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Rundbrief 1/11 März 2011 „BraWo-Park“ auf ehemaligem KZ-Gelände Als im Jahre 2000 die Gedenkstätte Schillstraße eingeweiht wurde, gab es bereits seit Jahrzehnten keinerlei Spu- ren des gleichnamigen Braunschweiger Konzentrationslagers mehr, dessen Ge- lände zwar in unmittelbarer Nachbar- schaft der heutigen Gedenkstätte lag, dessen Bauten aber in der Nachkriegs- zeit abgerissen wurden. Immerhin ließ sich der damalige Besitzer des Areals, die Post AG, in die Planungen der Gedenk- stätte einbeziehen: Unübersehbar prangt seither die rabbinische Weisheit „Die Zukunft hat eine lange Vergangenheit“ als blaue Leuchtschrift an der Garage des ehemaligen Post-Betriebshofes; sie ist über ein mehrstufiges Podest auf dem Gedenkstättengelände einsehbar und somit ein Teil der von Sigrid Sigurdsson entworfenen künstlerischen Installation. Im September des vergangenen Jahres berichtete die Braunschweiger Zeitung erstmals über Pläne zum Verkauf des ehemaligen Postareals, das inzwischen in den Besitz eines Investmentfonds übergegangen war und dessen Gebäude überwiegend leer stehen. Die Volksbank Braunschweig Wolfsburg (BraWo) hatte Interesse an dem Kauf des 75.000 qm großen Geländes gezeigt, um dort – nach Abriss der Postgebäude – ein ca. 30.000 qm großes Fachmarktzentrum („BraWo- Park“ mit Möbelhaus, Warenhaus, Baby- fachmarkt, Zoofachgeschäft …) zu errich- ten. Lediglich das „Toblerone“ genannte dreieckige Hochhaus soll erhalten blei- ben und die Hauptverwaltung der Volks- bank sowie die Braunschweiger Arge aufnehmen. Oberbürgermeister Hoffmann erklärte das Investitionsprojekt – die Rede ist von 100 Millionen Euro – zur Chefsache und räumte in einem beschleunigten Verfah- ren per Ratsbeschluss alle baurecht- lichen Hürden (Änderung des Flächen- nutzungs- und Bebauungsplanes sowie des Zentrenkonzepts) aus dem Weg. Während über Planungen bezüglich des Projektes sowie die Sorgen der Innen- stadtkaufleute über die entstehende Konkurrenz ausführlich in der Braun- schweiger Zeitung berichtet wurde, tauchte in der Berichterstattung an kei- ner Stelle der Hinweis auf, dass das Ge- lände des ehemaligen Braunschweiger KZ Schillstraße vollständig auf dem Are- al des geplanten „BraWo-Parks“ liegt. Ebenso wenig wurde auf die unmittelba- re Nachbarschaft zur Gedenkstätte hin- gewiesen. Die BZ veröffentlichte immer- hin zwei Leserbriefe von Luzia Franck und Ernst-August Roloff, die auf die be- sondere Geschichte des Geländes auf- merksam machen wollten. Reinhard Bein und Friedrich Wilhelm haben sich Mitte November in einem Brief an die Dezernentin für Kultur und Wissenschaft Frau Dr. Anja Hesse ge- wandt und die Sorgen des Arbeitskreises bezüglich des „BraWo-Parks“ artikuliert. Unter anderem wurden folgende Fragen angesprochen: Inwieweit ist gesichert, dass bei Baumaßnahmen auf dem Gelän- de erkennbar werdende Informationen zur Geschichte des Lagers wie z.B. über die Lage von Baracken, deren Größe und Ausgestaltung fachkundig durch eine Bauaufnahme gesichert werden können? Inwieweit nimmt die Ausgestaltung der Bauwerke Rücksicht auf den Charakter und die Würde des angrenzenden Gedenkortes? Welche Eindrücke vermit- teln sich den Besuchern der Gedenkstät- te, insbesondere Angehörigen der hier Getöteten, beim Blick auf das frühere Lagergelände? Ist die Beibehaltung der Leuchtschrift in geeigneter Form abge- sichert? Ist die Nutzung der Begrenz- ungsmauer, an der die Tafeln angebracht Eine Leuchtschrift macht auf das frühere Lagergelände aufmerksam. Foto: Beate Hornack

Rundbrief 1/11 - Andere Geschichte...Rundbrief 1/11 März 2011 „BraWo-Park“ auf ehemaligem KZ-Gelände Als im Jahre 2000 die Gedenkstätte Schillstraße eingeweiht wurde, gab es

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  • Rundbrief 1/11März 2011

    „BraWo-Park“auf ehemaligem KZ-GeländeAls im Jahre 2000 die GedenkstätteSchillstraße eingeweiht wurde, gab esbereits seit Jahrzehnten keinerlei Spu-ren des gleichnamigen BraunschweigerKonzentrationslagers mehr, dessen Ge-lände zwar in unmittelbarer Nachbar-schaft der heutigen Gedenkstätte lag,dessen Bauten aber in der Nachkriegs-zeit abgerissen wurden. Immerhin ließsich der damalige Besitzer des Areals, diePost AG, in die Planungen der Gedenk-stätte einbeziehen: Unübersehbar prangtseither die rabbinische Weisheit „DieZukunft hat eine lange Vergangenheit“als blaue Leuchtschrift an der Garage desehemaligen Post-Betriebshofes; sie istüber ein mehrstufiges Podest auf demGedenkstättengelände einsehbar undsomit ein Teil der von Sigrid Sigurdssonentworfenen künstlerischen Installation.Im September des vergangenen Jahresberichtete die Braunschweiger Zeitungerstmals über Pläne zum Verkauf desehemaligen Postareals, das inzwischenin den Besitz eines Investmentfondsübergegangen war und dessen Gebäudeüberwiegend leer stehen. Die VolksbankBraunschweig Wolfsburg (BraWo) hatteInteresse an dem Kauf des 75.000 qmgroßen Geländes gezeigt, um dort – nachAbriss der Postgebäude – ein ca. 30.000qm großes Fachmarktzentrum („BraWo-Park“ mit Möbelhaus, Warenhaus, Baby-fachmarkt, Zoofachgeschäft …) zu errich-ten. Lediglich das „Toblerone“ genanntedreieckige Hochhaus soll erhalten blei-ben und die Hauptverwaltung der Volks-bank sowie die Braunschweiger Argeaufnehmen.

    Oberbürgermeister Hoffmann erklärtedas Investitionsprojekt – die Rede ist von100 Millionen Euro – zur Chefsache undräumte in einem beschleunigten Verfah-ren per Ratsbeschluss alle baurecht-

    lichen Hürden (Änderung des Flächen-nutzungs- und Bebauungsplanes sowiedes Zentrenkonzepts) aus dem Weg.Während über Planungen bezüglich desProjektes sowie die Sorgen der Innen-stadtkaufleute über die entstehendeKonkurrenz ausführlich in der Braun-schweiger Zeitung berichtet wurde,tauchte in der Berichterstattung an kei-ner Stelle der Hinweis auf, dass das Ge-lände des ehemaligen BraunschweigerKZ Schillstraße vollständig auf dem Are-al des geplanten „BraWo-Parks“ liegt.Ebenso wenig wurde auf die unmittelba-re Nachbarschaft zur Gedenkstätte hin-gewiesen. Die BZ veröffentlichte immer-hin zwei Leserbriefe von Luzia Franckund Ernst-August Roloff, die auf die be-sondere Geschichte des Geländes auf-merksam machen wollten.

    Reinhard Bein und Friedrich Wilhelmhaben sich Mitte November in einem

    Brief an die Dezernentin für Kultur undWissenschaft Frau Dr. Anja Hesse ge-wandt und die Sorgen des Arbeitskreisesbezüglich des „BraWo-Parks“ artikuliert.Unter anderem wurden folgende Fragenangesprochen: Inwieweit ist gesichert,dass bei Baumaßnahmen auf dem Gelän-de erkennbar werdende Informationenzur Geschichte des Lagers wie z.B. überdie Lage von Baracken, deren Größe undAusgestaltung fachkundig durch eineBauaufnahme gesichert werden können?Inwieweit nimmt die Ausgestaltung derBauwerke Rücksicht auf den Charakterund die Würde des angrenzendenGedenkortes? Welche Eindrücke vermit-teln sich den Besuchern der Gedenkstät-te, insbesondere Angehörigen der hierGetöteten, beim Blick auf das frühereLagergelände? Ist die Beibehaltung derLeuchtschrift in geeigneter Form abge-sichert? Ist die Nutzung der Begrenz-ungsmauer, an der die Tafeln angebracht

    Eine Leuchtschrift macht auf das frühere Lagergelände aufmerksam. Foto: Beate Hornack

  • 2 Rundbrief 1/11

    Studienfahrt nach Bremensind, in bisheriger Form weiterhin mög-lich? Wie sehen die künftigen Nutzer dieNachbarschaft zu einem Gedenkort?

    Im Dezember fand ein Gespräch mitFrau Dr. Hesse statt, an dem FrankEhrhardt und der Autor dieses Artikelsteilgenommen haben. Die Dezernentinversicherte uns, dass ungeachtet derbisher fehlenden öffentlichen Diskussi-on unsere Fragen bei den Gesprächenzwischen der Stadt und der Volksbanksehr wohl berücksichtigt würden. Siesagte zu, den Arbeitskreis über die zu-künftige Entwicklung auf dem Laufen-den zu halten und in die Planungen ein-zubeziehen.Der Vorstand des Arbeitskreises hatdaraufhin davon abgesehen, weiterenAktivitäten zu entfalten, wird aber dasAngebot zur Mitwirkung gerne aufgrei-fen.

    Gustav Partington

    Auch in diesem Jahr wollen wir unswieder etwas außerhalb von Braun-schweig umsehen. Wir planen eineWochenendfahrt nach Bremen am 21. /22. Mai 2011. Folgendes Programm istbis jetzt vorgesehen:

    - Bei einem Rundgang durch dasOstertor-Viertel wollen wir uns mit dem„Bremer Haus“ beschäftigen. Dieser fürdas Stadtbild Bremens so prägenderHäusertyp, ist nicht nur architektonischsondern auch sozialpolitisch bedeutend.

    - Im heutigen Wilhelm WagenfeldHaus, das über 150 Jahre lang alsGefangenenhaus, Gestapogefängnis, Po-lizeigewahrsam und schließlich als Ab-schiebehaftanstalt gedient hat, erinnertein Zellentrakt an diese Geschichtet. Die-se Dokumentationsstätte Gefangenen-haus Ostertorwache werden wir besu-chen.

    - Im Wagenfeld Haus wird heutenicht nur das Erbe des Designer WilhelmWagenfeld bewahrt, es ist das Design-Zentrum Bremens mit sehenswertenAusstellungen. Ein Besuch kann einanschließender Programmpunkt sein.

    - Am Abend liest der SchriftstellersSven Regener (bekannt von „HerrLehmann“ und „Neue Vahr Süd“) ausseinem neuen Buch „Meine Jahre mitHamburg-Heiner“. Mit dieser Veranstal-tung im Kulturzentrum Lagerhaus sollder Tag ausklingen.

    - Übernachten werden wir im Ho-tel „Ibis“ am Rembertiring.

    - Am Sonntag fahren wir nachDelmenhorst, um uns das Nordwest-deutsche Museum für Industriekultur„Nordwolle“ anzusehen. Die „Nordwolle“zählt zu den bedeutenden Zeugnissengründerzeitlicher Fabrikarchitektur undgilt als eines der großen Industrie-denkmale Europas. Die BremerIndustriellendynastie der Lahusens hat-te hier das Sagen.

    Wir treffen uns am Sonnabend um8.00 Uhr im Braunschweiger Haupt-bahnhof und werden am Sonntag gegen18.00 Uhr wieder zurück sein. Bittedaran denken, dass wir viel zu Fußunterwegs sein werden.

    Der TeilnehmerInnenbeitrag wird110,00 Euro betragen. Darin ist die Un-terbringung im Doppelzimmer (Einzel-zimmer 30,00 Euro zzgl.), Bahnfahrt undEintritte/Honorare enthalten. Da nochnicht alles endgültig feststeht, könnensich noch kleine Veränderungen ergeben.

    Ihre Mitreise ist herzlich willkom-men. Bitte melden Sie sich bis zum15.4.2011 verbindlich an (Tel.: 0531/18957 – nutzen Sie den Anrufbeantwor-ter, Email: [email protected], ggfs. bitteauch den Einzelzimmerwunsch mittei-len. Den TeilnehmerInnenbeitrag bittenwir nach dem Eintreffen einer Bestäti-gung auf das Vereinskonto zu überwei-sen.

    Isolde Saalmann

    FreiwilligesSoziales Jahr /Kultur

    Die Landesvereinigung KulturelleJugendbildung hat unsere Bereitschafterfragt, ab September wieder einer/ei-nem Jugendlichen die Möglichkeit zuschaffen, ein Freiwilliges KulturellesJahr in der Gedenkstätte zu absolvieren.Der Vereinsvorstand hat das als sehrwünschenswert bezeichnet. Die Möglich-keit sich dafür zu bewerben, besteht absofort – beim LKJ sollte die Bewerbungbis zum 31.3. eingetroffen sein.

    Vorstellbar ist eine Mitwirkung ander pädagogischen Arbeit mit Jugendli-chen, an der Vorbereitung von Veranstal-tungen und Ausstellungen in der Ge-denkstätte und vielleicht auch wieder dieVorbereitung eines Jugendcamps für denSommer 2012. Dieses bedarf der Verab-redung – wobei die Wünsche der jungenLeute einbezogen werden. Auch dasKennenlernen anderer Kulturein-richtungen gehört zum Programm.

    Wer Interesse hat, wende sich bittean die Gedenkstätte, um ein Gesprächzu vereinbaren. Für das Auswahl-verfahren ist es von Vorteil, wenn wir vonvorneherein sagen können, wir möchteneine/n uns schon Bekannte/n. Wir wür-den Bewerber/innen, die schon in derRegion leben, bevorzugen.

    Frank Ehrhardt

    Durch das Ostertorviertel und zu Sven Regener - Einla-dung zu einer Studienfahrt am 21./22.5.2011

    Nordwolle inDelmenhorst.EhemaligesTurbinenhaus,die „Kathedra-le der Arbeit“.Erbaut 1902,ArchitektHenrichDeetjen

    Foto: JürgenHowaldt(Wikpedia)

  • Rundbrief 1/11 3

    Bericht über die Tätigkeit des ArbeitskreisesAndere Geschichte e.V. im Jahr 2010

    Seit 25 Jahren widmet sich derArbeitskreis Andere Geschichte der Er-forschung und Vermittlung der regiona-len Geschichte Braunschweigs. Im letz-ten Jahrzehnt stand dabei die Auf-gabeder Betreuung der städtischen Gedenk-stätte KZ-Außenlager Schillstraße imMittelpunkt.

    2010 feierte der Arbeitskreis das Ju-biläum seiner Gründung mit einemGeschichtsfest und der Herausgabe ei-ner Festschrift. Beides waren wichtigeBeiträge zu einer Bestandsaufnahmeund zur Selbstvergewisserung über dieZielsetzungen und Formen künftigerVereinsarbeit.

    Hervorhebung verdient außerdem,dass es dem Verein möglich war, durchdie Recherche von Frank Ehrhardt zurVerfolgung der Juden in Braunschweigwieder einen Beitrag zur Erforschungvon Regionalgeschichte zu leisten unddurch Verena Haugs Tätigkeit wichtigeAnstöße zur Weiterentwicklung der pä-dagogischen Arbeit in der GedenkstätteKZ-Außenlager Schillstraße zu diskutie-ren.

    Gedenkstätte KZ-AußenlagerSchillstraße: Offenes Archiv undinhaltliche Betreuung

    Offenes Archiv: Erweiterung desBestandes

    Das Offene Archiv „Braunschweig –eine Stadt in Deutschland erinnert sich“wurde durch die Neuanlage von Kasset-ten erweitert, so dass nun 100 Kasset-ten vorhanden sind. Das Regal für dieSammlung wurde durch einen Aufbauergänzt, damit Platz für weitere Ergän-zungen vorhanden ist. Zur Jahreswende2009/2010 kamen eine neue Kassette fürdie Sammlung von Helmut Kramer, eineallgemeine Kassette für kleinere Beiträ-ge der Bürgerinnen und Bürger und eineKassette für die Ergebnisse der Jugend-camps mit dem Service Civil Internatio-nal hinzu. Außerdem wurden eine Kas-sette für Sally Perel und eine für dasVolkswagenwerk Braunschweig gefer-tigt. Eine weitere Kassette erinnert aufInitiative Helmut Kramers an den Stadt-verordneten Hermann Bode.

    Markus Daume, Anna Gugler und

    Marie-Charlotte Berrard brachten ihreFacharbeit und Materialsammlung überEuthanasie im Raum Braunschweig undUmgebung 1933 – 1945. Diese Aus-arbeitung, die das Archiv um ein bislangnoch nicht angesprochenes Thema er-gänzt, bildet den Grundstock zu einerneuen Kassette der BerufsbildendenSchulen V. Frau Banholzer übergab ihreSammlung zur Versöhnungsarbeit derGesellschaft für christlich-jüdische Zu-sammenarbeit seit den 1960er Jahren.Aus privater Hand wurden einige Unter-lagen über einen SS-Mann übergeben,der die SS-Junkerschule im Schloss ab-solvierte. Ebenso wie für die Sammlungzu den in Braunschweig verlegten Stol-persteinen wird in Kürze auch wiedereine neue Kassette für die fortlaufendeintreffenden Leihgaben der „Bürger-innen und Bürger“ nötig.

    Auf Anfrage des Fachbereichs Kulturwurde eine Zusammenstellung der Pro-jektansprechpartner der in den letztenJahren erstellten Kassetten weiter-gereicht. Die Stadt beabsichtigt, 2011neue Texte an der Außenmauer der Ge-denkstätte anzubringen, die auf Vor-schläge der Bearbeiter zurückgehen.

    Betreuung der Nutzer und Besu-cher, Sicherstellung der Öffnungs-zeiten

    Da Gedenkstättenleiter Frank Ehr-hardt über mehrere Monate durch einForschungsprojekt (siehe unten) in An-spruch genommen war, wurde in dieserZeit ein Teil der Aufsichten und der da-mit verbundenen Beratung von Nutzernwährend der Öffnungszeiten von derPädagogin Verena Haug übernommen.Außerdem engagierten sich Mitgliederdes Arbeitskreises in ungewöhnlichemAusmaß: An 33 Tagen wurden die Auf-

    sichten von 14 mit dem Archiv vertrau-ten Vereinsmitgliedern übernommen.

    Die Zahl der Teilnehmer öffentlicherVeranstaltungen in der Gedenkstätte,von Besuchergruppen und von Nutzerndes Offenen Archivs blieb auf dem Ni-veau der Vorjahre. Da 2010 aber keineSonderausstellungen in der Gedenkstät-te gezeigt werden konnten, ergab sichinsgesamt ein Rückgang der Besucher-zahl, insbesondere durch den Wegfall vonAusstellungsführungen mit Schulklas-sen.

    Durchführung von Veranstaltun-gen und Ausstellungen

    Lerntag „Das Offene Archiv‘Braunschweig – eine Stadt inDeutschland erinnert sich’“

    Am 7. Mai 2000 wurde das OffeneArchiv als künstlerische Installation inder Gedenkstätte eröffnet. Die Hambur-ger Künstlerin Sigrid Sigurdsson hat die-se Sammlung initiiert und 1997/1998Einzelpersonen und Institutionen inBraunschweig zur Mitarbeit gewonnen.Der runde Jahrestag gab nun Anlass,über die Entwicklung des Archivs zu in-formieren. Dazu wurde zu einem Lern-tag am 23.1.2010 eingeladen.

    Im ersten Beitrag wies Dr. UlrikeGutzmann, Mitarbeiterin der Histori-schen Kommunikation des Volkswagen-werks , auf ein interessantes Dokumentin der Kassette von Sally Perel hin, derdurch seine Erinnerungen als „Hitler-junge Salomon“ bekannt ist. In der 2009angefertigten Kassette befindet sich einReplikat der VW-Personalakte von Perel,der als angeblicher Volksdeutscher ge-tarnt im damaligen VW-Vorwerk inBraunschweig eine Lehrlingsausbildung

    Besucher Besucher Besucher Besucher

    Öffnungstage 162 161 158 166Einzelbesucher 369 505 272 256Öffentliche Veranstaltungen

    11 324 10 354 12 424 13 416

    Schulklassen 27 503 47 805 20 360 13 260Mehrtages-veranstaltungen 9 90 13 125 2 16

    Besuchergruppen 5 83 9 164 10 160 14 187Gesamtzahl 1369 1828 1341 1135

    2007 2008 2009 2010

  • 4 Rundbrief 1/11

    absolvierte. Sie bestätigt in vielen Punk-ten die Erinnerungen des heute in Isra-el lebenden Zeitzeugen.

    Mehrere Schülerinnen und Schülerder Jugenddorf Christophorusschulestellten anschließend ihre Power PointPräsentation vor, die sie anlässlich derVerlegung von Stolpersteinen für dieFamilien Gottlieb und Tichauer erstellthatten, und die jetzt in einer Kassette desOffenen Archivs als Ausdruck zu findenist. Die Kassette zu den in Braunschweigverlegten Stolpersteinen ist eine der mo-mentan am intensivsten bearbeitetenBestandteile der Sammlung.

    Der außerdem vorgesehene Beitragder Kunsthistorikerin Dr. MartinaPottek über die Bedeutung des OffenenArchivs im Gesamtwerk der Künstlerinmusste wegen einer Erkrankung derReferentin verschoben werden. Frau Dr.Pottek kam dafür am 5.6. nach Braun-schweig. Ihr Vortrag „Kunst der Erinne-rung“ lockte bedauerlicher Weise am ers-ten schönen Sommertag nur sehr weni-ge Interessierte in die Gedenkstätte.Frau Pottek gelang es überzeugend, dasBraunschweiger Archiv in den Zusam-menhang der unterschiedlichen Samm-lungen einzuordnen, die Frau Sigurdssonin Hagen, Danzig, Frankfurt und Mün-chen entwickelt hat.

    Weitere Veranstaltungen

    Die im April und Mai im StädtischenMuseum gezeigte Ausstellung „Für dieFreiheit – gegen Napoleon. Ferdinandvon Schill und die deutsche Nation“ botAnlass, sich mit der Gedenkstätte als

    dem historischen Ort der Braunschwei-ger Schill-Traditionspflege zu befassen.Frank Ehrhardt und Verena Haug bo-ten deshalb zwei öffentliche Führungenan diesem Ort der Geschichtsdeutung an,die einen Bogen von der Entstehung desSchilldenkmals bis zur heutigen Neu-widmung zogen.

    Am 22.4. führte Eyke Isensee, Wis-senschaftlicher Mitarbeiter der HBKBraunschweig, in den Spielfilm „Kolberg“ein. Der vollständig gezeigte Film, der imJanuar 1945 uraufgeführt wurde, gilt alssogenannter „Durchhaltefilm“ und letz-ter großer Propagandafilm des DrittenReichs. Die historische Figur Ferdinandvon Schills ist einer der Hauptakteureder Handlung.

    Der Hannoveraner Historiker undSchallplattensammler Christian-Alexan-der Wäldner präsentierte am 15.7. in ei-ner gut besuchten und ungewöhnlichenSommerveranstaltung Musikkultur imKontext der Verfolgungsgeschichte Ho-mosexueller. „ Eugen! Ich will mit dir insHeu geh’n…“ betitelte er den Überblicküber populäre Musik von den Goldenen20ern bis in die NS-Zeit. Die Veranstal-tung fand in Rahmen des „Sommerloch-Festivals“ statt.

    Im Herbst begann in der Gedenkstät-te eine Vortragsreihe unter dem Motto„Täter und Tatgehilfen“, die die Vorstel-lung neuer Erkenntnisse zur Auseinan-dersetzung mit den Verantwortlichen desNS-Staates zum Ziel hatte. Die Auftakt-veranstaltung am 9.9. bestritt Dr. HabboKnoch, Geschäftsführer der Stiftung nds.Gedenkstätten, der unter dem Titel „Un-

    heimliche Komplizen“ einen kompeten-ten Überblick über NS-Täter und die po-litische Kultur der Bundesrepublik gab.Eine lebhafte Diskussion schloss sich imzahlreichen Auditorium an. Die Braun-schweiger Zeitung hatte durch ein vorabgeführtes Interview mit Herrn Dr. Knochauf die Veranstaltung aufmerksam ge-macht.

    In einer ebenfalls gut besuchten Ver-anstaltung am 14.10. berichtete DanielWeßelhöft aus einem von ihm begonne-nen Forschungsprojekt an der TU Braun-schweig. „Nationalsozialistische Akti-visten an den Braunschweiger Hochschu-len 1930-1945“ stehen im Zentrum sei-ner Recherchen. Dabei sind sowohl dieGeschehnisse in der Frühphase der Eta-blierung nationalsozialistischen Herr-schaft als auch die Karriereverläufe inder Kriegswirtschaft von Interesse.

    Am 4. November stellte Frank Ehr-hardt erste Ergebnisse seiner Recherchezur Verfolgung Braunschweiger Judenvor (siehe Erforschung der Regional-geschichte). Einen besonderen Akzentrichtete er dabei auf die Beteiligung derBraunschweigischen Staatsregierung ander Vertreibung und Ausplünderung derjüdischen Bevölkerung. Nach einem gro-ßen Vorabbericht in der BraunschweigerZeitung hatte auch diese Veranstaltungstarke Resonanz, so dass ein Teil der In-teressenten stehend den Ausführungenund der Diskussion folgen mussten.

    Trotz schwieriger Verkehrsverhält-nisse konnte am 2.12. ein Referent ausKiel zum Abschluss der Reihe begrüßtwerden. Malte Klein hat sich in einem

    Frank Ehrhardt und Verena Haug er-öffnen den Lerntag 2010.

    Foto: Beate Hornack

    Christian-Alexander Wäldner bei seinem auch hörenswerten Überblick überpopuläre Musik der 1920er. Foto: Beate Hornack

  • Rundbrief 1/11 5

    Promotionsvorhaben die schriftstelleri-sche Arbeit des NS-MinisterpräsidentenDietrich Klagges auf dem Gebiet derGeschichtsdidaktik vorgenommen. Ermachte darauf aufmerksam, dass Klag-ges nicht nur der Hauptverantwortlichefür das Agieren der Nationalsozialistenim damaligen Freistaat Braunschweigwar, sondern durch seine verschiedenenSchriften auch ein einflussreicher Ideen-geber und Propagandist der NS-Bewe-gung.

    Eine Ausstellung konnte in der Ge-denkstätte im Berichtsjahr nicht präsen-tiert werden. In der ersten Jahreshälfteverhinderten andere Schwerpunktset-zungen in der Arbeit des Gedenkstät-tenleiters (siehe Erforschung der Regio-nalgeschichte) dieses, in der zweitenHälfte mussten zwei Vorhaben auf 2011verschoben werden. Der seit längerembestehenden Absicht, die im Winter 2008erhobenen Erinnerungen und Fotoüber-lieferungen früherer Häftlinge des La-gers Schillstraße über ihre Lebensge-schichte nach der Befreiung unter demTitel „Wege nach Israel“ in einer Ausstel-lung zu präsentieren, konnte erst zumJahresende näher getreten werden. Zudiesem Zeitpunkt glückte es, die StiftungNiedersachsen für eine Förderung diesesVorhabens zu gewinnen. Ergänzt umschon vorhandene und noch zu erschlie-ßende Komplementärmittel ist so eineFinanzierung und damit eine Fertigstel-lung für Herbst 2011 absehbar. Vor-überlegungen zur Konzeption wurdenbereits in einer im November ins Lebengerufenen Arbeitsgruppe, an der FrankEhrhardt, Manfred Heider, Beate Hor-

    nack, Dr. Thomas Kubetzky, ChristineLinne, Tatjana Stevic und JonathanVoges beteiligt sind, aufgenommen.

    Entwicklung pädagogischerAngebote

    Im Oktober 2009 begann in der Ge-denkstätte ein Projekt zur Entwicklungneuer pädagogischer Angebote. Als in-haltliche Schwerpunkte der neuen An-gebote für den außerschulischen Unter-richt waren die Themen „Zwangsarbeitin der Kriegswirtschaft“ und „Verfolgungder Juden in Braunschweig 1933 – 1945“vorgesehen. Nachdem bereits im Vorjahrdie Stiftung niedersächsische Gedenk-stätten ihre Bereitschaft zur Förderung

    eines solchen Vorhabens erklärte, gelanges 2009, ergänzende Mittel der StadtBraunschweig im Rahmen eines Ko-operationsvorhabens zu erhalten. Hinzukamen 2010 Mittel aus der städtischenKontinuitätsförderung. Die Förderungenerlaubten es, die Pädagogin Verena Haugmit der Übernahme der Aufgabe zu be-auftragen.

    Frau Haug hatte schon im Vorjahrbegonnen, das Offene Archiv in Hinblickauf die genannten Themenstellungen zusichten, sich in den Forschungsstand zumThema Zwangsarbeit einzuarbeiten undden Kontakt zu vergleichbaren Projektenherzustellen. Eine zentrale Entscheidungwar, sich bei den für die pädagogischeArbeit genutzten Quellen vorrangig aufdie Sammlung aus den in den 90er Jah-ren durchgeführten Forschungen von Dr.Karl Liedke über polnische Zwangs-arbeiter zu stützen. Konzipiert und mitmehreren Klassen unterschiedlicherSchultypen erprobt wurde ein Projekttag„Überall in Braunschweig. Zwangsarbeitim Zweiten Weltkrieg“. Dieses auf vierZeitstunden angelegte Angebot gibt eineneinführenden Überblick zur Thematikund stellt im Weiteren die Lebensge-schichte von einzelnen Zwangsarbeiter-innen und -arbeitern, die in Braun-schweig waren, in den Mittelpunkt. Ge-arbeitet wird methodisch abwechslungs-reich mit fotografischen Quellen, mit ei-nem Einführungsfilm, mit rechtlichenBestimmungen und mit Erinnerungs-berichten. Über die Zeitzeu-genberichtewerden unterschiedliche Orte in derStadt angesprochen, die ergänzend mit

    Aufmerksame Zuhörer beim Vortrag „Verfolgung der Juden“. Foto: Beate Hornack

    Foto: Beate Hornack

  • 6 Rundbrief 1/11

    Karten lokalisiert oder durch eine Orts-erkundung veranschau-licht werden kön-nen.

    Damit Lehrkräfte den Studientag mitihren Schülerinnen und Schülern durch-führen können, sind unterschiedlicheMaterialien in mehreren Arbeitsmappenfür die Gruppenarbeit vorbereitet. EineLehrerinformation bietet thematischeEinführungen, empfiehlt ein didakti-sches Vorgehen für den Projekttag undnennt ergänzende Literatur undInternetseiten. Dieses Material steht zurVervielfältigung zur Verfügung. Um aufdas Angebot hinzuweisen, wurde ein pro-fessionell gestaltetes Faltblatt erarbeitetund verteilt. Verena Haug besuchte au-ßerdem Geschichtsfachkonferenzen anBraunschweiger Schulen. In Zusammen-arbeit mit der Lehrerfortbildungsstelleder Landesschulbehörde veranstalteteFrau Haug am 11. November eine Fort-bildungsveranstaltung in der Gedenk-stätte, an der dreizehn Pädagogen sowieweitere Interessierte teilnahmen. Nebender Vorstellung des neuen Angebots derGedenkstätte wurden durch Dr. CordPagenstecher die Internetzugänge unddie Lernsoftware des digitalen Archivs„Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungund Geschichte“ an der FU Berlin erläu-tert. Die Nutzung dieses Zeitzeugen-archivs bietet sich als Ergänzungs- undVertiefungsmöglichkeit zu dem Braun-schweiger Angebot an. Die Veran-staltung wurde durch die Stiftung „Er-innerung, Verantwortung und Zukunft“,Berlin, gefördert.

    Die Umsetzung des Themenbereichs„Verfolgung der Juden“ in ein vergleich-bares außerschulisches Unterrichts-modell steht noch aus, da der Stand dervorbereitenden Recherchearbeiten die-sen Arbeitsschritt bislang noch nicht zu-ließ. Auch fehlt eine Lösung für das Pro-blem, dass vermutlich nur wenige Lehr-kräfte das jetzt ausgearbeiteteUnterrichtsangebot ohne personelle Un-terstützung der Gedenkstätte nutzenwerden. Hier ist zu überlegen, ob eineGewinnung und Qualifizierung von Mit-arbeitern auf Honorarbasis eineLösungsvariante darstellt. Frau Haugwies auch darauf hin, dass die in derGedenkstätte eingehenden Unter-stützungsgesuche von Schulen ein vielbreiteres thematisches Spektrum umfas-sen, als mit zwei Angeboten abzudeckenist. So führte sie mit einer Oberstufen-klasse des Gymnasiums Kleine Burg ei-nen Projekttag zur 170-jährigen Denk-

    malsgeschichte des Gedenkortes Schill-straße durch.

    In den bisherigen Überlegungen zurpädagogischen Arbeit in der Gedenkstät-te – das wurde durch Verenas HaugsArbeit deutlich – ist bislang noch wenigreflektiert, wie noch besser den sehr un-terschiedlichen Zugangsweisen und Ge-schichtsbildern bei heutigen Jugendli-chen in der Migrationsgesellschaft ent-sprochen werden kann. Frau Haug ent-wickelte deshalb Überlegungen zu einerProjektfortführung, die Zugänge überFormen kultureller Bildung und die Be-zugnahme auf das Offene Archiv alsKunstwerk erproben soll. Es ist ange-strebt, einen weiteren Arbeitsschritt indieser Richtung mittels einer erneutenFörderung im Jahr 2011 anzugehen.

    Erforschung der Regional-geschichte

    Recherche „Verfolgung der Judenin Braunschweig 1933 – 1945“

    Mit einem ursprünglich auf drei Mo-nate angelegten Rechercheprojekt beab-sichtigte der Arbeitskreis, erst in denletzten Jahren zugänglich gewordeneBehördenakten in den hiesigen Archivenüber die Verfolgung der Juden zu sich-ten. Die Stiftung Nord/LB-Öffentlichebewilligte 2009 eine Förderung, die esermöglichte, Frank Ehrhardt ab Dezem-ber vorübergehend für diese Aufgabe frei-zustellen. Das Projekt soll nicht alleineinen Beitrag zur weiteren Erforschungder Re-gionalgeschichte des Nationalso-zialismus leisten. Es dient auch dazu,eine zusätzliche Kompetenz in der Beur-teilung der Quellenlage zu einem zentra-len Thema dieser Geschichte zu erwer-ben, die bei der Entwicklung künftigerVorhaben des Arbeitskreises –insbesondere bei der Arbeit in der Ge-denkstätte KZ-Außenlager Schillstraße– genutzt werden kann und Grundlagefür die Beratung von Schulgruppen unddie Entwicklung pädagogischer Angebo-te ist.

    Grundsätzlich ist zuerst festzustellen,dass sich die in den hiesigen Archivenaufgefundenen Bestände als sehr vielumfänglicher und ergiebiger als vermu-tet erwiesen. Wäre die Frage nach derVerfolgung der Braunschweiger Judennoch vor wenigen Jahren mit dem Hin-weis auf den Mangel an vorhandenenQuellen beantwortet worden – so sindz.B. keine Akten der für das Verfol-

    gungsgeschehen entscheidenden lokalenGestapo bekannt –, so konnte durch dieRecherche festgestellt werden, dassinzwischen eine Vielzahl von Vorgängenerschlossen sind, die es erlauben, zu fastjedem jüdischen Verfolgten Informatio-nen zu gewinnen. In das Blickfeld rückendabei Behörden, deren Beteiligung – vorallem an der Ausplünderung der Verfolg-ten – erst in den letzten Jahren Aufmerk-samkeit fand, wie zum Beispiel Finanz-ämter oder städtische Immobilienver-waltungen. Der bei ihnen überlieferteSchriftverkehr gibt auch zahlreiche Hin-weise auf Zwangsmaßnahmen durch dieVerfolgungsbehörden, deren Akten ver-mutlich vernichtet wurden.

    Recherchen fanden bislang im Stadt-archiv Braunschweig und im Nieder-sächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttelstatt.

    Im Stadtarchiv ist ein neu erschlos-sener Bestand von großem Interesse. Eshandelt sich um die Akten des städti-schen Grundstücksamtes. Hierin sindVorgänge enthalten, die die städtischenBestrebungen zum Ankauf von Grund-stücken vormals jüdischer Eigner ab1938 dokumentieren. Die Kommunewollte einen Großteil der Grundstückeerwerben, um Immobilien zum Aus-tausch für „arische“ Eigner zu haben,deren Häuser für die Anlage eines vorKriegsausbruch geplanten neuen Haupt-bahnhofs benötigt wurden. 45 Grundstü-cke gerieten in das Blickfeld der städti-schen Behörden, 13 Grundstücke kamenletztlich für längere Zeit in städtischenBesitz.

    Im Staatsarchiv fielen mehrere Ak-ten auf, die Staatsangehörigkeitsfragenbetreffen. Diese sind von Bedeutung, daein erheblicher Teil der jüdischen Ein-wohner Braunschweigs staatenlos oderpolnischer Nationalität war oder ihnendie in den 20er Jahren zuerkannte deut-sche Staatsangehörigkeit 1933 wiederaberkannt wurde. Die Nationalsozialis-ten, die schon frühzeitig an der Braun-schweigischen Landesregierung beteiligtwaren, scheinen schon in der WeimarerRepublik auf die Ausgrenzung dieserGruppe der Juden hingewirkt zu haben.Ein größerer Bestand (siehe Signatur 12Neu 13 45300 ff.) enthält Akten der Ver-waltung staatlicher Grundstücke. Da-runter ist eine Reihe von Immobilien, dieaus dem Besitz jüdischer Eigner durchdie Landesverwaltung übernommenwurden. Ein im Staatsarchiv neu er-schlossener Bestand sind die Akten der

  • Rundbrief 1/11 7

    Devisenstelle Braunschweig des Ober-finanzpräsidenten Hannover (18 R Zg.17/2001 ). Die Devisenstelle erhielt abetwa 1938 große Bedeutung bei der er-zwungenen Auswanderung, in deren Zu-sammenhang sie sehr weitreichendeSicherstellungen auf die Vermögen derEmigrierenden verhängen konnte. Einzweiter Bestand aus der Finanzverwal-tung verdient ebensolche Beachtung: dieBestände des Finanzamtes Braun-schweig-Stadt, die unter 15 R 2 Zg 16/2003 verzeichnet sind. Mit der Emigra-tion, aber auch mit der Deportation indie Gettos und Vernichtungslager fielendie Grundstücke und anderen Vermö-gensbestandteile, die noch im Besitz derdeutschen Juden waren, an das DeutscheReich. Das Finanzamt Braunschweig-Stadt bewirtschaftete insofern zahlreicheImmobilien früherer jüdischer Besitzer,aber auch meist in der Liquidation be-findliche, nicht „arisierte“ Firmen.

    Eine weitere große Bestandsgruppedes Staatsarchivs Wolfenbüttel sind dieAkten der Entschädigungs- und Wieder-gutmachungsverfahren der Nachkriegs-jahre. Für die Rekonstruktion der Verfol-gungsmaßnahmen haben sie große Be-deutung, da sie Schilderungen der Be-troffenen enthalten und in einer Reihevon Vorgängen auch Aussagen von Zeu-gen, um die Glaubwürdigkeit der Anga-ben, die sich nicht aus Behördenakten re-konstruieren ließen, zu belegen.

    Teilweise parallel zur Sichtung dergenannten und zahlreicher weiterer Ak-tenbestände wurde vom Projektbe-arbeiter im Sommersemester 2010 eineals Übung durchgeführte Lehrveranstal-tung am Historischen Seminar der TUBraunschweig angeboten, die mit 25 Stu-dierenden gut besucht war. In vierzehnSitzungen wurden Quellen vorgestelltund mit den Studierenden besprochen,die die Verfolgung der BraunschweigerJuden behandeln. Für den Projekt-bearbeiter war dieses eine produktiveArbeitsform, da er so Quelleninterpre-tationen in der Diskussion mit den Stu-dierenden überprüfen konnte.

    Die Dokumentation der bisherigenRechercheergebnisse in auch für fremdeLeser nachvollziehbaren Textdateien bie-tet eine Grundlage bei der Beratung vonSchulen und anderen Interessierten. Die-ses wird – neben einer Veröffentlichung,deren inhaltlicher Schwerpunkt undCharakter noch zu erörtern ist – ein dau-erhafter Gewinn aus dem Projekt blei-ben.

    Vermittlung der Regional-geschichte

    Geschichtsfest in der Brunsviga

    Am 8. Mai 2010 lud der Arbeitskreiszu einem „Geschichtsfest“ in das Kultur-zentrum Brunsviga. Kooperations-partner bei der Durchführung war dieStiftung Leben und Umwelt – HeinrichBöll-Stiftung Niedersachsen, wesentli-cher Förderer die Stiftung Braun-schweigischer Kulturbesitz.

    Ulrich Ludewig, Sebastian Wertmüller(DGB) und Gedenkstättenleiterin ElkeZacharias waren hier Diskussions-partner.

    Um 18.00 Uhr eröffneten Grußan-sprachen des VereinsvorsitzendenReinhard Bein und der designiertenKulturdezernentin Dr. Anja Hesse dieanschließende Plenumsveranstaltung.

    Dr. Bernd Rother, Prof. Dr. Adelheidvon Saldern und Jonathan Voges bestrit-ten ein Podiumsgespräch über die bishe-rige Arbeit und künftige Perspektivender Geschichtswerkstätten. Die Ausfüh-

    Den ersten nachmittäglichen Teil derVeranstaltung machten vier Workshopsaus: Geschichtsdarstellung im Internetwurde durch die MedienpädagoginChristine Linne an mehreren Terminalsmit den Teilnehmenden erkundet. Par-allel diskutierte ein gut besuchtes Teil-plenum zeitgemäße Zugänge zur Ge-schichte einzelner Stadtteile. Übermigrationsgeschichtliche Ansätze sprachDr. Lars Amenda, künstlerische Ausei-nandersetzungen mit einem Stadtviertelerläuterte Pia Kranz am Beispiel einesProjekts des Braunschweiger Allgem.Konsumvereins. In einem Workshopüber Regionalgeschichte nach 1945sprach der Dramaturg Gilbert Holzgangüber den Brauschweiger Remer-Prozessals Theaterinszenierung und UweHildebrand über journalistische Recher-chen zur örtlichen Studentenbewegung.Die bei weitem meiste Resonanz hatte einviertes Angebot über die Aktualität ei-ner Regionalgeschichte des Nationalso-zialismus. Der Historiker Dr. Hans-

    rungen unterstrichen die große Rolle, diediese ab Mitte der 80er Jahre bundes-weit entstandenen Vereinigungen zurAusprägung kommunaler Geschichts-kultur hatten. Im Anschluss lud der Ver-ein zu einem Büffet und einem Konzertmit der Gruppe „Mind the Gap“ ein.

    Mit über hundert Teilnehmenden wardie Veranstaltung gut besucht. Dabeiwar die Resonanz auf die nachmittägli-chen Workshops schon herausragend.Weitere Interessierte kamen zu Festan-sprachen und Podiumsdiskussion, einzel-ne auch nur zu Abendessen und Musik.Unter den Teilnehmenden war etwa dieHälfte Vereinsmitglied. Hinzu kamenRepräsentanten der Stadt, Fachwissen-schaftler, Kulturschaffende, Gewerk-schafter und Journalisten.

    Die Braunschweiger Zeitung veröf-fentlichte einen ausführlichen Vorab-bericht.

    Unverkennbar ist, dass das„Geschichtsfest“ eine geeignete Veran-staltung war, um ein starkes ehrenamt-

    Vereinsvorsitzender Reinhard Bein begrüßt zum Geschichtsfest am 8.5.2010.Foto: Alexander Gräbner

  • 8 Rundbrief 1/11

    liches Engagement innerhalb des Ver-eins auszulösen. So gab es eine zehn-köpfige Vorbereitungsgruppe der Ta-gung, die inhaltliche und organisatori-sche Aspekte in einer einjährigen Vor-bereitungsphase klärte. Hinzu kamenweitere Helfer bei der konkreten Durch-führung (Tagungsbüro, Moderationen,Aufbau von Ausstellungen…). OhneZweifel wird der Verein auch künftig vondieser geglückten Zusammenarbeit pro-fitieren.

    Veröffentlichungen

    Eine anlässlich des Vereinsjubiläumsunter dem Titel „Braunschweigs andereGeschichte – 25 Jahre gemeinsam for-schen – vermitteln – präsentieren“ ver-öffentlichte Schrift führt auf 68 SeitenBeiträge zusammen, die die Arbeit desVereins diskutieren oder die Rahmen-bedingungen der Tätigkeit beschreiben.Die Stiftung Braunschweigischer Kultur-besitz förderte den Band.Er führt folgende Aufsätze zusammen:• Dr. Bernd Rother: Der Beitrag desArbeitskreises zur Erforschung derBraunschweiger Sozial- und Zeitge-schichte.• Frank Ehrhardt: Geschichte vor Ort.25 Jahre Vermittlung BraunschweigerRegionalgeschichte.• Dr. Elke Flake: Von der alternativenGegenkultur zur integrierten Stadt-kultur? 30 Jahre freie Kultur und kom-munale Kulturpolitik in einer Durch-schnittsstadt.• Jonathan Voges: Resignation oderAufbruch? Zur gegenwärtigen Situationder Geschichtswerkstätten.• Dr. Anja Hesse: Braunschweig – eine

    Stadt in Deutschland erinnert sich.• Dr. Habbo Knoch: Ein Ort andererGeschichte. Die Gedenkstätte Schill-straße als erinnerndes Archiv.• Verena Haug: Lernort Offenes Archiv– Pädagogische Perspektiven für die Ge-denkstätte.• Beate Hornack: 25 Jahre – eine chro-nologische Übersicht.

    Eingeleitet wird die Schrift durch einGrußwort des Oberbürgermeisters Dr.Gerd Hoffmann und einen Beitrag desVereinsvorsitzenden Reinhard Bein, denAbschluss bildet ein Verzeichnis der Ver-öffentlichungen. Durch die graphischeWerkstatt Hinz und Kunst wurde dieSchrift illustriert und ansprechend ge-staltet. Von der Veröffentlichung wur-den 500 Exemplare hergestellt. Etwa 300sind zur Jahreswende 2010/2011 ausge-

    liefert. Ein Großteil wurde durch Teil-nehmer der Jubiläumsveranstaltung, In-teressierte und Vereinsmitglieder beiVeranstaltungen gegen eine Schutzge-bühr erworben. Ein weiteres Kontingentwurde Kooperationspartnern, vergleich-baren Geschichtseinrichtungen undFörderern des Vereins zugeleitet. Eini-ge Exemplare wurden auf Fachtagungenausgelegt, eine kleine Menge durch denBuchhandel verkauft.

    Im Jahr 2002 war die Veröffentli-chung „Braunschweiger Frauen. Gesternund heute“ herausgegeben worden, diesechs Spaziergänge zur GeschichteBraunschweiger Frauen vorstellt. Dieaufgrund des großen Interesses bereitszweimal nachgedruckte Publikation istseit längerem vergriffen. Eine Unterstüt-zung der Frauenbeauftragten der StadtBraunschweig ermöglicht nun eine wei-tere Auflage, die allerdings um einenSpaziergang zu Lebensstationen derSchriftstellerin Ricarda Huch (siehe Spa-ziergänge…) erweitert werden sollte.Sabine Ahrens, Elisabeth Flachowskyund Lena Kreie erarbeiteten die Ergän-zung und veränderten den Aufbau desBandes. Anfang 2011 wird der Bandwieder im Buchhandel erhältlich sein.

    Eine weitere Veröffentlichung ist inVorbereitung. Seit Sommer 2010 trifftsich eine Arbeitsgruppe, an der ReinhardBein, Regina Blume, Hans-GüntherHalbeisen, Gudrun Hirschmann, GilbertHolzgang, Almuth Rohloff und SusanneWeihmann beteiligt sind. Ziel ist die Ent-wicklung eines weiteren Stadtführers,der den Arbeitstitel „Berühmte Braun-

    TeilnehmerderJubiläums-veranstaltungverfolgendas Podi-ums-gespräch.

    Foto: BeateHornack

    Spaziergang „Lebensstationen in Braunschweig – Auf den Spuren von RicardaHuch“ Foto: Beate Hornack

  • Rundbrief 1/11 9

    schweiger des 20. Jahrhunderts“ trägt.Vorgestellt werden sollen Persönlichkei-ten aus Politik, Kunst, Wissenschaft undLehre, Architektur, Wirtschaft, Unter-haltung und Sport, die über die Regionhinaus Bedeutung hatten.

    Braunschweiger Spaziergänge zurStadtteil- und Alltagsgeschichte

    Die Arbeitsgruppe zur Frauen-geschichte wirkte an der Initiative„frauenOrte Niedersachsen“ des Landes-frauenrates mit, das Leben und Wirkenbedeutender historischer Frauen-persönlichkeiten lebendig werden zu las-sen. Auf Einladung der Frauen-beauftragten der Stadt Braunschweigentwickelten Sabine Ahrens, ElisabethFlachowsky und Lena Kreie Stadtteil-spaziergänge auf den Spuren vonRicarda Huch. Außerdem waren sie ander Erstellung eines großformatigenFaltblatts mit Stationen zu Ricarda Huchbeteiligt, das zum Beginn des Führungs-programms vorlag. Nach einem gut be-suchten Eröffnungsspaziergang „Lebens-stationen in Braunschweig – Auf denSpuren von Ricarda Huch“ am 24.4.2010,über den auch die Braunschweiger Zei-tung berichtete, folgten am 15. und 30.Mai sowie am 12. und 20. Juni weitereFührungen, die entlang von unterschied-lichen Routen das Leben der Schrift-stellerin veranschaulichten.

    Aufgrund dieses Führungsangebotsbegann die seit 1993 jährlich durchge-führte öffentliche Reihe „Braunschweiger

    Spaziergänge zur Alltags und Stadtteil-geschichte“ diesmal erst im Herbst. Siewurde von Isolde Saalmann organisiertund umfasste folgende Führungen:• 14.9. Klaus Hoffmann: Industrie-kultur im Westlichen Ringgebiet• 2.10. Sabine Ahrens: Ausgestoßen –Frauen am Rande der Gesellschaft• 16.10. Karl Heinz Löffelsend: Wan-derung auf den Wallanlagen• 23.10. Sabine Ahrens: Ölper – einDorf im Wandel

    Die zuletzt genannte, von SabineAhrens erstmals angebotene Führungstieß auf besonders starkes Publikums-interesse. Weitere Führungen wurdenvon Sabine Ahrens und Frank Ehrhardtaußerhalb des öffentlichen Programmsfür anfragende Gruppen durchgeführt.

    Studienfahrten

    Eine Wochenendfahrt des Vereinsführte am 17./18.4. nach Hamburg. Dasbesondere Interesse der Mitreisendenrichtete sich auf die Tätigkeit vonGeschichtsinitiativen in der Hafenstadt.So besuchten die Teilnehmer dieWilhelmsburger Geschichtswerkstatt inder Honigfabrik und informierte sichüber ein Umnutzungskonzept für einenLuftschutzbunker. Am Sonntag unter-nahm Wilfried Weinke mit den Besu-chern einen sehr kompetent geleitetenRundgang zur jüdischen Geschichte desGrindelviertels. Ein kulturelles High-light war der abendliche Besuch einerWoyzeck-Aufführung des Thalia-Thea-

    ters mit Musik von Tom Waits.Die jährlich stattfindende Bildungs-

    reise im September führte eine Gruppevon 27 Teilnehmern nach Erfurt. Schwer-punkte waren thüringische Landesge-schichte, Volkskunde und Aspekte desWirtschaftslebens, Stationen der Fahrtwaren Erfurt, Bad Frankenhausen,Arnstadt und Gotha. Organisiert undmoderiert wurde die Bildungsreise vonReinhard Bein und Regina Blume.

    Sonstiges

    Martin Kayser zeichnete für die Er-stellung von zwei Mitgliederrundbriefenmit insgesamt 24 Seiten verantwortlich,die neben der Ankündigung von Veran-staltungen und der Wiedergabe von Ver-einsnachrichten auch eine Reihe von Re-zensionen von regionalgeschichtlichenNeuerscheinungen enthielten. IsoldeSaalmann aktualisierte die im Vorjahrentwickelte Internetseite unterwww.andere-geschichte.de.

    Die Grafikagentur Hinz und Kunststellte im November ihre Räume für diePräsentation einer Auswahl von histori-schen Fotografien aus bisherigen Ausstel-lungen des Vereins zur Verfügung undmachte so auf die langjährige Zusammen-arbeit mit dem Arbeitskreis aufmerksam.

    Vereinsgeschäftsführer Frank Ehr-hardt hielt im Berichtsjahr mehrere Vor-träge, so u.a. auf Einladung der Gesell-schaft für christlich-jüdische Zusammen-arbeit zu dem 100sten Todestag von MaxJüdel.

    Perspektiven

    In einer vereinsöffentlichen Pla-nungssitzung am 30. Oktober befasstensich Mitglieder und Vorstand im An-schluss an die Diskussionen des Vereins-jubiläums mit zukünftigen Vorhabenaußerhalb der Gedenkstätte. Ausführlichwurde über Spaziergängeprogramm undStudienfahrten gesprochen. Ob darüberhinaus noch neue regionalgeschichtlicheThemen – wie z.B. die Geschichte derMigranten in Braunschweig – aufgegrif-fen werden können, bedarf noch weite-rer Überlegungen.

    Frank Ehrhardt Reinhard BeinGeschäftsführer Vorsitzender

    Mit Wilfried Weinke im Hamburger Grindelviertel. Foto: Martin Kayser

  • 10 Rundbrief 1/11

    Die frühen Nachkriegsjahre botenvielerorts in Westdeutschland eine be-achtliche Offenheit für gesellschaftlicheReformimpulse. Unter den aus der Emi-gration Zurückgekehrten und denen, diein der Nazizeit „überwintert“ hatten,waren einige, die die politischen und so-zialen Ideale aus der Weimarer Repub-lik noch in sich trugen und jetzt nachGestaltungsmöglichkeiten suchten. Dasließ sich auch für Braunschweig beobach-ten. Persönlichkeiten wie Fritz Bauer,Helmut von Bracken, Georg Eckert,Heinrich Rodenstein, Curt Staff sind Bei-spiele, die für sehr unterschiedliche poli-tische Handlungsbereiche stehen. Diemeisten der von diesen engagierten De-mokraten verfolgten Reformansätze wur-den jedoch bald im restaurativen Klimader 1950er Jahre wieder ausgebremst.

    Wilhelm Pieper hat dieses Thema nunin einem hier vorzustellenden Buch, daszugleich eine Dissertationsschrift ist, fürden Bereich der Schulreform aufgearbei-tet. Das Beispiel, das er untersucht, istdie Niedersächsische Erziehungsstätte,die im Gebäudekomplex des früherenLuftflottenkommandos auf demFranzschen Feld 1948 ihre Tätigkeit auf-nahm. Dieses Braunschweiger Modell-projekt hatte schon aufgrund seiner Grö-ße eine niedersachsenweite Ausstrah-lung. Es integrierte eine achtstufigeVolksschule für den Stadtteil, mit derausgebombten Raabeschule ein Gymna-sium, einen Kindergarten, eine Fach-schule für Kindergärtnerinnen, dieLandeswohlfahrtsschule, eine Vor-studienanstalt, aus der später dasBraunschweig-Kolleg entstand, undzeitweise auch Teile des Großen Waisen-hauses. Eine enge pädagogische Zusam-menarbeit und Verzahnung dieserBildungseinrichtungen sollten ein Opti-mum an Förderung individueller Bega-bungen anstreben und die geringe Durch-lässigkeit des dreigliedrigen Schulsys-tems überwinden helfen. Die BritischeBesatzungsmacht hatte den gewaltigen– aber eigentlich für die Zwecke wenigtauglichen – Militärverwaltungskomplexam Nußberg für den Modellversuch zurVerfügung gestellt und damit eine in derNachkriegsgesellschaft schwergewichtigeVoraussetzung geschaffen.

    Wilhelm Pieper beschreibt mit biogra-fischen Daten den Hintergrund der im

    niedersächsischen Kultusministeriumtätigen Reformer um Hans Alfken undKarl Turn, die unter Leitung des Minis-ters Adolf Grimme mit großer Energiein den ausgehenden 1940er Jahren dieRealisierung des Modellvorhabens be-trieben. Mit dem Wechsel zum eher prag-matischen Kultusminister Richard VoigtEnde 1948 sieht der Autor aber schoneine Veränderung, was die politischeRückendeckung für das BraunschweigerVorhaben angeht. Die Ausgestaltung desModellvorhabens habe sich in den 50erJahren auf die unzureichenden undnicht mehr veränderbaren Rahmen-bedingungen beschränken müssen. DieImpulse seien dann eher von den Prak-tikern in der Schule ausgegangen, wo-bei er den Direktor der RaabeschuleHerbert Langner als die überragendePersönlichkeit charakterisiert.

    te ab der fünften Klasse neben einemStammunterricht für alle eine Differen-zierung in ein System von Kursan-geboten bei Sprachen, Mathematik undNaturwissenschaften, die es erfolgrei-chen Teilnehmern am Ende der 8. Klas-se ermöglichen sollte, in die Mittel- oderOberschule überzugehen. Dabei wurdendie Differenzierungskurse durch Lehr-kräfte der oft später aufnehmendenRaabeschule unterrichtet. Etwa 30 % derAbsolventen des Mittelbaus nutzten diespätere Eintrittsmöglichkeit in das wei-terführende Schulwesen, zu etwa glei-chen Teilen auf Realschule und Gymna-sium verteilt. Mit diesen Übergangs-quoten und dem beachtlichen Anteil derfrüheren Mittelbauabgänger an den Ab-solventen der Raabeschule lag derBraunschweiger Schulversuch an derSpitze aller niedersächsischen Reform-projekte, die eine bessere Durchlässigkeitzwischen der Volksschule und der höhe-ren Schulbildung zum Ziel hatten. -

    Neben der Beteiligung an diesemSchulversuch zeichnete das GymnasiumRaabeschule ein koedukativer Unter-richt von Jungen und Mädchen sowie einKern-Kurs-System aus, das den Schülernbereits die Auswahl vielfältiger Fächer-kombinationen in der Oberstufe erlaub-te.

    Zurückhaltend versucht Pieper dieQualität der beiden zentralen Schulen inder Niedersächsischen Erziehungsstättenach den Kriterien Leistung, Umgangmit Vielfalt, Unterrichtsqualität, Verant-wortung, Schulklima und Schule als ler-nende Organisation zu bewerten. Soidentifiziert er neben einem generellenAusschluss von Qualitätsmängeln her-ausragende Leistungen in musischenFächern, weist am Beispiel von mehre-ren Fällen darauf hin, wie intensiv sichSchulleiter und Lehrkräfte um einzelne„auffällig gewordene“ Schüler geküm-mert haben, kann generell ein gutes Ver-hältnis zwischen Lehrern und Schülernerkennen und hebt das vielseitige Schul-leben hervor, dessen Höhepunkte die le-gendären „Treppenfeste“ waren.

    Mit der Aufstellung der Bundeswehrwuchs Ende der 50er Jahre das Interes-se des Bundes an dem Gebäudekomplex,der im Rahmen eines Vergleichs ab 1963tatsächlich dem Bund zufiel. Der Plan,die Einzelschulen der Erziehungsstätte

    Wilhelm Pieper erinnert an die Niedersächsische Erziehungsstätte

    Schulreform im Luftwaffenkommando

    Im Kern reduzierte sich das Reform-vorhaben auf die Zusammenarbeit zwi-schen Volksschule als damaliger Regel-schule und Gymnasium, wobei derlandesweite Schulversuch „Differenzier-ter Mittelbau“ in der Volksschule zwi-schen 1950 und 1965 den schul-rechtlichen Rahmen bot. Dieser erlaub-

    Wilhelm Pieper, NiedersächsischeSchulreform im Luftflottenkomman-do. Von der Niedersächsischen Er-ziehungsstätte zur IGS FranzschesFeld. Bad Heilbrunn 2009, 314 Sei-ten, 36,- Euro.

  • Rundbrief 1/11 11

    in einem neuen Schulzentrum auf demHeidberg zu integrieren, wurde nicht rea-lisiert. Für Pieper steht das Ausscheidenvon Raabeschuldirektors HerbertLangner symptomatisch für den weitge-henden Abschied von schulreformer-ischen Ambitionen in dieser Zeit.Langner, den als Junglehrer die Tätig-keit in der dann von den Nazis geschlos-senen Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln prägte, und der in seinemDienstzimmer in der Raabeschule eineFotografie des nun in der DDR lebendenSchulreformers Paul Oestreich ausstell-te, war allein schon deshalb für viele Zeit-genossen des Kalten Kriegs eine Provo-kation. Eine Verteidigung seines Vor-bilds Oestreich und eine grundsätzlicheKritik an der selektiven Wirkung des inder Bundesrepublik bestehenden Schul-systems in einer Abiturrede 1958 mehr-ten die Vorbehalte der Schulbehörde, sodass die Meldung von Eltern, Langnerhabe wiederholt Schüler ungebührlichgeschlagen, den willkommenen Anlassfür sein vorzeitiges Ausscheiden aus derLeitung der Schule 1961 gab.

    Für Pieper sind viele der von Langnerund anderen Schulreformern der 1950ergeäußerte Kritikpunkte am traditionel-len deutschen Schulsystem von hoherAktualität. Mit großem Erstaunen muss-te er bei der Beschäftigung mit der Ge-schichte konstatieren, dass die Gesamt-schulentwickler der 1970er Jahre keineVorstellung davon hatten, dass ihre Vor-gänger zwanzig Jahre früher bereits Lö-sungen für ähnliche Problemstellungengesucht hatten. Seine kompetente Dar-stellung über die Niedersächsische Er-ziehungsstätte trägt dazu bei, dass sichein solcher Geschichtsverlust nicht wie-derholt, und setzt den Reformern derNachkriegszeit ein angemessenes Denk-mal.

    Frank Ehrhardt

    Impressum

    Herausgeber: Herausgeber: Herausgeber: Herausgeber: Herausgeber: Arbeitskreis Andere Geschichtee. V., Kramerstr. 25, 38122 BraunschweigTelefon: 0531 - 18957Verantwortlich: Verantwortlich: Verantwortlich: Verantwortlich: Verantwortlich: Martin KayserMitarbeiter dieses Rundbriefes:Mitarbeiter dieses Rundbriefes:Mitarbeiter dieses Rundbriefes:Mitarbeiter dieses Rundbriefes:Mitarbeiter dieses Rundbriefes: SabineAhrens, Reinhard Bein, Frank Ehrhardt,Gustav Partington, Isolde Saalmann

    Druck:Druck:Druck:Druck:Druck: Reese, BraunschweigBankverbindung Bankverbindung Bankverbindung Bankverbindung Bankverbindung undSpendenkonto des Arbeitskreises:Konto 371 203 307 BLZ 250 100 30bei der Postbank Hannover

    Pünktlich mit Erscheinen des Früh-lings kommt auch die Neuauflage desBandes „Braunschweiger Frauen:gestern und heute -: sechs Spaziergän-ge“ heraus. Da auch nach zehn Jahrennoch immer eine große Nachfrage be-steht, hat sich der Arbeitskreis AndereGeschichte dazu entschieden, nun nocheine vierte Auflage drucken zu lassen.

    schweiger Gleichstellungsreferat hat dasTeam der Autorinnen für das ProjektfrauenORTE Niedersachsen einen Rund-gang zusammengestellt, der dem Lebens-weg einer der bedeutendsten Schriftstel-lerinnen des 20. Jahrhunderts folgt: derBraunschweigerin Ricarda Huch. Siepromovierte als eine der ersten deut-schen Frauen, was ihr damals nur in derSchweiz möglich war, bestritt mit derVeröffentlichung ihrer Werke den eige-nen Lebensunterhalt und löste sich un-geachtet der damit verbundenen Skan-dale aus zwei gescheiterten Ehen.

    Der Rundgang auf den Spuren Ricar-da Huchs ist im vergangenen Jahr mehr-fach erfolgreich angeboten worden. Wäh-rend des ersten Spaziergangs wurde eineGedenktafel an ihrem zeitweiligenWohnhaus am Bruchtorwall angebracht.

    Wer zum Osterfest bei (hoffentlich)strahlendem Frühlingwetter den Lebens-wegen bedeutender und interessanterFrauen folgen möchte, kann das Buch abApril zu einem Preis von 8,90 Euro imeinschlägigen Buchhandel oder beimArbeitskreis Andere Geschichte erwer-ben.

    Sabine Ahrens

    Neuauflage des Frauenbuchserscheint

    Vom 23.07. bis 6.8.2011 wird in derGedenkstätte ein deutsch-polnisch-ukra-inisches Workcamp stattfinden, daswiederum in Zusammenarbeit mit demService Civil International angebotenwird. Die Teilnehmerinnen und Teilneh-mer werden sich mit einer unbekannte-ren Opfergruppe befassen: displacedpersons, kurz DP genannt. In Folge desKrieges waren Millionen von Menschen,vor allem aus den osteuropäischen Län-dern, von Zwangsmigration betroffen.Die Mehrheit kehrte zwar nach 1945 inihre Heimat zurück, aber bis 1949 befan-den sich noch über 100 000 DPs in örtli-chen Lager- und Barackenunterkünfte.Einige der Betroffenen haben (West-)Deutschland nie wieder verlassen undihre Nachkommen leben auch heute hier.Braunschweig war vor allem ein Sam-melbecken für polnische und ukrainische

    Jugendcamp im Sommer 2011Displaced persons und heimatlose Ausländer imNachkriegsdeutschland

    DPs.Unter fachlicher Anleitung von Anne-

    Kathrin Topp, die bereits 2009 ein ver-gleichbares Camp betreute, werden sichjunge Leute auf die Spuren der Lebens-wege dieser Menschen begeben undanhand persönlicher Gespräche mit Be-troffenen und deren Familien, Archiv-recherchen, Fotoalben etc. erfahren, wasmit ihnen nach 1945 geschah. Dabei wer-den sie auf verschiedene Generationenvon Polen und Ukrainern in West-deutschland stoßen. Ein Kurzfilm soll amEnde des Workcamps die Lebenswegeder DPs und die Erfahrungen mit ihnenwiedergeben.

    Jugendliche Interessenten (zwischen18 und 25 Jahren) an der Begegnungsind noch willkommen und melden sicham besten in der Gedenkstätte.

    Frank Ehrhardt

    Aus den ursprünglich sechs Spazier-gängen sind inzwischen sieben gewor-den. In Zusammenarbeit mit dem Braun-

  • 12 Rundbrief 1/11

    Ich möchte Mitglied im ArbeitskreisAndere Geschichte e.V. werden.

    Der jährliche Mitgliedsbeitrag von

    0 50,- Euro (Grundbetrag)0 60,- Euro (oder ein höherer

    Förderbetrag von ins-gesamt .............,- Euro)

    0 15,- Euro (ermäßigt)

    0 wird von mir überwiesen aufdas Konto Nr. 371 203 307bei der Postbank HannoverBLZ 250 100 300

    0 soll von meinem Konto abge-bucht werden

    Konto-Nr.:

    ...............................................................Bankleitzahl:

    ................................................................Bank

    ................................................................Ich ermächtige den Arbeitskreis An-dere Geschichte e.V. widerruflich,meinen Mitgliedsbeitrag von meinemKonto mittels Lastschrift einzuziehen.Wenn das Konto nicht die erforderli-che Deckung aufweist, besteht für daskontoführende Kreditinstitut keine Ver-pflichtung zur Einlösung.

    (Datum) (Unterschrift)

    Name, Vorname:

    Anschrift

    E-Mail:

    Bitte ausschneiden undabgeben oder übersenden

    Beitrittserklärung

    Programm der geplantenStudienfahrt 2011 in die Nordeifel

    Freitag 2.9. 2011

    1. 8.00 Uhr Abfahrt von der Gedenkstät-te2. Deutsches Bergbaumuseum inBochum (älteste und größte Schau-An-lage weltweit) F3. Gedenkstätte Bochum (Friedhofsan-lage aus der NS-Zeit, gedacht für SS-Grö-ßen, aber seit 1939 Hauptfriedhof mitGräbern von Bombenopfern und Zwangs-arbeitern) R4. Fahrt nach Rurberg am Rurstauseezum Hotel PaulushofGemeinsames Abendessen im Paulushof(Buffet)

    Sonnabend 3.9. 2011

    1. Ehemalige NS-Ordensburg Vogel-sang am Urftstausee (unverändert er-halten wegen der bisherigen Nutzung alsbelgische Kaserne) F2. Heimbach am Rurstausee (Besuchdes größten Wasserkraftwerkes der Welt

    um 1900, heute einziges Wasserkraft-werk im Jugendstil) F3. Kriegsgräberanlage (2. Weltkrieg)beim Trappistenkloster Mariawald beiHeimbach, Schicksal von Mönchen in derNS-Zeit R

    4. Historische Altstadt von Mon-schau an der Rur (mögliche Führungdurch das Rote Haus, stattliches Bürger-haus eines Tuchhändlers F)

    Sonntag 4.9. 2011

    1. Aachen (Kaiserdom und Domschatz)F2. Mayschoss im Ahrtal (Besuch der äl-testen genossenschaftlichen Weinkellereider Welt mit anschließender VerkostungF und möglichem Imbiss)3. Rückfahrt nach Braunschweig (Rück-kehr gegen 20.00 Uhr)

    F Führung durch qualifizierte OrtskräfteR Führung durch die Reiseleitung

    Reisekosten: 185 Euro p.P. im Doppel-zimmer, 210 Euro im Einzelzimmer.Wir haben 15 DZ und 10 EZ geordert undwüssten gern recht bald von Euch, ob Ihrmitfahren wollt, damit wir planen kön-nen (Bus, Führungen usw.).Anmeldungen: Ab sofort beim Arbeits-kreis Andere Geschichte (Konto:371203307, Postbank BLZ 25010030).Mit einer Anzahlung von 50 Euro gilt dieReise als fest gebucht. Die Restkostensind ohne besondere Aufforderung bisvier Wochen vor Beginn der Reise zu zah-len.

    Jugendstil-kraftwerkHeimbach

    Foto:Reinhard

    Bein

    Vogelsang: Blick auf eines der Mann-schaftshäuser Foto: Reinhard Bein