eindeutig: L’école des Batutsi doit avoir le pas sur celle des Bahutu (...). Elle prépare l’avenir en nous
gagnant les futurs chefs, en gagnant les parents et le gouvernement. (Classe, Anweisung der
Mission in Kigal, 1924 zitiert nach Chrétien 1985 : 144).
In einer Anweisung an die Mission in Rulindo (1925) begründet er die Diskriminierung in
Anknüpfung an die grundlegende Missionsdoktrin der Weißen Väter, der Missionierung von
oben, deren Erfüllung in Anbetracht der Resistenz der traditionellen Elite gegen den neuen
Glauben bislang lediglich Utopie gewesen war: C’est par la conversion des Batutsi que nous assoierons définitivement la conversion du
Rwanda: un pays est converti quand les chefs le sont (...). Il faut tendre à ce que l’école
mututsi n’ait dans son local que des Batutsi. (Classe zitiert nach ebenda).
Die im Laufe der Zwanziger qualitativ massiv verbesserte Ausbildung, die Tutsi für sich in
Anspruch nehmen konnten, steht im krassen Gegensatz zu der dürftigen bis mittelmäßigen
Art von Bildung, die Hutu zuteil wurde. Zwar konnten Hutu ebenfalls vom expandierenden
Bildungssektor profitieren, wurden aber qua ihrer Ausbildung in den zweiten oder dritten
Rang der entstehenden Bildungselite verwiesen. Ihre Bestimmung war es, Bauern und
Handwerker zu werden und höchstens administrative Hilfsdienste zu verrichten. In den
Worten von Bischof Classe: Le jeunes Bahutu quant à eux pourraient occuper des places ‚dans le mines et exploitation.“
(zitiert nach Chrétien 1985 : 144).
Hutu Schüler tendierten zu weit mehr Fehlstunden als ihre Tutsi-Kollegen, was zum Teil die
stärkere Belastung der Hutu als Bevölkerungsgruppe durch die ab Mitte der Zwanziger Jahre
spürbar werdenden Auswirkungen der Agrar- und Arbeitspolitik der Kolonialregierung
widerspiegelte. Hutu Schüler hatten schlechter ausgebildete Lehrer und besuchten
verhältnismäßig öfter überfüllte Busch-Schulen, deren Ausbau massiv hinter den Schulen
der Zentren hinterherhinkte (Vgl. Linden 1977: 163; Rutayisire 1987: 307).
216
Tabelle 9: Schülerzahlen in Schulen der Weißen Väter/Schwestern ca.1927 nach Zentrum (écoles urbaines) und Peripherie (écoles rurales)
Schultypus Schüler Hilfslehrer Schulen der Patres in den Zentren 3.405 85
ländliche Schulen (‚Buschschulen’) 8.113 175
Schulen der Schwestern 3.565 (Schülerinnen) -
Gesamt 15.080 260
Quelle: Rutayisire 1987: 456 EN 52
Mit dem Auslaufen des säkularen Schulsystems ab 1930 wurden die Schulen für Söhne von
Chiefs wie Nyanza, Gatsibu und Ruhengeri sukzessive eingestellt bzw. in das
Normalschulwesen integriert. Der Hauptgrund dafür war, daß die Alphabetisierung der
indigenen Verwaltungselite bereits Anfang der 30er Jahre weitgehend abgeschlossen war –
1935 verfügten 60% der Chiefs und Subchiefs über eine europäische Ausbildung -, die neue
Generation von Schulabsolventen als Chiefs eingesetzt und die Zahl der Chiefs überdies
drastisch verkleinert worden war. Damit hatte auch das Regime der Secrétaires Indigènes
seine Berechtigung verloren, während die Absolventen zunehmend in andere Berufsfelder
drängten (Vgl. Reyntjens 1985: 125f). Als Nachfolgeinstitut der Schule in Nyanza wurde
1929 in dem entstehenden Zentrum Astrida, das 1927 zum Hauptort des gleichnamigen
Verwaltungsterritoriums wurde, die ‚Groupe Scolaire’ gegründet, die von einem belgischen
Orden betrieben, 1932 mit dem Primärschulunterricht und 1937 – mit dem Unterricht in der
höheren Schule begann (Rutayisire 1987: 310).Das Schulziel bestand nun nicht mehr
lediglich in der Ausbildung einer politisch-administrativen Elite, sondern wurde auf die
Ausbildung von Absolventen für den gesamten höheren Bereich des modernen Sektors der
Ökonomie ausgedehnt. Sie sollten Chiefs, Agronomen, Personal für das Gesundheitswesen,
schlicht und einfach, in den Worten des Direktors der Schule „eine neue soziale Klasse
hervorbringen, die eine nicht erbliche Aristokratie darstellt.“ (zitiert nach Chrétien 1985:
148).Dementsprechend wurde die Schule als Eliteschule aufgebaut, und sie besucht zu
haben, stellte zweifelsohne eine Auszeichnung dar. Sie wurde in den Fünfziger Jahren zu
einem Anknüpfungspunkt zum Elitenkonflikt, der entscheidend für die Entstehung und den
Verlauf der ethnischen Polarisierung auf der Ebene der Bildungselite war. Im Gegensatz zu
der Schule in Nyanza beruhte die Groupe Scolaire nicht mehr auf dem formellen Ausschluß
von Hutu, de facto blieb jedoch die Segregation bis Mitte der Fünfziger Jahre bestehen. Die
wenigen ruandesischen Hutu, die trotz der offenen Diskriminierung zu den ‚Astridiens’
gehörten, waren sich ihrer ‚Auszeichnung’ doppelt bewußt. Hutu ‚Astridiens’ gehörten dann
auch zu den Protagonisten der Emanzipationsbewegung der ‚Hutu’ Fünfziger, von der im 4.
Teil die Rede sein wird.
217
Tabelle 10: Schülerzahlen der Groupe Scolaire (Astrida) nach 'ethnischer' Zugehörigkeit
Hutu Jahr Tutsi
Ruanda Burundi Kongo
1932 45 9 14
1933 - -
1934 13 -
1935 11 -
1945 46 - 3 -
1946 44 1 8 -
1947 44 2 10 -
1948 85 2 11 2
1949 85 5 9 -
1953 68 3 16 -
1954 63 3 16 3
Quelle: Lemarchand 1970: 138
Das spezifische Muster gesellschaftlicher Stratifikation, das durch die Segregation des
Schulwesens und den komplementären staatlichen Maßnahmen – die Diskriminierungspolitik
in bezug auf die Vergabe politischer Ämter und die in ihren Konsequenzen diskriminierende
Reform ‚traditioneller’ Natural- und Arbeitsleistungen – geprägt wurde, fand sein
ideologisches Pendant in der Vermittlung dieser Ungleichheit als natürlich und gegeben. Ab
den zwanziger Jahren hatten einige der ambitioniertesten der Missionare begonnen
systematisch Gesellschaft, Ethnographie und Geschichte Ruandas zu erkunden. Alle
unterrichteten sie in den Schulen der Missionszentren und vermittelten ihren Schülern, wie
z.b. Pater Pagés226 die ‚glorreiche Vergangenheit’ des ‚hamitischen Königreiches’ und den
Platz, den die Schüler in der in drei Gruppen geordneten Gesellschaft einnehmen sollten
(Vgl. Linden 1977: 164f). Die zunehmend elaborierte rassistische Deutung der
ruandesischen Gesellschaft durch die Avantgarde forschender Missionare fand ihr
natürliches Gegenstück in den Ergüssen von nicht weniger ambitionierten belgischen
Kolonialfunktionären, wie etwa in den Arbeiten des belgischen Residenten in Burundi, Pierre
Ryckmans oder in den Arbeiten des akademisch ambitionierten Kolonialfunktionärs René
Bourgeois, der seine Forschungsergebnisse im Laufe der Fünfziger in mehreren
(voluminösen) Bänden veröffentlichte (Vgl. Bourgeois 1957; Elias/Helbig 1991: 67). Beide
diskursiven Interventionen gingen nicht spurlos an den Schülern vorüber, zumal die Schule
einer jener privilegierten Orte von Öffentlichkeit227 war, über die europäische Diskurse ihre
Verbreitung in einer breiteren Schicht der Bevölkerung fanden. Die Schule fungierte im
226 R.P. Pages (1933): Un royaume Hamite au centre de l’Afrique, Bruxelles, Académie Royale de Belgique. Pages war 1908 nach Ruanda gekommen und war bis 1927 Superior in Nyundo, als der er auch unterrichtete (zu biographischen Angaben siehe Dorsey 1994: 328). 227 Die Kirche war ein anderer derartig privilegierter Ort von diskursiven Interventionen.
218
kolonialen Kontext als ein ideologischer Apparat, der nicht nur ein bestimmtes hegemoniales
Kategoriensystem durchsetzte, sondern diese durch die Segregation aktiv produzieren half,
während sie gleichzeitig die Begründungen für die Kategorien mitlieferte. Nicht unähnlich der
vorkolonialen Institution der Intore produzierte die Schule ein Elitebewußtsein, das im
Unterschied zur vorkolonialen Auszeichnung, ein ‚Intore’ zu sein und damit im Zentrum der
Monarchie, von Macht und Zivilisation zu stehen, auf der Zugehörigkeit zu einer ethnischen
Kategorie beruhte. Ähnlich auch wie im Falle des durch die Institution der Intore produzierte
Kollektivbewußtsein in vorkolonialer Zeit beruhte das Bewußtsein, zu einer (‚ethnischen’,
kulturellen, sozialen und politischen) Elite zu gehören auf einer totalisierenden
Abgrenzungsbewegung nach außen. Die so konstruierte ‚Wir’-Gruppe erforderte zwar als
logisches Gegenstück ein oder mehrere ‚Sie’-Gruppen. Deren reale, d.h. selbstbewußte
‚Existenz’ konnte durch die diskursive Operation der Ausgrenzung allein nicht hergestellt
werden – sie mußte es allerdings auch nicht. Diese Asymmetrie zwischen Eigen- und
Fremdkonstruktion, die, wie ich meine, auf universelle und im Einleitungskapitel
angesprochene Mechanismen verweist, führt notwendigerweise zu einer Asymmetrie in der
Konstruktion politischer Kollektivität, durch die eine Gruppe erst als Handlungssubjekt
konstituiert wird und brachte der entstehenden Tutsi-Elite den Vorteil, ihre Interessen als
ethnische Gruppe ‚in the making’ verteidigen zu können, bevor diese von der Masse der
Bevölkerung angegriffen werden konnte. In den wichtigsten Bildungsinstitutionen des Landes
– der Groupe Scolaire in Astrida und dem Seminar in Kabgayi, an das 1929 Alexis Kagame,
der spätere Priester, eminente Historiker und Autor eines Werkes über ‚Bantu – Philosophie’
als Seminarist gekommen war, wurde das Elitenbewußtsein akzentuiert und Gegenstand
einer kuriosen Form von kulturellen Nationalismus, der um die historische zivilisatorische
Mission der Tutsi Nobilität zentriert war und dem zugleich das entscheidende egalitäre
Element, ‚die Einladung’ an die Massen, in die Geschichte einzutreten, fehlte, das so typisch
für andere Nationalismen ist (Vgl. Lemarchand 1970: 135f; Nairn 1981: 340).
Das Bewußtsein, zu einer Elite zu gehören, das die Form eines embryonalen ethnischen
Bewußtseins annahm war auf eine zahlenmäßig kleine, wenn auch wachsende Gruppe
derjenigen beschränkt, die von dem qualitativ besseren, segregierten Ausbildungsweg für
Tutsi profitieren konnten. Der immer noch größere Teil der Tutsi-Kinder besuchte im
wesentlichen dieselben Schulen wie ihre Hutu-Alterskollegen, allerdings war die
Einschulungsrate unter den Tutsi weitaus höher als bei Hutu und garantierte den Tutsi als
Gruppe – wenn auch nur ein Teil sich dessen bewußt war – bessere Chancen, den Wunsch
sozialer Aufwärtsmobilität auch erfüllen zu können. Dies führte langfristig dazu, daß Tutsi im
entstehenden europäischen Sektor der Ökonomie – als niedere Angestellte, Unternehmer,
Krankenpfleger usw. – überproportional vertreten waren (Vgl. Codere 1973: 38).
219
6.1.3.3 Konsolidierung und Neubeginn, von der Mission zur Staatskirche, 1917 bis ca.1945
Die unmittelbare Nachkriegszeit war missionsintern eine Zeit der Krise. Alte Konfliktlinien
brachen wieder auf, die sich im zunehmenden Mißtrauen und offenes Mobilisieren gegen
den Stellvertreter des Bischofs der Diözese Kivu Hirth, Msg.Classe und ein Erstarken der
Pro-Hutu (bzw. präziser: der Anti-Chief/Tutsi ) Fraktion äußerte. Der Riß war so tief, daß das
Mutterhaus der Weißen Väter in Algiers einen Berichterstatter einsetzen mußte und Classe
1919 nach Algiers zurückbeorderte. Sowohl der Bericht als auch das Mutterhaus taten die
Vorwürfe gegen Classe als unbegründet ab, während der Zustand der Mission als
besorgniserregend eingeschätzt wurde. In Reaktion auf die Krise der Mission beorderte das
Mutterhaus die wichtigsten Missionare, welche gegen Classe opponiert hatten und die – wie
der Superior in Save, Huntzinger, als problematisch für die Erfüllung der Missionsdoktrin
(Bekehrung der herrschenden Klasse) und die Beziehung zu den Chiefs gesehen wurden,
nach Europa zurück oder versetzte sie auf andere Posten in Afrika. Die wichtigste
Konsequenz der Krise war jedoch die Gründung des Bistums Ruanda und – auch auf
ausdrücklichen Wunsch der Kolonialregierung228 – die Ernennung von Leon Classe zum
ersten Bischof von Ruanda im März 1922 (Rumiya 1992: 213; Rutayisire 1987: 118-132).
Der Beginn einer neuen Ära markierte die Priesterweihe von drei ruandesischen
Seminaristen, Hutu aus der ersten Generation von Konvertiten, im Juni 1919 und von zwei
weiteren im Oktober des selben Jahres. Weitere vier Seminaristen bereiteten sich als
Novizen für den Eintritt in einen Laienorden vor, während neun Novizinnen für einen
Frauenorden von den Weißen Schwestern auf den Eintritt in die Ordensgemeinschaft der
Benebikira vorbereitet wurden (Linden 1977: 135). Die Zahl der indigenen Priester wuchs
langsam. Sie verdoppelte sich im Laufe der Zwanziger Jahre, während sich die Zahl der
Katecheten vervierfachte. Die Massenbekehrungen in den Dreißiger Jahren, über die noch
zu sprechen sein wird, führten sowohl zu einem massiven Anstieg der Zahl der Katecheten
als auch der Priester. Insgesamt erfuhr die Mission in der belgischen Periode insgesamt und
ab etwa 1925 im Speziellen ein massives Wachstum, das ihre wachsende Bedeutung in der
ruandesischen Gesellschaft sowohl reflektiert als auch illustriert.
228 Die Kolonialregierung hatte sowohl beim Superior der Weißen Väter in Belgien (Antwerpen) als auch – auf dessen Empfehlung hin – beim Vatikan interveniert. Nach der Bestellung von Classe wurde die Mitsprache der
220
Tabelle 11: Expansion der Mission - Zahl der Missionare, indigener Priester, Missionsstationen, Außenposten und Katechisten 1922-1944
Jahr Missionare indigene Priester
Missionsstationen Katechisten Außenposten
1922 35 5 12 174 69
1925 43 6 - - -
1926 - - - 336 275
1928 - - 14 476 443
1930 50 10 - - -
1931 - - - 685 496
1934 - - 19 1.162 750
1935 70 20 - - -
1937 - - - 1.389 995
1939 - - 30 1.281 1.092
1941 - - - 1.519 1.089
1943 - - - 1.782 1.119
1944 95 67 33 - -
Quelle: Rutayisire 1987: 431 EN 20 und EN 23 sowie 432 EN29
1917 wurden die ersten Tutsi Notablen nach einer verkürzten Taufvorbereitungszeit getauft
(Linden 1977: 130). Damit waren die Weißen Väter dem lang ersehnten Ziel der Bekehrung
der Aristokratie und der Christianisierung von oben und dem Traum des Gründers der
‚Missionaires d’Afriques’, Kardinal Lavigerie, der Einrichtung eines christlichen Königreiches
im Herzen Afrikas, ein Stück nähergekommen.229 Diese Präokkupation mit der Konversion
der politischen Elite rührte einerseits daher, daß sie als der Inbegriff des ‚nationalen
Bewußtseins’, als nicht nur politische, sondern auch geistige Führer wahrgenommen wurden.
Der offizielle Historiker der Mission (sowie des Landes) De Lacquer230 beschreibt in einem
Artikel in der Missionszeitschrift ‚Grands Lacs’ von 1950 die Gedankengänge der Missionare: Avant la conversion en masse des Batutsi, nous avions des milliers et des milliers de chrétien
Bahutu. Mais leur influence ne s’imposait pas au pays, à sa mentalité (...) Il en fut autrement
lorsque les Batutsi se firent chrétiens. Ils sont les directeurs de la conscience nationale et
forment la charpente de la hiérarchie féodale qui règle la vie sociale du Ruanda. (zitiert nach
Rutayisire 1987 : 355)
Zum anderen reflektierte sie die Angst der Missionare vor dem ‘Gespenst des
Kommunismus’, die sie während der ganzen Kolonialzeit nie völlig verloren und zur dessen
Verhinderung die Konversion der politischen Klasse und der Erhalt ihrer privilegierten
Stellung unbedingt von Nöten war (vgl. Linden 1977: 169 und 193ff). Classe warnte Kolonialregierung bei der Bestellung geistlicher Würdenträger die Regel (Vgl. Rumiya 1992: 213f). 229 Vgl. zu der Missionsdoktrin der Missionierung von oben, das darauf bezugnehmende Zitat von Classe oben p.215
221
eindringlich: Le plus grand tort que le gouvernement pourrait se faire à lui-même et au pays serait de
supprimer la caste mututsi. Une révolution de ce genre conduira tout droit le pays à l’anarchie
et au communisme haineusement anti-européen (…). C’est la pensée et l’intime conviction de
tous les supérieurs de mission au Rwanda sans exception. (zitiert nach Vidal 1973 : 37)
Für ihren Teil folgte die Mission ihren eigenen Empfehlungen und konzentrierte alle Kraft auf
die Bekehrung der herrschenden Klasse. Die Fälle von Konvertierungen von Angehörigen
der Tutsi-Aristokratie blieben bis Anfang der Zwanziger Jahre freilich noch spärlich an der
Zahl. Ihre Zahl stieg aber ab etwa 1925 dramatisch an und war ein wesentlicher Grund für
den ‚Tornade’ – die Massenbekehrungen der Dreißiger Jahre. Die Taufe erwachsener
Notable 1917 war in gewisser Weise eine Ausnahme, denn zunächst kündigte sich die
zunehmende Hinwendung der Tutsi zur Mission und zum Christentum durch die Hinwendung
eines Teils der jungen Generation von Tutsi-Notablen an, deren Beispiel erst in der zweiten
Hälfte der Zwanziger Jahre von der älteren Generation gefolgt wurde. 1924 schrieben sich
die zwanzig Intore Musingas für den Taufunterricht ein. Ein Jahr später schrieb Classe
begeistert: Ce qui m’a le plus frappé, c’est l’avidité de la jeunesse mututsi pour tout ce qui regarde notre
religion. (Classe zitiert nach Rutayisire 1987: 343)
Dies war ein beredtes Zeichen für den rasanten Macht- und Prestigeverlust des Mwami.
Selbst Musingas zweiter Sohn, Rwigemera, begann Taufunterricht zu nehmen und seine
Mutter – deswegen vom Hof verbannt – folgte seinem Beispiel wenig später nach. 1929
waren alle bis auf 20 von etwa 370 Schülern in Nyanza katholisch. Gegen Ende der
Zwanziger Jahre begannen zunehmend auch erwachsene Tutsi-Notable Taufunterricht zu
nehmen und zum Katholizismus zu konvertieren, lokal (etwa in Marangara, wo sich Kabgayi
befand) zum Teil auch schon deutlich früher. 1930 waren 1.934 der 9.014 Taufen solche von
Tutsi. In Nyamesheke231 (in Südwestruanda, wo der Einfluß Rwagatarakas besonders stark
war) machten Tutsi etwa fast die Hälfte aller Konvertiten aus (Linden 1977: 170).
Konversionen zu protestantischen Denominationen (Adventisten und Anglikaner) blieben
dagegen hauptsächlich auf Hutu beschränkt, während zur selben Zeit die Nyabingi-Sekte in
einem kurzfristigen Aufflammens breite Teile der Hutu Bevölkerung für sich gewinnen
konnte. Die Tutsi Aristokratie wurde durch die Konversionsbewegung in zwei Lager von
230 Er wurde bekannt durch sein momunentales Geschichtswerk (Louis de Lacquer (1939): Le Rwanda, Kabgayi) 231 Die Gründung der Mission Nyamasheke 1927 war in sich selbst ein Erfolg der Mission, da sie sich auf ‚heiligem Boden’ – an der Stelle einer ehemaligen Residenz (ibwami) Rwabugiris befand und zugleich ein Ausdruck des Naheverhältnis der Mission zum lokalen starken Mann, Rwagataraka, der umgekehrt von der Unterstützung durch die Mission profitierte (Vgl. Linden 1977: 160).
222
Traditionalisten und ‚Progressiven’ gespalten, wobei die Musinga loyalen Traditionalisten
zunehmend an Boden verloren. Letztere bestand vor allem aus der zahlenmäßig immer noch
starken alten Garde der Chiefs. Erst nach der Absetzung Musingas im Jahr 1931, begannen
auch sie zu konvertieren oder wurden im Zuge der Bürokratisierung von Herrschaft ohnehin
abgesetzt (Linden 1977: 160ff; Rutayisire 1987: 342ff). Die Gleichzeitigkeit der
Massenkonversion der (jungen) Tutsi Nobilität und den massiven Reformen des belgischen
Kolonialstaats im politischen Bereich war freilich kein Zufall. Die katholische Kirche war
unverkennbar einer der wesentlichen Pfeiler des Kolonialsystems und die Herrschaftselite
zollte mit ihrer Konversion zum Katholizismus dieser unmißverständlichen Entwicklung
lediglich gebührend Rechnung (Vgl. Des Forges 1969: 195).
Gleichzeitig mit dem Wandel der Einstellung der Tutsi-Nobilität gegenüber dem Christentum
und der Mission in der Form der katholischen Kirche beraubten staatliche Maßnahmen
gegen ‚untragbaren’ Aberglauben der Monarchie der letzten noch vorhandenen
institutionellen und rituellen Grundlagen ihrer Ideologie. 1925 informierte der Resident den
Mwami, daß von nun an das ‚Erste Früchte Festival’ (umuganura)- die exemplarische
Zubereitung und Präsentation der ersten Sorghumernte – verboten sei und mit ihm alle
weiteren nach dem rituellen Code der Monarchie (Ubwiru) vorgeschriebenen Riten, während
im selben Jahr der führende Ritualist (Umupfumu: Wahrsager) am Hof, Gashamura, nach
Burundi exiliert wurde (Vgl. Linden 1977: 158; Reyntjens 1985: 82). 1929 wurde schließlich
Musinga gezwungen, regelmäßige Visiten im ganzen Land durchzuführen und mußte in
diesem Rahmen auch akzeptieren, den Nyaborongo – dessen Überschreitung ihm rituell
verboten war – zu überqueren. Sein Erstlingsbesuch in Kigali im August 1929 wurde dann
auch entsprechend pompös zelebriert und diente gleichzeitig als gelungene Demonstration
der belgischen Version von Indirekter Herrschaft, die an der Stelle eines ‚sakralen
Königtums’ eine säkularisierte Klasse von (christlichen) Bürokraten-Chiefs gesetzt hatte,
dessen oberster Repräsentant der Mwami selbst war und deren einziges sakrales Attribut die
ihnen attestierte Legitimität war (Vgl. Rumiya 1992: 176ff). Die Absetzung Musingas 1931
war auch ein Erfolg der Mission. Durch sie wurde das Ancien Regime durch ein neues
ersetzt, das unter christlichen bzw. katholischen Vorzeichen stand. Die Säkularisation,
welche das belgische Kolonialregime mit der Desakralisierung der Monarchie vollzogen
hatten, ging nur soweit, wie es um die Abschaffung von als ‚Aberglauben’ und ‚Zauberei’
bezeichnete Praktiken ging. In der Vision der belgischen Kolonialfunktionäre gehörten
Zivilisation und Christentum ganz klar zusammen. „Durch Zivilisation und Religion [gemeint
ist das Christentum]“, schreibt der Administrateur de Territoire von Nyanza, Lenaerts, im
Jahresbericht 1924 für das Territorium Nyanza „haben sich die Tutsi-Chiefs zu fehlerlosen
Gehilfen des Kolonialstaats gewandelt, völlig entkleidet ihrer früheren Brutalität und
223
Grausamkeit.“ (m.Ü., zitiert nach ebenda: 224). Die Inthronisation Rudahigwas bildete einen
glänzenden Höhepunkt der Christianisierung der Tutsi. Von langer Hand vorbereitet, wurde
Musinga unter der Angabe einer Reihe von Gründen (Desinteresse an der Entwicklung des
Landes, Päderastie, Grausamkeit usw.)232 am 11. November seine Absetzung mitgeteilt, die
weder bei ihm noch ihm Lande große Emotionen hervorrief. Am 16. November 1931 wurde
Rudahigwa schließlich feierlich als Mwami Mutara Rudahigwa inthronisiert. Als
Königsmacher hatten der Resident und Bischof Classe fungiert, letzterer hatte auch anstelle
der Abiru den Königsnamen festgelegt. Gouverneur Voisin kam die Rolle zu, die Einsetzung
Rudahigwas zu proklamieren, nicht ohne im gleichen Moment zu betonen, daß Rudahigwa
seine Autorität und Legitimität nicht aus einer Tradition, sondern vom Kolonialstaat selbst
bezog: Rudahigwa, par la désignation du roi des Belges, je te proclame roi du Ruanda. (zitiert nach
Reyntjens 1985 : 91).
Die Einsetzung Rudahigwas markierte den Endpunkt der traditionellen Monarchie und den
Beginn einer neuen Ära, in der die katholische Kirche einen hervorragenden Platz einnahm.
Mit dem neuen Mwami, der zwar erst 1943 getauft wurde233, aber mit gutem Grund als
katholisch gelten konnte, kam der Kirche eine Rolle zu, die sie in Europa längst verloren
hatte und die auch die katholische Erneuerung des langen 19.Jh. (das in bezug auf die
Kirche besonders lange dauerte) nicht hatte wiederherstellen können. Ganz seiner Rolle als
Regent eines christlichen Königsreiches bewußt, widmete Rudahigwa 1946 sein Land
‚Christkönig’ und proklamierte pathetisch: Je reconnais que Vous êtes le souverain maître du Rwanda, la racine de laquelle sort tout
pouvoir et toute puissance. Seigneur Jésus, c’est Vous qui avez formé notre Pays. Vous lui
avez donné toute une longue lignée de rois pour le gouverner à Votre place, encore qu’ils ne
vous connaissaient pas (…). Maintenant que nous Vous connaissons, nous reconnaissons
publiquement que Vous êtes notre Maître notre Roi (…). (zitiert nach Vidal 1973 : 39).
Rudahigwa wurde ein Jahr später für seine großen Verdienste um die Christenheit der Orden
des Heiligen Gregor verliehen (Reyntjens 1985: 93). 232 Der Hauptgrund für die Absetzung dürfte allerdings seine zunehmende Feindseligkeit gegenüber der katholischen Kirche – gegenüber katholischen Chiefs, deren Einsetzung er zu verhindern suchte und gegenüber den Missionaren – gewesen sein (Reyntjens 1985: 89). Musinga hatte sich seit 1926 in einem verzweifelten Versuch, sich aus dem immer enger werdenden Netz um ihn zu befreien, an die Adventisten und später an die Church Missionary Society als Quelle möglicher Patronage und gleichzeitig als Instrument der Machtpolitik gewandt (Linden 1977: 167). 233 Rudahigwa heiratete 1933 eine Frau aus der alten Linie der Gisaka-Könige. Bischof Classe zögerte Rudahigwa taufen zu lassen, solange der ‚Erfolg’ der Ehe (in der Form von Kindern) sich nicht zeigte. Die Ehe blieb kinderlos und wurde 1942 geschieden. Rudahigwa wurde Dispens gewährt und heiratete erneut, dieses Mal eine Katholikin. 1943 wurde er feierlich unter Beisein des kolonialen Establishments getauft – der vormalige Resident von Ruanda, Pierre Ryckmans, der seit 1934 Generalgouverneur des Kongo war, übernahm die Rolle des Taufpaten – ein starker symbolischer Ausdruck der aus Kirche, Kolonialadministration und ‚traditioneller’
224
Der Erfolg der Missionierung der Aristokratie stellte sich insbesondere nach der Absetzung
Musingas und der Inthronisation seines Sohnes Rudahigwa als Mwami mit dem bald und
offensichtlich ein. Hingen 1936 nur mehr 20% der Chiefs und 13% der Subchiefs der
traditionellen Religion an, waren es 1938 nur 8% bzw. 12%. 1947 gab es einen einzigen
Chief (von insgesamt 51, also 2%), der nicht Christ war, während der Anteil von Anhängern
der traditionellen Religion unter den Subchiefs 3% betrug (Reyntjens 1985: 125).
Die Konzentration der Kräfte der Mission auf die Bekehrung der Tutsi-Aristokratie zeigte sich
noch auf zwei anderen Fronten. Zum einen bildete sich spiegelbildlich zur Segregation im
Schulsystem eine ähnliche Segregation im Katechumenat heraus. 1929 war dieses auf ein
zweistufiges System ausgebaut worden, das insgesamt vier Jahre dauern sollte, wobei in der
Praxis Ausnahmen die Regel darstellten und die Taufe schon vorher, z.B. im Falle der
Heirat, gewährt wurde. Wegen der ihnen zugedachten politischen Rolle war der
Taufunterricht bei Tutsi234 weitaus intensiver als bei ‚normalen’ Taufwerbern (Rutayisire
1987: 318). Die Kombination von Segregation im Katechumenat und schulische Segregation
führte zu einer stärkeren institutionellen Integration von Tutsi in den engeren Bereich der
Kirche, was sich an dem starken Anwachsen des Anteils von Tutsi in den geistlichen Berufen
widerspiegelte. In 1940 betrug der Anteil von Tutsi unter den Geistlichen (inkl. Nonnen) etwa
50%. Dies prägte wiederum die intellektuelle Atmosphäre an den Schulen – insbesondere an
den Schulen der Missionszentren, an denen überwiegend Priester unterrichteten, die zu
einem steigenden Anteil Tutsi waren und selber wieder überwiegend Tutsi-Schüler
unterrichteten (Linden 1977: 198). Der Tutsi Klerus, der meist aus der mittleren oder höheren
Aristokratie stammte, konnte sich zudem guter Beziehungen zu Rudahigwa rühmen, der
selbst allerdings erst 1943 getauft wurde. Sie waren auch die Hauptprotagonisten eines auf
die Monarchie orientierten kulturellen Nationalismus, dessen bekanntesten Resultate sich in
dem voluminösen Werk Alexis Kagames zeigen, während zur selben Zeit eine Renaissance
traditioneller Lyrikformen unter christlichen Vorzeichen und im Bewußtsein der Besonderheit
der ruandesischen Monarchie stattfand.(Vgl.ebenda: 200; Lemarchand 1970: 136).
Wie erwartet, setzte mit der Konversion der Tutsi-Elite eine Massenbekehrungsbewegung
ein, die bis in die Kriegsjahre hinein andauerte und bis dahin wenigstens ein Fünftel der
Bevölkerung zu Katholiken werden ließ. War die offizielle Kirche eine Domäne von Tutsi, so
wurde der Masse der Bevölkerung, gemäß dem in der päpstlichen Enzyklika ‚Acerba Animi’
(1932) gemachten Aufruf zur ‚Katholischen Aktion’ die Rolle des Laienapostolats zugedacht
Autorität gebildeten kolonialen Triade (Linden 1977: 199). 234 Es ist – wie so oft, wenn von ‚Hutu’ oder ‚Tutsi’ die Rede ist, nicht ganz klar, wer gemeint ist. Die Ambivalenz findet sich freilich schon in den diesbezüglichen Direktiven der Mission.
225
(Rutayisire 1987: 282).Der Erfolg war freilich nicht dauerhaft. Während des Krieges, der in
der Form von verstärkten administrativem Zwängen auf der Bevölkerung lastete ging die
Zahl der Katholiken auf 312.000 (1946) zurück, während zugleich protestantische
Denominationen, insbesondere die von der Church Missionary Society initiierte evangelikale
Enreuerungsbewegung Abaka (die, welche [mit Hilfe des Heiligen Geistes] scheinen), eine
wachsende Zahl von Anhängern unter der Hutu Bevölkerung fanden (Linden 1977: 206f).
Tabelle 12: Zahl der Katholiken und Taufwerber, 1914-1943
Jahr Christen Taufwerber 1914 10.438 6.640
1922 20.886 4.915
1925 29.097 10.058
1928 38.454 19.392
1931 60.464 40.437
1934 164.483 97.767
1937 256.017 59.677
1939 299.079 68.045
1941 331.338 45.959
1943 359.584 41.408
Quelle: Mbonimana/Ntezimana 1990: 137; Rutayisire 1987: 460 EN 1
6.2 Die Ökonomie der Reform: Der koloniale Entwicklungsstaat, ca. 1925-1945
Die hier vorgeschlagene Periodisierung versteht sich als eine, die breite Tendenzen sichtbar
machen soll. Sie ist in gewissermaßen willkürlich, da der in Ruanda errichtete Kolonialstaat
schon vor 1925 Anzeichen eines (autoritären) Entwicklungsstaates zeigte. Die Periode der
ökonomisch-politischer Reformen begann eigentlich schon mit den ersten Maßnahmen, die
1917 in Reaktion auf die Hungersnot Rumanura getroffen worden waren. Allerdings erreichte
der Kolonialstaat erst ab etwa Mitte der Zwanziger Jahre zunehmend die nötige
Handlungsautonomie, um beschlossene Maßnahmen – die schon vor 1925 zahlreich waren,
auch durchsetzen zu können. Gleichzeitig wandte sich die Verwaltung in der zweiten Hälfte
der Zwanziger zunehmend langfristigeren Zielen zu, welche über die davor getroffenen
Maßnahmen – Kampf gegen ‚Mißbräuche’ der Chiefs, Verbesserung der
Subsistenzsicherheit der Bevölkerung, Entlastung der Bevölkerung von unbilligen
‚traditionellen’ Abgaben usw. zumindest ihrer Intention nach hinausgingen. Auf politischem
Terrain – also der Transformation der Herrschaftsstruktur in einen bürokratischen
Herrschaftsapparat – stellt sich das Problem der Periodisierung ähnlich dar. Wie oben (Vgl.
insbesondere Kap. 6.1.2.3.2.2, pp.195f) dargestellt, waren formale und informelle Strukturen
der Herrschaft seit Etablierung der belgischen Besatzung einem ständigen Reformdruck
226
ausgesetzt. In den autonomen Regionen, in denen die (bereits wesentlich transformierte
Zentralgewalt) erstmals bleibend durchgesetzt wurde, nahmen die durchgesetzten
Autoritätsstrukturen vieles der Reformen vorweg, die gegen Ende der Zwanziger Jahre in
ganz Ruanda durchgesetzt wurden und in gewisser Weise mit der Absetzung Musingas ihren
symbolischen Abschluß fanden.
Allerdings war die Handlungsautonomie des Staates auch in bezug auf Errichtung einer
durchgängig bürokratisch organisierten Verwaltung ab der zweiten Hälfte der Zwanziger
Jahre wesentlich weiter als in der ersten Dekade der belgischen Präsenz, was sich in der
Vervielfachung der Reformen und der Beschleunigung ihrer Implementierung ausdrückte. Als
formeller Ausdruck der erweiterten Handlungsautonomie des Kolonialstaates ab der zweiten
Hälfte der Zwanziger Jahre und als formelles Datum für die hier vorgeschlagenen
Periodisierung kann die endgültige Konsolidierung des internationalen und kolonialen Status
der Mandatsterritorien durch die Annahme des Mandats durch das belgische Parlament im
Oktober 1924 und durch den Beschluß über die Eingliederung der Mandatsterritorium als
Vizegouvernement in den belgischen Kongo im August 1925 angesehen werden (Vgl.
Tabelle 8: Rechtlicher Status Ruandas, 1917-1925, p.193).
Die politischen Reformen gingen Hand in Hand mit den Reformen auf wirtschaftlichem
Gebiet. Die wirtschaftspolitischen Ambitionen des Kolonialstaates erforderten eine
Verwaltungsstruktur, mit deren Hilfe jene erst verwirklicht werden konnten. Da der
Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik in der Absenz von Industrie, Gewerbe oder
nennenswerten Mineralienvorkommen in der Entwicklung des kommerziellen Potentials der
Landwirtschaft lag und aber die Entwicklung eines großen europäischen plantagengestützten
Sektors angesichts der Knappheit an Land in großem Ausmaß nicht realisierbar erschien,
mußte die administrative Struktur so angelegt sein, daß sie den kleinbäuerlichen Sektor von
einer subsistenzorientierten zu einer überschuß- und exportbasierten, kommerziellen
Landwirtschaft transformieren könne. In einer Umdrehung der Formulierung Goran
Hydens235 mußten die Institutionen des Staates in einer Weise transformiert werden, daß sie
fähig sein würden, die Kleinbauern in den Orbit des Entwicklungsstaates zu holen: ‚to
capture the peasantry’ (zitiert nach Herbst 2000: 18). Die politischen Reformen zielten
allerdings nicht nur darauf. Wie jedes politisches Handeln basierten sie auf spezifischen
Vorstellungen von Politik im Allgemeinen und Kolonialpolitik im Besonderen, die wesentlich
darauf Einfluß hatten, was als Problem gelten konnte und welche Lösungen dafür gefunden
wurden. Der wichtigste derartige politische Glaube wurde schon im vorangegangenen
Abschnitt ausführlich diskutiert, nämlich die Vorstellung der ‚natürlichen Legitimität’ der 235 Goran Hyden (1980): Beyond Ujamaa in Tanzania: Underdevelopment and an Uncaptured Peasantry;
227
Chiefs als politische Amtsträger. Diese war neben pragmatischen Gründen, der wichtigste
Grund und der ideologische Hintergrund dafür, daß Chiefs (und zu einem weitaus geringeren
Ausmaß die Monarchie) als Organe des Kolonialstaates gebraucht und zu bürokratischen
Funktionären des Kolonialstaates transformiert worden sind. Die Veränderung im Status der
Chiefs und die entsprechenden Regulative, die der Staat dafür einsetzte, sind nur vor dem
Hintergrund der daraus resultierenden Spannung zwischen ‚Beibehaltung’ der ‚traditionellen’
Struktur und der ihr zugesprochenen Funktion (Legitimitätsquelle) einerseits und der
veränderten Funktion der Chiefs innerhalb des sich herausbildenden Entwicklungsstaates zu
sehen.
6.2.1 Die Transformation der Verwaltung
An früherer Stelle ist die zunehmende Kontrolle der Kolonialverwaltung über die Einsetzung
und Absetzung von Chiefs schon ausführlich zu Sprache gekommen (Vgl. oben p.196f und
p.201f). Die ersten von den Belgiern vorgenommenen Absetzungen scheinen 1923/24
vorgenommen worden zu sein. Im Jahresbericht 1925 präzisierte die Kolonialverwaltung die
Funktion der Chiefs im Rahmen der Verwaltung und die Richtung, in die stattzufindende
Reformen gehen sollten. Die Ziele und die Methode der Kolonialpolitik sollten umfassen:
1. die Anerkennung und Stärkung der ‚traditionellen’ Autorität
2. die Stabilisierung der politischen Funktionen
3. ‚die ehrenhafte’ Anwendung anerkannten Gewohnheitsrechts durch die Chiefs
4. Absetzung ‚unehrenhafter’ und ‚widerspenstiger’ Chiefs, oder solcher, die ihre Macht
mißbrauchen
5. graduelle Absetzung der ‚alten’ Chiefs durch geschulte Kräfte (Jahresbericht 1925
zitiert nach Reyntjens 1985: 112).
Die Kolonialadministration hatte auch präzise Vorstellungen, wie man zum einen die
‚traditionellen’ Strukturen stärken und zum anderen die politischen Funktionen stabilisieren
konnte. Beschreibungen der traditionellen Herrschaftsstrukturen Ruandas in einschlägigen
Verwaltungsberichten sahen ein wesentliches Hindernis für eine ‚rationalere’ Verwaltung in
der wahrgenommenen Komplexität der vorgefundenen Befehls- und Autoritätsstrukturen. Die
Teilung der Macht auf lokaler Ebene zwischen Weide- und Land-Chief, die Existenz einer
parallelen Autoritätsposition in der Person des Armee-Chiefs sowie die zahlreichen Chiefs,
die direkt dem Mwami unterstanden mache, so der Tenor der Verwaltung, nicht nur die Lage
unübersichtlich, sondern erschwere die Arbeit der europäischen Verwaltung, die es mit
zahlreichen Autoritätspersonen von unklarer Bedeutung zu tun habe: Diese Situation [wo zahlreiche Chiefs direkt dem Mwami unterstehen und der europäische
Administrateur de Territoire für ihn zuständig ist] führt dazu, daß der Administrator ständige
Berkeley: University of California Press
228
Beziehungen zu gewissen Subchiefs pflegen muß, die keine große Bedeutung haben [aber
bei denen Supervision notwendig ist], wegen ihrer ständigen Einmischung und unklugen
Verwaltung (...) (M.Ü.; lokaler Bericht 1929, SW-Ruanda, zitiert nach C.Newbury 1988: 62f)
und: Diese Dualität [zwischen Weide- und Land-Chief] führt unweigerlich zu Chaos. Zum Schluß
taucht noch eine dritte Gestalt neben den anderen beiden auf, der Ingabo Chief. In der
Theorie ist er der Armee-Chief. Tatsächlich ist er nur ein anderer Patron, der Abgaben
verlangt und der gegen Geschenke bei juristischen Angelegenheiten als Fürsprecher auftritt –
ebenso wie in bezug auf den König. (Rapport sur le territoire de Kigali, 1929, m.Ü. zitiert nach
Lemarchand 1970: 72)
Der Schlüssel zu einer Rationalisierung der Verwaltung lag daher in den Augen der
Kolonialbehörden zum einen in der Vereinfachung der vorgefundenen Hierarchie. Für die
Belgier hatte dieser Eingriff lediglich ‚kosmetischen’ Charakter in bezug auf den Charakter
der Autoritätspositionen und vor allem in bezug auf ihre Legitimität. Die Reform war
diesbezüglich nur oberflächlich, sie ‚bereinigte’ die bestehende Struktur, indem sie sie
homogenisierte ‚irregulärer Befehlslinien’ abschaffte (Vgl. C.Newbury 1988: 63). In
Wirklichkeit aber schuf die Kolonialverwaltung mit der Bündelung aller politischen
Kompetenzen in der monokratischen Figur des Chiefs, dessen Position auf unterer Ebene
von dem Subchief, und auf oberster Ebene vom Mwami spiegelbildlich eingenommen wurde,
eine Struktur, die es in Ruanda bisher nie gegeben hatte und in der Macht in einem bisher
nie dagewesenen Ausmaß konzentriert wurde. Die ‚Chefferie’ hob sich als territoriale Einheit
mit einer bestimmten (idealerweise anzupeilenden) Zahl an Steuerzahlern und einer
bestimmten territorialen Ausdehnung kraß von der Art von gestreuten und essentiell auf
Personen bzw. Gruppen von Personen bezogenen Herrschaftssystem ab, das im
vorkolonialen Ruanda üblich war.
Zum anderen konnte die Stabilisierung des politischen Systems dadurch erzielten werden,
daß (die insbesondere Musinga attestierte) Willkür in der Bestellung und Absetzung von
Chiefs/Subchiefs mittels der Kontrolle einzuschränken versucht wurde, die von den
zuständigen europäischen Kolonialfunktionär darüber ausgeübt wurde. Dies bedeutete auch
den Versuch, den Prozeß der Amtsvergabe selbst zu verrechtlichen, sie zu einem
regelgeleiteten Prozeß zu transformieren: Ce qui importait surtout, c’était d’enlever aux fonctions des chefs leur caractère de précarité.
L’autorité européenne rendit ceux-ci indépendants des caprices des mwami, et les destitutions
ne furent prononcées que sous contrôle et suivant les nécessités impératives de l’intérêt
général. (Jahresbericht 1932, zitiert nach Maquet/d’Hertefelt 1959 : 13).
229
1926 wurde durch ein Rundschreiben des Residenten in einem ersten Schritt zur
Homogenisierung und territorialen Konsolidierung die in Zentralruanda übliche
Tripelhierarchie von Weide-Chief, Armee-Chief und Land-Chief abgeschafft. Dies beinhaltete
auch die Abschaffung von Autoritätspositionen, die in direkter Linie dem Mwami, und auf der
Seite der europäischen Verwaltung, dem zuständigen Administrateur de Territoire
unterstanden (Feltz 1971: 88; C.Newbury 1988: 63). In einem damit korrespondierenden
Schritt wurde ebenfalls 1926 mit der territorialen Konsolidierung der Chefferies begonnen.
Keine neuen Ibikingi-Territorien wurden vergeben und 1930 die noch bestehenden Ibikingi
abgeschafft und in größere Chefferies integriert (Reyntjens 1985: 119). Während mit der
Abschaffung von Ibikingi versucht wurde, ungenutztes Land frei zu machen, stärkte die damit
verbundene territoriale Konsolidierung auf lokaler Ebene, d.h. auf der Ebene der Sous-
Chefferies lediglich die Position des Subchiefs, der die Vergabe des Landes kontrollierte. Die
Wirksamkeit der Reform bezüglich Ibikingi blieb jedoch beschränkt und de facto blieben
viele Ibikingi der Funktion nach (als Nutzungs- bzw. Besitztitel) bis 1961 bestehen (Dorsey
1983: 68). Ab 1927 begann die Kolonialverwaltung mit der Konsolidierung der Chefferies und
Sous-Chefferies im eigentlichen Sinn, mit dem Ziel, einheitliche, aneinander anschließende
Territorien zu schaffen (d.h. die Enklaven/Exklavenbildung zu vermeiden) und erhob die
territoriale Reorganisation 1930 zu einem der wesentlichen Pfeiler des unter dem Namen
des Vize-Gouverneurs des Kongo 1930-1932, Voisin, bekannt gewordenen
Reformprogramms. Ähnlich wie im Falle von Ibikingi wurden Territorien zu Sous-Chefferies
bzw. Chefferies konsolidiert, indem man frei gewordene Posten nicht nachbesetzte und die
damit verbundene Verantwortlichkeit einer anderen Chefferie zuschlug. Eine andere
Strategie besonders hinsichtlich der ‚Grand Chefs’ war, sie zum informellen Austausch von
Territorien zu bewegen. Parallel zur Konsolidierung von Territorien versuchte die
Administration eine Bereinigung der Klientelverhältnisse durchzuführen, um das
(wahrgenommene) Problem der häufigen ‚Blockade’ der traditionellen Strukturen durch
(politischen) Klientelismus und die dadurch bedingte ungleichmäßige Durchsetzung von
Direktiven der Kolonialverwaltung einer Lösung zuzuführen. Damit verstärkte die
Kolonialmacht in gewisser Weise nur ein bereits angelegte Tendenz im traditionellen
System, wo der relevante politische Amtsträger zugleich auch oft den begehrtesten Patron
darstellte. Mit der Bündelung der politischen Macht in einer Person war die Tendenz zum
Zusammenfallen von politischem Amt und Patron ebenfalls bereits verstärkt worden (vgl.
oben p.201). Der Versuch, den Klientelkomplex und politische Autorität per Dekret in
Übereinstimmung zu bringen gelang nur unvollständig und dementsprechende Maßnahmen
mußten relativ bald wieder zurückgenommen werden.236 Der Trend des Zusammenfallens
von Klientelkomplex und politischer Autorität hielt aber an und verfestigte sich bis zur
236 z.B. durfte niemand gezwungen werden, Klient eines Notablen zu werden (Reyntjens 1985: 121)
230
Abschaffung von Ubuhake 1954.
Ab den Dreißiger Jahren ging die Kolonialmacht verstärkt dazu über, Territorien durch die
Absetzung von Chiefs – besonders jener kleinerer Einheiten - zu konsolidieren und benutzte
die ‚Waffe’ der Absetzung als ein Strafmittel für Chiefs, die sich während der Hungersnot
1927-1930 als unkooperativ erwiesen hatten (Dorsey 1983: 62) Die wesentlichen Teile des
politisch-administrativen Reformprogramms - territoriale Konsolidierung, Bündelung
politischer Macht und Stabilisierung der politischen Funktionen - führte damit auch zu einer
wesentlichen Reduktion der Zahl der Amtsträger um etwa die Hälfte (von etwa 2.500 auf
1.100 1933) und zu einer damit verbundenen Homogenisierung ihres Status.
Tabelle 13: Absetzungen und Gebietsauflösungen 1930-1932
Jahr 1930 1931 1932 Summe 1930-32 Abgesetzte Chiefs 2 7 1 10
Abgesetzte Subchiefs 73 223 20 316
aufgelöste Einheiten
(Ibikingi, Sous-
Chefferies)
215 724 29 968
Quelle: Reyntjens 1985: 122
Bis 1959 wurde die Zahl der Amtsträger noch einmal um die Hälfte reduziert (Vgl. Reyntjens
1985: 118ff). Damit erhielten die Chiefs nicht nur eine Machtfülle gegenüber der
Bevölkerung, die zu erreichen in vorkolonialer Zeit kaum jemals gelungen war, sondern die
politische Elite selbst wurde erheblich – auf einige Familien – reduziert. Es nimmt daher auch
nicht Wunder, daß kurz vor der Dekolonisierung wenige Lineages auf den hohen Posten
dominierten und allein ein Drittel der Chiefs Angehörige der Nyiginya-Hindiro Lineage waren,
der auch der Mwami angehörte (Ebenda: 107).
Tabelle 14: Anzahl der Chiefs und Subchiefs, ausgewählte Jahre bis 1959
Jahr Chiefs Subchiefs 1933 65 1043
1938 56 860
1947 51 625
1959 45 559
Quelle: Reyntjens 1985: 123
Noch vor der Effektuierung der Reform der politischen Ämter wurde damit begonnen,
Abgaben und Tributleistungen zu homogenisieren, zu reduzieren und zunehmend zu
231
monetarisieren. Uburetwa war einer der ersten Rechte, die ‚gesetzlich’ (d.h. per
Rundschreiben u.a. Formen von Verwaltungsverordnungen) reguliert wurde. Über ihre
Verrechtlichung und deren Konsequenzen ist oben schon ausführlich gesprochen worden
und soll hier nicht wiederholt werden (Vgl. oben pp.208ff) 1924 wurden praktisch alle
weiteren (Natural-) Abgaben homogenisiert und auf eine, den jährlichen Tribut an den
Mwami (ikoro) reduziert (Bourgeois 1957: 181). Ikoro hatte in den Augen der Belgier eine in
gewisser Weise ähnliche Funktion wie uburetwa und einen ihr ähnlichen Status. Sie
versinnbildlichte Gehorsam und Loyalität, während zugleich jeweils der Verdacht auf
Mißbrauch durch die politische Klasse nahe lag. Die Reduzierung der Naturalabgaben
spiegelt damit eine fundamentale Spannung der Reformen wider, die durch die schwierige
Balance zwischen dem Versuch, die ‚Legitimität’ der Chiefs – als deren Garantie
paradoxerweise die Naturalleistungen angesehen wurden – nicht zu gefährden auf der einen
Seite, und dem Kampf gegen Mißbrauch auf der anderen Seite, hervorgerufen wurde. Die
Reform der Naturalabgaben stand dabei im direkten Verhältnis zum Anwachsen der
Anforderungen an die Masse der Bevölkerung, die der Kolonialstaat an diese stellte
(Steuern, Zwangsarbeit, Zwangsanbau bestimmter Feldfrüchte usw.).
Tabelle 15: Reform 'traditioneller' Herrschaft
Jahr Maßnahme 1922 Tribunaux indigènes eingeführt, deren Funktion aber
unklar bleibt
1924 Abschaffung zweier Tribute in der Form von Vieh und
die Beschränkung der Kompetenz der Abatora – der
Steuereinheber des Mwami auf die Einhebung der
jährlichen Tribute an den König (ikoro) sowie
Abschaffung der ebenfalls unter Abatora bekannten
Einhebung von Bananen
1926 Tripelhierarchie abgeschafft; keine neuen Ibikingi mehr
vergeben
1929 den Tribunaux Indigènes wird das Recht, Haftstrafen
auszusprechen, entzogen
1930 Auflösung kleiner Einheiten (Ibikingi, direkt vom Mwami
abhängige Enklaven)
1931 Absetzung Musingas und Einsetzung Rudahigwas
Begrenzung des Aufenthalts von Chiefs am Hof auf 15
Tage im Jahr
1931/32 verbleibende traditionelle Abgaben reformiert:
Reduktion von Uburetwa auf maximal 13 Tage pro Jahr;
Tribut an den Mwami (ikoro) monetarisiert; schrittweise
Übergang zu einem Gehaltssystem für Chiefs und
Subchiefs
232
1936 Tribunale reorganisiert
1939 monetäre Ablöse für Uburetwa für gewisse Gruppen
1944 Ablösemöglichkeit für Uburetwa generalisiert
1949 Ablöse f. Uburetwa verpflichtend eingeführt
1954 Abschaffung von Ubuhake
Quellen: Bourgeois 1957 ; Dorsey 1994: 49ff: 181f; Gravel 1968: 150f; Reyntjens 1985 : 92 und 150ff
Die politischen Reformen können nicht unabhängig von der veränderten Rolle der Chiefs in
dem sich herausbildenden kolonialen Entwicklungsstaat betrachtet werden. Sie dienten
explizit dem Ziel, die effiziente Ausübung der den Chiefs übertragenen
Verwaltungsfunktionen zu gewährleisten. Die primäre Rolle der Chiefs war es, die im Zuge
der wirtschaftspolitischen Reformen ab den Dreißigern getroffenen Maßnahmen zu
implementieren. Dies beinhaltete die Überwachung des Zwangsanbaus bestimmter
Feldfrüchte und Cash Crops, sie hoben Steuern ein, führten die Bevölkerungsevidenz,
fungierten als Richter in den Tribunalen, überwachten die Implementierung von Anti-
Erosionsmaßnahmen und die Instandhaltung von Straßen, überwachten Impfungen und
andere gesundheitspolitische Maßnahmen, organisierten Arbeitskräfte für öffentliche
Arbeiten und erstatteten dem lokalen Verwaltungsbeamten Bericht über ihre Tätigkeiten, der
selbst wieder wesentlich bei der Ein- und Absetzung von Chiefs und Subchiefs beteiligt war.
Die Ersetzung von Naturalabgaben durch monetäre Steuern ging mit der (schrittweisen)
Einrichtung eines Gehaltssystems für Chiefs und Subchiefs einher. Schon in den zwanziger
Jahren verblieben 10% der von den Chiefs gesammelten (Kopf-) Steuereinnahmen237 in den
Händen der ‚traditionellen’ Hierarchie. Jeweils 5% der Einnahmen gingen an Chiefs bzw.
Mwami (Dorsey 1993: 58) Anfang der Fünfziger Jahre sah das Gehaltsschema für Chiefs
neben einem Grundgehalt (plus einem Bonus für bevölkerungsstarke Chefferies) einen
jährlichen Bonus entsprechend der Bewertung des Administrateur de Territoire vor, der
durchschnittlich 15-20% seines Gehalts ausmachte. Die regelmäßigen Inspektionen des
europäischen Personals der politischen Verwaltungen waren explizit dazu gedacht, die
‚Effizienz’ der Chiefs in der Ausübung der ihnen übertragenen Aufgaben zu prüfen und im
Falle von Nichterreichen der administrativen Ziele, Sanktionen zu ergreifen. Damit verschob
sich, wie René Lemarchand richtigerweise festgestellt hat, der Lokus der
Rechenschaftspflicht entscheidend in Richtung der europäischen Verwaltung.
237 Zur Kopfsteuer kamen später noch eine Steuer auf Vieh sowie eine Steuer auf Polygamie (Vgl. Dorsey 1994: 53 und 193).
233
Abbildung 12: Schema der Verwaltung unter belgischer Kolonialherrschaft
Quellen: Dorsey 1994: 53; Reyntjens 1985: 167
Das, worüber Rechenschaft abgelegt werden mußte, bestand essentiell im Erfolg der
Implementierung von Maßnahmen im Bereich der Ökonomie, der öffentlichen Gesundheit,
Umweltpolitik u.a., während der Kontrolle der Chiefs in bezug auf ihr Verhalten gegenüber
der Bevölkerung institutionell nicht Ausdruck verschafft wurde (vgl. Lemarchand 1970: 121ff).
Dazu trug bei, daß, wenn auch das Personal der europäischen Verwaltung gegenüber der
deutschen Periode deutlich angewachsen war, der Personalstand der politischen Verwaltung
im engeren Sinn (also der Resident, die Administrateurs de Territoire, und die ihnen
zugeteilten Agents Territoriaux) zu gering blieb, um eine effektive Kontrolle der Chiefs zu
gewährleisten. Betrug der Personalstand der politischen Verwaltung 1925 17 Personen, so
stieg er bis 1930 auf 32 und bis 1934 auf 33 Personen an, während er ein Jahr später auf 27
Personen zurückging (Cornet 1996: 144; Reyntjens 1985: 169). 1928 kamen auf einen
belgischen Funktionär etwa 65.000 Banyarwanda (Carnet 1996: 73).
Belgische Regierung Generalgouverneur des Belgischen Kongo und von Ruanda-Urundi (Boma, dann Leopoldville) Vize-Generalgouverneur und Gouverneur von Ruanda-Urundi/ Generalresident in Usumbura Verwaltung des Vize-Generalgouvernements Rat des Vize-Generalgouvernements
(gebildet vom Vize-Generalgouverneur und den beiden Residenten)
Resident (Kigali) Mwami
Spezielle Verwaltung (Agronomischer Dienst, Gesundheitsdienst usw.) Strafgerichtsbarkeit Administrateur de Territoire Chiefs Agents Territoriaux Subchiefs Legende : Hierarchie Einflußrichtung der europäischen Verwaltung
234
6.2.2 Die Transformation der Ökonomie
Die Aktivitäten des Kolonialstaates auf wirtschaftlichem Gebiet hatten zwei grundlegende
Ziele. Ein Ziel, das seit dem Beginn der belgischen Herrschaft in Ruanda mit wechselndem
Erfolg aber konsistent verfolgt wurde, bestand in Maßnahmen zur Sicherung der
Subsistenzsicherheit der Bevölkerung, ein zweites in der Anbindung Ruandas an die
Weltwirtschaft, anders gesagt in der kapitalistischen Reorganisation der traditionellen
Subsistenzwirtschaft.
6.2.2.1 Susbsistenzsicherung
Das Ziel der Subsistenzsicherung wurde durch vorgeschriebenen Anbau dürreresistenter
Nutzpflanzen, Ausdehnung der Anbaufläche durch Trockenlegung von Sümpfen, Aufforstung
(mit kommerziell verwertbaren und schnellwachsenden Eukalyptusbäumen) und Anti-
Erosionsprogramme sowie in der sukzessive ‚Entlastung’ der Bevölkerung von Uburetwa-
Verpflichtungen, insbesondere in der Reduktion des Anteils von Uburetwa, der für private
Zwecke der Nutznießer (Chief und Subchief) vorgesehen war, zu erreichen versucht. Im
Laufe der Zwanziger Jahre – erstmals 1925 – und verstärkt nach der großen Hungersnot
1927-1930, die unter dem Namen Rwakayihura bekannt wurde238, erließ die belgische
Verwaltung umfangreiche Verordnungen über den Zwangsanbau bestimmter Nutzpflanzen,
insbesondere von Maniok und Süßkartoffeln, deren Nichtfolgeleistung drastisch geahndet
wurde und für deren Überwachung die Chiefs zuständig waren. Der Zwangsanbau führte
paradoxerweise zu einer Reduktion von kommunalem Land (meist Weideland bzw. Wälder),
das unter die Kontrolle des Subchiefs gestellt wurde. Dessen Machtposition wurde dadurch
entscheidend gestärkt, während in der Theorie die Konsolidierung des Bodenrechts nach
europäischen Maßstäben (d.h. also individueller Besitz über Land) zwar ein erklärtes Ziel der
Kolonialverwaltung war, aber de facto Maßnahmen zur Landreform aus Angst vor den
politischen Folgen nie ergriffen wurden (Vgl. Dorsey 1983: 63; Linden 1977: 188; Rumiya
1992: 225) Ebenso wurde eine 1927 verpflichtende Vorratshaltung eingeführt mit dem Ziel,
wie die entsprechende Verordnung ausführt „de proteger les indigènes contre leur propre
imprévoyance.“ (Ordonnance-Loi N°7, 1927 in Carnet 1996: 96; vgl. auch Carnet 1996: 95f).
In Kombination mit der Einführung von Cash Crops resultierten die Maßnahmen zur
Subsistenzsicherung in einer umfassenden Reglementierung der bäuerlichen Produktion, die
ab 1930 (dem Jahr der Inauguration des Programme Voisin, das die Mandatsterritorien von
der finanziellen Abhängigkeit der von der Wirtschaftskrise geschüttelten Metropole befreien
238 Die Hungersnot forderte nach zeitgenössischen Schätzungen zwischen 30.000 und 60.000 Opfer. Zusätzlich über 100.000 Personen emigrierten nach Tanganyika und Uganda (Carnet 1996: 39f).
235
sollte) einen dezidiert planwirtschaftlichen Charakter annahm (Vgl. Dorsey 1983: 134ff). Die
Dürre und die darauffolgende Hungersnot Rwakayihura 1927-1930 veranlaßte außerdem die
Kolonialverwaltung die politischen Formen voranzutreiben. Für einen kurzen Zeitpunkt
begann sie, Hutu als Secrétaires Indigènes bzw. Subchiefs einzusetzen, was die Akzeptanz
der Reformen unter den Tutsi Chiefs merklich steigerte und insofern eine erfolgreiche
Maßnahme war (Linden 1977: 161). Das unkooperative Verhalten der Chiefs (und des
Mwami239) während der Hungersnot ließ die Kolonialverwaltung zunehmend zu Absetzungen
als Methode politischer Reform greifen (Vgl. Carnet 1996: 100f). In einer weiteren
administrativen Reaktion auf die durch die Hungersnot aufgezeigten strukturellen Probleme
Ruanda wurden das Verkehrsnetz drastisch ausgeweitet. Die Absenz moderner Infrastruktur
erschwerte nicht nur die Durchführung von Katastrophen-Hilfe während der Hungersnot,
sondern erforderte eine dramatisch hohe Zahl an Trägern. 1925 betrug sie etwas über
70.000, was zu einer spürbaren Arbeitskräfteknappheit in der Landwirtschaft und indirekt, zu
einer Abnahme der landwirtschaftlichen Produktion beitrug (Dorsey 1983: 56f). Während der
Hungersnot stieg der Bedarf an Trägern naturgemäß weiter an und hatte die paradoxe Folge
einer weiteren Reduktion der landwirtschaftlichen Produktion, zumal die Rekrutierung auf
jene Gebiete beschränkt war, die von der Dürre stark getroffen waren (Vgl. Carnet 1996: 54).
Die Maßnahmen zur Subsistenzsicherung erhöhten zunächst nur den Ausmaß an Zwang
sowie die Größenordnung der Anforderungen insgesamt. Letztere hatten zum Teil
widersprüchlichen Charakter, da der Anbau von Cash Crops die Versorgungssicherheit der
Bevölkerung gefährdete, was wiederum die Ausweitung der für landwirtschaftliche Arbeiten
aufgebrachten Zeit erforderlich machte. Negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft
hatten auch die zahlreichen öffentlichen Arbeiten, für die massiv rekrutiert wurde und die,
wenn überhaupt, nur minder remuneriert waren. In der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre
begann Ruanda die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu spüren. In Kombination mit
den Auswirkungen erhöhter Anforderungen im Zuge des 2.Weltkrieges, führten auf
verschiedene Gründe zurückzuführende Ernteausfälle zum Ausbruch einer weiteren
Hungersnot 1942-44 (Ruzayagura), der möglicherweise bis zu 300.000 Menschen zum
Opfer fielen (Dorsey 1983: 230; Linden 1977: 207).
239 Aufgrund der zunehmenden Verschlechterung der Beziehung der Kolonialverwaltung zu Musinga wurde 1929 einer der Vize-Gouverneure des Kongo, Postiaux damit beauftragt, Musinga aufzusuchen und eine Klärung des Verhältnisses herbeizuführen. Befragt über seine Beschwerden und Anliegen gegenüber der Kolonialmacht, beklagten Musinga und Kanjogera den Disrespekt seiner Untertanen sowie den durch den Rückgang der dauerhaft am Hof anwesenden Chiefs und Klienten des Mwami zu beobachtetenden physischen Verfalls des Hofs. Dazu aufgefordert, Arbeiter gegen Bezahlung anzustellen, meinte er entrüstet: „ (…) les chefs n’obéissent plus à notre autorité, et cependant, le Mwami ne tient-il pas ses droits de ses ancêtres ? Pourquoi Musinga ne jouirait-il plus des avantages que sa situation lui donne le droit de retirer ? “ (Rumiya 1992 : 172f). Inmitten einer der schwersten Subsistenzkrisen Ruandas war das Verhalten des Mwami ein entscheidender Grund für seine Absetzung zwei Jahre später.
236
6.2.2.2 Staatskapitalismus: die Anbindung Ruandas an die Weltwirtschaft
Die Maßnahmen zur Subsistenzsicherung sollten in gewisser Weise die Integration Ruandas
in die Weltwirtschaft ermöglichen. Letzteres sollte erreicht werden, indem die Entwicklung
eines kapitalistischen, modernen Sektors der Ökonomie initiiert wurde. Aufgrund der
demographischen Lage sowie aufgrund der natürlichen Ressourcenausstattung Ruandas
konzentrierte der Kolonialstaat seine Aufmerksamkeit auf die Entwicklung einer auf die
kleinbäuerliche Struktur Ruandas basierenden exportorientierten Landwirtschaft. In
Ergänzung dazu wurde die beschränkte Ansiedlung europäischer kommerzieller Landwirte
gefördert, denen von Seiten des Kolonialstaates, der aus ähnlichen Gründen wie der
deutsche Kolonialstaat vor ihm, die Ansiedlung von Europäern im großen Stil ablehnte, eine
zweifache Rolle zugesprochen wurde. Zum einen sollten sie als Pioniere fungieren, die den
Anbau innovativer Nutzpflanzen forcieren sollten (etwa Pyrethrum, z.T. auch Kaffee u.a.).
Zum anderen sollte sie in der Form von ‚Partnerschaften’ zwischen Siedlerbetrieben und
afrikanischen Bauern innerhalb von zu diesem Zwecke eingerichteter ‚Schutzzonen’ eine
hervorragende Rolle in bezug auf die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte einnehmen
und gleichzeitig europäische Methoden der Landwirtschaft unter der Bevölkerung
‚diffundieren’.240 Als drittes Element forcierte die belgische Kolonialverwaltung die
Herausbildung von Lohnarbeit und in einem beschränkten Sinn auch die Entstehung eines
‚Arbeitsmarktes’ – ein Prozeß, der zwar bewußt begonnen und verfolgt wurde, aber der der
Kontrolle des Staates zu einem Gutteil entzogen war.
Planwirtschaft auf kleinbäuerlicher Basis: Ruanda, ca. 1920-1960
Mitte der Zwanziger Jahre repräsentierte das gesamte Exportvolumen Ruanda-Urundis etwa
2% der Exporte des belgischen Zentralafrikas, obwohl die Bevölkerung möglicherweise bis
zu einem Drittel der Gesamtbevölkerung der belgischen Territorien ausmachte (Jewsiewicki
1986: 475). Die niedrige Exportquote illustriert die prekäre wirtschaftliche Situation der
beiden Territorien, die zugleich bedeutete, daß es ohne staatliche Initiative keine
Kapitalbildung geben würde. Die forcierte Entwicklung des kapitalistischen Potentials der
Mandatsterritorien während der Zwanziger und insbesondere während der darauffolgenden
eineinhalb Dekade, als die Kolonie wegen der Weltwirtschaftskrise und dem Weltkrieg
budgetär auf sich selber gestellt war, ist vor diesem Hintergrund zu sehen.
Schon mit Beginn der Zwanziger Jahre hatten die Belgier mit Kaffee experimentiert und bis
1923 100.000 Kaffeesträucher angepflanzt, von denen allerdings nur 10% die beiden Dürren 240 1929 gab es 21 solcher Schutzzonen. Unternehmen wurde innerhalb dieses Rahmen ein Monopol über die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte eingeräumt und hatten vollen Zugang zu Arbeitskräften und Produktion. Während ursprünglich an eine Kombination von Siedlerlandwirtschaft und afrikanischer kleinbäuerlicher Produktion gedacht wurde, reduzierte sich die Funktion der europäischen Firmen schnell auf
237
Gakwege (1924-24) und Rwakayihura (1927-1930) überlebten. Gleichzeitig waren unter den
Bauern auf extremen Widerstand gestoßen. Eine Folge davon war, daß 1924 mit dem Erlaß
einer einschlägigen Verordnung die Möglichkeit der Anordnung des Anbaus von Cash Crops
durch den Residenten geschaffen wurde. Zunächst betraf dies allerdings eher den Anbau
‚gewöhnlicher’ Cash Crops - Bananen, Bohnen und dergleichen, die in steigenden Mengen
in den Kongo exportiert wurden, der seit 1923 ein dramatisches Wirtschaftswachstum erfuhr
(Dorsey 1983: 327). Die Exporte in Früchten und Gemüse kamen vor allem aus den an den
Kongo angrenzenden Gebieten (Südwestruanda, Nordwestruanda) und entstanden eher in
Zuge von Anreizen durch höhere Preise im Kongo, als durch administrative Maßnahmen.
Das Ausmaß der Exporte war so groß, daß in den Zwanzigern von Ruanda-Urundi als
‚Kornkammer’ des Kongo gesprochen wurde. Im übrigen erfuhren die Exporte während der
Dürre nur einen kurzzeitigen Einbruch, nachdem sie administrativ gestoppt worden waren
und stiegen ab 1932 wieder an (Dorsey 1983: 119f; C.Newbury 1988: ).
Im Zuge des Voisin’schen Programms wurde der Anbau von Kaffee massiv vorangetrieben
und jedes Jahr einige hunderttausend Sträucher angepflanzt. Zuerst zielte die
Kaffeekampagne auf Chiefs gemäß der ‚Vorbildrolle’, die ihnen in der kolonialen
Herrschaftsideologie zugedacht wurde. Ab 1933 wurden der Anbau sukzessive auf
Kleinbauern ausgedehnt. Ende Dezember 1937, als die Kampagne ihr Ende fand, besaßen
75% der Steuerzahler wenigstens 60 Sträucher. Insgesamt waren 21 Millionen Sträucher
angepflanzt worden, von denen 500.000 an Chiefs, 700.000 an Subchiefs und 19 Millionen
an gewöhnliche Bauern verteilt worden waren (Dorsey 1983: 193). Der Export von Kaffee
aus Ruanda-Urundi war innerhalb von 10 Jahren von 10 Tonnen (1927) auf 2.000 Tonnen
(1937) angewachsen und stieg nach dem Krieg weiter auf 4,800t (1945) und 6.500t (1953)
(Harroy 1984: 103; C.Newbury 1988: 156). Ein Einbruch der Kaffeepreise auf dem Weltmarkt
führte dazu, daß Pflanzer ihre Sträucher zu vernachlässigen begannen und in Reaktion
darauf, zu stärkeren administrativen Zwangsmaßnahmen. Aufgrund des verstärkten Abbaus
der wenigen kommerziell nutzbaren Mineralienvorkommen stieg während des Krieges auch
die Produktion von Nahrungspflanzen dramatisch (Dorsey 1983: 227).
Ökonomische Transformation und Arbeitsmigration
Schon seit Beginn der Zwanziger hatte Ruanda zunehmend als Arbeitskräftereservoir für
angrenzende Territorien gedient. Im Kongo arbeiteten Ruandesen zum einen in der
wachsenden Zahl von Siedlerfarmen und damit verbundenen europäischen
Unternehmungen (etwa in Bukavu) – die Zahl der Europäer stieg in der Kivu-Provinz des
Kongo zwischen 1925 und 1931 von 190 auf über 1.000 (Dorsey 1983: 109). Auch kam es
eine reine Vermarktungsfunktion (Dorsey 1983: 144ff).
238
zur Etablierung von Siedlerunternehmen mit einer wachsenden Zahl von Angestellten (Vgl.
C.Newbury 1988: 159). Zum anderen rekrutierte die Union Minière du Haut Katanga
(UMHK) seit 1926 Hutu Arbeiter für die Minen, wo sie sich auf der untersten Stufe der
ethnisch segmentierten Arbeiterhierarchie befanden und damit dem Unternehmen erlaubten,
Löhne niedrig zu halten und Arbeitskämpfe zu vermeiden. Ende der Zwanziger machten
ruandesische Arbeiter bereits 15% der Gesamtbeschäftigten der UMHK aus (Vgl. Higginson
1989: 109ff). Das wichtigste Zielterritorium der Arbeitsmigration – die in vielen Fällen
dauerhafte Migration nach sich zog – war Uganda. Uganda war einerseits wegen den für die
Arbeiter vorteilhaften Wechselkurs attraktiver als das Belgische Afrika. Zum anderen waren
die Löhne dort prinzipiell höher als anderswo. Dort arbeiteten sie als Land- und
Minenarbeiter – 1936 kamen 40% der Minenarbeiter aus Ruanda (Dorsey 1983. 99ff). Ihre
Zahl lag in den Zehntausenden. Während der Hungersnot 1927-1930 wurden allein 46.000
Emigranten nach Ruanda registriert (Carnet 1996: 50). 1931 wurde die Zahl der in Uganda
niedergelassenen Migranten auf über 70.000 geschätzt (Dorsey 1983: 102). Die Migration
nach Uganda dauerte bis in die späten Fünfziger an, involvierte über 200.000 Personen und
führte dazu, daß Banyarwanda zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Ugandas zu einer der
größeren ‚Ethnien’ Ugandas gehörten (Vgl. Helle-Valle 1989: 120ff). Weitere 35.000,
möglicherweise noch mehr, emigrierten während der kolonialen Periode nach Tanganyika
(Daley 1993: 20; Reyntjens 1985: 141).241 Die Arbeitsmigration war ein Zeichen für die
fortschreitende Monetarisierung der Volkswirtschaft und eine wesentliche Motivation zu
migrieren bestand in der erhöhten Nachfrage nach monetärem Einkommen, um einerseits
der Steuerpflicht nachkommen zu können und andererseits den infolge der kombinierten
Auswirkungen von Exporten und Arbeitskräftebedarf induzierten Anstieg des Preisniveaus
alltäglicher Gebrauchsgegenstände (v.a. Hacken) kompensieren zu können (Vgl. Gravel
1968: 112; Linden 1977: 166). Gleichzeitig war sie ein Indikator für den Druck, der von
Seiten des Kolonialstaates über die Chiefs auf die bäuerliche Bevölkerung ausgeübt wurde
und von letzteren dazu ausgenützt wurde, die staatlichen Anforderungen an die Bauern
durch eigenen zu ergänzen. Our money is only enough for taxes. It causes people to be half-naked and their wives too.(…)
There is no source of money for a man without cattle (…), food is short and money too (…). In
Ruanda we work very hard for very little pay. (…) I left home because I wanted a job without
beatings. (Richards242 zitiert nach Helle-Valle 1989: 122).
Die Kaffeekampagnen der Dreißiger Jahre waren für viele Anlaß, in benachbarte Territorien
zu emigrieren und so den Anforderungen, die der Staat in der Form der Chiefs an sie stellte
241 1950 betrug die Gesamtzahl von Migranten aus den belgischen Territorien in Britisch Ostafrika (Tanganyika und Kenya) etwa 675.000, davon 157.000 in Tanganyika (Daley 1993: 20f). 242 Audrey Richards (1973²): Economic Development and Tribal Change; Nairobi: pp.68-70
239
zu entkommen, während sie sich zugleich bewußt sein mußten, dadurch alle Landrechte,
mitunter sogar allen Besitz zu verlieren (Dorsey 1983: 220) Neben der spontanen und
organisierten Arbeitsmigration, organisierte der koloniale Staat ab den Dreißigern eine groß
angelegte Umsiedelung von Ruandesen nach Gishari (nördlich des Kivu-Sees, Masisi), in
deren Verlauf etwa 6.000 Familien angesiedelt und zunächst unter die Autorität von Hunde
Chiefs (den lokalen Agenten des belgischen Kolonialstaates) gestellt wurden, während ab
1937 bezeichnenderweise Tutsi-Chiefs aus Ruanda ‚importiert’ wurden um die Bevölkerung
zu verwalten (Mararo 1997: 510ff).243 Die Kolonialverwaltung begründete die Aktion mit dem
Kampf gegen ‚die Überbevölkerung’. Die Aussicht, die betreffende, dünn besiedelte Region
mit der Hilfe von billigen Arbeitskräften entwickeln zu können, war aber in wesentliches
Motiv, zumal das Problem der Landknappheit durch die Umsiedlung einer doch
beschränkten Zahl von Menschen nicht gelöst werden konnte und andererseits die
Regierung versuchte, spontane Migrationen nach Uganda zu bekämpfen. In Kinyaga
begrüßten Chiefs und Subchiefs Immigranten aus Bushi (der Gegend um Bukavu, am
Südufer des Kivusees), da sie durch eine größere Zahl von Steuerzahlen ihren Anteil an den
Steuereinnahmen erhöhen und abhängige Klienten gewinnen konnten. Die Chiefs sahen in
der organisierten Emigration, die von Seiten des Kolonialstaates extrem beworben wurde,
dagegen eine Möglichkeit Opponenten zu exilieren und ihre Kontrolle über Land auszuweiten
– ein Faktum, das den potentiellen Transplantés (so der Terminus Technicus der
Kolonialverwaltung) nicht unverborgen blieb und die entsprechende Widerstandshandlungen
dagegen setzten (Linden 1977: 206f; C.Newbury 1988: 143 und143, EN 82; Reyntjens 1985:
140).
6.3 Soziale und politische Stratifikation: Ruanda ca. 1940-1960
Die Anbindung Ruandas an die Weltwirtschaft und die planwirtschaftliche, gewaltsame
Transformation der Ökonomie, die politischen Reformen der Dreißiger Jahre, das
Anwachsen einer Bildungselite, die zunehmend im modernen Sektor der Ökonomie
beschäftigt war hatten zusammengenommen zu einer tiefgreifenden Veränderung der
ruandesischen Gesellschaft geführt. Der induzierte soziale Wandel ging mit einer
Verstärkung der Kontrolle der Arbeitskraft und Produktivität der bäuerlichen Bevölkerung und
einem dementsprechenden Anstieg der auf die Bevölkerung ausgeübten Zwänge und einem
Anwachsen physischer Gewalt einher. Dieser Prozeß ging nicht unwidersprochen vor sich.
Die Ausdehnung zentraler administrativer Kontrolle in die Peripherie während der ersten
Dekade der belgischen Präsenz hatte wiederholt die oft langfristige militärische Besetzung
der betreffenden Regionen erforderlich gemacht. Während der Dürre 1927-30 erlebte
243 Mutara Rudahigwa bestand darauf, ebenso wie dies das koloniale Establishment in Ruanda guthieß. Die Emigranten sollten auch weiterhin Klientelbeziehungen zu Ruanda pflegen (Mararo 1997: 512).
240
Ruanda eine seiner letzten ‚traditionellen’ Revolten, als sich in Nordruanda ein Dungutsi
(eine andere Form des Namens Ndungutse) mit einer breiten Anhängerschaft unter lokalen
Pastoralisten (Hima) gegen die zentrale Herrschaft erhob und mit einigen hundert Männern
von Uganda aus die Gegend nördlich des Baferu-Sees besetzte. Im März 1928 ließ er sich
als angeblicher Sohn Rwabugiris und Halbbruder Musingas zum legitimen Mwami ausrufen.
Während die eigentliche Revolte relativ rasch niedergeschlagen wurde – Dungutsi war nach
Uganda geflüchtet – macht sie die militärische Besetzung der Region bis 1930 notwendig
(Dorsey 1994: 55ff). 1932 und 1933 kam es in Nordruanda wiederholt zu Steuerrevolten, die
mit militärischen Kräften niedergeschlagen wurden. 1935 besetzte eine Gruppe von
mehreren Hundert (in Zentralruanda so genannten )‚Hochländern’ ein Gesundheitszentrum
im zentralruandesischen Nyanza, dem Sitz der Residenz des Mwami, mit dem Vorwurf, der
Impfstoff sei von Notablen vergiftet worden (Dorsey 1983: 206f). Derartige Revolten waren
nur der drastischste Ausdruck für das Ausmaß an wahrgenommenen Zwang und
Ausbeutung. Der weit alltäglichere Ausdruck der harschen Bedingungen des ‚captured
peasantry’ bestand in Emigration, Delinquenz, Alkoholismus, anderer Formen von
Eskapismus oder der mutwilligen Zerstörung von Kaffeesträuchern.
Schon während der Dreißiger Jahre hatte sich in der Form einer Bewegung von
antieuropäischen, gleichzeitig aber europäisch gebildeten und vehement antikatholischen
Aristokraten unter der Führung des jüngeren Bruders Rudahigwas, Rwigemera, welche unter
dem Namen Basilimu bekannt wurde, gezeigt, daß mit einer proeuropäischen und
katholischen Herrschaftselite nicht auf Dauer gerechnet werden konnte (Vgl. Rutayisire
1987: 350ff). Die Bewegung, die das erste Mal 1932 von den Missionaren erwähnt wurde
(weil sie vorrangig als Problem der Christianisierung der Elite wahrgenommen wurde)
markiert den Beginn eines zunehmend antieuropäischen und aristokratischen, an der
Monarchie und an deren zur Makulatur gewordenen höfischen Liturgie (Ubwiru) orientierten
Nationalismus, oder in der Formulierung eines Missionschronisten eines ‚nationalisme noir,
xénophobe et subversif’ (Diare de Kabgayi 1932 zitiert nach Rutayisire 1987: 351). Während
die Bewegung der Basilimu nur für eine relativ kurze Periode in den Dreißigern die Gemüter
der Missionare erschütterte, war der Nationalismus à la Ruanda keineswegs tot, sondern
erlebte mit seiner ideologischen Fundierung durch Intellektuelle wie Alexis Kagame und einer
Reihe von anderen Schriftstellern ab dem Zweiten Weltkrieg einen veritablen Höhenflug –
ein ideologischer Kampf, der zu einem starken Anteil innerhalb der Kirche gekämpft wurde.
Trotz der rigiden Diskriminierung von Hutu im Ausbildungssystem befanden sich bis in die
Vierziger Jahre eine wachsende Anzahl von Hutu in den Ausbildungsinstitutionen des
Landes, stellten die ‚zweite’ Generation des Hutu Klerus oder begannen in den Arbeitsmarkt
241
einzutreten, der zumindest was Berufe im öffentlichen Sektor betraf, die Diskriminierung im
Ausbildungssystem replizierte. Die Diskriminierung innerhalb eines christlichen Kontextes,
die im krassen Widerspruch zu der egalitären Konnotation stand, die das Christentum trotz
der hierarchischen Struktur und hierarchisierenden Auslegung der katholischen Kirche haben
konnte, prägten die Erfahrung der sich herausbildenden Hutu Elite und schärften die
Erfahrung der Diskriminierung aufgrund ‚ethnischer’ Zugehörigkeit. Zugleich begann mit dem
Anwachsen des Hutu-Klerus wenigsten ein Teil der Kirche sich von der Rolle als Obrigkeits-
und Staatskirche abzuwenden und eine Botschaft zu vertreten, die die Artikulation sozialer
Anliegen der Massen in einem christlichen Idiom möglich machte (Vgl. Linden 1977: 219f).
Der schleichende Rückzug Bischof Classes aus der aktiven Amtsführung der Diözese
ermutigte auch die europäischen Missionare, desillusioniert von der Rolle der Chiefs, deren
Mißbräuche und Übergriffe zunehmend zu kritisieren und öffentlich zu machen.
Die Transformation der Ökonomie führte zu einer komplexen Differenzierung der
Bevölkerung nach multiplen Kriterien. Zum einen standen sich ‚traditioneller’ und ‚moderner’
Sektor gegenüber, zum anderen die kleine politische Elite und die Masse der stets von
Verarmung bedrohten Bevölkerung. Im modernen Sektor der Ökonomie war der öffentliche
Sektor von Tutsi dominiert, während Hutu als Händler, Lastwagenfahrer, Arbeiter in den
diversen Unternehmungen, als Handwerker und ähnlichem verstärkt Berufe des
‚europäischen’ Sektors ergriffen und durch Ausnahmeregelung für ‚traditionelle’ Abgaben in
gewisser Weise außerhalb des auf Kontrolle von Arbeitskraft und Land beruhenden lokalen
Herrschaftsnexus standen (Vgl. Codere 1973: 40f). Auch der ‚traditionelle’ Sektor war sozial
zunehmend differenziert: reichere Bauern griffen auf Landarbeiter zurück, als welche
verarmte Bauern gezwungen waren zu arbeiten; besonders während des Krieges waren
wegen administrativ angeordneter Verkäufe von Vieh zu Preisen, die weit unter dem
Marktpreis lagen sowie infolge der Auswirkungen wiederholter Ausbrüche von
Schlafkrankheit und Rinderpest viele Viehbesitzer und als solche v.a. Tutsi verarmt; In
Nordruanda rivalisierte eine neue Generation von westlich gebildeten Abakonde
Grundherren mit den Chiefs um Landklienten, und diese, ‚traditionelle (d.h. Ubukonde-)
Klienten mit ‚politischen’ Klienten um ökonomische Position und Land (Vgl. Lemarchand
1970: 104f; Linden 1977: 207).
Der komplexen ökonomischen und sozialen Differenzierung überlagert war die politische
Stratifikation zwischen der Elite, die sich exklusiv aus einigen wenigen Tutsi-Familien
zusammensetzte, einerseits und der Bevölkerung, andererseits, die sich zum einen in
ostentativem Distanzverhalten und Standesbewußtsein äußerte244, zum anderen diskursiv
244 Mwami Mutara Rudahigwa hatte sich in einem bekannt geworden Fall derartigen ostentativen
242
tendenziell immer öfter als ethnische Differenz artikuliert wurde. Dazu hatte neben dem
wachsenden, auf die ruandesische dynastische Geschichte fokussierte Schrifttum
europäischer und ruandesischer Intellektueller die ethnische Ausrichtung von Maßnahmen
der belgischen Verwaltung oder zumindest die Rechtfertigung von Maßnahmen in
ethnischen Termini beigetragen, genauso wie die Implementierung eines ethnischen
Bevölkerungsregisters und die Ausstellung von Identitätsausweisen ab den Dreißiger Jahren,
auf denen die ‚ethnische’ Zugehörigkeit der Träger vermerkt wurde245 (Vgl. Human Rights
Watch 1999: 51; Newbury 1998: 11). Die Zugehörigkeit zu einer der ruandesischen
Kategorien – Hutu, Tutsi oder Twa – bestimmte die Lebenschancen der so oder so
kategorisierten Individuen vielleicht nicht, aber sie beeinflußte sie wesentlich mit, insofern
gewisse Verpflichtungen (uburetwa) ‚ethnisch’ konnotiert waren246 oder der Zugang zu
Bildung und gewissen damit verbundenen Arbeitsmarktchancen ‚ethnisch’ kanalisiert war.
Das Prinzip der politischen Stratifikation prägte den Charakter der Politik, zumal auf lokaler
Ebene, zutiefst. Die ‚indigene Verwaltung’ war soweit bürokratisiert, daß Anordnungen der
europäischen Kolonialverwaltung, insbesondere jener, welche landwirtschaftliche Praktiken,
Anti-Erosionsmaßnahmen, Aufforstungen und ähnliches reglementierten, auch implementiert
wurden. Im Verhältnis zur Bevölkerung funktionierte das durch die Chiefs und Subchiefs
repräsentierte System jedoch bezeichnenderweise nicht nach verwaltungsstaatlichen
Kriterien – d.h. in der (idealerweise) gleichförmigen, allgemeingültigen und regelgeleiteten
Verwaltungspraxis, sondern beruhte auf eine essentiell individuelle Ausrichtung von
Herrschaft und Verwaltung. In Ruanda fielen am Vorabend der Dekolonisation Herrschaft
und Klientelismus weitgehend zusammen. Herrschaft war demnach klientelistisch
ausgeprägt und die Herrschaftspraxis entsprechend der Nähe/Distanz der
Herrschaftssubjekte zu den Chiefs strukturiert, welche die Verteilung essentieller Güter (v.a.
Land) monopolisiert hatten und deshalb als Patrone so unumgänglich wurden (Vgl.
Eisenstadt/Roniger 1981: 277; Lemarchand 1981: 18). Pierre Gravel (1968: 170ff) hat in
seinen Fallstudien von Entscheidungen eines Tribunal Indigène247 in Verhandlungen, bei
Distanzverhaltens, das nicht frei von einer paradoxen rassistischen (weil einem soziorassistischen Kalkül ruandesischer Prägung folgend) war, mit dem Hinweis darauf, er setze sich nicht neben ‚dem Sohn eines Sklaven’ geweigert, einen Platz neben dem afrokaribischen Mitglied der Visiting Commission des U.N. Treuhandrates einzunehmen (Codere 1973: 41). 245 Der Vermerk basierte, so wie es scheint, auf den Angaben der Befragten , sowie auf dem Ermessen der ausstellenden Behörde (gewöhnlicherweise jemand im Büro des Chiefs/Subchiefs). Die Möglichkeit, per Bestechung eine andere Identität zu erlangen, war grundsätzlich bereits damals gegeben, während sie besonders in der ersten und zweiten Republik als Weg, der Diskriminierung gegen Tutsi zu entgehen, in Anspruch genommen wurde (Human Rights Watch 1999: 51) 246 Pottier (1995: 43) insistiert darauf, daß Uburetwa bereits vorkolonial mit Hutu konnotiert war und liegt insofern richtig, daß ‚Hutu’ im Sprachgebrauch der vorkolonialen Elite so etwas wie ‚sozialer Sohn’, also eine Person untergeordneten, abhängigen Status bezeichnete. Ob tatsächlich Tutsi qua Tutsi von Uburetwa nicht betroffen wurde bleibt zumindest offen (Vgl. zu Hutu als ‚social son’ Lemarchand 1996: 20). 247 Die Tribunaux Indigènes wurden in den Dreißiger Jahren reorganisiert und waren im Prinzip eine
243
denen es um Nutzungsrechte von Land bzw. um Nutzungs- und Besitzrechte über Vieh ging,
eindrücklich gezeigt, wie sehr selbst der Ausgang juristisch reglementierter Prozesse damit
korrelierte, ob der Kläger Klient des Chiefs war bzw. damit, ob er zumindest dem ‚nuklearen
Feudalkomplex’ des Chiefs in der Form einer Klientelbeziehung zu einem der Klienten des
Chiefs nahe stand. Die politischen Beziehungen auf lokaler Ebene waren allerdings nicht
ausschließlich durch den durch den Chief repräsentierten ‚nuklearen Feudalkomplex’
bestimmt, sondern ebenso durch das Vorhandensein alternative Patrone, z.B. Opponenten
des Chiefs/Subchiefs, reiche Personen, die auf die Patronage des Chiefs/Subchiefs nicht
angewiesen waren und somit ein Maß an Autonomie bewahrt hatten, oder in Gestalt
europäischer Missionare.248 Das auf dieser Ebene loklaler/regionaler Politik entscheidende
politische Kollektiv, war somit nicht die engere oder weitere Verwandtschaftsgruppe (obwohl
diese für die als Patrone fungierende Elite von großer Bedeutung war), ebenso nicht der
gemeinsame soziale Status (als Hutu oder Tutsi), sondern die Zugehörigkeit zu einem
Patron – ein Muster, das auch nicht durch den Sturz des ‚traditionellen’ Systems und der
Errichtung der Republik wesentlich geändert wurde, wenn auch die Akteure dann andere
waren.
Institutionalisierung der Vermittlertätigkeit von Chiefs in Landstreitigkeiten und ähnlichem. Ab den späten Dreißigern wurden die Verhandlungen auch protokolliert. 248 Vgl. Autobiographie eines Hutu namens Rukimirana (Nr.33) in Codere 1973: 227ff für ein Beispiel einer de facto Klientelbeziehung, in der ein Missionar die Rolle des Patrons (in aufmerksamer Nachahmung der Rolle eines Ubuhake-Patrons übernahm.
Teil 4 Dekolonisation und Revolution
245
Kapitel VII: Reform und Revolution
7.1. Die Dekade politischer Reform, 1948-1959
7.1.1 Faktoren und Kontext des politischen Wandels
Der zweite Weltkrieg war ein Scheidepunkt für den kolonisierten Teil der Welt. Mit der
Unabhängigkeit Indiens 1947 setzte ein rasanter Dekolonisationsprozeß ein, der innerhalb
von eineinhalb Jahrzehnten zur Bildung zahlreicher ‚neuer Staaten’ in Afrika und Asien
führte. Als ein wesentlicher Faktor politischer Reform in Ruanda erwies sich die veränderte
Rolle der belgischen Mandatsmacht gegenüber der ‚internationalen Gemeinschaft’. Mit der
Gründung der Vereinten Nationen im Juni 1945 wurde das Mandatssystem des
Völkerbundes durch ein Treuhandsystem ersetzt, in dessen Rahmen nicht nur die
Entkolonisierung als politisches Nahziel definiert wurde, sondern das gleichzeitig von der
Treuhandmacht die Einrichtung von freien und ‚demokratischen’ politischen Institutionen
forderte. Die Regeln des Treuhandsystems waren präziser formuliert als jene des
Vorgängersystems. Schwerer noch wog allerdings die veränderte Rechenschaftspflicht der
Treuhandmacht gegenüber der internationalen Gemeinschaft, repräsentiert durch die
Vereinten Nationen. Im Gegensatz zu der Mandatskommission des Völkerbundes, der die
Mandatsmacht lediglich Bericht erstatten mußte und die aufgrund der Berichte geäußerten
Bedenken und Einwände in gebührender Weise zur Kenntnis nehmen und in die Politik
einfließen lassen sollte, nahm der im Rahmen des U.N. Systems geschaffene Treuhandrat
das Erstellen von Berichten im Zuge von in regelmäßigen Abständen ab 1948 stattfindenden
Erkundungsmissionen selber wahr. Die Erkundungsmissionen hatten nicht nur die Aufgabe,
die Politik der Treuhandmacht zu dokumentieren, sondern erarbeiteten Empfehlungen, die
Belgien – trotz der häufigen Uneinigkeit mit den Folgerungen der entsprechenden Berichte
über Ruanda-Urundi – in weiten Teilen folgte (Vgl. Reyntjens 1985: 210ff). Das System
regelmäßiger U.N. Missionen übte nicht nur einen Druck auf die Kolonialmacht aus, der sie
dazu zwang, rasche Reformen durchzuführen, sondern etablierte gleichzeitig eine politische
Arena für die (indigenen) politischen Eliten des Landes – zu der zunehmend eine neue
Generation von Politikern, Hutu wie Tutsi trat -, auf den Prozeß der Dekolonisation
einzuwirken und Forderungen an die Kolonialmacht zu stellen. Allerdings war die Zahl
(formeller) Petitionen an den Treuhandrat vor 1959 relativ gering und erst die rasanten und
gewaltsamen Entwicklungen ab eben diesem Jahr ließ die Zahl der entsprechenden
Anrufungen des Rates sprunghaft ansteigen und ihn zu einer Arena eines vehementen
Antikolonialismus von konservativen Tutsi-Eliten werden (Ebenda: 221ff). Die Initiierung
eines rasanten Reformprozesses durch den äußeren Druck der U.N. Missionen und das
Bewußtsein des nahenden Datums einer internen Autonomie, in deren Rahmen die
246
politischen Institutionen des Landes sukzessive indigenisiert bzw. afrikanisiert werden
würden, bevor das Land in die Unabhängigkeit entlassen werden würde, war ein
wesentlicher Determinant des politischen Handelns der sich formierenden ‚Gegenelite’ von
Hutu-Politikern. Das Insistieren der internationalen Gemeinschaft auf die Beteiligung der
afrikanischen Bevölkerung am politischen Prozeß und die Devolution von kolonialstaatlicher
Macht an von Afrikanern gebildeten politischen Institutionen verlangte lediglich die
Etablierung ‚repräsentativer Institutionen, während die Organisationsweise der Institutionen –
d.h. ob sie demokratisch oder anderweitig ausgestaltet werden würden – offen gelassen
wurde. Die Furcht der Hutu-Elite davor, daß die Unabhängigkeit gewährt werden würde,
bevor die von ihr geforderte Demokratisierung der Institutionen erreicht sein würde, war
insbesondere ein entscheidender Faktor für den Verlauf der Dekolonisierung in der
turbulenten Endphase der Monarchie von 1959-62 (Vgl. Lemarchand 1970: 106)
Ein entscheidender Faktor für die Herausbildung einer handlungsfähigen Elite von Hutu-
Politikern, die sich aus der anwachsenden Gruppe von Hutu Absolventen der höheren
Schulen sowie aus ‚ländlichen Intellektuellen’ und ‚Kleinbürger’ – Katechisten, Handwerker,
Händler usw. – rekrutierte, war die veränderte Rolle der katholischen Kirche nach dem
2.Weltlkrieg. Der langjährige Bischof und die prägende Figur der katholischen Kirche in
Ruanda, Leon Classe, war Anfang 1945 verstorben und wurde von Laurenti Deprimoz, der
die Geschäfte der Diözese seit 1943 geleitet hatte, nachgefolgt. Deprimoz förderte
insbesondere die Publikation katholischer Magazine, welche bereits in den Dreißiger Jahren
mit dem Magazin ‚Kinyamateka’ begonnen hatte. Diese sollten den ‚Évolués’ – d.h. den
Gebildeten ein adäquates, christliches Medium zur Verfügung stellen und sie so im engeren
Kreis der Kirche halten (Linden 1977: 221). Die Amtszeit von Deprimoz fiel mit einem
personellen Wechsel des Kaders der europäischen Missionare zusammen. Die älteren
Missionare, welche die Mission in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten geprägt
hatten, zogen sich zunehmend zurück und wurden durch junge Missionare ersetzt, die im
Gegensatz zu ihren Vorgängern meist aus bescheidenen sozialen Verhältnissen kamen.
Viele von ihnen stammten aus den flämischen Teilen Belgiens und sahen in der Situation der
Hutu belgische soziale und politische Verhältnisse widergespiegelt. Von entscheidender
Bedeutung war schließlich die Person des Nachfolgers von Deprimoz, André Perraudin, ein
Schweizer und überzeugter Demokrat. Er eröffnete der Hutu-Elite die katholische Presse als
Vehikel politischer Agitation. Die Nähe der Hutu-Elite zur Kirche hatte den Vorteil, daß sie in
der Form kirchlicher Infrastruktur (z.B. der Presse: der spätere erste Präsident Grégoire
Kayibanda Ruandas fungierte ab 1954 als Herausgeber des erfolgreichsten der katholischen
Magazine, Kinyamateka) oder kirchlicher Organisationen249 und Vereine über einen
249 z.B. Legio Mariä. Grégoire Kayibanda fungierte in den späten Fünfzigern als ihr Präsident (Vgl. C.Newbury
247
institutionelle und organisatorische Basis verfügte, über die sie agieren und mobilisieren
konnten. Die kirchlichen Kontakte ermöglichten es auch, Kontakte mit ‚progressiven’
Kreisen in Belgien zu knüpfen, sowohl zu Personen und Organisationen innerhalb der
belgischen Kirche als auch zu Parteien und Gewerkschaften des christlichen Sektors
insgesamt. Die katholische Kirche gab allerdings Hutu Intellektuellen nicht nur einen
institutionellen und organisatorischen Rahmen und eine Arena für politisches Handeln,
sondern war – in der Form einiger sozial und politisch engagierter Missionare – wesentlich
daran beteiligt, politische Forderungen zu artikulieren und als Pamphlete, Manifeste u.a. zu
formulieren250 (Lemarchand 1970: 107; Linden 1977: 222ff).
7.1.2 Der Versuch kontrollierten Wandels 1948-1959
Mit Beginn der durch die Besuche der U.N. Mission eingeleiteten Phase politischer Reformen
begann die belgische Kolonialverwaltung schrittweise damit, soziale und politische
Reformmaßnahmen zu setzen. Im Gegensatz zum Treuhandrat bzw. den
Erkundungsmissionen, die auf rasche Reformen drängten, setzte die Kolonialverwaltung auf
Zeit und stellte tiefgreifende politische Reformen für einen Zeitpunkt in Aussicht, an dem die
afrikanische Bevölkerung die ‚notwendige moralische und wirtschaftliche Entwicklung’
erreicht haben werde (Linden 1977: 222)251. 1947 wurde der Conseil de Vice-Gouvernement
gegründet, zu dem 1949 auch die beiden Bami eingeladen wurden, ebenfalls 1949 Uburetwa
durch eine Steuer ersetzt. 1951 wurde schließlich ein Zehnjahresplan verfaßt, der als
Richtlinie für die Dekolonisation dienen sollte und u.a. die Abschaffung von Ubuhake252 und
die Demokratisierung der politischen Institutionen vorsah. Letztere wurde 1952 mit der
Einrichtung von Räten auf Landes- und Territoire-Ebene sowie auf Chefferie- und Sous-
Chefferie-Ebene begonnen. Die Räte waren essentiell konsultativen Charakters und ihre
Einberufung nur in wenigen, besonderen Fällen zwingend vorgeschrieben. Die Räte wurden
1953 aufgrund eines komplizierten Wahlsystems konstituiert. Auf jeder Ebene des Systems
wählte ein Wahlmännerkollegium aus einer (administrativ festgesetzten) Liste von wählbaren
Personen die Mandatare für die jeweilige Ebene, wobei auf jeder höheren Ebenen Vertreter
der Räte der unteren Ebenen zusätzlich hineingewählt wurden und auf der höchsten Ebene,
dem Conseil supérier du Pays, weitere Mitglieder kooptiert wurden. Das ‚demokratische’ 1988: 190) 250 Das ‚Hutu- Manifest’ – ein berühmt gewordener Katalog von politischen Forderungen – soll von einem Missionar in Kabgayi verfaßt worden sein (Lemarchand 1970: 108). 251 Die Aussage des Residenten von Burundi, Robert Schmidt, ist ein typisches Beispiel der belgischen Gedankengänge: „In this process of changing the whole political machinery [of Ruanda-Urundi], the degree of evolution , the aspirations and faculty of assimilation of the people must be taken into consideration. It would be harsh and unfair to render unhappy, or in a state bordering on social anarchy, one or two generations by imposing premature reforms by virtue of a political ideology or on the excuse that we are hoping to bring happiness in this fashion to future generations.“ (Statement by R. Schmidt, Resident of Urundi, presented at Usumbura, 9.8.1948, unveröffentlichtes Dokument, zitiert nach Lemarchand 1970: 80) 252 zu der Abschaffung von Ubuhake siehe Reyntjens 1985: 203ff. Die Abschaffung wurde 1952 per Dekret
248
Element beschränkte sich dabei im wesentlichen auf die Einführung eines Wahlelements bei
der Konstitution der verschiedenen Räte, wobei die Wahlmöglichkeit grundsätzlich
beschränkt war und die Wahlberechtigten auf der untersten Ebene des Systems, der Sous-
Chefferie, die praktisch die Basis für alle weiteren Wahloperationen darstellte, vom Subchief
für diese Funktion ausgewählt und eingesetzt und vom Chief bestätigt wurden
(Maquet/d’Hertefelt 1959: 25ff). Die Architektur des Systems führte nicht
überraschenderweise dazu, daß Hutu nur zu einem geringen Prozentsatz in die Räte
gewählt wurden und ihr Anteil in vertikaler Hinsicht, je höher die Ebene, zunehmend kleiner
wurde und auf der höchsten Ebenen gegen Null tendierte. Drei Jahre später ließ Gouverneur
Harroy durch ein Rundschreiben allgemeine Wahlen durchführen, in denen die Wahlmänner
für das Wahlmännerkollegium auf Sous-Chefferie-Ebene gewählt wurden (Vgl. Reyntjens
1985: 192ff)253. Das Ergebnis der Operation war eine gewisse Erhöhung des Anteils an Hutu
auf den verschiedenen Ebenen des Systems, dessen konsultativer Charakter aber nicht
verändert wurde. Der relativ zum Bevölkerungsanteil niedrige Anteil an Hutu-Mandataren auf
der untersten Ebene des Systems zeigte deutlich, daß die Wahlen keinem ethnischen,
sondern einem essentiell klientelistischen Kalkül254 folgten und daß ‚Ethnizität’, mit einer
einzigen Ausnahme im Territoire Kibungu (Gisaka), kein expliziter Bestandteil des
‚Wahlkampfes’ war (Maquet/d’Hertefelt 1959: 46).255
Wichtiger jedoch als die durch die Wahlen 1956 eingeführte beschränkte Beteiligung am
politischem System war die politische Sozialisation und die politische Bewußtseinsbildung,
die Hutu, die in die Räte gewählt worden waren, in ihrer Tätigkeit erfuhren (Vgl. C.Newbury
1988: 185). In der breiteren Bevölkerung hatten die Wahlen gleichfalls Hoffnungen auf
Veränderungen geweckt, die die Räte aber nicht erfüllten konnten. Zudem waren die Wahlen
zu einem Zeitpunkt eingeführt worden, zu dem es in der Form von christlichen Vereinen und
ähnlichen Organisationen höchstens Ansätze zu formellen politischen Organisationen gab
und der Kreis der (Hutu) Wortführer für politische und soziale Reformen noch klein war (Vgl.
Lemarchand 1970: 83). Die durch die Wahlen initiierte Bewußtseinsbildung der politischen
(Gegen-) Elite führte aber zu einer deutliche Radikalisierung des politischen Diskurses.
Während führenden Politiker aus der Elite von Hutu Évolués wie Grégoire Kayibanda oder
Aloys Munyangaju Anfang der Fünfziger Jahre noch eine dezidiert reformistische Sprache verlautbart und bis 1956 vollzogen. 253 Es handelte sich dabei genaugenommen um keine Wahl, sondern um eine Konsultation der Bevölkerung, die rechtlich nicht bindend war (Vgl. Maquet/d’Hertefelt 1959: 31). 254 Daß Tutsi zu einem weitaus geringerem Prozentsatz als Hutu, diese als Räte wählten, erklärt sich genauso aus angemerkten klientelistischen Kalkül, insofern die Nutznießer dieses Kalküls die Elite ist, die sich aus Notablen und Patrone zusammensetzt und zu der Hutu kaum gehörten (Vgl. dagegen die ethnische Interpretation des Tutsi Wahlverhaltens bei Maquet/d’Hertefelt 1959: 86) 255 Die Vorwahlperiode 1956 zeichnete sich im Allgemeinen dadurch aus, daß ein Wahlkampf – teilweise bedingt durch die kurzfristige Ankündigung der Wahl – praktisch nicht geführt wurde (Vgl. Maquet/d’Hertefelt
249
verwendet hatten, wandten sie sich in ihren Artikeln in den darauffolgenden Jahren einer
radikaleren und potentiell revolutionären Sprache zu. Kayibanda begann etwa, die Hutu
Gegenelite in (mythischen) Begriffen wie ‚Dritter Stand’ zu definieren, während gleichzeitig
das Publikum für seine und anderer Artikel zur sozialen und politischen Lage in der Form
einer wachsenden Käuferzahl der Zeitschrift Kinyamateka dramatisch anwuchs (Vgl. Linden
1977: 235). Gleichzeitig mit der Radikalisierung des politischen Diskurses begannen
führende Hutu-Politiker die Rolle der Èvolués als Führer der ländlichen Massen zu
thematisieren und die Rolle ländlicher Intellektueller – Katechisten, des Schreibens mächtige
Händler, Lehrer u.a. – zu unterstreichen (Vgl. C.Newbury 1988: 188). 1956 brachte M.Maus,
ein europäischer Siedler und Präsident der Union Euroafricaine, erstmals in einem formellen
Gremium, im Rat des Vize-Gouverneurs, das ‚Hutu-Tutsi-Problem’ als das drängendste
soziale und politische Problem der Mandatsterritorien zur Sprache und warnte davor, daß
der Ausschluß des Dritten Standes (wie er die Masse der Bevölkerung definierte) spätestens
bei einer vollständigen Demokratisierung der lokalen Behörden keinen einzigen Tutsi mehr
als Chief, Mitglied eines Rates, ja als Bewohner der Hügel dulden werde (Vgl. Linden 1977:
239).Um dieser Situation zu entgehen, schlug er vor, Hutu in irgendeiner Form separat zu
repräsentieren, was von der Administration umgehend abgelehnt wurde (Vgl. Lemarchand
1970: 146).
Im Jahr darauf publizierte der Conseil Supérieur du Pays eine lange Einschätzung der
politischen und sozialen Lage des Landes und empfahl die Ausweitung des
Bildungssystems, Ausweitung der politischen Partizipation und forderte die schnelle
Devolution der Macht an die afrikanisierten Institutionen des Landes, ohne auch nur mit
einem Wort das Problem (wahrgenommener) krasser ökonomischer und sozialer
Ungleichheit zwischen Tutsi (qua Elite) und Hutu zu thematisieren. Dagegen schlug er vor,
vier Ministerien (Finanzen, Bildung, Öffentliche Arbeiten und Innenressort) an ruandesische
Akteure zu übergeben und zu diesem Zweck rasch afrikanisches Personal für die
Übernahme der Ministerien auszubilden. Eine Devolution von Macht an ruandesische
Akteure schien in greifbare Nähe gerückt (Vgl. ebenda: 249; C.Newbury 1988: 191) In
Reaktion darauf veröffentlichte eine Gruppe von Hutu Intellektuellen, unter ihnen Joseph
Gitera, Bonaventure Habimana, Aloys Munyangaju und Grégoire Kayibanda das ‚Manifeste
de Bahutu’ – ein Katalog von Problembeschreibungen und Empfehlungen -, in dem sie die
Zentralität der ungleichen Verteilung ökonomischer Güter und politischer Ämter zwischen
Hutu und Tutsi herausstreiche, nicht ohne dabei eine ‚rassische’ Lesart (in den Begriffen der
Hamitentheorie) für die Analyse der sozialen und politischen Probleme zu übernehmen256:
1959: 47). 256 und Demokratie mit der Herrschaft der Mehrheit (‚la loi statistique de pouvoir’ im folgenden Zitat) zu identifizieren.
250
[L]e problème est avant tout un problème de monopole politique dont dispose une race, le
Mututsi, monopole politique que, étant donné l’ensemble des structures actuelles, devient un
monopole économique et social qu, vu les sélections de facto dans l’enseignement, parvient à
être un monopole culturel, au grand désespoir des Bahutu qui se voient condamnés à rester
d’éternels manœuvres subalternes, et pis encore, après une indépendance éventuelle qu’ils
auront aidé à conquérir sans savoir ce qu’ils font. (Décolonisation et Indépendance du
Rwanda et du Burundi 1963 : Doc.4, p.556)
Gleichzeitig wandte sich das Pamphlet gegen die anvisierte Abschaffung der Angabe der
ethnischen Zugehörigkeit auf offiziellen Dokumenten, denn: Leur suppression risque de favoriser encore davantage la sélection en la voilant et en
empêchant la loi statistique de pouvoir établir la vérité des faits. Personne n’a dit d’ailleurs que
c’est le nom qui ennuie le Muhutu ; ce sont les privilèges d’un monopole favorisé lequel risque
de réduire la majorité de la population dans une infériorité systématique et une sous-existence
imméritée. (ebenda : 561)
Das Pamphlet wurde dem Gouverneur und Generalresidenten von Ruanda-Urundi Harroy im
März 1957 nach Usumbura übermittelt, der das Pamphlet zunächst nicht öffentlich zur
Kenntnis nahm. Gegenüber der U.N Mission Ende 1957, in deren Verlauf er explizit auf das
Manifest angesprochen wurde, sprach er davon, daß das Problem ‚Hutu-Tutsi’ das
Schlüsselproblem des Landes sei und wiederholte Ende 1958 bei der Eröffnung der
Sitzungsperiode des Rats des Vize-Gouverneurs die Grundaussage des Manifests, daß es
ein ‚Tutsi-Hutu-Problem’ gebe und dieses das fundamentale Problem des Landes sei
demonstrativ (Vgl. Harroy 1984: 213; 231).
Kayibanda hatte noch 1957, bevor er mit einem der Unterzeichner des Manifests, Aloys
Munyangaju nach Belgien ging, um eine Ausbildung als Journalist zu erhalten, eine
Organisation gegründet, das Mouvement Social Muhutu (MSM), die 1959 zu einer Partei mit
neuem Namen (Parti du Mouvement de l’Émancipation des Bahutu, Parmehutu)
umgewandelt wurde. Es sollte den im Manifest ausgedrückten Zielen eine organisatorische
Klammer geben und ein Instrument darstellen, die Massen zu mobilisieren (Vgl. Linden
1977: 251). Im gleichen Jahr gründete ein anderer der Unterzeichner des Manifests, Joseph
Gitera, seine eigene Organisation, l’Association pour la Promotion Sociale de la Masse
(Aprosoma), dem sich später auch Munyangaju anschloß. Im Unterschied zum moderaten
reformistischen und christlichsozialen Diskurs des MSM, zeichnete sich Aprosoma und im
Speziellen Gitera durch einen scharfen verbalen Radikalismus, den er gegen die bestehende
Ordnung und die Monarchie wandte, sowie durch einen gewissen Sinn für politischen
Aktionismus aus (Reyntjens 1985: 253). Während Gitera in seinen Handlungen und
Äußerungen radikal erscheinen mochte, analysierte er die politische Situation Ruandas nicht
in Begriffen von Rasse (wie es das MSM und die Nachfolgeorganisation Parmehutu taten),
251
sondern in einer Opposition der Masse und der politischen Minderheit in der Form der Chiefs
und der Monarchie. Der Titel der von Gitera gegründeten Zeitschrift ‚Ijwi rya Rubanda Rugufi’
(Stimme der kleinen Leute) illustriert die ideologische Ausrichtung von Aprosoma und damit
den ideologischen Unterschied zwischen den beiden politischen Organisationen deutlich.
Gitera, gemeinsam mit zwei anderen, wurde 1958 in den Conseil Supérieur du Pays
kooptiert, nachdem er den Mwami im Jänner des Jahres aufgefordert hatte, eine
Untersuchungskommission zum ‚Hutu-Tutsi-Problem’ einzurichten, die schließlich im April
ihre Arbeit aufnahm (Vgl. Dorsey 1994: 78). Den Hutu-Repräsentanten im Conseil Supérieur
du Pays wurde dabei – ähnlich wie den schon 1953 und 1956 in Räte gewählten Hutu – die
Unwilligkeit der tonangebenden Elite, politische und soziale Reformen ‚für die Massen’ zu
ergreifen, deutlich vor Augen geführt (Vgl. Linden 1977: 252).
Das Jahr 1958 zeichnete sich durch eine merkliche Radikalisierung der medial – in
Kinyamateka, Temps Nouveaux d’Afrique (Usumbura) und Soma – geführten Debatten aus,
an der sich im Laufe des Jahres auch dem Hof nahe stehende Tutsi Aristokratie zu beteiligen
begann. Ein im Juni erschienener Artikel, der von einer Reihe älterer Klienten des Mwami
unterschrieben wurde, antworteten die Autoren auf ein im Mai des Jahres in Kinyamateka
vorgebrachtes (mythologisches)257 Argument der grundsätzlichen Gleichheit von Hutu, Tutsi
und Twa und ihres gleichen Anspruchs auf politische und soziale Rechte:
[L]es relations entre nous [Tutsi] et eux [Hutu] ont été de tout temps jusqu’à pre´sent basées
sur le servage ; il n’y a donc aucun fondement de fraternité (zitiert nach Maquet/d’Hertefelt
1959 : 86f)
Nach der Erklärung der genealogischen Unmöglichkeit der angeblichen ‘Bruderschaft’ von
Gatwa, Gatutsi und Gahutu, dessen Vater nicht Kanyarwanda gewesen sein könne, da
dessen Vater, Kigwa, Tutsi gewesen sei und die Hutu in Ruanda vorgefunden habe,
während er Gatwa als seinen Diener mitgebracht habe, fügen die Autoren ein letztes
Argument hinzu, das die Vorherrschaft der Tutsi aufgrund des Rechts der Eroberung
legitimiert.
Die von den Autoren des Artikels ergriffene Argumentationslinie nahm innerhalb der
‚traditionellen’ Elite eine marginale Position ein. Statt dessen favorisierte diese einen Diskurs,
der sich um die Einheit des Landes drehte und es möglichst vermied, von einem ‚ethnischen’
oder ‚rassischen’ Problem zu sprechen. Wie es ein anonymer Leserbriefschreiber Mitte 1958
257 Das Argument bezog sich auf einen geläufigen Gründungsmythos, nach dem Gahutu, Gatutsi und Gatwa die Kinder desselben Vaters (Kanyarwanda) seien und folgerte weiter, daß der Mwami – in seiner symbolischen Rolle als Vater der Nation – keine seiner ‚Kinder’ bevorzugen solle (Vgl. Linden 1977: 253; und Chrétien 1999: passim zur Ambivalenz dieses Mythos, der dazu verwendet wurde, die Ungleichheit zwischen den Gruppen als Konsequenz der Schuld Gahutus und Gatwas gegenüber ihrem Vater zu rechtfertigen).
252
formulierte, gehe es darum, das Land gegen trennende Kräfte wie Joseph Gitera zu
verteidigen – so wie die Retter-Krieger (Abatabazi) der ruandesischen Mythologie die
Ruanda nach einer Krise wiederhergestellt hätten (Vgl. Reyntjens 1985: 236). Folgerichtig
kam die vom Mwami auf Drängen Joseph Giteras eingesetzte Arbeitsgruppe zu dem Schluß,
daß es kein ‚Hutu-Tutsi-Problem’ gebe und empfahl die Abschaffung der Angabe der
‚ethnischen’ Identität auf offiziellen Dokumenten (Vgl. Linden 1977: 255). Der antikoloniale
Diskurs konservativer Tutsi-Eliten begründete angeprangerte Mißstände mit der
Beschneidung der Monarchie durch die belgische Kolonialverwaltung – würde sie in ihrer
traditionellen Gestalt wiederhergestellt werden, könnte das ‚traditionelle Gleichgewicht’
wiederhergestellt, die durch die belgische Kolonialherrschaft durchgesetzte ‚rassische’
Spaltung Ruandas rückgängig und die Einheit des Landes bewahrt werden (Vgl.
Lemarchand 1970: 135).
7.2 ‚Revolution’
Die ‚Revolution’ in Ruanda, die mit den Aufständen 1959 begann, mit der Ausrufung der
Republik im Jänner 1961 ihren Höhepunkt fand und deren Ergebnis durch die allgemeinen
Wahlen vom September sanktioniert und legitimiert wurde, bestand, wie bereits andere
Autoren herausgestrichen haben, aus einer komplexen Entwicklung, einer Reihe von
Ereignissen, deren Ausgang unsicher und deren Bedeutung zunächst unklar blieb.
Tabelle 16: Ablauf der Revolution und Typologie ihrer Stadien
Stadium
Chronologie
Protesttypus Orientierung Zielscheibe Schauplatz Akteure
1. Anfang
November
1959
(‚Muyaga’)
Revolte,
Bauernaufstan
d
Anomisch-
restaurativ
(pro-
monarchisch)
Tutsi (in erster
Linie Chiefs
und Subchiefs)
landesweit Hutu Bauern
2. Anfang bis
Mitte
November
Reaktion auf
(1)
restaurativ,
‚traditionelle’
Strafaktion
(ingabo)
Aprosoma-
Mitglieder
(daher Hutu)
landesweit
mit
Schwerpunkt
im Zentrum
Mwami,
Royalisten, trad.
Armeen (Hutu,
Tutsi, Twa)
xenophob-
konservativ
Tutsi-Chief und
Subchiefs
Nordruanda
(Rukiga)
Bakonde Familien
und ihre Klienten
3. 1960 soziale und
politische
Revolution xenophob-
jakobinisch
Tutsi
(undifferenziert
)
Zentralruand
a
Kommunale
Autoritäten (Hutu)
4. Jänner 1961 Staatsstreich Republikanisc
h
(Tutsi)
Monarchie
Gitarama Parmehutu-
führung und
belgische
Kolonialverwaltun
g
253
Die Tabelle ist eine fast vollständige Reproduktion der Tabelle in Lemarchand 1970: 113. Allerdings wurden
einige entscheidende Elemente verändert und die royalistische Reaktion auf den Bauernaufstand Anfang
November hinzugenommen. Außer Lemarchand wurden verwendet: Hubert 1965: passim; C.Newbury 1988:
194f; Willame 1994: passim
Keine der Akteure – weder konservative Royalisten, noch die belgische Kolonialverwaltung,
noch die Führer der Hutu Parteien – hatte zu irgendeinem Zeitpunkt die volle Kontrolle über
den Ablauf der Ereignisse, obwohl sie ihn durch ihr Handeln wesentlich mitbestimmten (Vgl.
z.B. Lemarchand 1970: 114ff; Reyntjens 1985: 233ff).
Der Ablauf der Revolution soll im übrigen hier nur skizziert werden, soweit sie der Erklärung
eines ihrer hervorstechendsten Ergebnisse – der durchgängigen Ethnisierung der Politik –
dienlich ist.
7.2.1 Auftakt
Konnte die belgische Kolonialverwaltung den politischen Prozeß bis 1958 innerhalb gewisser
Parameter halten und kanalisieren, entglitt ihr die Kontrolle über den politischen Prozeß ab
der Jahreswende 1958/59 zusehends. Im Kongo und in Burundi kam es im Laufe des Jahres
1958 zur Bildung vehement nationalistischer Parteien unter der Führung von Prinz
Rwagasore bzw. Patrice Lumumba, während die beiden politischen Organisationen in
Ruanda mit der Rückkehr zweier ihrer Führer nach Ruanda straffer organisiert und
schlagkräftiger wurden und die katholische Kirche in Hirtenbriefen die ‚rassische
Ungleichheit’ in Ruanda öffentlichkeitswirksam kritisierte (Vgl. Reyntjens 1985: 236). Der
entscheidende Faktor für die Beschleunigung der Ereignisse war jedoch der plötzliche Tod
Rudahigwas Ende Juli in einem Krankenhaus in Usumbura. Gerüchte wollten es, daß er von
den Europäern vergiftet wurde. Drei Tage nach seinem Tod, bei seiner Beerdigung
proklamierten eine Gruppe von dem Hof nahe stehenden Tutsi – für die anwesenden
Kolonialfunktionäre völlig unerwartet, Ndahindurwa als Kigeri zum neuen Mwami Ruandas
und Nachfolger Rudahigwas (Maquet 1964: 565).
Der Tod Rudahigwas und die ungesetzliche Einsetzung Ndahindurwas beschleunigten den
Prozeß der Parteienbildung, der wegen den bevorstehenden Wahlen zu den
Ratsversammlungen auf den verschiedenen Ebenen der administrativen Hierarchie (die
theoretisch Ende 1959 stattfinden sollten, de facto aber nie angesetzt wurden) bereits
begonnen hatte. Im Laufe von 1959 konstituierten sich die beiden Hutu-Bewegungen als
Parteien. Dazu gesellten sich zwei weitere, die Union Nationale Rwandaise (UNAR) – eine
Sammelbewegung für den konservativsten Teil der ‚traditionellen’ Elite – und das
Rassemblement Démocratique du Rwandais (RADER), dessen tragende Kräfte v.a. aus
254
Angestellte der Verwaltung bestanden, in ihrem Programm demokratische Reformen
forderten und einen konstitutionellen Monarchen vorsahen (Vgl. Linden 1977: 265; Reyntjens
1985: 250ff).
7.2.2. Aufstand (November 1959) und die royalistische Reaktion
Die politischen und sozialen Bedingungen waren durch die zaghaften belgischen Reformen
kaum verbessert worden. Die Abschaffung von Ubuhake hatte gezeigt, daß nicht sie den
Status eines fundamentalen Mechanismus von Unterdrückung und Ausbeutung
eingenommen hatte, der ihr so oft zugesprochen wurde. Ihre Abschaffung hatte zu der
Zunahme von Abhängigkeitsbeziehungen auf der Basis von Land geführt: Viele Viehbesitzer
mußten so, um weiterhin Zugang zu Weideflächen zu haben, auf informeller Basis Klient
eines Igikingi-Besitzers werden (obwohl Ibikingi 1930 offiziell abgeschafft wurde), während
Isigati – das in der Praxis der Fünfziger Jahre weit ausgedehnte Recht auf Abgrasen von
Sorghumstoppeln eine ständige Quelle von Konflikten zwischen Bauern und Viehbesitzern
darstellte. In einer weiteren Form der Perpetuierung formeller Klientelbeziehungen forderten
Patrone – oft eher Angehörige eines niederen ‚Adels’ – Geldablösen für noch zu erbringende
Dienstleistungen oder Viehtransfers, ohne ein großes Interesse daran zu haben, den meist
vor dem lokalen Tribunal ausgetragenen Konflikt rasch beizulegen (Vgl. Lemarchand 1970:
130ff). Die Rolle der Chiefs hatte sich nur in dem Maße verändert, in dem die belgische
Kolonialverwaltung Zwangsverpflichtungen (kommunale Arbeiten, Zwangsanbau von
Nahrungspflanzen) reduzierte oder gänzlich abschaffte, während die 1953 erstmals
konstituierten Räte nach wie vor konsultativen Charakter hatten und keinerlei
Mitbestimmungsrechte besaßen.
Während die angeführten strukturellen Bedingungen entscheidend dazu beitrugen, daß der
Aufstand in seiner Breite stattfinden konnte, war der unmittelbare Auslöser des Aufstands
der radikalisierte Kontext von Politik, genauer, die aktive Einschüchterungskampagne seitens
der radikal-konservativen UNAR. Die Union Nationale Rwandaise wurde im August 1959
gebildet und im September offiziell als Partei konstituiert. Bald nach ihrer Gründung begann
sie Hutu und andere daran zu hindern, an Versammlungen von Oppositionsparteien
teilzunehmen, ermutigt davon, daß Kigeri Ndahindurwa sich im Oktober des selben Jahres
offen für UNAR ausgesprochen hatte. Der vehemente Antikolonialismus und die von UNAR
geführte Einschüchterungskampagne trübten das spätestens seit der Inthronisation Kigeri
Ndahindurwas gespannte Verhältnis zu den ‚traditionellen’ Herrschaftsträgern, von denen
der größte Teil UNAR-Anhänger waren (Vgl. Reyntjens 1985: 257ff).
Am ersten November wurde einer der wenigen Hutu Subchief im Zentrum des Landes von
einer Gruppe von jungen Tutsi angegriffen und leicht verwundet. Am nächsten Tag
255
versammelten sich daraufhin eine große Gruppe vor dem Haus des Chiefs, um ihren Protest
gegen die Behandlung des Hutu Subchiefs und griffen ihrerseits vier anwesende Notable an.
Ähnliche Protestaktionen fanden in umliegenden Chefferies statt und binnen weniger Tage
waren Chiefs und Subchiefs, zuerst in Parmehutu Hochburgen (besonders im Norden
Ruandas) und sukzessive im ganzen Land Zielscheibe von tätlichen Angriffen und
Brandschatzungen. Oft wurde angeführt, die europäische Kolonialverwaltung und der Mwami
selbst habe die Übergriffe und Brandschatzungen befohlen, während die
Aufstandsbewegung gemeinhin Muyaga genannt wurde – der Wind, der plötzlich von
irgendwoher kommt und wieder weggeht, aber man weiß nicht wohin (Hubert 1965: 29ff;
Lemarchand 1970: 166; C.Newbury 1988: 194f). Am 6. November erbat der Mwami vom
Gouverneur die Erlaubnis, mit ‚traditionellen’ Armeen die Ruhe wiederherzustellen. Dies
wurde ihm verwehrt. Allerdings hatte er schon am 5. November dazu aufgerufen, nach
Nyanza zu kommen – offenbar um von dort die Niederschlagung des Aufstands
durchzuführen. Die royalistische Reaktion setzte unmittelbar nach der Verwehrung der
Niederschlagung des Aufstands durch den Gouverneur ein und richtete sich in erster Linie
gegen die Führer von Aprosoma und erst in zweiter Linie gegen ihre Anhänger (Vgl. Willame
1994: 312ff). Bezeichnend dafür, wie unklar die Situation eigentlich war, ist das Faktum, daß
selbst Aprosoma-Mitglieder dem Aufruf des Mwami gefolgt waren und erst langsam
realisierten, daß sie selbst die eigentliche Zielscheibe der royalistischen Reaktion darstellten.
7.2.3 Revolution und Transition
Bis Mitte November war die Ruhe mit Hilfe der Force Publique wiederhergestellt, die
bestehende Ordnung aber bleibend geschädigt. In vielen Regionen war die
Wiedereinsetzung vertriebener Tutsi-Chiefs wegen dem andauernden Widerstand der
Bevölkerung nicht mehr möglich, in anderen führte passiver Widerstand gegen Anordnungen
der Chiefs zu einer Lahmlegung der lokalen Verwaltung. Die belgische Kolonialverwaltung
unter dem Mitte November zum Sonder- und Militärresidenten eingesetzten Guy Logiest
reagierte darauf mit der Einsetzung von Übergangsautoritäten, ein Vorgehen, das die Führer
der beiden Hutu Parteien als verallgemeinertes Vorgehen für ganz Ruanda forderten, nicht
ohne dabei die ausschließliche Einsetzung von Hutu in Autoritätspositionen zu verlangen
(Vgl. ebenda: 318). Bis März 1960 waren in 22 von insgesamt 45 Chefferies und in 297 von
531 Sous-Chefferies Hutu als Interimsautoritäten eingesetzt worden.
Inmitten der Krise hatte der Gouverneur Kommunalwahlen für 1960 angekündigt und damit
den Machtransfers an eine – die Belgische Kolonialverwaltung entschied sich bewußt dafür –
künftige von einen der beiden Hutu Parteien gebildete Regierung eingeleitet. Ebenfalls 1960
wurde eine reguläre Armee errichtet, deren Rekruten hauptsächlich aus Hutu bestanden. Sie
sollte die die Herrschaft eines künftigen Regimes gegen etwaige royalistische
256
Restaurationsversuche258 militärisch absichern helfen und war ein weiteres beredtes Symbol
der seit den Novemberunruhen offen geäußerten Unterstützung des Kolonialregimes für
Hutu-Parteien und ihre damit ausgedrückte Inkaufnahme des Endes der alten Ordnung.
Eine andere Konsequenz der Krise war ein Anstieg der Zahl von Flüchtlingen von 7.000 im
November 1959 auf 22.000 im April 1960 und Ende des Jahres auf über 130.000. Zum
überwiegenden Teil setzten sich die Flüchtlinge aus Tutsi zusammen, aber auch Twa und
Hutu waren nicht selten ihren Patronen ins Exil gefolgt (Lemarchand 1970: 172). Der
dramatische Anstieg der Zahl der Flüchtlinge war selbst wieder Ausdruck des veränderten
Charakters der Gewalt, die trotz der relativen Beruhigung der Situation während 1960
andauerte und zunehmend undifferenziert Tutsi im Allgemeinen als Zielscheibe hatten.
Die im Juli 1960 durchgeführten Kommunalwahlen erbrachten eine überwältigende Mehrheit
für Kanditaten von Parmehutu (83,3% der Sitze). Mit ihr trat gleichzeitig die politische
Reorganisation in Kraft, die im Dezember 1959 dekretiert worden war und die Ersetzung der
alten, auf Chefferies und Sous-Chefferies beruhende territoriale Gliederung durch eine neue
aus Kommunen und Präfekturen gebildete Struktur vorsah (Dorsey 1994: 85). Das Ergebnis
der Kommunalwahlen scheint ein ethnisches Wahlmuster zu belegen: Parmehutu und
Aprosoma, die beiden Hutu-Parteien erlangten 83,94% der zu vergebenden Sitze.
Tatsächlich war die Unterstützung von Hutu-Parteien dort am größten, in denen erst in der
kolonialen Periode Tutsi Chiefs eingesetzt worden waren, etwa im Südwesten (Bukunzi,
Busozo) und dem Norden und Nordwesten (z.B. Rukiga und Bushiru). Andere Regionen, in
denen die Unterstützung für Hutu-Kandidaten groß war, waren solche, die zwar bereits vor
dem 19.Jh. unter zentraler Kontrolle des Hofs gestanden hatten. In der Folge der
Zentralisation des 20.Jh. und der damit verbundenen Transformation von
Klientelbeziehungen hatten sich lokale (politische) Stratifikationsmuster zwischen Hutu und
Tutsi-Chiefs dramatisch zugespitzt und einen deutlicheren ausbeuterischen Charakter
angenommen (etwa im Westen, dem Süden und Südwesten). In Zentralruanda war die
Unterstützung für Hutu-Parteien besonders stark in der Region um die Missionsstation
Kabgayi (Gitarama) – ein deutliches Zeichen für die Rolle der Mission in der politischen
Entwicklung der Fünfziger Jahre -, während in anderen Teilen des Zentrums die Beteiligung
an der Wahl zu niedrig war, um eine seriöse Interpretation der Ergebnisse zuzulassen (Vgl.
Newbury 1983: 267ff). Tatsächlich wirft der Ausgang der Wahl ein Licht auf lokal
unterschiedliche ‚ethnische’ Beziehungen. Sie zeigt insbesondere, daß ‚ethnisches’
258 Im Laufe des Jahres 1960 formierten sich im kongolesischen und ugandesischen Exil royalistische Guerillas (Inyenzi – Küchenschaben), die im Grunde eine Fortsetzung und Transformation der nach der Niederschlagung der royalistischen Gegenbewegung sich langsam auflösenden ‚Armeen’ waren. Selbst Ende 1960 machten Hutu etwa ein Drittel der ‚Armeen’ aus (Vgl. Weinstein 1977: 60f).
257
Wahlverhalten bei den Kommunalwahlen mit dem Ausmaß zentralruandesischer
Durchdringung korrelierte und weist damit auch auf die Konvergenz von ‚Ethnizität’ und
‚politischer’ Stratifikation Der Ausgang der Kommunalwahlen zeigt jedoch nicht, daß
‘Ethnizität’ an sich der relevante Faktor in den Wahlen war. Die Wahlen richteten sich gegen
die von den Chiefs repräsentierte ‚alte Ordnung’ und gegen dem in dieser Ordnung
wahrgenommen Ausmaß an Zwang und Ausbeutung. Das Wahlverhalten war insofern nicht
durch die ‚ethnische’ Zugehörigkeit der Kandidaten bestimmt, sondern dadurch, was und
wen die Kandidaten repräsentierten. Dazu kam noch der persönliche Faktor (die Bekanntheit
und das Ansehen der Kandidaten selbst. Als letzter Einflußfaktor sind noch die Parteien, in
deren Rahmen die (meisten) Kandidaten kandidierten, zu nennen. UNAR und die beiden
Hutu-Parteien Aprosoma und Parmehutu waren die einzigen, die landesweit organisiert
waren, während andere kleinere Parteien entweder nur lokal kandidierten oder wie RADER
auf eine kleine Elite beschränkt blieb. UNAR war zwar landesweit organisiert, rekrutierte sich
aberim wesentlichen aus Chiefs und Subchiefs und stand damit für die alte Ordnung.
Außerdem hatte sie im Wissen um die ihr seitens des Treuhandrates und der
Generalversammlung vorgebrachten Sympathie zum Boykott der Wahlen aufgerufen.
Allerdings konnte sie auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung im folgenden Jahren
aus den angeführten Gründen im Allgemeinen mit keiner großen Unterstützung der
Bevölkerung rechnen (Vgl. Linden 1977: 265). Da Parmehutu und Aprosoma sich ‚ethnisch’
praktisch ausschließlich aus Hutu zusammensetzten und eine ethnizistische Programmatik
verfochten, war ‚Ethnizität’ in zumindest gleicher Weise eine Folge des politischen Prozesses
und des Erfolgs der beiden Hutu-Parteien wie ein Determinant des Verlaufs des politischen
Prozesses.
Aufgrund der Ergebnisse der Kommunalwahlen beauftrage die Kolonialverwaltung im
Oktober 1960 Grégoire Kayibanda mit der Bildung einer provisorischen Regierung, die
juristisch immer noch eine Regierung des im Juli ins Exil gegangenen Mwami darstellte,
wenn auch die Monarchie real zu existieren aufgehört hatte. Im Jänner 1961 wurde
schließlich auf einer Versammlung, auf der nahezu alle Bürgermeister und Gemeinderäte
des Landes anwesend waren, die Republik ausgerufen und eine Verfassung beschlossen.
Während diese keinerlei Rechtskraft beanspruchen konnte, verlieh der ‚Staatsstreich’ dem
Machtwechsel auf allen Ebenen der Verwaltung und dem faktischen Ende der Monarchie
symbolisch Ausdruck und wurde durch die Wahlen zur Nationalversammlung und das
gleichzeitig stattfindende Referendum über die Abschaffung der Monarchie im September
1961 im Grunde nur mehr sanktioniert (Reyntjens 1985: 285ff). Das Ende der Monarchie war
zugleich der Beginn einer wesentlich in ‚ethnischen’ Begriffen definierten Republik. Die
‚ethnische’ Definition der mit 1.Juli unabhängig gewordenen Republik äußerte sich in
258
zumindest zweifacher Weise: in dem physischen Ausschluß etwa eines Drittels seiner Tutsi-
Bevölkerung einerseits, und einer institutionalisierten Diskriminierung (in der Form von
Quotenregelungen, praktischer Ausschluß von politischen Funktionen u.a.) andererseits.
Dazu kamen noch regelmäßige, teilweise unter wesentlicher Beteiligung von staatlichen
Funktionären durchgeführte Pogrome gegen Tutsi, die im Land verblieben waren und die bis
Mitte der Sechziger Jahre die zahl der Flüchtlinge auf 336.000 (1964) anwachsen ließen.
7.3. Mechanismen der Ethnisierung
Es lohnt sich, den Ethnisierungsprozeß in der Endzeit und der Anfangsperiode der Republik
einer zumindest kursorischen Betrachtung zu unterziehen. Dies deshalb, weil dadurch die
konkreten Mechanismen und Prozesse von Ethnisierung deutlicher werden. Während unter
Politikern der beiden Hutu-Parteien auf nationaler Ebene spätestens seit 1959 das Muster
ethnischer Wahrnehmung fest etabliert war und eine dichotome Analyse der Gesellschaft (in
Gestalt der Gegenübersetzung von Hutu und Tutsi) vorherrschte259, kann die Durchsetzung
der Plausibilität von Ethnizität für die Masse der Bevölkerung nicht einfach angenommen
werden. Schon während der Übergangsphase bis zu der Wahl neuer lokaler Behörden im
Juli 1960 hatte die belgische Kolonialverwaltung Hutu als Chiefs und Subchiefs eingesetzt,
die nicht nur eine ähnliche Bereitschaft wie ihre Vorgänger zeigten, ihre Macht gegenüber
der Bevölkerung zu mißbrauchen, sondern zu wesentlichen Akteuren der steigenden Zahl
von Gewaltakten gegen Tutsi wurden (Vgl. Lemarchand 1970: 175). Während der
Wahlkampfperiode für die Kommunalwahlen nahmen Gerüchte und gegenseitige
Verdächtigungen zu, deren Autoren meist Aktivisten der Hutu- (Aprosoma und Parmehutu)
oder Tutsi-Parteien (in erster Linie UNAR) waren, ebenso spontane und geplante
Gewaltakte, die in zunehmend undifferenzierter Weise verübt wurden (Ebenda: 180). Die
Nachwahlperiode war gekennzeichnet von dem Bemühen der neu eingesetzten
Bürgermeister, ihre Macht zu konsolidieren. Diese agierten dabei in täuschend ähnlicher
Weise wie die vormalige Herrschaftselite. Mit der Substantialisierung der Macht der
Bürgermeister war eine Verschiebung des Klientelkomplexes hin zu den neuen Autoritäten
verbunden, die diese nicht selten mit Gewalt und Einschüchterung zu erreichen suchten (Vgl.
ebenda: 184f). Tatsächlich war die Position der neugewählten Bürgermeister nicht selten
prekär. Dies hatte mit der unregelmäßigen Durchdringung des Landes durch die Aktivisten
der beiden wichtigsten Parteien zu tun. In der Vorwahlperiode versuchten so beide in
Regionen, wo sie über praktische keinerlei organisatorische Basis verfügten und relativ
kurzfristig, Kandidaten anzuwerben. Der von Pierre Gravel (1968: 188ff) geschilderte und im
folgenden dargestellte Fall ist dafür (und für den Versuch neu gewählter Bürgermeister, ihre
259 Aprosoma wich in seiner Ideologie teilweise davon ab, übernahm aber ab 1959 zunehmend die ethnizistische Perspektive (Vgl. Willame 1994: 318)
259
Macht zu konsolidieren) zumindest eine gute Illustration.
In der von Gravel untersuchten Kommune, Remera in Gisaka, hatte Parmehutu vor allem in
Rücksicht auf dem dem Gebiet nachgesagten Konservatismus keine eigene Kandidaten
aufgestellt. Allerdings trat der in Remera gewählte Bürgermeister, ein Mann nahmens Ijeri,
der Partei kurze Zeit nach den Wahlen bei, nachdem klar wurde, daß Parmehutu zur
stärksten Partei des Landes geworden war. Ijeri arbeitete als Hilfslehrer in der lokalen
Primärschule und war 1958 nach Remera gekommen. Woher er stammte, war unbekannt.
Angeblich hatte er sich an seinem vormaligen Arbeitsplatz als Tutsi des königlichen Klans
ausgegeben und versucht, die Tochter des dortigen Chiefs zu ehelichen. Zum Zeitpunkt, als
die Registrierung der Kandidaten für die Kommunalwahlen anfingen, war Ijeri Mitglied von
UNAR und trug sich, nachdem diese die Wahl boykottierte, als unabhängiger Kandidat (und
Tutsi) ein – als der er (bei einer Wahlbeteiligung von 12%) gewählt wurde. Ijeri war nicht die
erste Wahl als Bürgermeister (der als einer der gewählten Gemeinderäte prinzipiell von
diesen, in Remera aber unter Mitwirkung des belgischen Administrateur de Territoire gewählt
wurde). Andere hatten mehr Stimmen erlangt, aber sich geweigert als Bürgermeister zu
fungieren. Ijeri präsentierte sich bald nach seiner Wahl als ‚neuer Chief’ und begann wenig
später, seine Macht auszutesten. Er begann Leute wegen Trunkenheit zu verhaften, befahl
die Verhängung einer Ausgangssperre und ähnliches. Gleichzeitig hatte er um sich eine
Gruppe von Gefolgsleuten versammelt, die ihm bei der Ausführung seiner erratischen
Anordnungen behilflich waren. Nach einer gewissen Periode begann er gegen Tutsi
vorzugehen. Zunächst waren diese nicht die einzigen Zielscheiben seiner zahlreichen An-
und Übergriffe gegen Bewohner Remeras – aufgrund die er zunehmend zu einem
Empfänger von ‚Geschenken’ – zu einem gefürchteten Patron wurde, eine Rolle, deren
Anerkennung er (insbesondere Tutsi) ab einem gewissen Zeitpunkt aufzudrängen begann.
Ab dem sogenannten Coup d’État von Gitarama begann Ijeri zunehmend aggressiver zu
agieren, wobei der ehemalige Chief seine beliebteste Zielscheibe darstellte. 1961 ließ er
mehrere Männer für längere Zeit ins Gefängnis stecken, darunter auch den ehemalige Chief.
Im Herbst des Jahres soll er schließlich die Exekution mehrerer Männer angeordnet haben
und wenig später wegen seiner Mißbräuche vor Gericht gestellt worden sein.
Während der von Gravel beschriebene Ijeri möglicherweise einen der krasseren Fälle
darstellt, ist signifikant, daß er bald nach seinem Amtsantritt und dem Beginn seiner
Einschüchterungs- und Gewaltkampagne (die er nach einer anfänglichen
Unsicherheitsperiode und im Bewußtsein des ethnizistischen Diskurs auf nationaler Ebene in
erster Linie gegen Tutsi richtete), von einer wachsenden Zahl von Menschen als potentieller
Patron angesehen wurde, der nicht nur ‚gutgestimmt’ werden mußte, sondern mit dessen
260
Hilfe rechtliche Anspruche (fundierte oder unfundierte, das bleibt dahingestellt) auf Land,
Vieh, Weiderechten usw. geltend gemacht werden konnten, deren Zielscheibe – gemäß der
von Ijeri vorgegebenen Zielrichtung – die lokale Tutsi-Bevölkerung war. Ijeri konnte sich ein
Klientel schaffen, weil er als Bürgermeister erwiesenermaßen ‚Macht’ besaß und selbst,
wenn er seine Kompetenzen übertrat (was oft vorkam) über die Unterstützung der
Zentralgewalt (Belgier und Provisorische Regierung) verfügte. Der Opportunismus eines
wachsenden Teils der Bevölkerung gegenüber den republikanischen Behörden war
angesichts der historischen Erfahrung von Macht, Herrschaft und politischen Klientelismus in
Ruanda kein überraschendes Phänomen, sondern die Adaptierung eines immer noch als
gültig erlebten Prinzips politischer Herrschaft, nach dem das Verhältnis von
Herrschaftssubjekt und Herrschaftsperson strukturiert war. Gleichzeitig kann Ijeri als einer
der Protagonisten der Ethnisierung der Politik gesehen werden, indem er (juristische,
politische, physische) Handlungen kanalisierte und gegen Tutsi zu richten begann und weist,
einmal mehr, auf die tragende Rolle, denen Eliten (und Ijeri gehörte, wenn vielleicht auch nur
kurzfristig, zur neuen republikanischen Elite) dabei zukommt, hegemoniale Deutungsmuster
durchzusetzen.
Die hier analysierte Fallstudie kann in Ermangelung systematischerer Daten nur eine
Illustration für die Transition einer politisch (und gewissermaßen ethnisch) stratifizierten
Monarchie zu einer ethnisch definierten Republik darstellen. Sie zeigt aber deutlich, daß
Ethnisierung als komplexer Prozeß begriffen werden muß, der nicht nur in einer
‚Bewußtwerdung’ besteht (so etwa Maquet 1964, der von der notwendigen und logischen
‚Befreiung der Hutu von dem Joch der Tutsi-Monarchie’ spricht). Gewalt und Diskriminierung
aufgrund explizit ethnischer Kriterien müssen als formative Kräfte begriffen werden, die ihre
eigene Rechtfertigung (wiederum: Ethnizität) in einem typischen Prozeß der (impliziten)
Setzung der Voraussetzungen des Handelns im Handeln selbst hervorbringt (Vgl. Zizek
1994: 40f)
261
Kapitel VIII Noch einmal: Ethnizität
Anstelle einer Zusammenfassung der Ergebnisse der Arbeit, soll in diesem letzten Kapitel
noch einmal explizit auf ihr eigentliches Thema zurückgekommen werden: auf Ethnizität.
I.
Klar ist, daß die häufig gestellte Frage (die häufiger noch entsprechenden wissenschaftlichen
Arbeiten implizit zugrunde liegt), ob Hutu und Tutsi bereits vorkolonial als ‚ethnische
Gruppen’ anzusehen seien oder ob sie erst in der Kolonialzeit dazu gemacht wurden, keine
wirkliche Antworten kennt. Dies deshalb, weil die Prämisse der Fragestellung, daß es sich
bei Ethnizität um ein klar dichotomes Phänomen handelt, das entweder in einer Gesellschaft
vorhanden und wirkmächtig ist oder eben nicht, als falsch zu erachten ist. Statt dessen
argumentiert diese Arbeit, daß Ethnizität ein komplexes Identitätskonstrukt darstellt und
alleine deshalb keine gleichmäßige ‚Verteilung’ in einer Gesellschaft (was die Frage
impliziert) finden kann. ‚Ethnizität’ ist immer verortet. Diese Orte zu lokalisieren hat sich diese
Arbeit zur Aufgabe gemacht. Das Verortet-Sein von Ethnizität impliziert auch, daß
Ethnogenese keinen gleichförmigen Prozeß darstellt. In Ruanda hatte die Kategorie ‚Tutsi’
unter der Herrschaftselite der Monarchie eine Bedeutung angenommen, in der körperliche
und charakterliche Stereotype und ein starkes Differenzbewußtsein eine wesentliche Rolle
einnahmen. In der Ausdehnung und Ausweitung der quasi-ethnischen Bedeutung des
Wortes auf alle ähnlich klassifizierten Personen und ermöglicht durch die koloniale
Intervention wurde dem Kollektiv ‚Leben eingehaucht’, während indes ein breiter Teil der
Tutsi-Bevölkerung von dieser symbolische Operation der Kollektivwerdung zwar mitgedacht,
aber nicht ‚mitgetragen’ wurden. Für das ‚Andere’ der elitären Tutsi-Identität des Hofes gilt
das Fazit der ‚Leblosigkeit’ des Kollektivs (d.h. die einseitige Imagination des Anderen
seitens des höfischen und später, seitens des ‚tutsi-nationalistischen’ Diskurses) über weite
Strecken der hier betrachteten Periode in einem noch viel größerem Ausmaß.
II.
Eine zweite Schlußfolgerung der Arbeit besteht darin, daß zwischen ‚Kategorie’ und
‚Kollektiv’ ein fließender Übergang besteht. Ob ‚Kategorien’ mit Leben erfüllt werden, hängt
von den realen Prozessen in einer Gesellschaft ab, innerhalb derer Kategorien definiert,
produziert und reproduziert werden. Gleichzeitig zeigt das Beispiel Ruanda, daß die
Bedeutung der sozialen Kategorien in vorkolonialer und selbst noch in kolonialer Zeit äußerst
unterschiedlich ausfiel. In Ruanda hing die tendenzielle Homogenisierung der Kategorien
Hutu und Tutsi ursächlich mit der Expansion des ruandesischen Staates und der Verdichtung
von Herrschaft nach innen zusammen, ein Prozeß, der im Kolonialismus in verstärkter Weise
262
durchgeführt wurde.
III.
Der Staatsbildungsprozeß im vorkolonialen Ruanda, in dessen Verlauf die kollektive
(ethnische) Identität der herrschenden Elite definiert wurde, ging einher mit einer
zunehmenden Kontrolle über essentielle Ressourcen der Gesellschaft und der Betonung der
radikalen Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten, welche von der Zugehörigkeit zur
Elite gleichermaßen diskursiv wie reell weitgehend ausgeschlossen war. Der Kolonialismus
verstärkte diese Tendenz der Monopolisierung politischer Macht (und anderer Ressourcen)
bei gleichzeitiger diskursiver Rechtfertigung dieser Operation. In seinem Bestreben,
möglichst große Kontrolle über indigene Herrschaftsträger auszuüben, veränderte er aber
die Basis und den Charakter von Herrschaft, indem er Herrschaft bürokratisch organisierte
und gleichzeitig die Asymmetrie zwischen Herrschern und Beherrschern – das Prinzip von
mir so genannter politischer Stratifikation verallgemeinerte, als ethnische Dichotomie
kaschierte bzw. dahingehend transformierte und durch diskriminierende Maßnahmen (im
Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt usw.) untermauerte.
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