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Rundbrief 1 In dieser Ausgabe: Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. ISSN 0940-8665 41. Jahrgang / Juni 2005 5,00 • Nachbarschaftsheime • Bürgerzentren • Soziale Arbeit • • Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen • 2005 Die Wiederbelebung der Settlement-Häuser im Zeitalter der Globalisierung Dokumentation Fachtag : Aus Erfahrung gut – Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Innovation Die Helsinki-Deklaration der IFS Bündnis für Familien von Wirtschaftsunternehmen und Nachbarschaftszentrum Stadteilzentren als starke Partner von Stadtteil- und Quartiersmanagement

Rundbrief 1-2005

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im Mittelpunkt dieser Ausgabe Dokumentation Fachtag : Aus Erfahrung gut - Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Innovation weitere Inhalte: • Die Wiederbelebung der Settlement-Häuser im Zeitalter der Globalisierung • Die Helsinki-Deklaration der IFS • Bündnis für Familien von Wirtschaftsunternehmen und Nachbarschaftszentrum • Stadteilzentren als starke Partner von Stadtteil- und Quartiersmanagement

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  • Rundbrief 1

    In dieser Ausgabe:

    Verband fr sozial-kulturelle Arbeit e.V.

    ISSN 0940-866541. Jahrgang / Juni 2005

    5,00

    Nachbarschaftsheime Brgerzentren Soziale Arbeit Erfahrungen Berichte Stellungnahmen

    2005

    Die Wiederbelebung der Settlement-Huser im Zeitalter der Globalisierung Dokumentation Fachtag : Aus Erfahrung gut Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Innovation Die Helsinki-Deklaration der IFS Bndnis fr Familien von Wirtschaftsunternehmen und Nachbarschaftszentrum Stadteilzentren als starke Partner von Stadtteil- und Quartiersmanagement

  • Der Rundbrief wird herausgegeben vomVerband fr sozial-kulturelle Arbeit e.V.Tucholskystr. 11, 10117 Berlin

    Telefon: 030 280 961 03Fax: 030 862 11 55email: [email protected]: www.vska.de

    Redaktion: Herbert SchererGestaltung: newsign Werbeagentur GmbHDruck: Druckerei Alte Feuerwache GbR, Berlin

    Der Rundbrief erscheint halbjhrlichEinzelheft: 5 Euro inkl. Versand

    Titelbild: Theater der ErfahrungenTheatergruppe Die Sptznder: Szene aus dem Stck Die viehische Komdie,

  • InhaltMiu Chung Yan:Brckenbau im fragmentierten Gemeinwesen: Die Wiederbelebung der Settlement-Huser im Zeitalter der Globalisierung 4-13

    Dokumentation Fachtag :Aus Erfahrung gut Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Innovation 14-28

    International Federation of Settlements and Neighbourhood Centres (IFS):Helsinki Declaration Neighbourhoods First: Making the world a better place (Leben in Nachbarschaft Bausteine fr eine bessere Welt) 29

    Karl-Fried Schuwirth: ANIA - Aktives Netzwerk im Alter 30-32

    Renate Wilkening:Bndnis fr Familien von Wirtschaftsunternehmen und Nachbarschaftszentrum 34

    Armin EmrichErffnung des Sprengelhauses 35

    Dr. Eberhard LhnertStadteilzentren als starke Partner von Stadtteil- und Quartiersmanagement 36

    Monika SchneiderGruwort zum 50jhrigen Bestehens des NBH Urbanstr. 38

    Nachbarschaftswettbewerb / Ankndigung Jahrestagung 2005 39

    Vorwort:

    Die hier vorgelegte Ausgabe des Rundbriefs hat zwei Schwerpunkte, die einiges miteinander zu tun haben: Es geht um die Zukunftsfhigkeit des Modells Nachbarschaftshaus angesichts neuer Herausforderungen, denen sich unsere Gesellschaft gegenber sieht.

    Der Aufsatz von Miu Chung Yan beschftigt sich mit dieser Frage aus einer kanadischen, aber zugleich globalen Perspektive, er sieht die grte Strke der Nachbarschaftshuser (Settlements) in der Zusammenfassung von drei Funktionen, die sich gegenseitig ergnzen, sttzen und in Bewegung halten: dem Angebot unmittelbar ntzlicher sozialer Dienste, dem Gemeinwesenaufbau (Gestaltung nachbarschaftlichen Zusammenlebens im Wohnquartier) und dem Eintreten fr soziale Reformen. Unser internationaler Dachverband IFS hat sich mit seiner Helsinki Declaration, die wir gleichfalls dokumentieren, in hnlicher Weise in einem Grundsatzpapier positioniert.

    Unser Verband hat sich in letzter Zeit verstrkt Fragen zugewandt, die mit den demographischen Vernderungen zu tun haben, die ihre Schatten vorauswerfen und insbesondere unsere sozialen Sicherungssysteme unter einen enormen Vernderungsdruck stellen. Eines steht schon jetzt fest: unsere Gesellschaft wird es sich nicht lnger leisten knnen, ihre lteren Mitbrger in ein ruhestndlerisches Abseits zu schieben. Sie wird sie in ihre Mitte zurckholen mssen, weil ihre Potenziale gebraucht werden. Nachbarschaftshuser, die sich seit Jahren, gesttzt auf den Willen der lteren Menschen selber, fr eine entsprechende Sicht der Dinge stark gemacht haben, stehen vor einer erweiterten Aufgabe, in der viele Chancen liegen. Wir dokumentieren im Innenteil dieses Rundbriefes einen Fachtag zum Thema, an dem sich unser Verband im April beteiligt hat und auf dem deutlich wurde, dass es einerseits eine breite bereinstimmung in entsprechenden Zielsetzungen gibt, aber andererseits, abgesehen von den Nachbarschaftshusern, nur wenige Strukturen, die schon jetzt fr diese Zukunftsaufgabe gerstet sind.

    Einer besonderen Beachtung empfehlen wir auf der letzten Innenseite dieses Rundbriefs dem Aufruf zur Jahrestagung Stadtteilarbeit, die vom 16.-18. November wieder in Hannover stattfi nden und sich in diesem Jahr schwerpunktmig unter dem Generalthema Stadtteilzentren im Wandel mit den Zukunftsaufgaben unserer Einrichtungen beschftigen wird.Herbert Scherer

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    Einleitung

    Die Globalisierung mit ihren gewaltigen konomi-schen Implikationen hat die Rolle der Regierung, die u.a. darin bestand, ihre Brger zu schtzen, erschttert und bedroht die Solidaritt der schon geschwchten stdtischen Gemeinwesen. Das Gemeinwesen wieder aufzubauen, haben liberale Kommunitarier als Aufga-be auf die Tagesordnung gesetzt. Das Nachbarschafts-haus, ein gemeinwesenorientiertes Modell fr soziale Dienste, das die Funktionen der Dienstleistung mit der Strkung des Gemeinwesens und dem Eintreten fr sozialen Wandel verbindet, kann als eine gemein-wesenbasierte Organisation des dritten Sektors dazu dienen, solche Gemeinwesen wieder aufzubauen.

    Die Nachbarschaftshaus-(Settlement-)Bewegung hatte im ausgehenden 19. und im frhen 20. Jahr-hundert eine groe Wirkung in vielen zersplitterten, insbesondere armen, von Einwanderung geprgten Nachbarschaften, obwohl jede Einrichtung andere Schwerpunkte und Zielsetzungen hatte. Settlements als Gemeinwesenzentren oder Nachbarschaftshuser wurden in der ganzen Welt ins Leben gerufen, um unterschiedlichen Gruppen, die jeweils in der gleichen rtlichen Umgebung leben, das Gefhl eines gemein-samen Besitzes zu geben. In vielen nord-amerikani-schen Stdten sind solche Nachbarschaftshuser im-mer noch in vielen verschiedenen Stadtvierteln ttig (Chesler, 1996; Fisher & Fabricant, 2002; Husock, 1993; Koerin, 2003). Jedoch hat eine Reihe von Faktoren

    dazu beigetragen, dass die Settlement-Bewegung als stagnierend beschrieben worden ist (Trolander, 1987).

    Dieser Aufsatz spricht sich dafr aus, dass im Zeitalter der Globalisierung soziale Aktivisten und Fachleute der Stadtteilentwicklung eine fl ieende Defi nition des Gemeinwesens zur Grundlage ihrer berlegun-gen machen sollen, die davon ausgeht, dass im Ge-meinwesen unterschiedliche Interessen strategische Gemeinsamkeiten suchen, whrend sie in anderen Aspekten im Wettbewerb miteinander stehen. Das Nachbarschaftshaus mit der ihm innewohnenden hu-manistischen, einbeziehenden und demokratischen Natur, die Kommunikation, Untersttzung und Soli-daritt unter den Einwohnern anregt, kann ein solider und wirksamer Dritter Sektor zur Rekonstruktion des Gemeinwesens im Zeitalter der Globalisierung sein. Der Aufsatz schlgt eine Reihe von Strategien fr die Profession der Sozialarbeit vor, wie das Nachbar-schaftshaus in seiner alten Funktion wiederbelebt werden kann.

    Das lokale Gemeinwesen im Zeitalter der Globalisierung

    Globalisierung, ein Begriff, der in den 80er Jahren po-pulr wurde, beschreibt nicht nur ein facettenreiches soziales Phnomen, das schon lange existiert hat, sondern darber hinaus und noch wichtiger die grere und umfassendere Qualitt von gegenwr-tigen Kontakt- und Austauschbeziehungen ber die nationalen Grenzen hinaus (Albrow, 1993). Globali-sierung impliziert ein Eine-Welt-System (Midgley, 2000), das alle Aspekte des Lebens berhrt: Soziales, Bevlkerungsentwicklung, Politik, Kultur und Wirt-schaft und das sich verschiedener Kanle bedient: Internet, Massenmedien, internationale Wirtschaftsun-ternehmen und Finanzmrkte. Von allen Aspekten der Globalisierung hat die Wirtschaft, die die Entwicklung eines globalen Marktplatzes heraufbeschwrt, die Meinungsfhrerschaft bernommen (Ife, 2000). Wie Giddens und Dahrendorf (2001) beobachten, weckt die Globalisierung Argwohn in dreierlei Hinsicht: Do-minanz des Westens ber den Globalisierungsprozess, die Rolle der Macht der Konzern oder das Eindringen des Marktes in zu viele Sphren des sozialen Lebens und die globale Ungleicheit (S.4).Die weltweite konomie hat zu einer Zunahme der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit gefhrt, nicht nur zwischen verschiedenen Lndern sondern auch im Innern jedes Landes. Whrend die kono-mische Globalisierung wegen ihrer negativen Aus-wirkungen auf die Entwicklungslnder als eine neue Form des Imperialismus beschrieben worden ist, hat sie ihre Hand unsichtbar auch dann im Spiel, wenn es um die Zunahme der sozialen Unterschiede in den entwickelten Lndern geht. Gegenwrtig leiden viele

    Brckenbau im fragmentierten Gemeinwesen:Die Wiederbelebung der Settlement-Huser (= Nachbarschaftsheime) im Zeitalter der Globalisierung

    Miu Chung Yan, PhD

    Dr. Miu Chung Yan ist Assistenz-professor im Department fr So-zialarbeit und Familienstudien an der Universitt von British Colum-bia in Vancouver, Kanada.Vor Abschluss seiner Dissertation war er zwlf Jahre lang als Sozi-alarbeiter und Sozialmanager in Hongkong und Toronto ttig. Sein aktuelles Forschungsinteresse hat drei Schwerpunkte: Integration von Migranten, Rolle von Nachbar-schaftszentren beim Aufbau von

    funktionierenden Gemeinwesen, anti-repressive Sozialarbeit in interkulturellen Kontexten. Mit Kolleg/inn/en aus China arbei-tet Dr. Miu Chung Yan zur Zeit an der Realisierung eines prakti-schen Projektes zur Gemeinwesenentwicklung und am Aufbau eines Studienganges fr Sozialarbeiter in China.email: [email protected]

    funktionierenden Gemeinwesen, anti-repressive Sozialarbeit in interkulturellen Kontexten. Mit Kolleg/inn/en aus China arbei-tet Dr. Miu Chung Yan zur Zeit an der Realisierung eines prakti-schen Projektes zur Gemeinwesenentwicklung und am Aufbau eines Studienganges fr Sozialarbeiter in China.email: [email protected]

    funktionierenden Gemeinwesen, anti-repressive Sozialarbeit in interkulturellen Kontexten. Mit Kolleg/inn/en aus China arbei-tet Dr. Miu Chung Yan zur Zeit an der Realisierung eines prakti-schen Projektes zur Gemeinwesenentwicklung und am Aufbau eines Studienganges fr Sozialarbeiter in China.email: [email protected]

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    entwickelte Lnder unter steigenden Arbeitslosen-raten, wachsenden Einkommensunterschieden und dem Verlust von Arbeitsplatzsicherheit (Glyn, 1998). konomische und soziale Auswirkungen der Globali-sierung auf Nationalstaaten, Gemeinwesen und Indivi-duen in den entwickelten Lndern sind enorm.

    Die konomische Globalisierung bt einen erhebli-chen Abwrtsdruck auf die jungen Nationalstaaten aus, die ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik anpassen, um sich dem globalen Wettbewerb stellen zu knnen. Im Gegenzug haben viele westliche Regierungen die Erfahrung des globalen Wettbewerbs genutzt, um ffentliche Ausgaben, insbesondere Sozialausgaben zurckzufahren (z.B. McQuaig, 1999; Mishra, 1999). Tra-ditionelle Funktionen des Staates sind umstrukturiert worden, um mit den Herausforderungen der Globali-sierung umgehen zu knnen (z.B. Giddens, 1994, 1998; Ife, 2000). Zentralisierte wohlfahrtsstaatliche Systeme sind nicht mehr zu finanzieren. Das macht ein dezen-tralisiertes System unumgnglich, das den lokalen Gemeinwesen aufbrdet, einen Groteil der Last von Abhngigkeit und Sozialuntersttzung zu schultern.

    Der Rckzug der staatlichen Wohlfahrtssysteme hat die Frsorge-Funktion vom Staat auf alternative Untersttzungssysteme in der Zivilgesellschaft ver-lagert, ein Sammelbegriff fr jede Form gesellschaft-licher Selbstorganisation jenseits des Staates (Hall, 1995). In seiner weitesten Bedeutung umfasst der Begriff den freien Markt (Bottomore, 1979), die meis-ten privaten oder frei-gemeinntzigen und selbst-ver-walteten Agenturen, Institutionen und Bewegungen sowie informellen sozialen Netzen (Putnam, 2000). Konzeptionell ist die Zivilgesellschaft mehr als ein Gemeinwesen, wenn es um ihre Rolle in der sozialen Frsorge geht. Das lokale Gemeinwesen mit der gro-en Menge sozialen Kapitals, das es in seinen umfang-reichen informellen Untersttzungssystemen enthlt, wird in der Regel als der wesentliche konstitutive Baustein der Zivilgesellschaft gesehen (Etzioni, 1993; Giddens, 1994; Putnam, 2000).

    Armitage (1991) stellt fest, dass ein Gemeinwesen einige unterscheidbare Funktionen hat, die es von seinen Mitgliedern fordert. Diese Funktionen knnen klassifiziert werden als Produktion, Verteilung, Kon-sum, Sozialisation, soziale Kontrolle, gegenseitige Hilfe und soziale Teilhabe. Etzioni (1993) betont, dass die gemeinntzige Natur des Gemeinwesens, in der Er-scheinungsform von gegenseitiger Hilfe und sozialer Teilhabe, wichtig ist, um die vorherrschende Entfrem-dung und Demoralisierung der nach-traditionellen Gesellschaft in den entwickelten Lndern zu bekmp-fen. Er schlgt einen Entwurf vor, wie die gemeinntzi-ge Moralitt dadurch wieder aufgebaut werden kann, dass die Gemeinwesen in den stdtischen Gebieten wieder belebt werden. Giddens (1998) schlgt die For-mulierung vor, dass Gemeinwesen praktische Mittel

    seien, um die soziale und materielle Instandsetzung von Nachbarschaften, Stdten und Regionen zu befr-dern (S. 79), die unter den Auswirkungen der globa-len wirtschaftlichen Entwicklung leiden.

    Ist das Gemeinwesen verloren?

    Noch ist das Gemeinwesen im Zeitalter der Globalisie-rung desorientiert. Wie Giddens (1994) beobachtet, ist die Solidaritt des traditionellen lokalen Gemeinwe-sens, insbesondere in stdtischen Gebieten, durch die wohlfahrtsstaatliche Politik geschwcht worden, die eine neue Form des Individualismus hervorgebracht hat institutionalisierten Individualismus der das Individuum als Basis fr Rechtsansprche auf Sozial-leistungen berbetont. In der Folge beschleunigt die Individualisierung den Prozess der Entfremdung und Demoralisierung in der nach-traditionellen Gesell-schaft (Etzioni, 1993). Diese Entfremdung findet ihren vollendeten Ausdruck im Life Stile des Vorstadtle-bens, der eine beinahe normative Bedeutung in den meisten Metropolen bekommt (Putnam, 2000).

    Der Abwrtsdruck der Globalisierung setzt das ge-schwchte lokale Gemeinwesen zustzlich unter Druck. Die globale konomie fhrt zu einer hheren Mobilitt des Kapital Investments und der mensch-lichen Ressourcen in bestimmten Berufen. Manche Gemeinwesen in stdtischen Gebieten werden desta-bilisiert oder sogar auseinandergerissen als Folge des Niedergangs der rtlichen Industrie und der schnellen Kapitalbewegungen. Die Globalisierung ermuntert, bzw. zwingt Nationen, ihre Grenzen nicht nur fr Han-dels- und Kapitalstrme zu ffnen sondern auch fr Migranten, Touristen, Medienkommunikation, Infor-mation und Kultur.

    In Nord-Amerika wurde schon Anfang der 80er Jahre festgestellt, dass die meisten Gemeinwesen in den stdtischen Ballungsgebieten einen konstanten Zu-fluss von Neuankmmlingen erfahren als Folge von massiver innerer und uerer Migration (Rivera & Ehr-lich, 1981). Diese Tendenz dauert weiter an (Putnam, 2000). Das ursprnglich homogene Gemeinwesen wird in fragmentierte und vielfltige Einheiten zerlegt. Unterschiedlichkeit wird zur Norm in den meisten Metropolen in den entwickelten Lndern. In diesem Zusammenhang entstehen neue Identitten. Und die-se neuen Krfte fordern die traditionelle soziale und moralische Ordnung heraus.Folgerichtig trgt die Globalisierung zu der postmo-dernen Disposition (Ife, 2000) bei, in der soziale und moralische Standards zweifelhaft sind. Es entstehen neue soziale Bewegungen in der Form von politi-schen und sozialen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Identitten. Im nach-traditionellen Zeitalter scheint die Idee des Gemeinwesens dahin zu schwinden, ausgehhlt durch die makro-konomi-schen und globalen Krfte, deren negative Folgen von

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    vielen Gemeinwesen auf der ganzen Welt versprt werden. Die Menschen fragen sich immer wieder, ob das Gemeinwesen verloren, gerettet oder befreit ist (Smith, 1996, S. 253).

    Das fragmentierte und fremd gewordene Bild des Ge-meinwesens kann flschlich als Zusammenbruch der lokalen Gemeinschaft interpretiert werden (Putnam, 2000). Trotz des Einflusses der globalen konomie, der hochtechnisierten Kommunikation, der hohen geo-graphischen Mobilitt und des rapiden Zuwachses an Neuankmmlingen sind die meisten Menschen immer noch an eine bestimmte Gegend gebunden: menschliche Bedrfnisse bleiben im Wesentlichen lokal und persnlich (Ife, 2000, S. 55). Insbesondere arme Menschen sind in ihren niedergehenden Nach-barschaften gefangen, denen es, wie Putnam (2000) beschreibt, an sozialem Kapital mangelt. Trotzdem sehnen sich die Menschen nach einem bedeutungs-vollen humanen Lebensstil. Das Gemeinwesen ist, wie uns Ife (2000) versichert, immer noch eine bedeutsa-me Alternative, um sich den Auswirkungen der Globa-lisierung auf das Leben der Menschen zu widersetzen.

    Gemeinwesen neu denken

    Gemeinwesen ist eines der unklarsten und am we-nigsten greifbaren Konzepte in der Sozialwissenschaft (Shore, 1993). Diejenigen, die den Zusammenbruch des Gemeinwesens verknden, nehmen vielleicht an, dass ein Gemeinwesen eine in sich geschlossene, kohrente und statische Einheit ist, die als Gemein-schaft begriffen werden kann. Ein lokales Gemein-wesen kann idealisiert werden als eine integrierte, vor-industrielle kleine Nachbarschaft, in der soziale Beziehungen intim, anhaltend und vielfltig sind (Shore, 1993).

    Dieses idealistische Konzept, das von den Kommuni-tariern beschrieben wird, ist eine nostalgische Fehl-einschtzung, die sich auf frhere Zeiten und Zusam-menhnge bezieht. Es ignoriert die Tatsache, dass die Idee des Gemeinwesens weitgehend eine soziale Kon-struktion darstellt, die nicht ausschlielich auf objekti-ven geographischen Grenzen beruht, sondern sich auf die Vorstellung einer Gruppe von Menschen bezieht, die sich als Mitglied eines Gemeinwesens verstehen (Anderson, 1991). Wie Rose klarstellt, ist das Gemein-wesen keine feste Gre sondern eine rtliche und situationsbedingte Konstruktion (Rose, 1999). Wir sollten uns ein strker dynamisches Verstndnis von Gemeinwesen im Zeitalter der Globalisierung zu eigen machen. Identitt und Zugehrigkeit werden flieende und gedachte Gren und nicht zwangslu-fig fest umrissen und in sich schlssig (Leonard, 1997). Ife (2000) teilt diese neue Sicht auf das Gemeinwesen und schlgt vor, dass die Profession der Sozialarbeit das Gemeinwesen als eine flieende Konstruktion akzeptieren sollte, die eine ideale Basis fr eine von

    kultureller Vielfalt und politischem Pluralismus ge-prgte nach-industrielle Gesellschaft darstellen knn-te (S. 56).

    Aktive Brgerschaft.Verknpfung von Gemeinwesen, Zivilgesellschaft und Staat.

    Wie Giddens (1994) nahe legt, ist die Zivilgesellschaft auf der Ebene des Gemeinwesens entscheidend fr den Kampf gegen die Globalisierung. Brokratisie-rung, Professionalisierung und Zentralisierung ha-ben in vielen Wohlfahrtsstaaten die Zivilgesellschaft unterdrckt und die Gemeinwesen geschwcht. Um die Zivilgesellschaft mit frischem Leben zu erfllen, mssen neue Wege fr lokales Verwaltungshandeln gefunden werden, damit die Menschen ihre persn-lichen und sozialen Angelegenheiten auf der Ebene des Gemeinwesens managen knnen. Giddens (1998, 1994) schlgt deswegen vor, dass zur Ergnzung der staatlichen Funktionen, die vom Abwrtsdruck der Globalisierung geschwcht sind, das Gemeinwesen durch eine Partnerschaft gegenseitiger Ermglichung und Kontrolle zwischen Regierung und Zivilgesell-schaft wieder gestrkt werden muss.

    Nichtsdestoweniger entwickeln mglicherweise die Menschen im Zeitalter der Globalisierung nur ein Ge-fhl fr das Gemeinwesen, wenn eine neue kulturelle Grundlage fr ein solches Gefhl um einige wenige gemeinsame Werte und Institutionen gebildet wird, die Vielfalt und das Experimentieren mit unterschied-lichen Lebensstilen von Individuen und Gruppen erlauben sowie die Duldung eines nicht endenden Wettbewerbs zwischen verschiedenen kulturellen Tra-ditionen (Perez-Diaz, 1995, S. 87). In anderen Worten: das Gefhl der Zugehrigkeit zum nach-traditionellen Gemeinwesen ist nicht durch bereinstimmung son-dern durch fortwhrende Verhandlungen zwischen unterschiedlichen Interessen gekennzeichnet, die zeitweise im Wettstreit miteinander stehen, teilweise aber auch strategisch und in bestimmten Kontexten in Angelegenheiten, die von rtlicher oder persnli-cher Bedeutung sind, kooperieren. Deshalb ist es nicht berraschend, dass die meisten neuen sozialen Be-wegungen, rebellische Graswurzelgruppen, die sich zu Fragen wie demokratische Teilhabe, persnliche Freiheit, Brgerrechte und Lebensqualitt (Fisher & Kling, 1997) zusammen gefunden haben, immer noch ihren Schwerpunkt auf der Ebene des Gemeinwesens haben (Leonard, 1997). Durch Wahrnehmung und An-erkennung der Unterschiede zwischen den Menschen gewinnen sie im Gegenzug den Besitz ber das Ge-meinwesen zurck.

    Um das Gemeinwesen als einen aktiven Bestandteil der Zivilgesellschaft wieder zu verjngen, ist die Betei-ligung der Brger ber die Grenzen der unterschied-

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    lichen Interessen hinweg notwendig. Ein gemeinnt-ziger Ansatz, der auf dem guten Willen der Menschen beruht, ist notwendig, aber nicht ausreichend, um die Beteiligung der Brger lebendig zu halten. Wie Sites (1998) feststellt, ist der Gemeinntzigkeitsan-satz ein Wert, der sich selbst beschneidet, weil er die berechtigten unterschiedlichen Interessen in einem Gemeinwesen unterschlgt. Statt dessen muss die Beteiligung vor Ort die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Gruppen anerkennen. Die neue Brgerschaft im lokalen Gemeinwesen muss eine Art aktiver Brgerschaft sein, die auf einem ausgewoge-nen Verhltnis von Rechten und Frsorglichkeit be-ruht (Drover, 2000) oder wie Giddens (1998) betont so etwas wie keine Rechte ohne die bernahme von Verantwortung.

    Aktive Brgerschaft kann dadurch befrdert werden, dass die lokale Selbstverwaltung gestrkt wird, die den Menschen im Gemeinwesen mehr Entschei-dungsmacht gibt. Die Frderung lokaler Initiative und ffentlicher Einmischung in die Planung wird die Erneuerung des Gemeinwesens voran bringen. Entscheidungswege von unten nach oben als ein Aus-druck von Demokratie sind entscheidend. Der kollek-tive Entscheidungsprozess im Gemeinwesen erfordert gegenseitige Hilfe und Untersttzung von Bewoh-nern, die unterschiedliche Interessen haben. Solidari-tt zwischen unterschiedlichen Gruppen beruht nicht auf metaphysisch vorausgesetzten moralischen Wer-ten, sondern auf kontinuierlicher Aushandlung mittels derer die Menschen interagieren und miteinander in Dialog treten ber Rechte und Verantwortlichkeit un-tereinander und im Verhltnis zur Regierung, wenn es darum geht, die sozialen und persnlichen Probleme zu lsen, die der globale Wettbewerb verursacht hat.

    Lokale Selbstverwaltung umfasst die organisatorische Bewltigung der Verteilung von Ressourcen. Es gibt viele Wege fr die Regierung, ihre Politik umzusetzen und ihre Ressourcen dem lokalen Gemeinwesen zur Verfgung zu stellen. Zwischen dem Nationalstaat und der Zivilgesellschaft steht der Dritte Sektor. Dieser umfasst Nachbarschaftsinitiativen, Selbsthilfegruppen und Wohlfahrtsorganisationen. Diese sind immer akti-ve Partner der Regierung, insbesondere auf der Ebene des Gemeinwesens. Sehr oft kann ihre Interpretation und ihre Antwort auf die Regierungspolitik den politi-schen Prozess aktiv beeinflussen (Yan, 1998). Die Rolle des gemeinwesenbasierten Dritten Sektors ist wichtig, wenn man die Funktion des nach-traditionellen Ge-meinwesens neu untersucht.

    Die Relevanz der Settlements /Nachbarschaftsheime

    Tatschlich ist der gemeinwesenbasierte dritte Sektor immer ein wichtiger sozialer Mechanismus fr die Aktualisierung lokaler Partizipation durch die auf der

    rtlichen Ebene gewhlten Vorstnde und durch die Einbeziehung von Freiwilligen / Ehrenamtlichen. Die-se Formen lokaler Partizipation sind ein Erbe, das von den Settlement-Husern bernommen worden ist. Anders als viele von den anderen nicht gemeinwesen-basierten gemeinntzigen Organisationen, zeichnet sich das Settlement-Haus durch seine funktionale Integration von Dienstleistung, Gemeinwesenaufbau und sozialer Vernderung aus (Fabricant & Fisher, 2002; Yan, 2002a). Diese Integration wird weiter cha-rakterisiert durch ihre vier Wesensmerkmale: a) den nachbarschaftlichen Fokus, b) das traditionelle Enga-gement dafr, dass die Menschen sich ihr Gemein-wesen aneignen, c) den generationsbergreifenden Ansatz, und d) die tiefe Sensibilitt und den Respekt fr Verschiedenheit (Chesler, 1996). Diese Charakter-eigenschaften zeigen deutlich, dass das Settlement-Haus nicht nur eine multifunktionale Servicefunktion hat, sondern auch eine gemeinwesenbasierte organi-sierende Agentur ist, die eine effektive Struktur lokaler Selbstverwaltung hervorbringen kann, durch die die Menschen in Angelegenheiten und politischen Ziel-setzungen, die ihr Gemeinwesen betreffen, mitwirken knnen.

    Das Settlement-HausGeschichte, Philosophie und Dienstleistungen

    Settlement-Huser haben ihren Ursprung im spten 19. und frhen 20. Jahrhundert, insbesondere in der englischsprachigen Welt (Ramey, 1992; Weil, 1997). Die Settlement-Bewegung mag in Nord-Amerika in den sechziger Jahren an Dynamik verloren haben, aber das Settlement-Haus als ein gemeinwesenbildender Ansatz hat sich ber viele Entwicklungslnder verbrei-tet, z.B. Indien (Kaul, 1988), Hong Kong (Chow, 1980), Ost-Europa und China (Yan, 2002a). In vielen Ln-dern sind Settlement-Huser in der neuen Form von Brgerhusern oder Nachbarschaftszentren starke nachbarschaftliche Einrichtungen, die einerseits einen Dienstleistungsmechanismus darstellen, mit dem auf soziale Problemlagen geantwortet wird, und anderer-seits Motoren der zivilgesellschaftlichen Entwicklung sind, die die Solidaritt unter den Stadtteilbewohnern befrdern (Mizrahi & Rosenthal, 1998).Der Erfolg des Settlement-Hauses hat sowohl mit sei-nen humanistischen und kommunitarischen Grund-stzen als auch mit dem ganzheitlichen Dienstleis-tungsmodell zu tun (Husock, 1993). Schon beim ersten Settlement-Haus, Toynbee Hall, war es ein vorrangiges Ziel des Settlement-Hauses, Zersplitterung und Ge-genstze unter den Stadtteilbewohnern zu berwin-den (Abel, 1979). Jane Addams, die Grnderin von Hull House, grndete die Settlement-Bewegung auf ein humanistisch philosophisches Fundament, indem sie als den philosophischen Kern dieser Bewegung die Solidaritt der menschlichen Rasse (Addams, 1997) propagierte. Sie benannte drei Motive, die hinter der Settlement-Bewegung stnden: die Demokratie auf

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    das Feld des Sozialen auszuweiten, die volle Entfal-tung aller Angehrigen der menschlichen Gattung zu frdern und die Humanitt des Christentums neu zu beleben (Addams, 1999, S. 95).

    Fr Addams sollte Demokratie nicht auf das politi-sche Feld begrenzt bleiben. Sie sollte sich auch auf die Teilhabe im rtlichen Gemeinwesen erstrecken. Menschen lernen das Wesen der Demokratie durch ihre Mitwirkung im lokalen Bereich kennen. Dieser Prozess hat zum Ziel, Menschen zu einem Mehr an gesellschaftlichem Leben zu fhren. Das zweite Motiv weist darauf hin, dass gegenseitige Hilfe unabdingbar ist, wenn die menschliche Gattung ihr volles Potential an Humanitt entfalten will. Nur durch die gegensei-tige Verknpfung von Menschen ber die Grenzen von Alter, Geschlecht, Klasse, ethnischer Herkunft, Rasse oder anderer Merkmale sei der Fortschritt der gesamten menschlichen Gattung mglich. Das dritte Motiv verweist auf ihre berzeugung, die Verwirk-lichung der menschlichen Bestimmung liege in der brderlichen Verbindung der Menschen zueinander. Fr sie zeigt sich der Wert eines Menschen darin, wie er sich mit seinesgleichen verbindet und von welchem Engagement und welcher Sensibilitt seine Haltung zu anderen geprgt ist (1999, S. 95). Zusam-mengefasst bedeuten diese Motive, dass Settlement-Huser ein institutioneller Ausdruck von demokra-tischer Teilhabe, gemeinschaftlicher Verantwortung und Gegenseitigkeit sind.

    Die drei Motive werden durch ein Bndel von Dienst-leistungen verwirklicht. Settlement-Huser betrachten die menschlichen Bedarfe ganzheitlich und orientie-ren sich am Modell umfassender integrierter Dienste (Hillmann, 1960a; Irving, Parsons & Bellamy, 1995). Ad-dams beschrieb die Dienste der Settlement-Huser in vier Hauptkategorien: sozial, bildungsbezogen, huma-nitr und brgerschaftlich (Lasch, 1965). Alles in allem decken sie den Bedarf von nahezu allen Mitgliedern des Gemeinwesens ab, gleich welchem Alter, welchem Geschlecht und welcher Bildungsschicht sie angehr-ten. Weil jedes Settlement-Haus in einer spezifischen Nachbarschaft ttig ist, werden die Dienstleistungen immer auf den konkreten Bedarf des jeweiligen Ge-meinwesens zugeschnitten. Die Bedarfslage im Ge-meinwesen kann sich ndern, und damit werden auch die Dienstleistungen bedarfsentsprechend angepasst. Die Dienstleistungen des Settlement-Hauses sind fle-xibel, rechtzeitig und lokal.Hillman (1960b) hat herausgearbeitet, dass die Settle-ment-Huser, ohne ihre universalistischen Prinzipien zu verletzen, besonderes Expertentum in der Arbeit mit bestimmten Zielgruppen in bereinstimmung mit der Charakteristik ihre Stadtteils entwickelt haben. Heute haben viele Settlement-Huser Kindertages-sttten integriert, Beratungsdienste, Kliniken und Gesundheitszentren. Der umfassende integrierte Dienst des Settlement-Hauses dient nicht nur dazu,

    die Probleme von Individuen und Familien zu lsen, sondern ist auch ein Mittel, um das Ziel des Nachbar-schafts- und Gemeinwesenaufbaus zu erreichen. Es ist ein ganzheitlicher gemeinschaftsstiftender Ansatz.

    Das Settlement-Haus: Kritiken und Vorhersagen

    Die Energie und Dynamik der Settlement-Bewegung beruhte auf der humanistischen Philosophie ihrer Begrnder/innen wie Jane Addams, Lillian Wald und Helen Hall. In den heutigen Zeiten, haben sich alle Settlement-Huser unterschiedlich entwickelt. In der Tat, angesichts der inneren Vielfalt und ihres unter-schiedlichen historischen Horizontes sollten wir die bisherige Praxis der Settlement-Huser nicht unkri-tisch betrachten. Zum Beispiel sind viele fhrende Mitglieder der Settlement-Bewegung zwar gegen den Rassismus aufgetreten und haben den Amerika-nischen Chauvinismus kritisiert, aber sie haben doch an das traditionelle liberale Ideal von einer einheit-lichen Amerikanischen Nation und Kultur geglaubt und sind deswegen eher fr Anpassung als fr Plura-lismus eingetreten (Lissak, 1989). Folgerichtig hatten Hull House und viele andere Settlement-Huser die Tendenz zu einem paternalistischen Verstndnis von Integration: die unzivilisierten armen Einwanderer sollten empor gehoben, bzw. angepasst werden an die Errungenschaften der Viktorianischen Mittelklasse (Carson, 1990). Die Fortschrittliche Zeit, in der die Settlement-Bewegung ihre Bltezeit hatte, war gleich-zeitig die Zeit der schrfsten Rassentrennung in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Vor diesem historischen Hintergrund haben viele Sett-lement-Huser, obwohl einige in schwarzen Wohn-gebieten (Lasch-Quinn, 1993) gebaut wurden, die schwarze Community ausgeschlossen und Rassen-trennung praktiziert (z.B. Berman-Rossi & Miller, 1994; Lasch-Quinn, 1993).

    Die Settlement-Bewegung in Nord-Amerika hat sich im letzten Jahrhundert verndert. Besorgnis ber den Niedergang dieser Bewegung wurde schon in den 1930er Jahren geuert (Carson, 1990). Die Professio-nalisierung der Sozialarbeit wurde als Hauptursache der Schwchung von freiwilligem Engagement und Brgerbeteiligung in den Settlement-Husern identifi-ziert. Gewaltige Stadterneuerungsprogramme fhrten auch dazu, dass Gemeinwesen, auf die die Settlement-Huser ihre Dienstleistungen ausgerichtet hatten, durcheinander gewirbelt wurden. Die Sozialreform-Strategie der Settlement-Huser wurde als ein recht schwacher Ansatz zum Umgang mit der politischen Landschaft der Nachkriegszeit betrachtet, insbeson-dere whrend der Brgerrechtsbewegung (Trolander, 1987). Schwerwiegender noch war die starke Abhn-gigkeit von leistungsvertraglicher staatlicher Finanzie-rung, die die gemeinwesenbildenden Funktionen der Settlement-Huser geschwcht und ihren ganzheitli-

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    chen Ansatz sozialer Dienste fragmentiert hat (Fabri-cant & Fisher, 2002; Koerin, 2003; Trolander, 1987).

    Ein Verstndnis der Geschichte der Settlement-Huser kann jeden Vorschlag fr eine Wiederbelebung des Settlement-Hauses als wesentliches Element eines gemeinwesengesttzten dritten Sektors fr den Ge-meinwesenaufbau ntzen. Viele der hemmenden Faktoren, insbesondere die finanzielle Abhngigkeit, existieren weiterhin (Koerin, 2003). Allerdings muss das, was die Huser in der Vergangenheit bedroht hat, im historischen Kontext verstanden werden. Trotz dieser Schwierigkeiten kann das alte Ideal des Sett-lement-Hauses von einem gemeinsamen Glauben an die Fhigkeit des Menschen zu Selbsthilfe, Selbst-bestimmung und Wachstum; von der Wnschbarkeit und Mglichkeit konstruktiver sozialer Reformen und von der Bedeutung die Gelegenheiten, soziale Ver-antwortung zu bernehmen und auszuben, fr den Einzelnen und fr die Gesellschaft als Ganze haben (Hillmann, 1960a, S. vi) weiterhin bewahrt und auf-recht erhalten werden.

    Dieser Glaube ist nicht irrelevant in einer nach-tra-ditionellen ra, in der menschliche gegenseitige Abhngigkeit und Selbstbestimmung als Prinzipien nebeneinander stehen, wenn es um die Suche nach dem Wohlbefinden des Individuums und seines Ge-meinwesens geht. Das integrative Modell: Dienstleis-tung Gemeinwesenaufbau soziale Vernderung macht das Settlement-Haus auch einzigartig und bedeutsam fr das fragmentierte Gemeinwesen im Zeitalter der Globalisierung (Fabricant & Fisher, 2002; Husock, 1993). Der folgende Abschnitt beschftigt sich unter Bercksichtigung ihrer historischen Einzig-artigkeit mit der Frage, welche Rollen und Funktionen Settlement-Huser beim Gemeinwesenaufbau in der ra der Globalisierung bernehmen knnen.

    Settlement-Haus:Gemeinwesenaufbau im Zeitalter der Globalisierung

    Ife (2000) stellt die These auf, dass die Hauptaufgabe der professionellen Sozialarbeit der Gemeinwesen-aufbau sein sollte, um die stdtischen Gemeinwesen angesichts zahlreicher Herausforderungen wieder zu beleben. Der Zweck des Gemeinwesenaufbaus kann verstanden werden als eine Kapitalanlage, die die Lebensqualitt der Bewohner von einkommensarmen und einkommensschwachen Gemeinwesen erhht, die als Nachbarschaften oder Sozialrume mit un-terschiedlichen Nachbarschaften definiert werden (Ferguson & Dickens, 1999, S. 5). Die meisten gemein-wesenbildenden Anstze haben zum Ziel, die Solida-ritt unter den Bewohnern zu entwickeln, das soziale Kapital des Gemeinwesens zu erhalten und zu verstr-ken sowie die Mitglieder des Gemeinwesens dahinge-hend zu organisieren, dass sie sich beteiligen, wenn es

    um Angelegenheiten und politische Entscheidungen geht, die in Bezug zu ihrem tglichen Leben stehen.

    Jedes gemeinwesen-aufbauende Projekt muss sich der Herausforderung stellen, die fragmentierten und unterschiedlichen Interessen im Gemeinwesen zu organisieren. Die Fragmentierung, die ein Resultat der Globalisierung ist, hat die lokalen Gemeinwesen zu Schaupltzen fr Stadtpolitik und neue soziale Be-wegungen gemacht (Hasson & Ley, 1994). Fisher und Kling (1997) fassen die Charakteristiken der neuen sozialen Bewegungen zusammen als: gemeinwesen-gesttzt, fragmentierte Identitten transzendierend, neo-populistische Vision von Demokratie (nicht hierarchische Interaktion), Kampf um kulturelle und soziale Identitt, und Ausrichtung auf Gemeinwesen-Selbsthilfe und Empowerment. Die meisten dieser Charakteristiken sind in der Tat nicht notwendiger-weise im Konflikt mit der ursprnglichen Philosophie und den Motiven der Settlement-Bewegung, obwohl es angesichts der ideologischen und historischen Differenzen falsch wre, eine absolute Kompatibilitt anzunehmen.

    Die neuen sozialen Bewegungen erkennen auch die Bedeutung der gegenseitigen Abhngigkeit an (Leonard, 1997), die eine genaue Entsprechung der ursprnglichen Philosophie der Settlement-Huser und ihren auf eine humanistische Brderlichkeit aus-gerichteten Motiven darstellt. Mittlerweile hat Cox (2001), um auf die neuen sozialen Bewegungen zu antworten, vorgeschlagen, dass ein effektives Modell fr gemeinwesenbezogenes Handeln im 21. Jahrhun-dert Folgendes enthalten sollte: (a) eine Beziehung herstellen zu der wachsenden Zahl von interessen-bezogenen Bewegungen mit einer starken Betonung der politischen und konomischen Aspekte der Fra-gen, mit denen sie sich beschftigen, und (b) effektive Wege finden, diese Bewegungen so zusammen zu bringen, dass sie zugleich die Unterschiede, die sie reprsentieren erkennen und anerkennen (S.45).

    Gemeinwesen-Aufbau, wie er vom Settlement-Haus praktiziert wird, hat als Grundlage die Idee der Einbe-ziehung. Trotz der in ihrer Geschichte aufzufindenden zeitweilig fehlenden Sensibilitt gegenber rassischer Diskriminierung kann das Settlement-Haus von heu-te eine ntzliche Brcke ber die unterschiedlichen Interessen im Gemeinwesen darstellen (Reinders, 1982). Die Brckenfunktion ist besonders wichtig fr das nach-traditionelle Gemeinwesen, dieses frag-mentierte Gebilde, von dessen Bewohnern man kein einheitliches Gefhl der Zugehrigkeit zum Gemein-wesen erwarten kann. Die Interessen der Menschen und ihre Vorstellungen vom Gemeinwesen sind un-terschiedlicher als je zuvor. Das nach-traditionelle Ge-meinwesen kann ausschlieend und unterdrckend sein (Giddens, 1994). Um das Ziel der Einbeziehung zu

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    erreichen, bedarf es eines andauernden Dialogs, um vorbergehende bereinstimmungen und strategi-sche Solidaritt zwischen den unterschiedlichen Inter-essengruppen zu erreichen.

    Das Settlement-Haus kann eine physische Plattform fr den Dialog bereit stellen. Der neutrale Boden eines Settlement-Hauses erlaubt ihm, die Funktion eines Wohnzimmers der Nachbarschaft darzustellen, in dem alle Mitglieder des Gemeinwesens unter-schiedlicher Generationen, rassischer, kultureller oder Geschlechts- Zugehrigkeit sowie politischer Orien-tierung willkommen sind (Hiroto, Brown & Martin, 1997). Die physische Existenz eines Settlement-Hau-ses in einem Gemeinwesen stellt auch so etwas wie eine symbolische Gestalt des Gemeinwesens dar. Die architektonische Gestalt vieler Settlement-Huser und ihre Geschichte der Arbeit mit den Menschen im Ge-meinwesen ist eingewoben in die Erinnerungen vieler Generationen der Bewohner. Fr Neuankmmlinge bieten die physische Gegenwrtigkeit und die Diens-te des Settlement-Hauses einen physischen Eintritts-punkt fr die Integration in das neue Umfeld.

    Nach dem Beispiel von Toynbee Hall sind viele Sett-lement-Huser auch ein zentraler Punkt, an dem sich Menschen aller Schattierungen von Meinungen treffen und Probleme ffentlich diskutieren knnen (Irving u.a., 1995, S. 6). Das Settlement-Haus bietet vor Ort einen Platz fr Menschen mit unterschiedlichen Interessen, an dem sie teilhaben, sich engagieren und sich ber Bedrfnisse, Probleme und Lsungen und ber die Zukunft des Gemeinwesens verstndigen knnen. Soziale Reform und Entwicklung der Zivilge-sellschaft sind wichtige Funktionen des Settlement-Hauses. Hull House und viele andere Settlement-Hu-ser waren z.B. hilfreich und wichtig in der Frhzeit der Arbeitsgesetzgebung und der Beschftigungspolitik (Addams, 1999; Andrews, 1997). Das Settlement-Haus kann ein aktiver Faktor bei der Organisierung des Ge-meinwesens (Communtiy Organizing) sein, insbeson-dere, wenn es darum geht, die sozialen Verhltnisse in belasteten Wohngebieten zu verbessern und etwas gegen Armut, schlechte Wohnverhltnisse, unzurei-chende Gesundheitssituationen und Arbeitslosigkeit zu unternehmen.

    Traditionell haben Settlement-Huser Initiativen in der rtlichen Stadtplanung ergriffen, insbesondere in solchen Gemeinwesen, in denen es an Fhrungs-persnlichkeiten, Fachpersonal und Einrichtungen mangelt (Hillmann, 1960a). Die Erfahrungen, die bei der Mitwirkung in den Settlement-Husern gemacht und die Kenntnisse ber das Gemeinwesen, die dabei gewonnen werden, geben den Bewohnern Macht. Durch den Ansatz der Gruppenarbeit haben Sett-lement-Huser Menschen erfolgreich von anfngli-cher nur auf die individuellen Interessen bezogenen Betroffenheit dazu gebracht, sich aktiv mit sozialen

    Fragen auseinander zu setzen (Yan, 2002b). Durch enge Beziehungen zu Universitten und Akademien haben Settlement-Huser ebenfalls eine Tradition, Forschungen und Untersuchungen im Gemeinwesen durchzufhren (Irving u.a., 1995). Durch programma-tische Arrangements, wie z.B. Rathaustreffen, bieten Settlement-Huser einen effektiven Weg, die ffentli-che Meinungsbildung zu organisieren, die fr die For-mulierung der Regierungspolitik wichtig ist.

    Die pragmatische und humanistische Herangehens-weise sowie das umfassende und ganzheitliche Diens-leistungsmodell der Settlement-Huser statten diese hundertjhrige soziale Bewegung und ihre Nachfol-ger mit der anpassungsfhigen Infrastruktur aus, die Antworten auf die neu entstehenden Bedarfslagen der meisten Gemeinwesen von heute finden kann. Im Unterschied zu manch anderen Gemeinwesenar-beits-Anstzen, die kommen und gehen, wenn ihre Aufgaben im Gemeinwesen beendet sind, sind die Settlement-Huser eine auf Dauer angelegte Infra-struktur, mit einer Dienstleistungskapazitt, die ihren Platz mitten im Gemeinwesen hat. Die Dauerhaftigkeit der Settlement-Huser erlaubt ihren nicht nur, auf die tagesaktuellen Problemlagen im Gemeinwesen zu re-agieren, sondern ermglicht ihnen auch, sich mit der Planung knftiger Vernderungen zu beschftigen. Mit ihrer Dienstleistungskapazitt und professionel-len Kenntnis knnen Settlement-Huser auch schnell auf Bedarfslagen im Gemeinwesen reagieren und ein Vehikel dafr sein, gegenseitige Hilfe anzuregen und Netzwerkzusammenhnge zu stiften, und das auf eine flexiblere Art und Weise.

    Wenn die Regierung im Zeitalter der Globalisierung ihre sozialen Dienstleistungen dezentralisieren will, kann sie ihre Wohlfahrtsressourcen ber die Settle-ment-Huser verteilen und damit sicherstellen, dass ihre Brger in den Genuss qualitativ hochwertiger sozialer Dienste kommen, wenn dabei zugleich ein angemessenes System rtlicher Leitung und ber-wachung geschaffen wird (Wharf, 1998). Der Ansatz rtlicher Leitung und berwachung wrde durch die Demokratie vor Ort geschaffen, die vom Settlement-Haus etabliert wird. Auch wenn die meisten Settle-ment-Huser von ausgebildetem Personal geleitet werden (Trollander, 1987), ist die lokale Demokratie, deren Ideal in die zivilgesellschaftliche Funktion der Settlement-Huser eingebettet ist, in vielerlei Form erhalten geblieben. Insbesondere sind die Mitglieder des Gemeinwesens in ihrer Eigenschaft als Brger, nicht als Klienten, aktiv beteiligt an der Gestaltung der Arbeit des Settlement-Hauses beteiligt: im Vor-stands-Management, in Planung und Durchfhrung der Programme und in der Verwaltung (Klein, 1968). Freiwillige und ehrenamtliche Mitwirkung in einem Settlement-Haus ist eine Form von lokaler Demokra-tie, mittels derer die Mitglieder des Gemeinwesens

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    ihre Brgerrechte und Verantwortlichkeiten bei den Entscheidungen, die ihr Gemeinwesen betreffen, aus-ben knnen. Im Gegenzug befrdert die lokale De-mokratie das Gefhl, Eigentmer des Gemeinwesens zu sein.

    Dieses Eigentumsgefhl basiert auch auf der gegen-seitigen Hilfe. Freiwillige und ehrenamtliche Mitwir-kung, wie sie die Settlement-Huser verstehen, ist nicht auf die Durchsetzung von Rechten beschrnkt. Settlement-Huser setzen sich fr eine aktive Brger-schaft ein ein ausgewogenes Verhltnis von Rechten und Hilfeleistung unter den Einwohnern. Die meisten Settlement-Huser von heute sind multifunktionale Dienstleistungsunternehmen geworden, die in einem hohen Mae auf Regierungsuntersttzung angewie-sen sind und Ressourcen im Rahmen von ausdifferen-zierten Regierungsprogrammen weitergeben. Nichts-destoweniger hat die Untersttzung durch privates Geld, das vom Gemeinwesen in Form von Spenden aufgebracht wird, nach wie vor eine hohe Bedeutung (Chesler, 1996). Traditionell spielen die Settlement-Huser ebenfalls eine Rolle bei der Koordination von Ressourcen, die von den Einwohnern in Form von Zeit, Geld, Material und Engagement eingebracht werden. Sie fassen sie zusammen und geben sie an diejenigen im Gemeinwesen weiter, die einen entsprechenden Bedarf haben. Settlement-Huser, die auf diese Weise Ressourcen bndeln und die informellen Hilfenetz-werke verknpfen, generieren auf effektive Weise soziales Kapital (Putnam, 2000). Das ist das Wesen der Settlement-Huser: Solidaritt zu verstrken und die Selbsthilfekrfte des Gemeinwesens durch die Be-teiligung der Brger auszubauen. In den Worten von Wharf und Clague (1997) liest sich das so: Settlement-Huser sind kraftvolle Agenturen fr Hilfeleistung und fr die Entwicklung der Fhigkeiten eines Ge-meinwesens (S. 321).

    Auswirkungen auf die Profession der Sozialarbeit

    Die Tradition der Sozialreform, die von der Settle-ment-Bewegung geerbt wurde, hat entscheidende Bedeutung fr die Zielsetzung der Sozialarbeit (Ab-ramovitz, 1998; Hayes, 1998; Haynes & White, 1999; Ife, 2000). Deswegen kann die Wiederbelebung des Settlement-Hauses und seiner Nachfolger, der Nach-barschafts- und Gemeinwesenzentren, nicht ohne eine berprfung des Selbstverstndnisses der So-zialarbeit realisiert werden (Epstein, 1999; Specht & Courtney, 1994). Arbeit in Settlement-Husern Nach-barschafts- oder Gemeinwesenzentren wird von Absolventen der Sozialarbeits-Ausbildungssttten nicht mehr favorisiert. In einem Settlement-Haus zu arbeiten, kann im Vergleich zur klinischen Praxis nied-riges Einkommen und Prestige bedeuten. Wir knnen natrlich die Regierung dafr kritisieren, dass sie den Settlement-Husern nicht gengend Aufmerksam-

    keit und Geld zukommen lsst (Fabricant & Fisher, 2002; Koerin, 2003). Allerdings sollten wir auch unser eigenes Engagement fr das Gemeinwesen und die Settlement-Huser kritisch berprfen, aus denen die professionelle Sozialarbeit hervorgegangen ist. Obwohl das Settlement-Haus einmal die Profession der Sozialarbeit hervorgebracht hat, hat sich die Pro-fession von den Menschen im Gemeinwesen abge-wandt (Trolander, 1987). Im Gegenzug hat das Settle-ment-Haus seine traditionelle Funktion als Agent des Gemeinwesenaufbaus verloren. Folgerichtig sind das Settlement-Haus und seine Nachfolger Gemeinwe-sen- und Nachbarschaftszentren das Stiefkind der professionellen Sozialarbeit geworden.

    Fabricant und Fisher (2002) vertreten die These, dass das Settlement-Haus dadurch wieder belebt werden kann, dass es ein strategisches Bndnis mit anderen Organisationen im Gemeinwesen schliet. Eine dieser Organisationen knnte die rtliche Sozialarbeits-Schule sein, die historisch eine wichtige Rolle in der Settlement-Bewegung gespielt hat. Die Wiederbe-lebung des Settlement-Hauses braucht die Unter-sttzung von Lehrenden an den Ausbildungssttten fr Sozialarbeiter/innen, damit unsere Lehrplne so berarbeitet werden, dass sie einen greren Anteil an praktischer Gemeinwesenarbeit enthalten; dass sie unsere professionelle Ausbildung wieder mit unserer Verpflichtung zu sozialem Wandel verbinden; dass sie unsere Studenten motivieren, Praktika oder freiwillige Arbeit in rtlichen Settlement-Husern zu leisten; dass sie kostenloses Training fr Mitarbeiter/innen von Settlement-Husern anbieten, die keine formelle Aus-bildung in Sozial- oder Gemeinwesenarbeit haben; und dass sie kostenlose professionelle Beratung fr rtliche Settlement-Huser fr Programmgestaltung, Planung und Evaluation bereit stellen (Johnson, 1998). Wenn wir darin bereinstimmen, dass berzeugende Praxis ein Weg ist, unsere Dienstleistungsqualitt und unser professionelles Engagement zu sichern, dann ist mehr Forschung und Literatur notwendig, um die Dienste der Settlement-Huser zu verbessern, um ihre Errungenschaften zu zeigen und um eine empi-rische Basis fr sozialen Wandel im Gemeinwesen zur Verfgung zu stellen. Der Erfolg der frhen Settle-ment-Huser war eng verbunden mit der freiwilligen Untersttzung von den Universitten (Carson, 1990; Irving u.a., 1995). Wenn die Profession der Sozialarbeit im Zeitalter der Globalisierung sich dem Ziel des Ge-meinwesenaufbaus durch die Wiederbelebung des Settlement-Hauses verpflichtet, mssen wir vielleicht als erstes diese Zusammenarbeit zwischen Gemein-wesen und Universitt wieder beleben.

    Schlussfolgerung

    Im Zeitalter der Globalisierung sind die Gemeinwesen nicht untergegangen, aber sie sind unterschiedlich,

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    Fachtag: Potenziale des Alters

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    fragmentiert und im Fluss. Um stark und verjngt zu werden, brauchen die Gemeinwesen eine Form von Gemeinwesenaufbau, der die unterschiedlichen Interessen im Gemeinwesen berbrcken kann und eine Plattform fr seine Mitglieder bietet, sich in per-manenter Aushandlung mit dem Ziel strategischer Solidaritt zu engagieren. Mit seinem geschichtlich verbrgten Erfolg bei der Brckenbildung ber gesell-schaftliche Unterschiede hinweg und bei der Gene-rierung sozialen Kapitals, spielt das Settlement-Haus eine wichtige Rolle im Gemeinwesenaufbau unter den Bedingungen der Globalisierung. Die Wiederbe-lebung des Settlement-Hauses ist eine Verpfl ichtung auch fr die Sozialarbeits-Profession, eine Profession, die ihre Wurzeln in der Settlement-Bewegung und eine Aufgabe im Gemeinwesenaufbau hat.

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    bersetzt von Herbert SchererAbdruck mit freundlicher Genehmigung von Haworth Press Inc.

    Das Original des Artikels ist unter dem TitelBridging the Fragmented Community: Revitalizing Settlement Houses in the Global Era im Journal of Community Practice, Vol. 12(1/2) 2004 erschienen

    des englischen Originals Haworth Document Delivery Service: 1-800-HAWORTH.Der Originaltext kann hier (gegen Gebhr) bezogen werden.E-mail address: [email protected] Konditionen auf der Website von Haworth Press: http://www.haworthpress.com/web/COM

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    Fachtag: Potenziale des Alters

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    Aus Erfahrung gut -Potenziale des Alters als ein Motor gesellschaftlicher Inovation

    20. April 200512.00 bis 16.00 UhrRotes Rathaus / Berlin

    Dokumentation

    12. 00 Uhr Ankunft der Gste, Kaffee und Imbiss

    12.30 Uhr Auftakt: Theater der Erfahrungen

    12.45 Uhr Begrung und EinleitungDr. Heidi Knake-Werner, Senatorin fr Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz

    13.00 Uhr Aktivsein fr brgerschaftliches EngagementAndr Schmitz, Staatssekretr, Chef der Senatskanzlei, Beauftragter fr Brgerschaftliches Engagement

    13.20 Uhr Im Fadenkreuz der Wirtschaft - ltere Menschen als Kunden und MitwirkendeFrank Leyhausen, MedCom, Bonn

    13.40 Uhr Age exchange and social engagement - a vision for the futurePam Schweitzer, Age Exchange, London

    14.00 Uhr Zwischenspiel: Theater der Erfahrungen

    14.15 Uhr Potenziale des Alters erkennen - ein berflliger Paradigmenwechsel?Georg Zinner, Geschftsfhrer Nachbarschaftsheim Schneberg e. V.

    14.30 Uhr Diskussion mit:- Dr. Petra Leuschner, Staatssekretrin fr Soziales, Senatsverwaltung Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz

    - Dr. Dorothea Kolland, Leiterin Kulturamt Berlin-Neuklln- Siegfried Rehberg, BBU-Verband Berlin-Brandenburger Wohnungsunternehmen e. V.- Dr. Christian Hanke, Sozialstadtrat Berlin-Mitte- Michael Freiberg, Stadtrat fr Gesundheit Berlin-Neuklln- Oswald Menninger, Geschftsfhrer Deutscher Parittischer Wohlfahrtsverband Moderation: Dr. Stefanie Schulze, Vorsitzende des Ausschusses Soziales und Gesundheit

    16.00 Uhr SchlusswortDeutscher Parittischer Wohlfahrtsverband

    BERLIN NACHBARSCHAFTSHEIM SCHNEBERG E.V.

    Verband fr sozial-kulturelle Arbeit e.V.

    Veranstalter:

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    Fachtag: Potenziale des Alters

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    Aus Erfahrung gut

    Zum Auftakt der Veranstaltung singt das Theater der Erfahrungen ein schwungvolles Lied, in dem es heit: Ihr werdet euch noch wundern, die Alten ziehn durchs Land ... Und so, wie die lteren und alten Damen vor den Zuhrern mitreiend swingen, kann man sich durchaus vorstellen, dass sich dadurch ei-niges verndern knnte, wenn die Alten durchs Land ziehen. Mit 88 Jahren sind wir noch gut in Schuss ..., wahrhaftig, sie halten sich nicht nur beweglich auf den Beinen, sondern strahlen sogar optimistische Kraft aus.Die Theatergruppe Die Sptznder spielt Szenen aus ihrem Stck Die viehische Komdie, in dem es um Alleinsein, die Bereitschaft zum Sterben und um Profi teure der unerfahrenen Gutwilligkeit vieler al-ter Menschen ging. Ein sehr alter Kranich, der Letzte seiner Familie, hat sich entschlossen, das Ende seines Lebens nicht an der Mritz, sondern in Berlin zu ver-bringen. Noch einmal mit letzter Kraft das Abenteuer zu suchen und vielleicht auch Freunde zu fi nden.: Noch mal verrckt sein und aus allen ngsten fl iehn. Auf dem Friedhof trifft er auf eine Ratte, die sich als Beerdigungsunternehmer durchschlug. Wie hier zwei Welten aufeinander prallen der clevere, skrupellose Organisator stimmungsvoller Beerdigungs-Events und der zarte, weltfremde Kranich das hat professio-nelles Niveau.

    Begrung und Einleitung

    Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin fr Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz:

    Was soll ich jetzt noch zu Potenzialen des Alters sagen, wo wir hier gerade so ein-drcklich erleben konnten, welche Potenziale in dieser Stadt vorhanden sind.Der Senatorin liegt daran,

    dass in der Gesellschaft die Erfahrungen alter Men-schen sehr viel strker als Erfahrungs-Schatz erkannt und genutzt werden. Dass hier Vernderungen ntig

    sind, das spren wir alle. Und angesichts der demogra-phischen Entwicklung und der damit verbundenen sozialpolitischen Herausforderungen muss eine mo-derne Seniorenpolitik Rahmen dafr schaffen, dass das Altern in Wrde sichergestellt wird. Und das heit immer auch: sich einmischen, Teilhabe an gesellschaft-lichen Prozessen zu ermglichen. Bisher standen im Zusammenhang mit alten Men-schen Fragen der Pfl ege und Versorgung im Mittel-punkt. Und das bleibt selbstverstndlich ein sehr wichtiger Bereich. Aber es wre verheerend, die Fragen des Alterns auf diese Fragen zu reduzieren. Immer noch hat die Gesellschaft ein schlechtes und falsches Bild von alten Menschen, was sich in Schlag-worten wie beralterung und Vergreisung nieder-schlgt. Die Vielfalt der Lebenslagen der lteren Gene-ration muss hingegen in den Blick gerckt werden.Wie auch im letzten Gesundheitsbericht in Zahlen be-legt ist, heit Altwerden eben nicht mehr nur Krank-heit und Pfl egebedarf. Altsein bedeutet mehr und mehr auch Aktivitt und sich einmischen. Frau Dr. Kna-ke-Werner betont, dass die groe Gruppe der aktiven 50- bis 80jhrigen, die heute in der Wahrnehmung der Gesellschaft einfach ausgeblendet wird, mit all ihren Aktivitten zur Kenntnis genommen werden muss. Denn diese Gruppe wird im Jahre 2050 die Mehrheit der Bevlkerung stellen.Es gilt, in den kommenden Jahren Bedingungen zu schaffen, die fr die jung gebliebenen Alten attraktiv sind, die sie in soziale Prozesse einbinden, die ihnen verantwortungsvolle Aufgaben anvertrauen. Wenn dies nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass das gesell-schaftliche Zusammenleben in dieser Stadt aus der Balance gert und dass soziale Netze, die wir mehr denn je brauchen, zerfallen.Die Senatorin ist davon berzeugt, dass sich nicht jeder ltere Mensch ein Leben als Oma im Schaukel-stuhl oder als Opa im Gemsebeet wnscht. Im Ge-genteil: Die meisten lteren wollen heute viel mehr, sie sind vielfltig interessiert und heute mit Dingen beschftigt, fr die ihnen frher die Zeit und die Kraft fehlten. Gerade die lteren kombinieren ihr Knnen und ihre Fhigkeiten mit Erfahrung, Soliditt und Kontinuitt. Und ist es nicht so, dass wir uns alle genau so die eigene Zukunft vorstellen mglichst gesund, sozial eingebunden und selbstbestimmt? Bei einer aktivierenden Seniorenpolitik kommt es darauf an, das gesellschaftliche Engagement lterer Menschen zu frdern, die Bereitschaft, etwas fr sich selbst, aber auch fr andere zu tun, positiv aufzugreifen.Es gibt von der Sozialverwaltung gefrderte Ko-ordinierungsstellen, die diese beiden Aufgaben in sinnvoller Weise bndeln: Hilfebedarf anmelden und sich ehrenamtlich einbringen. Wer sich ehrenamtlich bettigt, tut das aus einem sozialen, politischen, ge-sellschaftlichen Anliegen heraus. Egal, ob er seinem pfl egebedrftigen Nachbarn zur Seite steht oder ob er oder sie wie die Spielerinnen und Spieler des

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    Theaters der Erfahrungen dies tun ihre Lebenser-fahrungen und ihre politischen Anliegen mit lauten und leisen Tnen der ffentlichkeit nahe bringen; ob sie mit Schlerinnen und Schlern im gemeinsamen Workshop darber reden, was sie als ltere in den Zeiten von Krieg und Unterdrckung erleben muss-ten. Ob im Sport, auf sozialkulturellem Feld, beim Vorlesen in der Schule, der Nachhilfe im Jugendfrei-zeitheim, beim Generationen bergreifenden Dialog ber unterschiedliche Wohnbedrfnisse die Liste des mglichen Engagements ist lang und die Zahl der Engagierten gro. Und die Bereitschaft zum Mitma-chen ist viel grer, als allgemein angenommen wird. Sie in Praxis umzusetzen, dazu sind Ermunterung und eine untersttzende Infrastruktur ntig, wie sie bei-spielsweise die Stadtteil- und Nachbarschaftszentren bieten. Mit anderen Worten: Wir knnen und mssen die Gruppe der engagierten lteren Menschen dazu einladen, gemeinsam mit uns die gesellschaftlichen Aufgaben zu lsen. Die Senatorin versichert, dass die Lebenslagen der lteren Menschen in Berlin ein Schwerpunkt zuknf-tiger Senatspolitik sein werden. Den Vernderungen in den Lebensgewohnheiten und bedrfnissen die-ser wachsenden Bevlkerungsgruppe soll Rechnung getragen werden, und wir werden sie auch weiterhin im Rahmen der finanziellen Mglichkeiten frdern. Die Verwaltung will im Hinblick auf eine ganzheit-lich strukturierte Altenpolitik gemeinsam mit den institutionalisierten Seniorenvertretungen prfen, in welcher Richtung Vernderungen im Sinne einer besseren Partizipation der lteren Bevlkerung not-wendig sind.Die Berliner Seniorenpolitik wird auch in Zukunft von dem Grundsatz geprgt sein, ein Altern in Wrde zu ermglichen. Dazu ist es unerlsslich, die Selbstn-digkeit, Selbstbestimmung und Teilhabe der lteren Generation zu erhalten und zu strken und dabei auch die unterschiedlichen Interessen von Frauen und Mnnern zu bercksichtigen. Das gilt ganz besonders fr das Wohnen im Alter. Hier existieren mitlerweile unterschiedliche alternative Wohnformen als Alternative zur Heimunterbringung. Die Weiterent-wicklung professioneller Hilfesysteme, die auch bei umfangreicher werdendem Hilfe- und Pflegebedarf ein Leben in der selbst gewhlten Huslichkeit und Nachbarschaft ermglicht, ist eine wichtige unterstt-zende Zukunftsaufgabe. Auf Grund der Vereinzelung der Gesellschaft werden soziale Netzwerke teilweise familire Strukturen ersetzen mssen. Selbstorgani-sation, Selbsthilfe, ehrenamtliches und brgerschaft-liches Engagement mssen auch deshalb gefrdert werden. Die Lebenserfahrung und das Erfahrungswis-sen der lteren Generation sind hufig unvollstndig genutzte gesellschaftliche Potenziale, die es zu erhal-ten und zu reaktivieren gilt. Darauf kann und sollte die Gesellschaft nicht verzichten.Nicht zuletzt sieht der Senat auch eine Aufgabe darin,

    den in Berlin lebenden lteren Menschen auslndi-scher Herkunft die Teilhabe an den kulturellen, sozia-len und gesundheitlichen Angeboten zu ermglichen. In nur 5 Jahren wird sich die Zahl der ber 65jhrigen Migrantinnen und Migranten auf 28.700 verdoppelt haben. Frau Dr. Knake-Werner weist darauf hin, dass diese Bevlkerungsgruppe verstrkt auf die Dienste der offenen und stationre Altenhilfe angewiesen sein wird. Weshalb sie dringend einer intakten Informati-ons- und Beratungsinfrastruktur bedarf.

    Andr Schmitz, Staatssekretr, Chef der Senatskanz-lei, Beauftragter fr Brgerschaftliches Engage-ment:

    Aktiv sein fr brgerschaftliches Engagement

    Dieses Thema vereint die eu-ropischen Lnder, es reicht weit ber den Berliner Ho-rizont hinaus. Groe Metro-polen erfllen beim Blick auf die sich wandelnden Gesell-schaften die Funktion eines

    Seismographen, hier erkennt man Entwicklungspro-zesse und Trends frher als in lndlichen Gebieten. Man kann bei nchternem Blick auf die Metropolen auch frher Schlussfolgerungen ziehen und Konzepte fr eine Gesellschaft des langen Lebens entwickeln, sogar innovative Modelle in die Praxis umsetzen. Das ist allerdings mit Risiken verbunden, denn es gibt keine Blaupausen fr die Probleme und Risiken, die wir in den nchsten Jahrzehnten mit alternden Gesell-schaften bewltigen mssen. Und dabei knnen wir auf alte Erfahrungen nicht zurckgreifen. Darin sieht Herr Schmitz allerdings auch die Chance, neue Model-le zu erproben. Berlin hat schon heute 100.000 hoch-altrige Menschen, d.h. sie sind ber 80 Jahre, wovon 30.000 lter als 90 Jahre sind. Schon in den 80er Jahren war deutlich, dass Europa am Anfang dieses Jahrtausends weltweit die gerings-te Geburtenrate und den hchsten Anteil lterer Men-schen aufweisen wrde. Die Europische Kommission hat darauf mit dem Konzept des Lebenslangen Ler-nens geantwortet. Dessen Grundgedanke ist, dass Bildung nicht an Altersgrenzen Halt machen darf, sondern alle Brgerinnen und Brger daran Anteil ha-ben sollen. Die komplementre Erweiterung dieses Konzeptes, steht unter dem Motto: Aktiv alt werden am Arbeitsplatz. Im Hinblick auf einen absehbaren Arbeitskrftemangel scheint dieses Konzept wirt-schaftlich sehr sinnvoll zu sein. Daher wird die Europ-ische Kommission in der nchsten Legislaturperiode einen Schwerpunkt auf interdisziplinre Projekte der Alterserforschung konzentrieren. Hierbei wird auch Berlin, als Stadt des Wissens und der Forschung wie-der gefragt sein. Gleichzeitig entwickelte die Europ-ische Kommission eine Anti-Diskriminierungspolitik,

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    die das Alter als mglichen Diskriminierungsgrund mit einbezieht. Das ist ein wichtiger Impuls zum Ab-bau von Vorbehalten gegenber lteren Menschen. Die Verwaltungsressorts in Berlin in diesem Punkt enger zu verknpfen, anstatt das Problem nur einem Ressort zuzuschieben, sieht der Staatssekretr dabei als eine der groen Aufgaben an. Um Anregungen fr Lsungsmglichkeiten zu finden, kann man sich durchaus auch in anderen Lndern umschauen. So ist etwa die Stadt Baltimore in den USA zu einer Modellstadt fr eine alternde Gesell-schaft ernannt worden. Dort sollen alle Ressorts der Stadtverwaltung, von der Bau-, Wirtschafts- und Ver-kehrsplanung bis zu den klassischen Ressorts der Ge-sundheits- und Sozialplanung Auerordentliches und Vorbildliches leisten, um zukunftsweisende Modelle fr alle Stdte der Vereinigten Staaten zu erproben. Das sollte man sich einmal nher anschauen, denn man kann schlielich nicht alles immer selber erfin-den.Fr Berlin sieht Staatssekretr Schmitz eine reelle Chance, Trendsetter fr Europa zu werden. Es gibt in dieser Stadt gengend Potenziale, um hier auch mit Ihrer Hilfe Akzente zu setzen, an deren Umsetzung wir dann gemeinsam arbeiten knnen.

    Frank Leyhausen, Unternehmensberater MedCom, Bonn:

    Im Fadenkreuz der Wirtschaft ltere Menschen als Kunden und Mitwirkende

    Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat ein Aktionsprogramm fr Senioren aufgelegt, durch das mit Betrieben und Non-profit-Unternehmen, gemeinsam mit Senioren neue Produkte zu entwi-

    ckeln. Es befassen sich inzwischen sehr viele Bereiche mit der Zielgruppe alter Menschen. Auch Unterneh-men sind inzwischen an den lteren interessiert, denn im Jahr 2050 werden sie mehr als die Hlfte der Bevl-kerung in Deutschland ausmachen. Heute schon ist je-der dritte Mensch 50 Jahre und lter. Alte Leute haben durchschnittlich gesehen relativ hohe Vermgensbe-stnde, ein Grund fr Banken, sich mit ihnen zu be-fassen. Auch die monatliche Kaufkraft ist in dieser Al-tersgruppe berdurchschnittlich hoch. Hinzu kommt, dass gerade ltere vielen sich schnell verndernden Dingen des Lebens relativ hilflos gegenberstehen. Weshalb sie auf Beratungs- und Schulungsservice an-gewiesen sind, den sie auch bereit sind zu bezahlen. Daraus folgert Frank Leyhausen, ... dass es fr Unter-nehmen wieder Sinn macht, sich mit ihren Kunden auseinander zu setzen und nicht nur Produkte auf den Markt zu werfen. Denn ltere Menschen sind in ihrer

    groen Mehrzahl anspruchsvolle Kunden, die nicht nur Geld haben, sondern auch die Zeit, sich intensiv mit ihren Konsumwnschen zu beschftigen. Und sie haben Lebenserfahrung, die dazu fhrt, dass sie letzt-endlich sehr genau wissen, was sie wollen. Verkufer schrecken hufig vor so einer Konfrontation zurck. In Kln gibt es einige Beispiele dafr, die sehr unter-schiedlichen kleinen Zielgruppen der ber 50jhrigen in ihrer Eigenschaft als Kunden differenziert anzu-sprechen. So gibt es etwa Discount-Bestatter. Oder es gibt einen Seniorentag im Pascha, dem grten Bordell in Kln. Aber auch im Service-Bereich hat sich dort etwas getan. Wenn man davon ausgeht, dass heute viele technische Produkte einen viel krzeren Lebenszyklus haben, bedeutet das, dass die Verbrau-cher stndig neu Bedienung und Anwendung von Ge-rten lernen mssen. Das grte Manko beim Verkauf von Produkten ist in den Augen von Herrn Leyhausen die mangelnde Beratung lterer Kunden. In der Unsicherheit von lteren Menschen bei der In-formationsbeschaffung wen kann ich fragen, wem kann ich glauben, was und wo kaufe ich, welches Pro-dukt wird meinem Bedarf gerecht, wie gehe ich damit um liegt andererseits ein groes Potenzial. Wir, die MedCom, wollen eine Wirtschaft, die Menschen un-tersttzt. In diesem Sinne beraten wir Unternehmen, die neue Produkte verkaufen wollen, dass sie ihr Geld auch in die notwendige Beratung der Kufer stecken mssen. Man hat etwa herausgefunden, dass jeder Zweite, der ein Handy kaufen will, eine Kaufblockade hat, weil er nicht versteht, wie es funktioniert und wo-rin die Unterschiede zwischen diesem und jenem Mo-dell bestehen. Da muss die Industrie doch schon sel-ber sehen, dass hier etwas getan werden muss, meint Herr Leyhausen. Er hat selber die Erfahrung gemacht, dass fast durchgngig die in der Regel jungen Verku-fer von Mobilfunk ltere Kunden in ihrem Informati-onsbedarf nicht ernst nehmen. Als Konsequenz davon hat MedCom zusammen mit Vodafone eine Grund-lagen-Fibel geschrieben, worin erklrt wird, was das Handy berhaupt ist. Das hat ihnen innerhalb eines Jahres 35.000 Presse-Anfragen gebracht, und es wur-den 250.000 Broschren angefordert, groteils auch von Senioreneinrichtungen.Das war offensichtlich fr ltere Leute sehr hilfreich. Und natrlich ist so etwas auch konsumfrdernd. Aber natrlich entscheidet der Kunde selber, wenn er die Funktionsweise einmal verstanden hat, fr welches Produkt er letztlich sein Geld ausgibt. Gemeinsam mit Vodafone, der Deutschen Seniorenli-ga und Volkshochschulen wurden Handy-Kurse ent-wickelt fr Einsteiger jeden Alters. Mit dieser Art von Marketing, so meint Herr Leyhausen, kann man auch sehr gut Non-profit-Organisationen sttzen. Auch Bil-dungstrger mssen sich in diesen Zeiten knapperer Budgets Gedanken darber machen, Finanzierungs-mglichkeiten fr die Umsetzung ihres Bildungsauf-trags aufzutun. Die Gewinner dieses Projektes waren

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    in erster Linie die lteren Menschen, die sich durch die Handy-Schulung ihren Platz in einem Bereich der modernen Technikwelt erobern konnten. Viele waren danach in der Lage, anderen ihr frisch erworbenes Wissen mit groem Einfhlungsvermgen weiter zu vermitteln.Frank Leyhausen stellt zum Schluss noch einmal die Grundprinzipien seiner Arbeit zusammen: Produkte erklren mit Kunden Produkte entwickeln nicht nur darauf schauen, was sich verkaufen lsst, sondern auch fragen, was die Leute wollen. Unsere Gesellschaft versenkt gerade einen ganzen Erfahrungsschatz, indem sie Menschen mit 58 Jahren in Frhrente schickt.

    Pam Schweitzer, Age Exchange, London:

    Age Exchange and Social Engagement a Vision for the Future

    Pam Schweitzer begann ihre Arbeit vor 23 Jahren als Erinnerungsarbeit mit lteren Menschen. Sie wollte jedoch nicht etwa das Gedchtnis der Leute trainieren und verbessern, sondern sie war an ihren

    Erinnerungen interessiert. Die Englnderin kommt von der Theater- und Erziehungsarbeit. Also dachte sie beim Zuhren, wenn 80Jhrige ihre Geschichten erzhlten: Erstens wrde daraus ein tolles Theater-stck werden. Und auerdem sollten Jugendliche sich diese Geschichten anhren, daraus knnten sie viel ber die Vergangenheit lernen. So begann sie mit der Produktion von Theaterstcken in Schulen, wo junge Menschen sich die Geschichten von Alten anhrten und dann daraus Theaterszenen schrieben. Fr junge Menschen war das eine wunderbare Mglichkeit, et-was ber ihre Vergangenheit zu lernen und zu verste-hen, woher sie kommen. Warum ist gerade das Theater ein so gutes Mittel zum Verstndnis zwischen Jung und Alt? Ich glaube, wenn man aus dem Leben eines Menschen eine The-aterauffhrung machen will, dann muss man dieses Leben wirklich gut verstehen. Man muss es in sich aufnehmen, zu einem Teil der eigenen Erfahrung ma-chen und es dann berzeugend spielen. Um das Leben eines anderen Menschen zutiefst zu verstehen, ist es notwendig, sehr viele Fragen zu stellen und sehr aufmerksam auf die Antworten zu hren. Zum anderen mussten die jungen Schauspieler stndig auf den alten Menschen sehen und immerzu fragen, ob sie etwas richtig verstanden hatten oder nicht. Denn der alte Mensch ist in dieser Situation der Experte, der Experte seines eigenen Lebens. Ich erzhle Ihnen dieses, weil ich denke, dass eine ganze Reihe von Initiativen fr alte Menschen sich

    dieses Erfahrungsschatzes und des Expertentums nicht bewusst sind und sie nicht nutzen, obwohl ih-nen doch dieser Reichtum zur Verfgung steht.

    Nachdem sie einige Jahre aus den Erinnerungen alter Menschen Theater gemacht hatte manchmal mit professionellen Schauspielern, manchmal mit Laien oder auch mit alten Leuten selber entschloss sie sich, in London-Blackheath ein Zentrum der Erinne-rungen zu erffnen, und zwar ein Nachbarschaftszen-trum, wo Jung und Alt zusammentreffen knnen. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre machte sie dort die Erfahrung, ... dass es sehr, sehr viele Arten gibt, alte Menschen zu ermutigen, in diesem Zentrum einen Beitrag zu leisten fr das Zusammenleben der ver-schiedenen Kulturen und Generationen. Ein Beispiel hierfr sind stndig wechselnde neue Ausstellungen zum Thema Erinnerung, auch mit audio-visuellen Displays. So werden die verschiedensten Menschen die ganze Zeit involviert, z.B. Menschen, die an der Themse gearbeitet haben, der seinerzeit ein sehr em-siger Fluss mit viel Verkehr und Lagerhusern war. So kommen laufend Leute in das Zentrum, die von den Erfahrungen der lteren lernen und daran ihre Freude haben.

    Als ich 1987 dieses Zentrum erffnete, glaubte ich, es wrde nur ein Experiment fr ein Jahr sein. Ich dachte, dass nur wenige Leute kommen wrden, nur Wenige gerne Geschichten von sich selbst erzhlen wrden. Das war ein Irrtum. Denn sehr bald schon waren es zwischen 20.000 und 30.000 Menschen jhrlich, die hereinkamen. Warum kamen sie, was war in ihren Augen das Be-sondere hier? Pam Schweitzer glaubt, dass sie in eine ausgesprochen anregende, ermutigende Umgebung

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    kamen. Sie konnten einfach zur Tr hereinspazieren, wo sie in einem kleinen Nachbarschafts-Museum al-les ansehen, anfassen, oft sogar riechen knnen. Und sie knnen darber reden und auch eigene Aspekte einbringen und mitmachen. Die Menschen kommen auch, weil sie hier Wertschtzung erfahren. Sie knnen hereinkommen und eine Tasse Tee trinken und sich einfach als Teil einer Gemeinschaft fhlen. Und nicht etwa als Teil einer separierten Gruppe alter Leute an einem separierten Ort. Bei uns gibt es etwa 60 Ehrenamtliche, die alle ltere Menschen im Alter zwischen 55 und 80 Jahren sind. Jeder hat eine feste Zeit in der Woche, zu der sie oder er kommt und bei all den verschiedenen Aktivitten hilft und mitmacht. Sie leiten in diesen festen Zeiten in einer kleinen Gruppe gemeinsam das Zentrum. Ei-nige von ihnen arbeiten auch in Schulen und nehmen am Unterricht teil.In den letzten 5 Jahren hat sich Pam Schweitzer dar-auf konzentriert, speziell mit zwei Gruppen von alten Leuten zu arbeiten: die eine sind ltere Menschen von ethnischen Minderheiten; die andere Gruppe sind Demenzkranke, die noch in ihren Familien leben oder auch bei anderen Menschen. Sie erinnern sich sehr wohl an Dinge, die lange zurckliegen, und wenn die-se Erinnerungen auf Interesse stoen und fr andere wertvoll sind, haben sie das Gefhl, dass sie noch im-mer etwas zu geben haben und dass sie noch Teil der Gemeinschaft sind. London ist eine sehr bunt durchmischte multikultu-relle Stadt. Und da gibt es jetzt auch sehr viele ltere Leute. Manche Menschen sehen das als Problem an. Fr andere wiederum ist gerade das eine Chance. Es wurden Theaterstcke entwickelt von alten Leuten aus ethnischen Minderheiten, von denen nicht alle Englisch sprechen, gemeinsam mit jungen Leuten, und zwar mit sehr viel Erfolg. Es sind afrikanische alte Menschen in die Schulen gegangen, angetan mit ih-ren prachtvollen bunten Gewndern, um dort davon zu erzhlen, wie das war, in einem afrikanischen Dorf aufzuwachsen. Sie haben den Kindern von der Be-deutung ihrer afrikanischen Namen erzhlt. Es gibt so viel Erfahrungsaustausch und sehr viel Lebenswissen zu vermitteln, und das ist fr das Identittsgefhl der Kinder sehr wichtig. Das Leben kann fr alte Menschen sehr einsam sein, besonders fr solche aus ethnischen Minderheiten. Wir haben in London sehr viele Treffpunkte fr die verschiedensten Gruppen geschaffen. Dort treffen sie auf Menschen, mit denen sie die gleichen Erfah-rungen, die gleichen Vorlieben fr Essen oder Musik teilen. Viele gehen da hin, um sich geborgen zu fh-len und dann gehen sie auch irgendwann raus, um Kinder zu treffen, Weie, Leute aus unterschiedlichen Kulturen. Schritt fr Schritt geht das vor sich. Und es verndert Einstellungen und Haltungen gegenber dem Fremden. Die Menschen empfinden es nach solchen Begegnungen eher als positiv, in einer multi-kulturellen Gesellschaft zu leben.

    Da Pam Schweitzer nun vor der Tatsache steht, in allernchster Zeit selber zu den Alten und Rentnern zu gehren, fragt sie sich, ob irgendjemand sie dann noch brauchen wird. Wem kann sie dann etwas von ihrer vielen Zeit geben? Und welche Qualitten sollte ein Ort haben, an dem sie ihre Zeit einbringen mch-te? Sie knnte sich vorstellen, dass sie zunchst mal nur ein bisschen machen wrde, um zu sehen, ob es ihr gefllt. Sie wrde sich nicht sofort verpflichten wollen, fr die nchsten zehn Jahre jeden Tag dort zu verbringen. Und sie wrde zwar einerseits gern etwas Neues machen aber es wre auch schn, wenn ihre speziellen Fhigkeiten gefragt wren. Und sie htte sehr gern auch junge Menschen um sich, nicht immer nur Alte. Sie mchte neue Freundschaften schlieen. Ein bisschen Verantwortung tragen wre gut aber nicht zu viel. Und ich glaube, ich wrde da, wo ich arbeite, auch gern etwas zu sagen haben. Das wrde mir das Gefhl geben, dass ich wirklich ein Teil wre von dieser Organisation, in der ich arbeite. Etliche andere Dinge wren ihr noch wichtig, wie etwa, alle Reisekosten erstattet zu bekommen, wenn sie fr die Organisation unterwegs wre; oder auch dass sie um-sonst Tee trinken und ein Sandwich essen drfte. Und sie mchte, wenn sie eine regelmige Verpflichtung eingeht, nicht darauf festgenagelt bleiben, sondern Dinge selber entwickeln und eigene Initiativen ergrei-fen knnen. Mit anderen Worten: Ich wrde als Eh-renamtliche in einer Organisation ein Albtraum sein. Und whrend sie den Zuhrerinnen ihren Konflikt darstellt, viele Jahre mit Ehrenamtlichen gearbeitet zu haben und jetzt bald vielleicht selber eine von ihnen zu sein, kommt sie lachend zu der Erkenntnis: Ich glaube, ich will gar nicht als Ehrenamtliche arbeiten. Ich werde lieber am London-Marathon teilnehmen und ein ganzes Jahr darauf verwenden, mich dafr zu trainieren.

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    Georg Zinner

    Potenziale des Alters erkennen -

    ein berflliger Paradigmenwechsel?

    Wir mchten dazu beitra-gen, dass sich in der Politik, in der Fachwelt und in der praktischen Arbeit ein Den-ken durchsetzt, das sich der Aktivierung, dem brger-schaftlichen Engagement und dem Tatendrang der

    lteren Menschen verpflichtet fhlt.

    1.Wenn wir uns heute in Berlin umschauen und die Seniorenarbeit betrachten, so fllt es schwer, darin deutlich gesetzte fachliche oder politisch-strategische Gestaltungselemente zu entdecken. Zwar gibt es alle Anstrengungen, eine ausreichende Infrastruktur fr pflegebedrftige, zumeist hochbetag-te Menschen zu schaffen, die Entwicklung dringend bentigter neuer Wohn- und Pflegeformen bleibt aber eher der engagierten- Initiative Einzelner und dem ei-nen oder anderen Investor oder Vermieter berlassen. Dort, wo groe Einheiten nicht gefragt sind, lohnt es sich offensichtlich nicht, weder fr die Betreiber, noch fr die Wohnungsbaugesellschaften, noch fr die politisch und fachlich-planerisch Verantwortlichen, zu investieren oder gestaltend ttig zu werden. Dabei wre es so einfach:

    Whlen wir zur anschaulichen Beschreibung ein klei-nes Dorf. Dort gibt es vielleicht in jeder 10. Familie einen pfle-gebedrftigen Angehrigen. Unter groen Mhen und Anstrengungen organisiert jede der Familien fr sich mitunter auch unter Einschaltung eines Pflege-dienstes die hauswirtschaftliche und pflegerische Versorgung: morgens, mittags, abends. An sieben Ta-gen in der Woche, 365 Tage im Jahr. In dem Dorf woh-nen 50 Familien, so dass wir von 5 pflegebedrftigen Menschen ausgehen knnen. Wrden sich diese fnf Familien zusammentun und gemeinsam ein Haus oder eine groe Wohnung im Dorf anmieten, dann knnten sie gemeinsam professionelle Pflegekrfte engagieren und eine Betreuung rund um die Uhr sicherstellen. Die Angehrigen wren psychisch und physisch entlastet. Das familire Stresspotential wrde sich vermindern und als Besucher in der Pflegewohnung wren sie eine willkommene Abwechslung. Die Pflegebedrf-tigen selbst wren zu keiner Zeit allein und fhlten sich sicher. Einige rstige Senioren aus dem Dorf bernehmen fr die Wohngemeinschaft zudem aller-lei Aufgaben: sie kaufen ein, lesen vor, bernehmen Spaziergnge und Ausflge und sie sorgen dafr, dass

    auch die jngere Generation einspringt und mithilft: bei Reparaturen, bei Renovierungen, beim Ein- und Auszug und auch bei manchem Pflegedienst. So knn-te Pflege gemeinsam organisiert - kostengnstig und menschlich gestaltet werden. Nur auf dem Dorf? Nein, genauso kann es sich in der Stadt auch ereignen. Er-setzen wir das Dorf einfach durch den Wohnblock. Warum knnen unsere Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften nicht geeignete Wohnun-gen zur Verfgung stellen und sich zum Beispiel der Nachbarschaftszentren bedienen, um fr ihre Mieter zu sorgen und vorzusorgen? Diese sind in der Lage ehrenamtliches Engagement hierfr zu organisieren und verfgen zum Teil auch ber eigenen ambulante Pflegedienste oder arbeiten mit befreundeten Diens-ten zusammen.

    Warum ich das hier anfhre? Weil ich damit sagen will, dass die Dinge kleinrumig strukturiert - oft einfa-cher liegen, als sie sich von oben betrachtet, insge-samt ansehen. Brgerschaftliches Engagement stellt sich zudem wie von selbst ein, wenn Kreativitt und Gestaltungswillen sich auch auf diese unspektakul-ren, nur scheinbar zu kleinteiligen Lsungen, konzen-trieren wrde.

    Also jedem Berliner Wohnblock bitte seine Pflege-wohngemeinschaft! Ich frage mich seit langem, war-um die Wohnungsbaugenossenschaften und -gesell-schaften noch nicht auf diesen Dienst fr ihre Mieter gekommen sind. Nicht einmal dann, wenn ihnen die Organisation dafr abgenommen werden wrde, wie ich persnlich feststellen mute.

    2.Beenden wir den Ausflug in die Pflege, nicht ohne anzumerken, dass ein groer Teil der L-sung der Pflegeprobleme gerade in der Nutzung der Potentiale des Alters liegt. Denn viele unserer rstigen alten Menschen sind bereit