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1 | 09 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte Der Bundespräsident und die Große Koalition • Gegen den Strom: Hans Vogel • Judentum in Schwaben •Taiwan

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1 | 0 9BayerischeLandeszentralefür politischeBildungsarbeit

Einsichtenund Perspektiven

B a y e r i s c h e Z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k u n d G e s c h i c h t e

Der Bundespräsident und die Große Koalition • Gegen den Strom: HansVogel • Judentum in Schwaben •Taiwan

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Veranstaltungshinweis Impressum

Einsichten

und Perspektiven

Verantwortlich:

Werner Karg,

Praterinsel 2,

80538 München

Redaktion:

Monika Franz, Werner Karg

Gestaltung:

Griesbeckdesign

www.griesbeckdesign.de

Druck:

creo Druck &

Medienservice GmbH,

Gutenbergstraße 1,

96050 Bamberg

Titelbilder: Hans Vogel

Fotos: Stefan Appelius (Berlin)

Die Landeszentrale konnte die Urhe-berrechte nicht bei allen Bildern dieserAusgabe ermitteln. Sie ist aber bereit,glaubhaft gemachte Ansprüche nach-träglich zu honorieren.

Autoren dieses Heftes

Apl. Prof. Dr. Stefan Appelius ist Publizist und Zeitgeschichtler,

er lebt in Berlin.

Prof. Dr. Peter J. Opitz ist emeritierter Professor für Politik-

wissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-

Maximilians-Universität München.

Prof. Dr. Heinrich Pehle lehrt Politikwissenschaft an der

Universität Erlangen-Nürnberg.

Prof. Dr. Susanne Ullmann hat die Professur für Landes-

geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

inne.

60 Jahre Bundesrepublik Deutschland,20 Jahre wiedervereinigtes Deutschland

Bilanzierungen und Schlussfolgerungen

Symposion der Landeszentrale im Dokumentationszentrum

Reichsparteitagsgelände

19. – 21. Juni 2009

Weitere Informationen und Anmeldung ab Mitte April

bei [email protected]

Einsichten und Perspekt iven

Einsichten und Perspektiven 1 | 092

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Heinrich PehleDer Bundespräsident und die Große Koalition:Anmerkungen zu Wahl und Amtsführung des Staats-oberhaupts

Stefan AppeliusGegen den Strom: Hans Vogel

Susanne UllmannSymposion Judentum in Schwaben

Peter J. OpitzTaiwan

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Inhalt

Einsichten und Perspekt iven

Einsichten und Perspektiven 1 | 09 3

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Der Bundespräsident und die Große Koal i t ion

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Foto: ullstein bild

Anmerkungen zu Wahl und Amtsführung des Staatsoberhaupts

Der Bundespräsidentund die Große Koalition:

Von Heinrich Pehle

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Der Bundespräsident und die Große Koal i t ion

Einsichten und Perspektiven 1 | 09 5

Auch wenn es sich nach allgemeiner Auffassung beim Prä-sidenten der Bundesrepublik Deutschland um ein „politischschwaches Staatsoberhaupt“1 handelt, wird seine Wahl vonden maßgeblichen politischen Akteuren traditionell sehrernst genommen.

Die politischen Parteien streiten ganz selbstverständlichund intensiv um die Besetzung des „höchsten Amts imStaate“. „Gezerre um die Wahl des Bundespräsidenten“2

hat es schon immer gegeben.

Dabei gilt ein Muster, das im Grunde bereits seit 1949 be-kannt ist. Schon Theodor Heuss verdankte 1949 seine Wahlletztlich der erklärten Absicht Konrad Adenauers, eine bür-gerliche Koalition zu bilden. Sein Vorschlag, den damaligenVorsitzenden der FDP zum Bundespräsidenten zu wählen,entsprang also dem Versuch, die Liberalen an sich zu bin-den und für ein Regierungsbündnis zu gewinnen. „Damit“,so Jürgen Hartmann und Udo Kempf in ihrem Standard-werk über Staatsoberhäupter in westlichen Demokratien,„war das Amt mit in den Kreis der bei Koalitionsgesprächenüblichen Personalentscheidungen einbezogen“.3

Dass die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundes-versammlung als „Richtungswahl“ für die Bundestags-wahlen zu instrumentalisieren versucht wird, kann bei-nahe schon als bundesdeutscher Normalfall betrachtetwerden.

Auch die Wahl Horst Köhlers im Jahr 2004 war eine solche„Richtungswahl“, die von Angela Merkel und Guido Wes-terwelle als Signal für die Ablösung der rot-grünen Koali-tion durch ein Bündnis aus Unionsparteien und FDP ge-plant war.4 „Angela Merkels Anspruch“, so schrieb Hans-Werner Kilz im Vorfeld der damaligen Kür des Präsidentenin der Süddeutschen Zeitung, „als erste Frau Kanzlerin der

Bundesrepublik Deutschland zu werden, steht und fällt mitder Wahl Köhlers zum Staatsoberhaupt.“5 Dass das Wahler-gebnis dieses Bündnis dann doch nicht ermöglichte, ändertauch rückblickend an dieser Einschätzung nichts.6

Die Bundesversammlung wird am 23. Mai 2009, alsovier Monate vor der Wahl zum Deutschen Bundestag,zusammentreten, um den nächsten Bundespräsidentenzu wählen. Die Unterstützung, die Horst Köhler fürseine Kandidatur für eine zweite Amtszeit von Seitender Unionsparteien und der FDP erhielt, und zwarschon bevor der Bundespräsident selbst seine Bereit-schaft dazu erklärte,7 darf zweifelsohne wiederum alskoalitionspolitisches Signal verstanden werden.

Die Führungskräfte von Union und FDP nutzen die Präsi-dentenwahl also als „unmittelbares Instrument für die Bun-destagswahl des Herbstes 2009“,8 denn sie machen durch dieUnterstützung eines gemeinsamen Kandidaten für das Prä-sidentenamt deutlich, dass sie ein gemeinsames Regierungs-bündnis auf Bundesebene anstreben.

Daraus ist ihnen kein Vorwurf zu machen. Es wäredies – und auch die Tatsache, dass die SPD mit GesineSchwan erneut eine Gegenkandidatin nominiert hat – nachdem bereits Gesagten auch nicht sonderlich bemerkens-wert. Und doch ist die Unterstützung, derer insbesonderedie Unionsparteien Horst Köhler versichert haben, keines-wegs selbstverständlich, gilt sie doch einem Präsidenten, mitdessen Amtsführung die Sozialdemokraten zumindest zeit-weise zufriedener waren als CDU-Politiker.9 Gerade ausUnionskreisen musste der Präsident wiederholt recht deut-liche Kritik einstecken.10 Sie bezog sich – nicht nur, aber vorallem – auf seine Rolle im Gesetzgebungsprozess und gip-felte in dem Vorwurf, der „erste Mann im Staate“ habe das„von der Verfassung vorgesehene Institutionengefüge inFrage“ gestellt.11 Nicht nur aktive Politiker, auch Politik-

1 Vgl. Manfred G. Schmidt, Das politische System Deutschlands, München 2007, S. 176.2 Jürgen Habermas, Die Wahl ist frei bis zum Schluss, in: Die ZEIT v. 13. 05. 2004, zit. n. http://www.zeit.de/2004/21/Bundespräsident

(05. 11. 2008).3 Jürgen Hartmann/Udo Kempf, Staatsoberhäupter in westlichen Demokratien. Strukturen, Funktionen und Probleme des „höchsten

Amtes“, Opladen 1989, S. 41.4 Vgl. dazu Habermas (wie Anm. 2). Mit dem Begriff der Richtungswahl spielt Habermas gleichzeitig auf die Wahl Gustav Heinemanns im

Jahr 1969 an, die allgemein als eine Art „Auftakt“ für die sozialliberale Koalition interpretiert wird. Vgl. ausführlich dazu Arnulf Baring,Machtwechsel – Die Ära Brandt-Scheel, München 1984, S. 102–123.

5 Hans-Werner Kilz, Reformer auf Widerruf, in: Süddeutsche Zeitung v. 21. 05. 2004, zit. n. http://www.sueddeutsche.de/ politik/113/393902/text/print.html (29. 12. 2008).

6 Vgl. Günter Bannas, Warten auf ein Wort des Amtsinhabers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22. 02. 2008, S. 3.7 Vgl. zum Beispiel Süddeutsche Zeitung v. 15./16. 03. 2008, S. 6 („Westerwelle: Köhler soll im Amt bleiben“) und Süddeutsche Zeitung

v. 18. 04. 2008 („Angela Merkel für zweite Amtszeit von Horst Köhler“).8 Robert Leicht, Gefesselt in Bellevue, in: Die ZEIT v. 20. 12. 2006, zit. n. http://www.zeit.de/2008/23/Bundespraesident (29. 12. 2008).9 Vgl. Bannas (wie Anm. 6).10 Vgl. etwa Robert Leicht, Der große Vorgesetzte, in: Die ZEIT v. 20. 12. 2006, zit. n. http://www.zeit.de/2006/52/Koehler (29. 12. 2008).11 So zitierte die Berliner Zeitung vom 13. 12. 2006, S. 5, unter der Überschrift „Union greift Köhler an“ den Ersten Parlamentarischen

Geschäftsführer der Bundestagsfraktion von CDU und CSU, Norbert Röttgen.

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Beifall für den frisch gewähl-

ten Bundespräsidenten,

23. Mai 2004

Foto: ullstein bild

wissenschaftler argumentierten in diese Richtung. So mein-te etwa Claus Leggewie, einen „Hauch von Weimar“ überder Berliner Republik erkennen zu können.12

Roland Lhotta stellte gar die Frage, ob der Bundes-präsident seit dem Amtsantritt der Großen Koalitionim Jahr 2005 nicht als eine Art „AußerparlamentarischeOpposition“ fungiere.13 Was gab Anlass zu dieser dochrecht harschen Kritik? Ist sie berechtigt?

Um diese Fragen beantworten zu können, bedarf es derAuseinandersetzung mit der „Amtsausstattung“ des Bun-despräsidenten. Was „darf“ der Bundespräsident und was„kann“ er? Hat er politische Macht?

Das „Machtpotenzial“ desBundespräsidenten

„Die Stellung, die Aufgabe und die Arbeit des Bundes-präsidenten wird in der deutschen Öffentlichkeit unddamit in der internationalen Öffentlichkeit zu geringeingeschätzt. Sie ist viel größer, als man schlechthinglaubt.“

12 Claus Leggewie, Ein Hauch von Weimar. Mit seinen Interventionen zeigt Horst Köhler, was er unter „aktiver Präsidentschaft“ versteht, in:die tageszeitung v. 18. 12. 2006, S. 11.

13 Vgl. dazu Roland Lhotta, Der Bundespräsident als „Außerparlamentarische Opposition“? Überlegungen zur Gewaltenteilung undTypologisierung des parlamentarischen Regierungssystems, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 39 (2008), S. 119–133.

14 Hartmann/Kempf (wie Anm. 3), S. 21.15 Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 7Wiesbaden 2006, S. 294.16 Vgl. Marcus Höreth, Das Amt des Bundespräsidenten und sein Prüfungsrecht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 16 (2008), S. 32–38, hier

S. 35.

Der Bundespräsident und die Große Koal i t ion

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Diese Aussage stammt – man mag es kaum glauben – vomdamaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer. In einerRundfunkansprache, die er im Jahre 1959 hielt, bekundeteer damit sein Interesse, die Nachfolge des ersten Präsidentender Bundesrepublik, Theodor Heuss, anzutreten und dafürauf die Kanzlerschaft zu verzichten. Wir dürfen also an-nehmen, dass Adenauer im Präsidentenamt echtes politi-sches Gestaltungspotenzial vermutet hat. Allerdings nahmder damalige Kanzler zwei Monate später von seinen Plänenwieder Abstand. Wahrscheinlich war ihm, so Hartmann/Kempf, „in der Zwischenzeit die tatsächliche verfassungs-rechtliche Ausgestaltung des Präsidentenamts im BonnerGrundgesetz klar geworden.“14

Läuft das Grundgesetz also doch darauf hinaus,dass der Bundespräsident im Wesentlichen lediglich als „Re-präsentant des Staates mit nur förmlichen Aufgaben“ fun-giert, und dass ihm nennenswerte Entscheidungskompe-tenzen nur in politischen Krisensituationen zukommen?15

Die Politikwissenschaft hat sich im Gegensatz zur Staats-rechtslehre in Bezug auf diese Fragen bislang recht „reser-viert“ verhalten.16 Mittlerweile aber hat das Thema auchunter Politologen eine gewisse Konjunktur erfahren. Schondeshalb müssen hier nicht sämtliche Kompetenzen, die das

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17 Dies wurde erst unlängst an anderer Stelle geleistet. Vgl. Gerd Strohmeier, Der Bundespräsident: Was er kann, darf und muss bzw. könnte,dürfte und müsste, in: Zeitschrift für Politik 55 (2008), S. 175–198.

Stimmenauszählung bei der Bundespräsidentenwahl 1949. In der Mitte des Bildes Theodor Heuss und Konrad Adenauer im Gespräch

Foto: ullstein bild

Grundgesetz dem Staatsoberhaupt zugedacht hat, disku-tiert werden.17 Für die hier interessierende Frage, was denBundespräsidenten potenziell zum Gegenspieler der Regie-rung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit oder, umden politikwissenschaftlichen Jargon zu strapazieren, zum

„Vetospieler“ im politischen Prozess machen könnte, ge-nügt es, auf seine Prüfungskompetenzen bei der Gesetzge-bung einzugehen.

Wer diesbezüglich vom Grundgesetz eindeutigeAntworten erwartet, wird enttäuscht.

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Bundespräsident Heinrich Lübke überreicht dem scheidenden

Bundeskanzler Konrad Adenauer die Entlassungsurkunde:

rechts neben Adenauer Ludwig Erhard und Gerhard Schröder,

Oktober 1963 Foto: ullstein bild

Die Beratungen des Parlamentarischen Rates warendurchgehend dominiert von einem einzigen Aspekt,nämlich der allgemein befürworteten Abkehr vonder Kompetenzfülle des Weimarer Reichspräsidenten.Darüber hat man versäumt, klar herauszuarbeiten,worin denn nun die Aufgaben des künftigen Staats-oberhauptes genau bestehen sollten.18

Auch wenn das Grundgesetz dem Staatsoberhaupt einen ei-genen Abschnitt widmet, gilt deshalb, dass wir es hier miteinem verfassungsrechtlichen „Graubereich“ zu tun haben.Er muss durch Staatsrecht und Staatspraxis gleichermaßenausgeleuchtet und konkretisiert werden.19 Die „analytischeUnsicherheit“, mit der Rechts- und Politikwissenschaftnach wie vor dem Amt des Bundespräsidenten begegnen,20

18 Vgl. Werner Patzelt: Der Bundespräsident, in: Oscar W. Gabriel/Everhard Holtmann (Hg.), Handbuch Politisches System der Bundes-republik Deutschland, 3München/Wien 2005, S. 291–308, hier S. 295.

19 Vgl. auch Strohmeier (wie Anm. 16), S. 177.20 So Höreth (wie Anm. 16), S. 33.21 Johannes Rau, Vom Gesetzesprüfungsrecht des Bundespräsidenten, in: Deutsches Verwaltungsblatt 119 (2004), S. 1–8, hier S. 2.22 Vgl. Roman Herzog, Art. 54, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Loseblattsammlung Bd. IV, Rdnr. 76.

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manifestiert sich vor allem im Umgang mit seinem Recht,Bundesgesetze vor deren Ausfertigung auf ihre Verfas-sungsmäßigkeit zu überprüfen und selbige gegebenenfallsauch zu verweigern.

Es gehört, wie der ehemalige Bundespräsident JohannesRau notierte, zu den immer noch nicht endgültig be-antworteten „Standardfragen“ des Staatsorganisations-rechts, „[o]b und in welchem Umfang dem Bundesprä-sidenten bei der Ausfertigung von Gesetzen ein formel-les und materielles Prüfungsrecht zusteht“.21

Die Unterscheidung zwischen formellem und materiellemPrüfungsrecht ist gängig, aber nicht unproblematisch. Beiersterem geht es vor allem um verfahrensrechtliche Fragen,also beispielsweise darum, ob der Bund überhaupt dieKompetenz zum Erlass des jeweiligen Gesetzes hatte oderob es der Zustimmung durch den Bundesrat bedurft hätte,obwohl es von der Bundesregierung als Einspruchsgesetzgehandhabt wurde. Bei der materiellrechtlichen Prüfunghingegen geht es um die Frage, ob das Gesetz eventuell ge-gen Grundrechte oder grundlegende Verfassungsprinzipienwie etwa das Rechtsstaatsprinzip verstößt.

Unstreitig ist, dass dem Bundespräsidenten das formellePrüfungsrecht zusteht. Zu dessen Wahrnehmung ist ersogar von Verfassung wegen verpflichtet.22 Der Grund:Nach Art. 82 GG fertigt er (nur) nach den Vorschriftendes Grundgesetzes zustande gekommene Gesetze aus.Sind diese Vorschriften seiner Ansicht nach verletztworden, muss er seine Unterschrift verweigern.

Drei Fragen sind damit allerdings noch nicht beantwortet.Deren erste wurde bereits formuliert: Steht dem Bundes-präsidenten neben dem formellen tatsächlich auch ein mate-rielles, auf die Gesetzesinhalte bezogenes Prüfungsrecht zu?Zweitens: Wenn dem so ist, wie steht es dann um die Inten-sität der Gesetzesprüfung, um ihre „Kontrolldichte“? Wäh-rend diese beiden Fragen eher abstrakt-staatsrechtlicherNatur sind, richtet sich die dritte Frage an die Praxis: Solloder muss gar der Bundespräsident generell auf die Ausfer-tigung eines Gesetzes verzichten, wenn er einen materiellenVerfassungsverstoß zu erkennen meint?

Bei der Suche nach einer Antwort auf die erste Fra-ge kann es sich die Politikwissenschaft leisten, auf eine Re-konstruktion der staatsrechtlichen Kontroverse zu verzich-

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23 Zu den Argumenten der Befürworter eines materiellen Prüfungsrechts vgl. ebd., Rdnr. 75ff., zu den Argumenten der Gegner UlrichRamsauer, Art. 82, in: Reihe Alternativkommentare. Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2Neuwied 1989,Rdnr. 18f.

24 Vgl. Herzog (wie Anm. 22), Rdnr. 76.25 Patzelt (wie Anm. 18), S. 302. Leggewie (wie Anm. 12) sieht diese stillschweigende Akzeptanz als Folge des „schlechten Gewissens“ der

Abgeordneten des Deutschen Bundestages über ein missratenes Gesetz aus dem Jahre 1960, das vom damaligen Präsidenten HeinrichLübke nicht ausgefertigt wurde, weil er darin einen Grundrechtsverstoß erkannt hatte. Damit sei ein bis heute fortwirkender Präzedenzfallgeschaffen worden.

26 So auch Rau (wie Anm. 21), S. 3 und 7, der die Befolgung dieser Maxime für sich und seine Amtsvorgänger reklamiert.27 Zit. n. ebd., S. 5.28 So auch Höreth (wie Anm. 16), S. 34.

ten.23 Festzuhalten ist, dass die Grenzen zwischen beidenPrüfungsrechten so schwimmend sind, dass sie für mancheAutoren sogar als nicht mehr unterscheidbar gelten.24 IhrArgument lautet, dass man etwa die Frage, ob statt eines ein-fachen ein verfassungsänderndes Gesetz hätte verabschiedetwerden müssen, nicht beantworten könne, ohne dabei aufseine Inhalte zu achten. Wohl auch deshalb haben alle Bun-despräsidenten ein materielles Prüfungsrecht für sich bean-sprucht und es in der Praxis im Zweifelsfall auch durchge-setzt.

In bislang insgesamt acht Fällen haben die Bundesprä-sidenten Heuss, Lübke, Heinemann, Scheel, von Weiz-säcker und Köhler Gesetze nicht ausgefertigt, weil siesie für verfassungswidrig hielten.

Dagegen hätte seitens der Bundesregierung oder aus denReihen von Bundestag oder Bundesrat im Wege einer Or-ganklage Widerspruch erhoben werden können. Dies istaber noch nie geschehen, sondern der Gesetzgeber hat sichdem Willen des Bundespräsidenten stets gefügt. Daraus lässtsich mit Werner Patzelt folgern, dass das materielle Prü-fungsrecht „zumindest als Gewohnheitsrecht“ angesehenwerden kann und zumindest im Grundsatz akzeptiert wor-den ist.25

Wie intensiv darf und soll der Bundespräsident diematerielle Gesetzesprüfung nun aber durchführen? Diegängige Antwort darauf lautet, dass er sich tunlichstauf eine so genannte „Evidenzkontrolle“ beschränkensolle. Das bedeutet, dass er die Ausfertigung nur solcherGesetze verweigern soll, bei denen er „zweifelsfrei undoffenkundig“ einen Verfassungsverstoß erkennt.26

Dieser Auffassung zu Folge soll ein bloßer Zweifel desBundespräsidenten an der Verfassungskonformität einesihm vorliegenden Gesetzes eine Ausfertigungsverweige-rung noch nicht legitimieren können. Dieses Argument lässtsich problemlos mit der Existenz des Bundesverfassungsge-richts und seinen Kompetenzen begründen. Exemplarischvorgeführt wurde es vom damaligen BundespräsidentenRoman Herzog, der ja vordem selbst als Präsident des Bun-

desverfassungsgerichts amtiert hatte. Er hatte ein Gesetzausgefertigt, obwohl er über dessen Verfassungskonformi-tät Zweifel hegte. Dieses Vorgehen begründete er wie folgt:

„Die Frage ist also – worauf es mir allein ankommt –verfassungsrechtlich zweifelhaft. In diesem Falle ist esm. E. nicht Aufgabe des Bundespräsidenten, durch Ver-weigerung der Ausfertigung eine abschließende Ent-scheidung herbeizuführen. Das präsidentielle Prüfungs-recht muss den Fällen einer klaren Verfassungsverlet-zung vorbehalten bleiben. […] Ich habe das Gesetz alsoausgefertigt und überlasse die Klärung der anstehendenverfassungsrechtlichen Fragen auf diese Weise ggf. demBundesverfassungsgericht, das nach dem Grundgesetzzur Klärung solcher Zweifelsfragen primär berufenist.“27

Auch wenn die Grenzziehung zwischen einem „klaren“Verfassungsverstoß und einer „nur zweifelhaften“ verfas-sungsrechtlichen Lage nicht immer eindeutig sein kann undwird, hat das Argument einiges für sich.

Doppeltes Gewicht erhält der Verweis auf die Verfas-sungsrichter, wenn bedacht wird, dass der Bundespräsi-dent ein Gesetz immer nur als Ganzes ausfertigen oderablehnen muss. Das Bundesverfassungsgericht hinge-gen hat auch die Möglichkeit, nur Teile eines Gesetzesfür verfassungswidrig und gegebenenfalls nichtig zuerklären oder im Wege einer Appellentscheidung demGesetzgeber Fristen zur Beseitigung eines verfassungs-widrigen Zustandes zu setzen.

Dieser Befund führt unmittelbar zur Antwort auf die obenformulierte dritte Frage. Sollte der Bundespräsident derMeinung sein, dass ein Gesetz verfassungswidrig ist, dieVerfassungswidrigkeit sich aber auf eher unbedeutende Ge-setzesteile beschränkt, kann es sich als sinnvoll erweisen, dasGesetz trotzdem auszufertigen.28 Ein derartiges Vorgehenlässt sich insbesondere dann rechtfertigen, wenn die Mög-lichkeit besteht, dass das Bundesverfassungsgericht nochmit einer „Nachkontrolle“ befasst werden kann. Die Bun-despräsidenten wussten diesen Sachverhalt bisher auch

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Bundespräsident Köhler verkündet in einer Fernsehansprache die

Auflösung des 15. Deutschen Bundestages, Juli 2005

Foto: ullstein bild

durchaus zu nutzen: Nicht selten haben sie „äußerst ‚heik-le’ Gesetze trotz erheblicher Bedenken ausgefertigt – unddabei ‚ermahnend’ auf die zweifelhafte Verfassungsmäßig-keit sowie ‚ermunternd’ auf die bestehende Klagemöglich-keit vor dem Bundesverfassungsgericht hingewiesen“.29

Allerdings besteht diese Möglichkeit nicht immer.Insbesondere unter den Bedingungen einer Großen Koali-tion kann es um eine mögliche Nachkontrolle durch dieKarlsruher Richter durchaus prekär bestellt sein. Für dieEinleitung eines Verfahrens der abstrakten Normenkon-trolle ist außer einem Antrag der Bundesregierung selbstoder einer Landesregierung bekanntlich der Antrag mindes-tens eines Drittels der Abgeordneten des Deutschen Bun-destages erforderlich. Wenn die parlamentarische Opposi-tion im Bundestag dieses Quorum nicht erfüllen kann, wiedies derzeit der Fall ist, kommt für die Initiierung einer ver-fassungsgerichtlichen Prüfung faktisch nur eine Verfas-sungsbeschwerde infrage. Da eine Verfassungsbeschwerdewiederum nur eingelegt werden kann, wenn der Antrag-steller („jedermann“) geltend machen kann, dass er durchdie infrage stehende Norm selbst und unmittelbar in einemseiner Grundrechte oder einem grundrechtsgleichen Rechtverletzt wurde, ist ein Verweis des Bundespräsidenten aufden „eigentlichen“ Hüter der Verfassung nicht immer mög-lich.

29 Strohmeier (wie Anm. 17), S. 180. Rau (wie Anm. 21), S. 4f., listet zehn solcher Fälle auf. Unter Einbeziehung seiner und der AmtszeitHorst Köhlers kommt man auf nunmehr zwölf Beispiele.

30 Diese Frage stellt Lhotta (wie Anm. 13), S. 121.31 Ausführlich dazu Heinrich Pehle, Verfassungspraxis im Zwielicht? Die Problematik „unechter Vertrauensfragen“ und „vorgezogener“

Bundestagswahlen, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen,Wiesbaden 2006, S. 177–187.

32 Nur einige von vielen Beispielen seien hier aufgeführt: „Köhler rügt die große Koalition“ (Berliner Zeitung v. 23. 5. 2006, S. 6; „Bundes-präsident Köhler attackiert Führungsstil von Kanzlerin Merkel“ (Berliner Morgenpost v. 17. 07. 2006, S. 2); „Union empört sich überKöhler“ (Spiegel Online v. 23. 11. 2006).

33 Vgl. auch Leicht (wie Anm. 8).

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Horst Köhler und die Große Koalition –ein „besonderes“Verhältnis?

Warum bestand und besteht nun Anlass, in polemischer Zu-spitzung die Frage zu stellen, ob der derzeitige Bundesprä-sident in der Art einer „Außerparlamentarischen Opposi-tion“ agiere? Unterscheiden sich Amtsverständnis undAmtsführung und/oder die politischen Rahmenbedingun-gen tatsächlich so gravierend von dem seiner Vorgänger,dass man mittlerweile tatsächlich von einer „sektoralen Prä-sidentialisierung des parlamentarischen Systems“ sprechenkönnte oder sollte?30

Horst Köhler, dessen Amtsantritt, daran sei erin-nert, noch in die Zeit der rot-grünen Koalition fiel, hatteangekündigt, ein „unbequemer Präsident“ zu werden.Rechtfertigt die Bilanz seiner bisherigen Amtsführung dieseSelbsteinschätzung?

Dem Vorschlag des damaligen Bundeskanzlers GerhardSchröder, den Deutschen Bundestag vorzeitig aufzulö-sen, ist er jedenfalls gefolgt. Damals war er alles andereals „unbequem“, obwohl es sich um eine erfolgreicheingesetzte „auflösungsgerichtete“ – sprich: unechte –Vertrauensfrage gehandelt hatte.31 Zu einem unbeque-men Präsidenten wurde Horst Köhler also allenfallserst, nachdem die Große Koalition ihr Amt angetretenhatte.

Solange sich die Entscheidung Horst Köhlers, ein unbeque-mer Präsident sein zu wollen, nur darin manifestierte, dasser die Regierung bei jeder sich bietenden Gelegenheit an ihreigenes Versprechen erinnerte, die Arbeitslosigkeit zu be-kämpfen, ging es im Grunde um nicht mehr als um eine Stil-frage. Auch wenn die Kritik des Präsidenten an der Bundes-regierung ebenso wie seine Einmischung in die innerpartei-liche Debatte der CDU über die Bezugsdauer des Arbeits-losengeldes wiederholt für durchaus reißerische Schlag-zeilen gut war,32 ernsthafte Konsequenzen hatte sie natür-lich nicht. Kanzlerin und Minister konnten es sich leisten,sie – zumindest was die öffentliche Wahrnehmbarkeit ihrerReaktionen anging – schlicht zu ignorieren.33 Anders ver-hielt es sich jedoch, als der Präsident in den Gesetzgebungs-prozess eingriff.

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Der Bundespräsident und die Große Koal i t ion

Einsichten und Perspektiven 1 | 09 11

34 Alle Zitate entstammen der Pressemitteilung des Bundespräsidialamts vom 12. 01. 2005:http://www.bundespraesident.de/Journalistenservice/Pressemitteilungen-,11107.621599/Bundespraesident-Horst-Koehler.htm?global.back=/Journalistenservice/-%2c11107%2c0/Pressemitteilungen.htm%3flink%3dbpr_liste%26link.sDateV%3d12.01.2005%26link.sDateB%3d13.01.2005.

35 Pressemitteilung des Bundespräsidialamts vom 24. 10. 2006: http://www.bundespraesident.de/servlet/init.cms.layout.LayoutServlet?global.naviknoten=11107&link=bpr_liste&link.sTitel=&link.sDateV=24.10.2006&link.sDateB=25.10.2006.

36 Pressemitteilung des Bundespräsidialamts vom 08. 12. 2006: http://www.bundespraesident.de/servlet/init.cms.layout.LayoutServlet?global.naviknoten=11107&link=bpr_liste&link.sTitel=&link.sDateV=08.12.2006&link.sDateB=09.12.2006.

37 Leicht (wie Anm. 8).

Drei Fälle waren es insgesamt, an denen sich die Diskussionentzündete. Dabei ging es zunächst um das so genannteLuftsicherheitsgesetz. Es beinhaltete eine Einsatzbefugnisfür die Bundeswehr, mit Waffengewalt gegen Flugzeugevorzugehen, die das Leben von Menschen bedrohen.

In letzter Konsequenz hätte das Gesetz also den Ab-schuss eines Flugzeuges erlaubt, das das Leben außer-halb dieses Flugzeugs befindlicher Menschen gefährdet,auch wenn es selbst mit unbeteiligten Dritten besetztist. Zwar unterzeichnete der Bundespräsident diesesGesetz. Gleichzeitig tat er jedoch kund, dass er die ent-sprechenden Regelungen dieses Gesetzes für „verfas-sungsrechtlich höchst bedenklich“ hielt.

Die übrigen Vorschriften des Gesetzes wiederum stufte erwegen der gestiegenen terroristischen Bedrohungslage als„dringend erforderlich“ ein. Angesichts dessen erklärte er,dass er das Gesetz trotz seiner Bedenken ausgefertigt habe,denn, so weiter, „[…] anders als das Bundesverfassungs-gericht, das einzelne Vorschriften eines Gesetzes für un-wirksam erklären kann, bin ich nicht befugt, ein mir zurAusfertigung vorgelegtes Gesetz nur teilweise in Kraft zusetzen“. Dem folgte eine letztlich unmissverständliche Ein-ladung zur Einlegung von Verfassungsbeschwerden: „Zu-gleich mache ich mit dieser Entscheidung den Weg frei füreine verfassungsgerichtliche Überprüfung, die jeder Betrof-fene auch unter Hinweis auf die von mir aufgezeigtenBedenken durch das Bundesverfassungsgericht vornehmenlassen kann.“34

In den beiden folgenden Fällen, die zeitlich sehrkurz nacheinander gelagert waren, ging der Bundespräsi-dent zumindest auf den ersten Blick gesehen noch einenSchritt weiter, denn er verweigerte jeweils die Ausfertigungeines von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Geset-zes. Es ging zunächst um das Gesetz zur Neuregelung derFlugsicherung, dem der Präsident „evidente Verfassungs-widrigkeit“ vorwarf. Dabei handelte es sich um eine Ka-pitalprivatisierung der Deutschen Flugsicherung GmbH,die sich bis dato im Alleineigentum des Bundes befand. Mo-niert wurde ein Verstoß gegen Artikel 87 GG, der dieFlugsicherung in bundeseigener Verwaltung vorsieht. DerBundespräsident machte bei seiner Entscheidung deutlich,

dass er sich nicht per se gegen die Privatisierung staatlicherAufgaben verwahre. Weiter führte er aus: „Eine solche Pri-vatisierung kann jedoch nur nach Maßgabe des geltendenVerfassungsrechts erfolgen. Dem Gesetzgeber ist es unbe-nommen, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen fürsein Vorhaben zu schaffen.“35

Der dritte Fall betraf das Verbraucherinforma-tionsgesetz. Der Bundespräsident erkannte in ihm einenVerstoß gegen den im Zuge der Föderalismusreform neugefassten Artikel 84 Absatz I GG, der es dem Bund verbie-tet, den Gemeinden und Gemeindeverbänden neue Aufga-ben zu übertragen. Auch hier machte er deutlich, dass er sichmit seiner Ausfertigungsverweigerung nicht grundsätzlichgegen die Absichten des Gesetzgebers stellen wollte: „NachAuffassung des Bundespräsidenten kann den berechtigtenBelangen des Verbraucherschutzes sehr schnell durch dieerneute Verabschiedung des Gesetzes ohne die verfassungs-rechtlich unzulässige Aufgabenzuweisung Rechnung getra-gen werden.“36

Robert Leicht argumentiert in Bezug auf die Kritik,die der Bundespräsident anlässlich dieses Umgangs mit demGesetzgeber einstecken musste, dass Köhler hier anders alsbei seinen kritischen Einlassungen zum Regierungshandelngar nicht politisch gehandelt habe, denn „es ging jedes Malnur um das Verfassungsrecht“. Daraus meint er ein Paradoxkonstruieren zu können: „Dort, wo der Präsident wirklichpolitisch wird, tut er kaum einem weh – wo er der Regierungwehtut, handelt er gar nicht politisch.“37 Dieses Argumentkann schon deshalb nicht überzeugen, weil Gesetzgebungnatürlich per se immer „geronnene Politik“ ist. Zudem han-delt es sich bei der Frage nach Ausfertigung oder Nicht-ausfertigung eines Gesetzes um eine Ermessensentschei-dung des Bundespräsidenten und nicht um einen wie auchimmer ausgelösten verfassungsrechtlichen Automatismus.Mit dem Verweis auf angeblich unpolitisches Handeln lässtsich die beschriebene Praxis also gewiss nicht rechtfertigen.

Wie aber steht es um die Beurteilung, wenn manversucht, mit der Messlatte zu operieren, die in Form derUnterscheidung zwischen formellem und materiellem Prü-fungsrecht verfügbar ist? Gutwillig und großzügig inter-pretiert, scheint sie tatsächlich geeignet, das beschriebeneVerhalten des Bundespräsidenten zu rechtfertigen.

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In Bezug auf das Flugsicherungs- und das Verbraucher-informationsgesetz hat sich der Präsident in der Rollebewegt, die ihm das Grundgesetz ohne Zweifel zuweist,nämlich als „Hüter des Verfahrens“.

Es ging um die Einhaltung von Kompetenznormen, umnicht mehr, aber auch nicht um weniger. Dass hier die Gren-zen formaler Prüfung nicht überschritten wurden, machenauch die Begründungen für die beiden Ausfertigungsver-weigerungen deutlich. Nicht zufällig, sondern ganz bewusstwies der Präsident hier jeweils explizit darauf hin, dass undwie der Gesetzgeber die von ihm monierten Mängel behe-ben könne. „Unpolitisch“ war das ebenso wenig wie diegegenläufige Strategie, die der Bundespräsident beim Um-gang mit dem Luftsicherheitsgesetz an den Tag legte. Hierging es um die sensible Frage des Grundrechtsschutzes undder etwaigen Kollision von Grundrechten, und hier ließ derBundespräsident, indem er das Gesetz unterzeichnete, demBundesverfassungsgericht nicht zeitlich, aber der Sachenach den Vortritt. Die gutwillige Interpretation lautet hieralso, dass ausgerechnet die Inanspruchnahme des materiel-len Prüfungsrechts dazu führte, dass der Bundespräsidentdas Gesetz passieren ließ.

Dort also, wo der Weg zu einer abstrakten Normenkon-trolle unter den Bedingungen der Großen Koalition

38 Xuewu Gu, Die Vorbeugefunktion des Bundespräsidenten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999), S. 761–771.39 Höreth (wie Anm. 16), S. 38.40 Urteil 1 BvR 375/05 v. 15. 02. 2006.

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verbaut ist, zeigt sich, dass die „Vorbeugefunktion“,die das Grundgesetz dem Bundespräsidenten vor demErlass verfassungswidriger Gesetze zuweist,38 ihrenguten Sinn haben kann.

Marcus Höreth ist zwar zuzustimmen, wenn er dieses Ar-gument fortsetzt: „Für diese Sichtweise spricht auch, dassdort, wo immerhin noch die Möglichkeit zur Verfassungs-beschwerde besteht, der Bundespräsident von seinem Aus-fertigungsverweigerungsrecht bisher gerade keinen Ge-brauch gemacht hat, sondern nach der Formulierung einesschwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bedenken zu ei-ner solchen Verfassungsbeschwerde durch betroffene Bür-ger aufgefordert hat.“39 Das Bundesverfassungsgericht hatdie Zweifel des Präsidenten bekanntlich bestätigt.40 Ob esdazu tatsächlich auch seiner unverhohlenen Einladung zurEinlegung von Verfassungsbeschwerden bedurft hätte, istallerdings eine andere Frage.

In jedem Fall aber war diese Einladung Ausdruckeiner in jeder Hinsicht selbstbewussten Amtsführung durchHorst Köhler. Diese hat indes auch eine Kehrseite, denn sielässt sich instrumentalisieren. Zu beobachten war dies un-mittelbar vor Ende des Jahres 2008. Dem Bundespräsiden-ten lagen zwei Gesetze zur Ausfertigung vor, nämlich das sogenannte BKA-Gesetz und das Gesetz zur Reform der Erb-schaftsteuer.

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41 Vgl. Süddeutsche Zeitung v. 29. 12. 2008, S. 4 („Gezielt gestreute Gerüchte“), und ebd., S. 5: („Warten auf Köhler“).42 Vgl. Süddeutsche Zeitung v. 30. 12. 2008, S. 6 („Köhler unterschreibt“).43 Vgl. ebd.44 Das gilt auch angesichts der Tatsache, dass er die Prüfung des BKA-Gesetzes offenbar in relativer Eile vorgenommen hat. Vgl. DER

SPIEGEL 2 (2009), S. 11.45 Zit. n. VWD Wirtschaftsnachrichten vom 22. 11. 2005.46 Ich schließe mich hier ausdrücklich der Argumentation an, die Marcus Höreth (wie Anm. 16), S. 38, vorgetragen hat.

In Bezug auf letzteres kam es, soweit ersichtlich erst-mals in der Geschichte der Bundesrepublik, dazu, dassder Bundespräsident von interessierten Kreisen öffent-lich aufgefordert wurde, unter Berufung auf sein mate-rielles Prüfungsrecht das Gesetz nicht auszufertigen,weil es – wie es in einem offenen Brief an Horst Köhlerhieß – „ganz offensichtlich verfassungswidrig“ sei.41

Der Bundespräsident widerstand dieser Einflussnahme undfertigte beide Gesetze aus, denn – so erläuterte sein Presse-sprecher – es habe bei beiden „keine durchgreifenden Be-denken“ gegeben, die ihn an der Ausfertigung gehinderthätten.42

Die Formulierung, dass es keine „durchgreifen-den“ Bedenken gegeben habe, wurde verschiedentlich zwarso interpretiert, dass im Bundespräsidialamt durchausZweifel an der Verfassungskonformität beider Gesetze ge-hegt worden seien.43 Damit hätte grundsätzlich wieder einHinweis auf mögliche Verfassungsbeschwerden nahe gele-gen. Dessen aber enthielt sich der Präsident dieses Mal. Dieskann auf zweierlei Weise interpretiert werden. Entwederhandelt es sich um das Ergebnis eines präsidentiellen Lern-prozesses aus der Kritik an seinem Umgang mit dem Luft-sicherheitsgesetz oder um eine stillschweigende Reaktiondarauf, dass die Einlegung entsprechender Verfassungsbe-schwerden ohnehin schon vorab angekündigt worden war.Wie dem auch sei, so ist eines doch nicht zu bestreiten:

Der Bundespräsident hat sich hier in die ihm vomGrundgesetz zugewiesene Rolle gefügt. Die Vermu-tung, er habe „Außerparlamentarische Opposition“gegen die Große Koalition gespielt, erweist sich damitletztlich in Bezug auf seine gesamte Amtszeit seit 2004als überzogen.

Richtig bleibt aber auch, dass Horst Köhler seine „Vorbeu-gefunktion“ wohl gerade auch angesichts der Mehrheitsver-hältnisse im Deutschen Bundestag besonders ernst genom-men hat44 – und auch ernst nehmen konnte, weil er dabeinicht in den Verdacht geriet, willfährig der Partei zu Diens-ten zu sein, welcher er primär seine Nominierung und Wahlverdankte. Wer hören wollte, hätte um dieses Selbstver-

ständnis auch von vornherein wissen können, denn derBundespräsident hatte keinen Hehl daraus gemacht. ImWissen um die Ankündigung der designierten Kanzlerin,dass die Bundesregierung gezwungen sein werde, einennicht verfassungskonformen Haushalt vorzulegen, verwieser schon bei der Ernennung des Bundeskabinetts unter An-spielung auf die „breite Mehrheit“ der Koalition im Bundes-tag darauf, dass zum politischen Geschäft auch gehöre,„dass die Gesetze der Bundesregierung mit Sorgfalt und mitRespekt vor unserer Verfassung vorbereitet und umgesetztwerden“.45

Es war nicht der Bundespräsident, der diese Sorg-falt mitunter hat vermissen lassen. Insofern gibt es Anlass,gerade unter den Vorzeichen einer Großen Koalition für dasdurch Artikel 82 Grundgesetz verbürgte Wächteramt desBundespräsidenten dankbar zu sein.

Der Preis dafür mag eine partielle Systemfremdheit despräsidentiellen Elements im parlamentarischen Regie-rungssystem sein. Die Bundesrepublik ist aber ebennicht nur das, sondern auch ein demokratischer Verfas-sungsstaat.46 Wenn es eines unbequemen Präsidentenbedarf, um ihn vor Beschädigung zu schützen, ist dage-gen wenig einzuwenden.

Interpretiert man, wie hier geschehen, die Unterstützung,die Horst Köhler für seine Kandidatur für eine zweiteAmtszeit durch die Unionsparteien erfährt, primär als Aus-fluss wahltaktischen Kalküls, dann würde das bedeuten,dass die Bundespolitiker eben bereit sind, dafür den Preisrelativ intensiver Gesetzesprüfung durch den Präsidentenzu bezahlen. Positiv gewendet, könnte man sie auch als Ver-sprechen deuten, die Frage der Verfassungskonformität vonBundesgesetzen regierungsintern künftig sorgfältiger zuprüfen. Die neue Bundesregierung, gleich ob wiederum inGestalt einer Großen Koalition oder nicht, wird sich auchan dieser Frage messen lassen müssen, denn eines scheintsicher: Nach seiner Wiederwahl, an der kaum zu zweifelnist, wird Horst Köhler von seinen Prüfungsrechten nichtlassen. Angesichts seiner ungebrochen hohen Popularitäts-werte wird er sich das auch leisten können.❙

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Hans Vogel (1881 – 1945)

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Parteisekretär Hans Vogel (Fürth), etwa 1914

Alle Fotos und Dokumente: Stefan Appelius (Berlin)

Gegen den Strom

Hans Vogel (1881–1945)Von Stefan Appelius

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Hans Vogel (1881 – 1945)

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London, im Sommer 1945, wenige Monate nach dem Endedes Zweiten Weltkriegs. Der frühere sozialdemokratischeReichstagsabgeordnete Hans Vogel schreibt einen Brief anseinen Sohn Ernst, der als amerikanischer Soldat im Pazifikstationiert ist.

Hans Vogel ist der Vorsitzende des Exilparteivor-stands der SPD und möchte so rasch wie möglich nachDeutschland zurückkehren, obwohl die Lage dort ver-mutlich grauenhaft sei: „Wie aber soll erst der Winterwerden, da sowohl Heizung als auch in einem überausgroßen Ausmaße die Behausung fehlt.“2

Man müsse über einen gesunden, kräftigen Körper verfü-gen, wenn man, wie er selbst, in so ein Land zurückkehrenwolle. Vogel hat Sehnsucht nach seiner fränkischen Heimat,möchte seine Kinder und vor allem seinen Bruder Michaelnoch einmal wiedersehen. Seit zwölf Jahren schon lebt erim Exil. Mitte Mai 1933 ist er nach Prag gegangen. Vogel warzeitlebens immer gesund, „bärenstark, trinkfest und san-gesfroh“. Doch schon seit Mitte August fühlt sich der 64-Jährige „nicht sehr pässlich“. Erst war ihm eine Woche stän-dig „zum Kotzen“, seither leidet er an „Null Appetit“. Sei-nem Sohn Ernst schreibt Vogel: „Ich stehe in ärztlicher Be-handlung. Ich möchte fast sagen, erfreulicherweise scheintder Arzt dem Fall keine ernste Bedeutung beizumessen.“3

Vogel vermutet, dass seine Beschwerden „nervösen Ur-sprungs“ sein könnten. In letzter Zeit haben sich Journalis-

ten aus aller Welt in Vogels Wohnung an der Fernside Ave-nue Nummer 3 die Klinke in die Hand gedrückt. SeinemSohn Ernst schreibt er darüber: „Man ist draußen in derWelt also nicht ganz vergessen. Martin Treu4 ist Oberbür-germeister in Nürnberg. In seiner Einführungsrede hat erdarauf verwiesen, dass bei der letzten großen Wahlkund-gebung auf dem historischen Marktplatze im März 335 derRedner, der sozialdemokratische ReichstagsabgeordneteVogel, der Versammlung zugerufen habe: ‚Wer Hitler wählt,wählt den Krieg.’ Glaubst Du nicht, lieber Ernst, dass Deinalter Vater nun gar noch anfängt, etwas eitel zu werden? Na,wenn schon.“6

Am 6. September 1945 schreibt Hans Vogel einenlangen Brief an seinen Parteifreund Otto Grotewohl in Ost-berlin. Grotewohl war in der Weimarer Republik Ministerim Freistaat Braunschweig, anschließend als Präsident derBraunschweiger Landesversicherungsanstalt für ein paarJahre Mitglied der SPD-Reichstagsfraktion. Während derNS-Diktatur hatte sich Grotewohl als Kunstmaler, Klein-gewerbetreibender und Vertreter durchgeschlagen, dermehr als einmal aus politischen Gründen eingesperrt wurde.Jetzt ist dieser Mann der Vorsitzende des „Zentralaus-schusses der SPD“ in der sowjetischen Besatzungszone.

Während die Partei in den Westzonen noch nicht wie-der arbeiten darf, ist sie in der Sowjetischen Besatzungs-zone schon lizenziert worden. Das macht den Wieder-aufbau der SPD nicht eben leichter, glaubt Vogel. Er

1 Brief Victor Gollancz v. 09. 10. 1945 an Wilhelm Sander, AdA.2 Brief Hans Vogel v. 09. 09. 1945 an Ernst Vogel, AdA.3 Ebd.4 Martin Treu (1871–1952), SPD-Funktionär und ehemaliger 2. Bürgermeister der Stadt Nürnberg, wurde im Sommer 1945 von den

Amerikanern als Oberbürgermeister von Nürnberg eingesetzt, nach Konflikten mit der Militärregierung und der SPD jedoch bereits imDezember 1945 wieder aus dem Amt entfernt.

5 Vermutlich ist eine Großveranstaltung auf dem Nürnberger Marktplatz am 12. Februar 1933 gemeint.6 Brief Hans Vogel (wie Anm. 2).

„Ich habe nie einen Menschen getroffen, der mir besser gefiel; er schien mir das wirk-lich schöne Beispiel des besten Menschentypus der Arbeiterklasse mit all ihrer natür-lichen Liebenswürdigkeit und Höflichkeit, ohne Unterschied der Nation.“1 Das hatder britische Verleger Victor Gollancz, Träger des Friedenspreises des DeutschenBuchhandels, über einen deutschen Politiker gesagt, den man in der Bundesrepubliknie wirklich gekannt hat. Der Nürnberger Hans Vogel war Vorsitzender der Sozial-demokratischen Partei Deutschlands, er führte die Partei während des Zweiten Welt-kriegs aus dem Exil. Jetzt sind bisher unveröffentlichte Dokumente und Fotos vonHans Vogel aufgetaucht, die ein lebendiges Bild des Mannes zeichnen, der in der Wei-marer Republik im Wahlkreis Nürnberg direkt gegen den selbst ernannten „Franken-führer“ Julius Streicher (NSDAP) kandidierte.

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möchte unter allen Umständen verhindern, dass seinePartei durch die Aktivitäten des Zentralausschusses indas Fahrwasser der Kommunisten gerät.

„Im Augenblick ist es das Wesentlichste, dass jeder zu sei-nem Teil versucht, die Sozialdemokratische Partei als eineunabhängige und selbständige politische Organisation auf-zubauen und sie zum Sammelpunkt und zum politischenKampfinstrument für alle Menschen zu machen, die in demfreiheitlichen und demokratischen Sozialismus ihr politi-sches Ideal sehen“, schreibt er dem „lieben Genossen Gro-tewohl“ und betont, dass es auch in den „nichtrussisch be-setzten Teilen Deutschlands“ zahlreiche Vorbereitungen fürden Wiederaufbau der SPD gebe, bei denen sich besondersihr früherer gemeinsamer Fraktionskollege Kurt Schuma-cher hervorgetan habe.7 Der Brief ist eine diplomatischeMeisterleistung des stets auf Ausgleich und Verständigungbedachten Vogel: „Es mag sein, dass wir heute in wichtigenpolitischen und organisatorischen Fragen verschiedene An-sichten haben, aber das ändert nichts an den Gefühlen derKameradschaft und Freundschaft, mit denen wir uns Euchverbunden wissen.“8 Während Otto Wels und Kurt Schu-macher beim Umgang mit den Kommunisten schnell ab-schalten, hat sich Vogel stets um Dialogbereitschaft bemüht.Er führte während der Emigration in Prag sogar Gesprächemit Abgesandten der KPD, um die Möglichkeiten einerEinheitsfront gegen die Nationalsozialisten auszuloten.Später, in London, war es nicht zuletzt das Verdienst desFranken, dass die scheinbar hoffnungslos zerstrittenen unduntereinander verfeindeten Splittergruppen der SPD wiederzueinander fanden.

Er ist gegen jede einseitige Bindung des besiegtenDeutschlands und denkt schon während der Schluss-phase des Krieges über die Errichtung eines Systemskollektiver Sicherheit nach, bei dem auch die Sowjet-union mit einbezogen sein müsse. Zuletzt hat er nurnoch den einen Wunsch: Er möchte zurück nachDeutschland, wieder bei „seinen Leuten“ sein.

Der Hans aus Franken

Hans Vogel erblickt am 16. Februar 1881 in Oberartelsho-fen das Licht der Welt, einem Dorf im Pegnitztal, direkt ander erst kürzlich eröffneten Bahnlinie zwischen Nürnbergund Bayreuth gelegen. 1888 zieht die Familie in die nahe ge-

7 Brief Hans Vogel v. 06. 09. 1945 an Otto Grotewohl, AdA.8 Ebd.9 Hans Böckler (1875–1951) absolvierte eine Lehre als Gold- und Silberschläger. Er wurde 1894 in Fürth Mitglied der SPD und des

Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV). Böckler stieg innerhalb der Gewerkschaft rasch auf und wurde 1928 als Abgeordneter derKölner SPD in den Reichstag gewählt, dem er bis 1933 angehörte. Nach 1945 engagierte er sich beim Aufbau des Deutschen Gewerk-schaftsbundes (DGB), dessen Vorsitz er von 1949 bis zu seinem Tod inne hatte.

Hans Vogel (1881 – 1945)

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legene Kreisstadt Fürth um, wo sein älterer Bruder, MichaelVogel, eine Schreinerlehre beginnt. Bereits zwei Jahre spä-ter, 1890, stirbt der Vater, Karl Vogel, ein Freigeist, Schuma-chermeister und Krämer von Beruf, der nach Feierabend dieWerke von Karl Marx zu studieren pflegte. Der kleine Hanswächst bei seiner Mutter in bitterer Armut auf. Den Unter-halt der Familie bestreitet der 18-jährige SchreinergeselleMichael, während die beiden zur Familie gehörigen Schwes-tern Anstellung als Dienstmädchen finden. Auch Hans ver-dient sich nach der Schule als Kegeljunge ein paar Pfennige,mit denen er selbst ebenfalls zum Lebensunterhalt der Fa-milie beiträgt. Zu seiner Konfirmation (1895) erhält er vonden Mitgliedern des Fürther Kegelvereins einen Anzug undeine Uhr. Es ist ein derart schönes Erlebnis in seiner sonstfreudlosen Kindheit, das er bis an sein Lebensende nichtvergessen wird.

In die Arbeiterbewegung wird der Jugendlicheganz automatisch durch seinen großen Bruder Michael ge-führt, der seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes (1890)eingeschriebenes Mitglied der wieder erstandenen Sozialde-mokratischen Partei ist. Gemeinsam mit seinem BruderMichael und mit Hans Böckler9 gründet er in jenen Jahrenden Fürther „Arbeiter Turn- und Sportverein“. Sein Traum,Lehrer zu werden, lässt sich aus finanziellen Gründen nichtverwirklichen. Stattdessen beginnt Hans Vogel eine Lehreals Holzbildhauer (1894–1897). Bereits am ersten Tage sei-ner Ausbildung schließt er sich der Gewerkschaft an. Inzwi-schen macht sich eine politische Aufbruchstimmung in denWerkstätten und Fabriken im nördlichen Franken bemerk-bar.

Die Ideen der Sozialdemokratie dringen wie ein frischerWindstoß in die muffige Atmosphäre des vom Kaiserregierten Obrigkeitsstaates ein, um es mit WenzelJaksch zu formulieren. Als Hans Vogel nach der Ableis-tung des Militärdienstes, seiner Gesellenprüfung undder anschließenden Wanderschaft wieder nach Fürthzurückkehrt, dauert es nicht lange, bis man ihn in denVorstand seiner Gewerkschaft holt.

Auch privat fügt sich sein Leben: Am 27. März 1904 heira-tet er die gebürtige Fürtherin Christine („Dina“) Liebel(1880–1966), die er bei einem Gartenfest des Arbeiterturn-vereins kennen gelernt hat und mit der er im Laufe der Jahredrei Kinder zeugt: Frieda, die bereits Anfang August 1904in Fürth das Licht der Welt erblickt, Willi (*1910) und der

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Hans Vogel (1881 – 1945)

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Hans Vogel im September

1916 als Soldat im Ersten

Weltkrieg (Pfeil)

Brief des Stadtmagistrats

Fürth an die Gemeindever-

waltung Artelshofen vom

24. März 1904, in dem mit-

geteilt wird, dass Hans Vogel

das Heimat-Recht in Fürth

verliehen worden ist

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Nachzügler Ernst (*1921). Die junge Familie lebt im zwei-ten Stockwerk eines Mehrfamilienhauses in Fürth. AuchHans Vogels Mutter ist mit in die moderne Wohnung ein-gezogen.

Anfang Juni 1908 übernimmt Hans Vogel das Amteines Bezirkssekretärs der Nordbayerischen SPD im be-nachbarten Nürnberg. Von nun an geht es mit seiner Kar-riere rasch voran:

1912 wird Hans Vogel – der, ganz Kind seiner Zeit, ei-nen Zwirbelbart trägt – als Abgeordneter des Wahlkrei-ses Mittelfranken in den Bayerischen Landtag gewählt.Bereits zwei Jahre später, 1914, schickt man den jungenAbgeordneten als Soldat in den Ersten Weltkrieg, an dieWestfront.Viele Zeugnisse gibt es aus diesen Jahren nicht. Sicher istallerdings: Vogels Begeisterung für den Krieg hält sich inGrenzen.

Ganz oben: Familienaufnahme des Ehepaares Hans und Dina Vogel mit Tochter Frieda und Sohn Wilhelm (rechts), 1914, bevor

Hans Vogel zum Militär eingezogen wurde

Unten links: In diesem Haus in Fürth lebte die Familie von 1904 bis 1912.

Unten rechts: Wohnhaus der Familie Vogel in Berlin-Köpenick (1927–1933). Das Haus wurde 1933 von der SA besetzt. Eine Entschädi-

gung hat Familie Vogel nie erhalten, da sich das Gebäude nach 1945 im Ostsektor der geteilten Stadt befand.

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Als die Monarchie im Herbst 1918 untergeht, wähltman den jungen Familienvater in den NürnbergerArbeiter- und Soldatenrat. Wenig später erhält er einMandat für die Nationalversammlung in Weimar. Inden darauf folgenden dreizehn Jahren entwickelt sichder Franke schließlich zu einem der einflussreichstenMitglieder der SPD-Reichstagsfraktion in Berlin.

Mehr als einmal wird er als potentielles Regierungsmitgliedgehandelt und hinter vorgehaltener Hand als künftigerReichswehrminister bezeichnet. In dieser Phase wird dieReichshauptstadt mehr und mehr zu seinem Lebensmittel-punkt. Im September 1927 holt Vogel seine Frau und die

10 Willi Vogel, Meine Eltern – Wir Kinder, Ms 1985, S. 3, in: AdA.11 Adolf Braun (1862–1929) wurde in der Steiermark geboren. Nach dem Studium in Freiburg und Basel promovierte Braun 1886 zum

Doktor der Philosophie. Anschließend war er zunächst als Redakteur der „Gleichheit“ in Wien, bevor er zur „Sächsischen Arbeiterzei-tung“ nach Dresden und von dort als Redakteur zum „Vorwärts“ nach Berlin wechselte. Nachdem er 1898 aus Preußen ausgewiesen wurde,ging Braun nach Nürnberg, wo er die Leitung der „Fränkischen Tagespost“ übernahm. 1920 bis 1927 Mitglied im SPD-Parteivorstand, ge-hörte Braun dem Reichstag bis 1928 als SPD-Abgeordneter an.

Hans Vogel gehörte von 1912 bis 1918 dem Bayerischen Landtag

als SPD-Abgeordneter an.

drei Kinder aus Fürth nach Berlin. Sie beziehen ein eigenesHäuschen am Stadtrand, in Treptow-Köpenick, unweit derSpree.

Das Häuschen wird für Vogel in den kommendensechs Jahren in gewisser Weise eine Art Insel in zunehmendstürmischer See. Dieses Bild drängt sich förmlich auf, liestman in den Erinnerungen von Willi Vogel: „Zum Jahresendestand die ‚Neunte’ in der Volksbühne auf dem Familienpro-gramm. Nachher Punsch und Nürnberger Lebkuchen imHause Hirschgarten. Und der Christbaum mit den flak-kernden Kerzen. Mit den Grundstücksnachbarn bestandkein Verhältnis. Kein Wunder! Bei Staatsfeiertagen zogenwir auf dem Dachfirst an hoher Stange die Reichsflagge aufund bei Wahlen zum Reichstag, alle Wähler mussten in derTurmallee [...] an unserem Haus vorbei gehen, dazu die RoteFahne mit den drei Pfeilen der Eisernen Front. Das Wahllo-kal, ein Turmrestaurant an der Spree, lag nur 100 Meter ent-fernt unseres Hauses. Unsere Nachbarn waren meistensDeutschnationale, die sachte höhnten, wenn Vater barfuss[sic] den Garten mit dem Wasserschlauch begoss. Bei Vaterwar wohl dabei der Bauernsohn wieder freudig erwacht.“10

Innerhalb der fränkischen SPD erfreut sich HansVogel der Protektion von Adolf Braun,11 dem langjährigenChefredakteur der in Nürnberg erscheinenden „Fränki-schen Tagespost“.

Als Braun auf dem Kieler Parteitag 1927 aus Alters-gründen aus der Parteiführung ausscheidet, übernimmtHans Vogel seine Position. Die Besetzung einer solcheninnerparteilichen Führungsposition hat verschiedenenAnforderungen gerecht zu werden.

Zum einen gilt es, den regionalen Proporz zu garantieren.Andererseits war der promovierte Braun ein Intellektuel-ler, der angemessen zersetzt werden muss. In der SPD-Reichstagsfraktion erhebt sich der Ruf, die vakante Positionebenfalls mit einem Akademiker zu besetzen. Doch OttoWels besteht auf den „Hans aus Franken“, für den er angeb-lich eine besondere Sympathie hegt. Vogel selbst ahnt nicht,dass er in die Führungsspitze der Sozialdemokratie aufstei-gen soll, als er Ende Mai 1927 in die Fördestadt anreist. Undzwar mit einem bemerkenswerten Wahlergebnis:

Während Otto Wels und dem späteren ReichskanzlerHermann Müller-Franken in Kiel der innerparteiliche

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Frieda Vogel: Machtergreifung in Berlin

Frieda Vogel war die einzige Tochter von Hans Vogel. Sie

wurde 1919 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend

und leitete in den folgenden Jahren eine Mädchengruppe

der Fürther Kinderfreunde. 1923 legte sie ihr Abitur in Fürth

ab. In ihren Erinnerungen schreibt sie: „Ich glaube, ich war

ein besonders braves Kind, sehr fleißig und gewissenhaft.

Ich saß immer hinter den Büchern, las viel und mein Zeug-

nis sollte immer eines der Besten sein, denn ich wusste,

dass ich Vater damit eine besondere Freude machte.“ 1925

bis 1931 studierte Frieda Vogel in Hamburg,Würzburg, Ber-

lin und Gießen Psychologie, Philosophie und Volkswirt-

schaft, schloss 1931 mit der Promotion in Psychologie ab.

Inzwischen machten sich die Auswirkungen der Weltwirt-

schaftskrise bemerkbar. Frieda Vogel besuchte für ein Jahr

die Wohlfahrtsschule der Arbeiterwohlfahrt in Berlin,

schließt als Wohlfahrtspflegerin ab. Im Herbst 1932 wurde

FriedaVogel als Eignungsprüferin beim Berliner Arbeitsamt

eingestellt. Bereits während der Emigration brachte sie ihre

Erinnerungen über die Besetzung des Hauses der Familie

Vogel in Berlin-Köpenick zu Papier, die im Folgenden erst-

mals veröffentlicht werden.

„Am Mittwoch, dem 21. Juni 1933 fand die Haussuchung

und Besetzung unseres Hauses Berlin-Hirschgarten, Turm-

Gegenwind ins Gesicht bläst, erzielt Hans Vogel mit 371von 378 Stimmen das mit Abstand beste Ergebnis (98,1Prozent), das auf dem Parteitag überhaupt erzielt wird.Vier Jahre später, auf dem Leipziger Parteitag im Früh-jahr 1931, übernimmt Vogel nach dem Tod des früherenReichskanzlers Hermann Müller das Amt des 2. Vor-sitzenden der SPD.

Sein gutes Wahlergebnis kann er allerdings nicht bestätigen,die Linke rückt von ihm ab. Vogel erhält nur noch 318 von387 Stimmen (82,1 Prozent).

In der Schlussphase der Weimarer Republik mussVogel eine Reihe von Wahlniederlagen verkraften. Seinwichtigster politischer Gegenspieler ist der braune Volks-schullehrer Julius Streicher, ein sogar von eigenen Parteige-nossen als „irrsinnig“ beschriebener Fanatiker und Günst-ling Adolf Hitlers. Streicher gibt in Nürnberg seit mehrerenJahren die vulgär-antisemitische Wochenzeitung „Der Stür-mer“ heraus. Schon seit der Reichstagswahl im Sommer1928 sind die Resultate der SPD im Wahlkreis Franken kon-tinuierlich von 28,5 auf 19,4 Prozent (1933) zurückgegan-gen. Die Partei verliert von Wahl zu Wahl an Anhängern.

Während die NSDAP drastische Zugewinne verbucht,rangieren die Sozialdemokraten in Franken schließlichnur noch auf dem dritten Platz, weit hinter der NSDAP(1933: 45,7 Prozent) und letztlich auch hinter der Baye-rischen Volkspartei (BVP). Hans Vogel führt die Aus-einandersetzung mit den Nationalsozialisten in vor-derster Linie.

Er kommt überall in Deutschland im Wahlkampf zum Ein-satz und bietet in seinem Wahlkreis dem selbsternannten„Frankenführer“ Streicher die Stirn. Doch auch Vogel ver-mag die Entwicklung nicht aufzuhalten. Nach dem Reichs-tagsbrand und der tapferen Ablehnung des Ermächtigungs-gesetzes tritt Vogel öffentlich nicht mehr in Erscheinung, da

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ihm die Verhaftung droht. Auf der Reichskonferenz derSPD Ende April 1933 in Berlin als 2. Vorsitzender im Amtbestätigt, hat sich längst entschieden, dass Vogel nicht inDeutschland bleiben kann. Die Nationalsozialisten habenbereits mehrere SPD-Reichstagabgeordnete widerrechtlichinhaftiert. Sein älterer Bruder Michael, Direktor der Erlan-ger Ortskrankenkasse, wurde bereits in das Konzentra-tionslager Dachau verschleppt.

Und so entscheidet der Parteivorstand bereits auf sei-ner ersten Sitzung, Anfang Mai 1933, einige seinerMitglieder – darunter Otto Wels und Hans Vogel – insAusland zu schicken. In Deutschland bleiben kann ernicht, das weiß Hans Vogel, trotzdem ist es eine sehrschwere Entscheidung für den bodenständigen Mann.Nur fünf Tage später verkündet die Reichsregierungdie Beschlagnahme des Vermögens der SPD.

Hans Vogel ist inzwischen im Saargebiet eingetroffen, dasseit 1920 unter französischer Verwaltung steht. Hier ist ervor einem Zugriff der Nationalsozialisten vorläufig sicher.Inzwischen bereitet sich Dina Vogel in Köpenick auf ihreAbreise vor. Sie soll mit ihrem Mann bis auf weiteres in Pragleben und hat nur wenig Zeit, die Papiere in dessen Arbeits-zimmer zu sichten. Noch hofft man, dass der „braune Spuk“schon bald vorbei sein werde. Als sie ihre Tasche gepackthat, reist sie mit der Eisenbahn in die Tschechoslowakei.Vierzehn Tage später werden auch Hans Vogel und Fried-rich Stampfer, der Chefredakteur des „Vorwärts“, von ei-nem jungen Parteiangestellten namens Fritz Heine über die„grüne Grenze“ im Riesengebirge in die Tschechoslowakeigeschmuggelt. Am Vortag noch hatte Vogel versucht, dieübrigen Mitglieder der SPD-Reichstagsfraktion davon zuüberzeugen, gegenüber den neuen Machthabern keinerleiZugeständnisse einzugehen. Vogels – inzwischen erwachse-ne – Kinder sind mit ihrem halbwüchsigen Bruder Ernstvorläufig in Berlin geblieben.

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allee 1,12 durch die SA, Abteilung Hirschgarten, statt. Die

Haussuchung nahmen cirka 20 bis 30 SA-Leute vor. Als ich

nach Geschäftsschluss gegen 17 Uhr nach Hause ging,

kreuzte den ‚Weg zur Quelle’ ein SA-Auto, mit cirka sechs

Mann Besatzung. Ich bemerkte, dass unser Gartentor offen

stand und mehrere SA-Leute davor standen. Da ich eine

Begegnung mit ihnen vermeiden wollte, schwenkte ich in

den ‚Weg zur Quelle’ ein. Kaum war ich eingebogen, so hör-

te ich hinter mir lautes Rufen. Ich ahnte, dass es SA-Leute

waren, kümmerte mich aber nicht darum. Gleich darauf hat-

ten mich zwei SA-Männer eingeholt, fragten mich, ob ich

FräuleinVogel sei, und forderten mich auf, sie in unser Haus

zu begleiten.

Man führte mich in das Arbeitszimmer meines Vaters, in

dem bereits cirka acht Mann mit dem Durchkramen des

Schreibtisches, des Bücherschrankes beschäftigt waren. Die

übrigen SA-Leute waren im ganzen Haus verstreut und

durchwühlten alles vom Keller bis zum Boden. Ich stellte

mich sofort energisch als Dr. Vogel vor. Als einer der SA-

Leute mir erklärte, dass sie beauftragt seien, eine Haus-

suchung vorzunehmen, erwiderte ich sehr bestimmt, dass

mir bekannt sei, dass Hausdurchsuchungen nur im Beisein

der ordentlichen Polizei durchgeführt werden dürften und

dass ich aus diesem Grunde polizeilichen Schutz verlangte.

Ich erklärte, dass ich jetzt die Polizei verständigen würde.

Man antwortete mir, dass die SA von heute ab Staatspolizei

sei und damit die Heranziehung der ordentlichen Polizei bei

Haussuchungen hinfällig werde. Ich erklärte, mich auf jeden

Fall bei der Polizei erkundigen zu wollen. Ich trat zum

Telefon und war gerade mit dem Suchen der Telefonnum-

mer beschäftigt, als ein SA-Mann das Telefon abnahm und

erklärte, er wolle selbst die Polizei verständigen, damit sie

die gleiche Auskunft geben könne wie er selbst. Er wählte

eine Nummer und rief dann in dasTelefon hinein: ‚Wir füh-

ren hier im Hause Hirschgarten, Turmallee 1, eine Haus-

suchung durch. Die Dame verlangt polizeilichen Schutz,

obgleich wir sie unterrichtet haben, dass wir polizeiliche

Vollmachten besitzen, klären Sie die Dame auf.’ Dann bestä-

tigte eine Männerstimme, in der ich später bei meiner

Verhaftung die Stimme eines der vernehmenden SA-Leute

in der Inspektionskaserne der SA in Friedrichshagen zu

erkennen glaubte, dass die SA seit heute Staatspolizei sei,

dass sie berechtigt sei, Haussuchungen alleine durchzufüh-

ren, dass die Zeiten schlimmer geworden seien und dass ich

mich einer Haussuchung fügen müsste. Während ich telefo-

nierte, durchsuchte ein junger SA-Mann meinen Mantel,

meine Aktentasche und meine Handtasche. Er hatte aus

meiner Handtasche nach Beendigung des Gespräches

bereits ein Päckchen von Zetteln herausgelegt und begann

sie zu durchblättern. Da fiel mein Blick auf einen Brief mei-

ner Mutter aus Prag, den sie mir vor cirka vier bis sechs

Wochen geschrieben hatte und in dem sie mir den Auftrag

erteilte, ihr einige Sachen zu schicken. Ich hatte den Brief

nicht gleich bei Empfang vernichtet, weil ich erst den Auf-

trag ausführen wollte, und steckte ihn in die Seitentasche

meiner Handtasche. In den folgenden Wochen vergaß ich

die Existenz dieses Briefes in meiner Handtasche vollstän-

dig. Dieser Brief aber konnte als Beweismittel unserer Ver-

bindung mit Prag gelten und da ich dies verhindern wollte,

ergriff ich, einem ersten Impuls folgend, den Brief und ver-

suchte ihn zu zerreißen. Sofort umringten mich mehrere

SA-Männer, hielten mir die Hände fest und entrissen die

Fetzen des Briefes meinen Fäusten, nachdem sie mir den

Kopf so heftig nach hinten gebogen hatten, dass ich kaum

mehr Luft bekam. Ein SA-Mann musste sofort den zerrisse-

nen Brief wegbringen.

Dann forderte man von mir energisch Rechenschaft, wes-

halb ich diesen Brief vernichten wollte. Ich antwortete, es

sei ein persönlicher Brief meiner Mutter gewesen, der nie-

mand etwas anginge. Der junge SA-Mann, Weihe war sein

Name, entgegnete hämisch, ‚auf einmal fangen die Bonzen

an feinfühlig zu werden, bei uns waren Sie es nicht.’

Dann forderte man von mir den Schlüssel zur Schreibma-

schine. AlsWeihe mit dem Durchsuchen meiner Handtasche

fertig war, forderte er mich in herrischem Ton auf, ihn zu

begleiten in die oberen Räume, die er zu durchsuchen beab-

sichtige. Ich lehnte ab und verlangte den SA-Führer der

Gruppe zu sprechen. Er stellte sich mir vor und ich erklärte

ihm, dass ich nur in seiner Gegenwart in die oberen Räume

gehen würde. Der Sturmführer Scholz winkte Weihe ab, der

sich grollend und wütend zurückzog. Drei SA-Leute forder-

te er auf, ihn und mich nach oben zu begleiten.Weihe schlen-

derte hinterdrein. In meinem Beisein wurde mein Ar-

beitszimmer und das Zimmer meines Bruders durchsucht.

Zur gleichen Zeit durchsuchten die anderen SA-Leute das

Schlafzimmer meiner Eltern, mein Schlafzimmer, den Keller

und Boden. In jedem Zimmer nahmen drei bis vier SA-Leute

die Durchsuchung vor. Sie stiegen auf die Leiter um die

Öfen, die Lüster und Fensterrahmen zu untersuchen. Im Kel-

ler wurden die Kohlen durchwühlt, alle Kisten umgeworfen,

aus den Betten wurden alle Matratzen genommen und eine

gründliche Durchsuchung vorgenommen.

Als ich meinen Schreibtisch öffnen musste, erklärte

ich, dass darin keinerlei politisches Material eingeschlossen

sei, dass es sich nur um meine persönlichen Dinge, Briefe,

Andenken, Notizen usw. handele. Ich bat darum, dass nicht

12 Heute: Wißlerstr. 4, 12587 Berlin.

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Diese Aufnahme entstand im September 1927 in der bereits leer

geräumten bisherigen Wohnung der Familie Vogel in der Fürther

Kornschulpromenade 29. Nach der Schlüsselübergabe stand der

Umzug in die Reichshauptstadt bevor.

vier Mann gleichzeitig in meinen Briefen wühlen möchten,

die doch nur mich persönlich angingen. Scholz, der sich

während der ganzen Haussuchung sehr höflich mir gegen-

über verhielt, forderte die SA-Leute auf, zur Seite zu treten,

da er, persönlich vonWeihe unterstützt, meinen Schreibtisch

durchsuchen wollte. Ich hatte während der ganzen Un-

tersuchung den Eindruck, dass Scholz zwar die herrische

und herausfordernde Art, mit der Weihe sein Mütchen an

mir zu kühlen versuchte, nicht billigte, aber nicht dagegen

einschreiten konnte, einesteils wohl um Vorwürfen einer zu

milden Behandlung der ‚Marxisten’ zu begegnen, andern-

teils, denke ich, wollte er Weihe, seinem Adjutanten, aus

psychologischen Gründen bei dieser Haussuchung Gele-

genheit geben, seinen gegen die ‚Marxisten’ aufgespeicher-

ten Hass und seine Rachegefühle abzureagieren.Weihe war

nämlich, wie ich später aus einem persönlichen Gespräch

mit ihm erfuhr, ein Märtyrer des Nationalsozialismus. Er

hatte, da er Nationalsozialist gewesen war, seine Stellung

als Beamter verloren, musste aus Deutschland flüchten und

sich mehrere Jahre im Ausland durchschlagen. Endlich war

nun die Gelegenheit gekommen, sich für die erlittenen

Entbehrungen zu rächen!

Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 0922

Er versuchte es immer wieder, mich durch höhnische Be-

merkungen über die ‚Bonzen’ und das ‚System’ zu kränken

und einzuschüchtern, was ihm aber nicht gelang, da ich

mich energisch gegen seine Anfeindungen wehrte. Darü-

ber wurde er sehr zornig und schrie: ‚Die Frau macht uns

verrückt, sie kommandiert uns hier, schafft sie aufs Auto,

ins Konzentrationslager mit ihr!’

Auch Lina, unsere Hausangestellte, eine gläubige Katholi-

kin, ließ es bei der Haussuchung nicht an drastischen

Bemerkungen gegen die Nazi fehlen. Als sie mein Zimmer

durchwühlten, stand sie dabei und meinte laut spöttisch

lachend: ‚Gelt, da staunt ihr, was hier für gescheite Leute

wohnen, das habt ihr euch halt nicht eingebildet, die Bücher

und Schriften versteht ihr doch gar nicht’ und dergleichen

mehr.

Als mein Zimmer durchsucht war, gingen wir in das

Zimmer meines Bruders. Der Schreibtisch war im obersten

Fach verschlossen, man forderte von mir den Schlüssel.

Meinen Worten, dass ich ihn nicht besitze, schenkte man

keinen Glauben. Man machte mich darauf aufmerksam,

dass man, falls ich den Schlüssel nicht freiwillig herausge-

ben wolle, den Schreibtisch aufbrechen würde. Ich erklärte

nochmals, den Schlüssel nicht zu besitzen. Darauf rief man

einen SA-Mann, der einen Bund mit cirka 30 Schlüsseln

brachte, die alle der Reihe nach ausprobiert wurden. Als kei-

ner passte, bedauerte man, den Schreibtisch aufbrechen zu

müssen. Inzwischen hatten sich acht bis zehn Mann im

Zimmer eingefunden.

Alle erwarteten gespannt das gewaltsame Öffnen des

Schreibtisches, denn in ihm hoffte man endlich das gefähr-

liche Material zu finden, das man im ganzen Haus bis jetzt

vergeblich gesucht hatte, trotz allen Wühlens und Herum-

stöberns im kleinsten Winkel.

Feierliche Stille herrschte im Zimmer. Als das Schloss dem

Stemmeisen nachgab, bogen sich alle Köpfe über die

Schublade – aber es gähnte ihnen ein Nichts entgegen. Nur

sehr schwer konnten die SA-Leute ihre Enttäuschung ver-

bergen.

Als Scholz in einer Schublade mehrere leere Aus-

landskuverte vorfand, stutzte er und meinte: ‚Aha, wo sind

die Briefe?’ Dann meinte er: ‚Es ist möglich, dass Ihr Bruder

Briefmarken sammelt und daher die leeren Kuverten aufbe-

wahrt.’ Ein SA-Mann hatte im Bett meines Bruders ein

Aktenstück mit Belegen über die Steuerzahlungen meines

Vaters an das Finanzamt und einer Gehaltsaufstellung ge-

funden. Auch das hatten wir vergessen, dass wir es dort ein-

mal hineingelegt hatten. Diese Aufstellung gab wieder

reichlich Gelegenheit, hämisch zu werden. Auch Scholz, der

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13 Willi Vogel, der ältere Bruder von Frieda Vogel.14 Ernst Vogel (1921–1996), der jüngere Bruder von Frieda Vogel.15 Wie Anm. 13.

Dieses Familienfoto entstand

am 27. März 1929 anlässlich

der Silberhochzeit von Hans

und Dina Vogel in Berlin.

sonst sehr zurückhaltend war, machte pflichtschuldigst eine

Bemerkung über ‚Bonzengehälter’, aber ich trat ihm entge-

gen und verbot mir irgendwelche Verächtlichmachung mei-

nes Vaters, über den sie, da sie ihn nicht kannten, sich kein

Urteil anmaßen konnten. Daraufhin lenkte Scholz ein mit

den Worten: ‚Also Schluss jetzt.’

Zwei SA-Männer, die den Bücherschrank meines Bru-

ders13 durchsuchten, brachten Scholz verschiedene Bücher

zur Entscheidung, von denen sie nicht wussten, ob sie

wegen ‚Staatsgefährlichkeit’ eingezogen werden sollten.

Übrigens, meinen Bücherschrank durchsuchte man nur

flüchtig, da Scholz nach einem kurzen Blick erklärte, es be-

fände sich nur Unterhaltungsliteratur, keine politische Lite-

ratur darin. Aber Weihe suchte weiter und als er die ‚Rote

Kinderrepublik’ fand, zeigte er sie triumphierend herum mit

den Worten: ‚So sieht die Unpolitische aus.’ Bei den Bü-

chern entschied Scholz meist nicht im Sinne Weihes, der sie

alle verbrennen wollte.

Ein SA-Mann hatte Patronenhülsen im Nachttisch

meinesVaters gefunden und wollte nun unbedingt die dazu-

gehörigen Revolver von mir gezeigt bekommen. Ich konnte

ihm nur erklären, dass ich nichts von dem Vorhandensein

der Waffen wüsste, es sei mir nur bekannt, dass Vater ein-

mal einen Waffenschein besessen habe.

Nach cirka zwei Stunden war die Haussuchung been-

det. Man schleppte Kisten konfiszierter Bücher und Zeit-

schriften fort, Aktenstücke, bekritzelte Blätter, in denen man

eine Geheimschrift vermutete, alte Parteibücher. Das Haus

sah schrecklich aus, nachdem die SA abgezogen war. Alles

durchwühlt, in Unordnung und Auflösung.

Wir schickten sofort Ernst14 zum Hirschgartner Bahnhof, da-

mit er Willi15 abfangen sollte, der noch kurz vor der Haus-

suchung zu Haus angerufen hatte und mitgeteilt hatte, dass

er später als erwartet nach Hause kommen würde. Kaum

war Ernst aus dem Hause, als zwei SA-Männer erschienen,

sich vor der Haustüre postierten und erklärten, niemand

dürfe das Haus verlassen. Als ich eine Erklärung verlangte,

antwortete man unter Achselzucken: ‚Befehl ist Befehl.’

Gleich darauf erschien Weihe und erklärte mich für verhaf-

tet. Er forderte mich auf, mich zurecht zu machen. Ich ver-

langte ein paar Minuten Zeit, ging hinauf in mein Zimmer,

sperrte Schreibtisch und Bücherschrank ab. Als ich herun-

terkam, drängte Weihe zum Aufbruch. Ich verlangte noch

Zeit, um einenTeller Suppe essen zu können, ‚da dies doch

keine politische Betätigung sei’. Weihe kochte vor Wut, ließ

mich aber noch niedersetzen, während er mit zwei SA-Leu-

ten vor der Küchentüre Wache stand, in drohender Haltung.

Als ich mit dem Essen fertig war, wollte ich mir Hände und

Gesicht waschen. Das aber war für Weihe zuviel. Er schrie:

‚Diese Frau macht uns verrückt, keine Umstände mehr mit

ihr, bringt sie zum Auto.’ Die SA zerrte mich zur Küche hin-

aus, über den Korridor, durch den Garten und sie stießen

mich in ein Auto. Ein kleines gelbes Zweisitzer-Auto. In dem

Augenblick, als ich neben dem Chauffeur, einem SA-Mann,

saß, sprang Weihe hinten auf und schrie: ‚Keine Unterhal-

tung mit dieser Frau.’ Der Chauffeur hatte mich kurz zuvor

gefragt, ob mein Bruder heute morgen noch zuhause gewe-

sen sei. Ich beantwortete wahrheitsgemäß die Frage mit

‚Ja’.

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Die bayerischen SPD-Abgeordneten in der Nationalversammlung in Weimar, 1919. Stehend, 3. von links: Dr. Adolf Braun (SPD),

stehend, 4. von links: Hans Vogel (SPD). Vorne sitzend, 2. von links: Toni Pfülf (SPD).

Das Auto fuhr dieTurmallee längs bis zum Restaurant Aus-

sichtsturm, einem wochentags schlecht besuchten Lokal an

der Spree gelegen, seit Jahren bei Wahlen für die Einwoh-

ner Hirschgartens amtliche Wahlstelle. Seit 1933 Verkehrs-

und Versammlungslokal der NSDAP. Vor dem Restaurant

Aussichtsturm hatte sich eine Menge Menschen angesam-

melt, die das Schauspiel unserer Hausbesetzung und mei-

ner Verhaftung genossen.

Ich saß in dem Wagen, schaute nicht rechts noch links, nur

geradeaus mit dem stolzesten Gesicht. Ich glaubte, man

würde mich im Restaurant vernehmen. Das geschah nicht.

Man wendete das Auto und fuhr Richtung Friedrichshagen.

Der Chauffeur flüsterte mir zu: ‚Es geschieht Ihnen nichts,

haben Sie keine Angst.’ Ich entgegnete ihm ironisch: ‚Sie

fahren doch direkt ins Konzentrationslager.’ Das bestritt er

und meinte: ‚Wir fahren zur Inspektion Friedrichshagen zur

Vernehmung.’ Tatsächlich brachte man mich in die SA-Ins-

pektion Friedrichshagen, die im Erdgeschoss des Rathauses

untergebracht war. In dem Vorraum musste ich mich auf

eine Bank setzen, während zwei SA-Männer Wache hielten.

Aus dem Inspektionszimmer hörte ich lautes Disputieren.

Nach cirka einer halben Stunde erschien ein SA-Mann, der

einer der Wachen etwas zuflüsterte, worauf ich in die Küche

Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 0924

geführt wurde. Ich hörte, wie draußen jemand vorbei zum

Inspektionszimmer geführt wurde. Gleich darauf wurde ich

wieder aus der Küche herausgeführt und musste mich wie-

der niedersetzen. Nach cirka zehn Minuten forderte mich ein

SA-Mann auf, in das Inspektionszimmer zu kommen.

Drinnen saß zur Vernehmung der Häusermakler Walther

Beck, neben ihm der Inspektionsführer und um diesen her-

um cirka acht bis zehn SA-Leute. Der eine von ihnen, der mit

dem brutalsten Gesicht, wippte die Reitpeitsche auf seinen

Knien. Beck hatten wir vor cirka zwei Monaten den Auftrag

gegeben, das Haus zu verkaufen, hatten aber nach der Be-

schlagnahme des sozialdemokratischen Vermögens unse-

ren Auftrag zurückgezogen.

Der Inspektionsführer fragte mich: ‚Kennen Sie die-

sen Herrn?’

‚Jawohl, es ist Herr Beck.’

‚Dieser Herr behauptet, er habe den Auftrag gehabt,

ihr Haus zu verkaufen. Heute Morgen habe aber ihre Mutter

angerufen und den Auftrag zurückgezogen. Stimmt das?’

Ich sagte, das könnte ich nicht wissen. Mir sei nur

bekannt, dass wir, nachdem das sozialdemokratische Ver-

mögen beschlagnahmt worden war, die Absicht hatten, den

Auftrag zurückzuziehen, da wir die Schritte des Staats-

kommissars abwarten wollten. Mutter war schon sechs Wo-

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chen von zu Hause fort, der Auftrag war schon längst zu-

rückgezogen worden.

Nachdem ich meine Aussagen gemacht hatte, ließ

man Beck frei. Ich musste wieder in den Vorraum hinaus.

Nach einiger Zeit rief man mich wieder hinein, bot mir einen

Stuhl neben dem Inspektionsführer an, verlangte meinen

Namen, Alter, meinen Beruf, wollte genau wissen, wo ich

beschäftigt sei. Als ich meinen Beruf nannte, pfiff der Inspek-

tionsführer durch die Zähne. Er hatte vor sich den zerrisse-

nen, das heißt, wieder zusammengesetzten Brief meiner

Mutter liegen und fragte: ‚Ich habe hier einen Brief Ihres

Vaters, nicht wahr?’

‚Nein, der Brief ist von meiner Mutter, mein Vater hat

nur unterschrieben.’

‚Ihre Mutter sieht die Dinge ja sehr optimistisch, sie

verlangt von Ihnen verschiedene Sachen. Haben Sie die

geschickt?’

‚Nein, bitte überzeugen Sie sich selbst in der Woh-

nung.’

‚Das interessiert mich jetzt nicht. Von wem haben sie

den Brief bekommen?’

Der Inhalt des Briefes war mir nicht mehr gegenwär-

tig. Ich hatte ihn seit Wochen nicht mehr durchgelesen und

mich auch während des Wartens im Vorraum in Gedanken

nicht mit dem Brief beschäftigt. Am Ende des Briefes hatte

Vater geschrieben: ‚Warum das nicht geht, wird dir der

Überbringer sagen. Wo bleibt Ernst? Hat Otto meinen Auf-

trag ausgerichtet?’

Ich antwortete, da der Schluss des Briefes (Bemer-

kung vom Überbringer) in diesem Augenblick mir nicht

bewusst war: ‚Ich war nicht zuhause, als er ankam.’

Der Inspektionsführer: ‚Hier steht etwas vom Über-

bringer des Briefes. Wer war das?’

Jetzt hätte ich Lina nennen müssen. Das aber war unmög-

lich, da sie keine Ahnung von dem Brief hatte. Ich verbes-

serte mich und sagte: ‚Ich hab ihn wohl bekommen, aber

ich kannte den Betreffenden nicht.’

Da rief der Chauffeur dazwischen: ‚Jetzt lügen Sie,

Sie können nämlich nicht lügen, bis jetzt haben Sie auch die

Wahrheit gesagt, wer war also der Überbringer?’

Ich behauptete nochmals, den Mann nicht zu kennen. Da

meinte der Inspektionsführer: ‚Sicher hat sich der Mann

auch vorgestellt, denn in Ihren Kreisen ist es doch Sitte, dass

man sich vorstellt.’

Ich sagte ihm, der Name des Mannes hätte mich nicht

interessiert, mir sei die Hauptsache der Brief gewesen: ‚Viel-

leicht wollte der Betreffende nicht, dass ich seinen Namen

erfuhr.’

‚Sicher ist Ihnen der Name entfallen. Da Sie aber

doch sonst nicht unintelligent sind, wird Ihnen der Name

sicher wieder einfallen.’

Dann ging er auf ein anderesThema über: ‚Also, wer

ist Ernst?’

‚Mein Bruder.’

‚Also Ernst sollte auch zu ihren Eltern. Ihre Mutter schreibt

ja: Für Ernst haben wir auch schon eine Schlafgelegenheit.’

‚Ich wollte Ernst nicht weggeben. Er sollte bei mir

bleiben.’

‚Wer ist der Otto, der in dem Brief erwähnt ist?’

‚Ein Vetter von mir, dem mein Vater einen Auftrag ge-

geben hatte.’

‚Das Haus haben wir beschlagnahmt. Jetzt werden ordent-

liche Leute hineinkommen, keine Bonzen. Wie haben Sie

Hans Vogel spricht am 12. Februar 1933 auf

einer Großkundgebung der „Eisernen Front“ in

Nürnberg und erklärt unter anderem: „Hitler

bedeutet Krieg!“

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sich denn das gedacht mit dem Haus, darauf ruht doch eine

Hypothek aus sozialdemokratischem Vermögen.’

‚Gesetzlich liegt meines Wissens die Sache so, dass mein

Vater nach wie vor der Eigentümer des Hauses bleibt, dass

nur derjenige, der die Hypotheken gab, jetzt nicht mehr die

SPD ist, sondern der Staat. Wir haben also jetzt die Zinsen

nicht mehr der Partei zu zahlen, sondern dem Staat. Die

Zinsen werden wir durch Vermieten aufbringen.’

Der Inspektionsführer heftig: ‚Sie irren sich, wir sind

jetzt die Eigentümer, denn das SPD-Vermögen gehört jetzt

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dem Staat. Sie müssen sich bald nach einer anderen Woh-

nung umsehen, sonst liegen Sie einesTages auf der Straße.

Wissen Sie Bescheid, wie groß die Hypothek ist?’

Ich verneinte. Der Inspektionsführer: ‚Wo ist ihr

Bruder?’

‚Ich weiß es nicht.’

‚War er heute Morgen noch zu Hause?’

‚Ich habe nicht nachgesehen. Ich ging zeitig ins Amt.’

‚Zu dumm, dass Ihr Bruder nicht da ist. Er könnte uns doch

aufklären über dieVermögensverhältnisse und uns manche

Arbeit ersparen.’

Hans und Dina Vogel 1939 in

einem Café in Paris. Wenig

später musste das von den

Nazis ausgebürgerte Ehepaar

vor den deutschen Truppen

nach Südfrankreich fliehen.

Die französische „Carte

d'Identité“ des ausgebür-

gerten Hans Vogel war ein

lebenswichtiges Dokument,

um auf dem Fluchtweg Spa-

nien – Portugal nach Groß-

britannien zu gelangen.

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Einsichten und Perspektiven 1 | 09 27

Dann der Inspektionsführer: ‚Ein schönes Gehalt hat Ihr

Vater gehabt. War eben ein Bonze.’

‚Mein Vater war kein Bonze. Er hat selbstlos für seine

Idee gekämpft. Für sich beanspruchte er nichts. Was er ver-

diente, kam seiner Familie zugute, der er ein schönes Heim

bot. Seinen Kindern gab er eine gründliche und gute Er-

ziehung.’

‚Das ist ja sehr schön, was Ihr Vater als Familienvater

getan hat. Das will ich auch anerkennen. Aber politisch ist

er mein schärfster Gegner. Wie hieß der Mann, der Ihnen

den Brief brachte?’

‚Ich kenne ihn nicht.’

Da wandte sich der Inspektionsführer an die übrigen ver-

sammelten zehn SA-Leute mit der Frage: ‚Ja, was wollen wir

da machen?’

Dann stellten sie allerlei Fragen an mich. Der mit der Reit-

peitsche meinte: ‚Wir haben ja Konzentrationslager. Wir

werden Sie dorthin bringen. Dort wird Ihnen der Name

schon wieder einfallen.’

‚Sie können mich dorthin bringen, aber es kann mir

dort nichts einfallen, weil ich seinen Namen nicht weiß. Es

ist aber besser, Sie lassen mich an meine Arbeit zurück,

damit ich für meinen Bruder sorgen kann.’

Der Inspektionsführer: ‚Wenn Ihnen der Name einfällt, kön-

nen Sie sofort nach Hause gehen.’

‚Mir kann kein Name einfallen.’

‚Also gut. Das Amtsgericht Köpenick ist heute ausgeräumt

worden. Dort haben Sie Zeit, über den Namen nachzuden-

ken. Wenn er Ihnen dort auch nicht einfallen sollte, dann

sicher im Konzentrationslager. Dort können Sie auch Ihre

psychologischen Eignungsprüfungen fortsetzen.

Um Ihren kleinen Bruder brauchen Sie sich dann keine Sor-

gen zu machen. Für den sorgen wir. Wir haben gute natio-

nalsozialistische Fürsorgeheime, dort wird er anständig

erzogen und nicht marxistisch wie bisher.

Wir geben Ihnen jetzt noch hier Zeit zum Überlegen. Wir

müssen noch eine Aktion durchführen. Wenn ich zurück-

komme, wird Ihnen der Name schon eingefallen sein. Im

Übrigen können Sie hier Milch und Brot bekommen, wie

unsere Leute.’

Er stand auf, um wegzugehen. Ich trat an ihn heran

und sagte: ‚Es nützt nichts, wenn Sie mich hier behalten. Mir

kann der Name nicht einfallen. Lassen Sie mich nach Hause

gehen zu meinem Bruder.’

‚Ich habe die Gewalt. Ich könnte Sie entlassen. Aber

es fällt mir nicht ein, Sie jetzt schon freizulassen. Der Name

muss Ihnen einfallen.’

Man forderte mich auf, in die Küche zu gehen, vor

der zwei SA-Leute Aufstellung nahmen. Es war inzwischen

wohl 20 Uhr geworden. Kaum hatte der Inspektionsführer

mit seinen Leuten das Haus verlassen, als einer der SA-Wa-

chen – biedere Leute – zu mir trat und mir eine Zigarette

anbot, die ich ablehnte als Nichtraucher. Dann brachten sie

mir Milch. Der andere bot mir eine seiner Stullen an, die ihm

seine Frau gebracht hatte.

Um 12 Uhr nachts erschien der Inspektionsführer mit

seinem Stab. Ich wurde in sein Zimmer gerufen und das

Ausfragen begann von Neuem. Die erste Frage war: ‚Ist Ih-

nen der Name jetzt eingefallen?’

‚Er kann mir nicht einfallen. Ich weiß ihn nicht.’

Der Inspektionsführer machte ein etwas ratloses Gesicht

und blickte sich Hilfe suchend bei seinen Kameraden um.

Auch dort Stillschweigen. Nach ein paar Minuten sagte er:

‚Ich werde jetzt das Amtsgericht Köpenick verständigen,

dass wir Sie bringen werden.’

Er machte eine Bewegung zumTelefon hin, zögernd

und darauf lauernd, dass ich jetzt vor Angst den Namen nen-

nen würde. Da klingelte dasTelefon. Er nahm den Hörer ab

und sprang gleich darauf entsetzt und wütend vom Stuhl

auf, stampfte auf die Erde und schrie: ‚Die Schweinehunde

haben einen unserer Kameraden bei einer Haussuchung in

der Siedlung Köpenick erschossen. Sofort auf, zur Ver-

geltung!’

An dieser Stelle ist im Manuskript von Frieda Vogel hand-

schriftlich vermerkt, sie habe den besagten Brief ihrer El-

tern „allein am Gartentor unseres Hauses, von Johannes

Hans Vogel mit Hanne Jaksch, 1938

bei einem Besuch in Stockholm

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Stelling“16 in Empfang genommen. Frieda Vogel schützte

an jenem Abend also einen langjährigen SPD-Reichstags-

abgeordneten, der in enger Verbindung zu ihrem Vater

stand. Im Verlauf des hier geschilderten Abends ereignete

sich in Köpenick ein Feuergefecht, bei dem drei SA-Männer

von einem jungen Reichsbanner-Angehörigen namens An-

ton Schmaus erschossen wurden, nachdem sie auf das

Grundstück seiner Eltern eingedrungen waren und seine

Mutter Katharina Schmaus bedrohten. Daraufhin verübte

die SA in der so genannten „Köpenicker Blutnacht“ aus

Rache insgesamt zwanzig brutale Morde, denen auch der

am Fall Schmaus völlig unbeteiligte Johannes Stelling zum

Opfer fiel.

Ich dachte natürlich, jetzt hätten sie an mir gleich das

nächstliegende Objekt für ihre Vergeltung, blieb aber kalt-

blütig und bewegungslos sitzen. Der Inspektionsführer

nahm zum Gedenken desToten die Mütze ab. Zögernd folg-

ten die übrigen SA-Männer, in den Mienen Gleichgültigkeit

und Stumpfheit. Aber leisen Missmut verrieten sie. Darüber,

dass sie jetzt nach der harten Arbeit desTages statt des er-

hofften Schlafes von Neuem die Jagd beginnen mussten.

Zu mir gewendet sagte der Inspektionsführer: ‚Es fällt mir

gar nicht ein, Sie zu entlassen. Ich habe die ganze Nacht Zeit,

Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 0928

so lange, bis Ihnen der Name einfällt. Sie gehen jetzt wieder

in die Küche und warten, bis ich zurückkomme.’

Dann verließ er mit seinem Stab das Zimmer. Nur ein

SA-Mann, der das Telefon zu bedienen hatte, blieb zurück.

Zwei Mann brachten mich in die Küche. Der eine flüsterte

mir zu: ‚Warum sagen Sie den Namen nicht, dann haben Sie

doch Ruhe.’

Ich antwortete laut: ‚Ich weiß ihn doch nicht.’

Der SA-Mann amTelefon hatte uns sprechen hören. Er kam

heraus und herrschte mich an: ‚Das Sprechen mit dem Pos-

ten ist verboten.’

Die Wache fragte mich, ob ich schlafen wolle. Sie

wollten dann das Licht auslöschen. Leider hätten sie kein

Feldbett, aber eine Decke wollten sie mir gerne bringen. Ob

ich nichts essen oder trinken wolle? Ich bat nur darum, zu-

hause anrufen zu dürfen, um Ernst und Lina zu beruhigen.

Der SA-Mann amTelefon konnte mir das nicht gestatten. Er

versprach mir aber, an meiner Stelle anzurufen. Ich hörte

auch, dass er mit unserem Haus ein Gespräch führte und

meine Bestellung für Ernst und Lina der Besatzung des Hau-

ses auftrug. Der Auftrag aber wurde von dort nicht weiter-

gegeben, wie ich von Ernst und Lina am nächsten Tag

erfuhr.

Diese Aufnahme von Hans

und Dina Vogel entstand etwa

1942 im Exil in London.

16 Johannes Stelling (1877–1933) war schon als junger Mann Mitglied der SPD geworden. Nach 1918 amtierte der langjährige SPD-Landtags-abgeordnete kurzzeitig als Innenminister im Freistaat Mecklenburg-Schwerin. Er war Mitglied der Nationalversammlung und amtierte von1920 bis 1933 als SPD-Reichstagsabgeordneter. Stelling wurde am 21. Juni 1933 in seiner Wohnung in Berlin-Köpenick von der SA festge-nommen. Man fand seine verstümmelte Leiche einige Tage später nahe der Grünauer Fähre in einen Sack eingenäht.

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Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 09 29

So saß ich bis gegen halb 6 Uhr morgens. DieWache vor der

Türe war müde zum Umfallen. Sie erzählten mir, dass sie

seit zwei Tagen nicht mehr aus den Kleidern gekommen

seien und ununterbrochen Dienst gehabt hätten. Als ich da-

zwischen eine halbe Stunde eingenickt war, meinte der SA-

Mann vor derTüre: ‚Sie haben aber gut geschlafen. Wir ha-

ben es gesehen.’

Um halb 6 Uhr Morgens kam einTrupp SA-Leute aus

Köpenick zurück. Ich wurde in das Inspektionszimmer geru-

fen. Der Inspektionsführer war jetzt nicht mehr unter ihnen.

Einer der SA-Leute erklärte mir: ‚Fräulein Vogel, Sie sind bis

auf weiteres entlassen und können jetzt nach Hause gehen.’

Ich lief durch denWald nach Hause.Vor unserem Haus weh-

te die Hakenkreuzflagge. Die Glocke war abgestellt. Ich

musste über den Zaun klettern und zerriss mir dabei den

Rock. Dann klopfte ich an Linas Fenster, um Näheres zu

erfahren. Sie verständigte mich, dass eine Wache im Keller

unseres Hauses sich einquartiert hätte, dass alle Zimmer

abgeschlossen seien und ich den Schlüssel für mein Zim-

mer vom Wachhabenden der Besatzung verlangen müsste.

Das tat ich. Er war ein älterer, ruhiger SA-Mann, der mir

sachlich, ohne Schadenfreude mitteilte, dass ich den

Schlüssel meines Zimmers stets bei Verlassen des Hauses

abgeben müsste. Dass ich mich stets abzumelden hätte und

beim Verlassen des Hauses kontrolliert würde. Ich erklärte

ihm, dass ich jetzt sofort zur Arbeit gehen wollte. Er solle

Sturmführer Scholz von meinem Vorhaben verständigen.

Das geschah. Scholz ließ mir bestellen, dass ich jederzeit im

Hause ein und ausgehen könnte, mich aber stets zur Kon-

trolle beim Wachhabenden zu melden hätte.

Dann ging ich zu Ernst. Der hatte vor Angst und Sorge fast

die ganze Nacht nicht geschlafen. Abends hatte er Willi am

Hirschgartener Bahnhof nicht getroffen und war lange ziel-

los herum geirrt, weil ihm vor zu Hause graute, denn er

hatte unterwegs erfahren, dass sie mich verhaftet hatten. Er

meinte zu mir: ‚Das gestern war der schwersteTag meines

Lebens.’

Lina erzählte mir, dass cirka eine halbe Stunde nach meiner

Verhaftung das Haus von acht bis zehn Mann besetzt wurde.

Noch einmal wurden sämtliche Zimmer durchschnüffelt.

Sicher ohne Befehl des Sturmführers, aus Neugierde und

Sensation. Dann musste Lina den Leuten im Keller ein Lager

zurecht machen. Die Leute holten sich das Radio hinunter.

Die halbe Nacht machten sie Lärm. Das Herumrennen um

das Haus und dasTelefonieren nahm kein Ende.

Ich ging aus dem Hause, zum Bahnhof Hirschgarten,

fuhr nach Friedrichshagen und ging von dort in die Woh-

nung Engels’, weil ich Willi dort vermutete. Frau Engel und

ihre Mutter waren mit dem Umzug beschäftigt. Ich erzählte

ihnen kurz von den Ereignissen dieser Nacht. Meine erste

Frage war, ob Willi in Sicherheit sei. Sie erzählten mir, dass

er am Abend zu ihnen gekommen, weil ihm unterwegs von

verschiedenen Haussuchungen erzählt wurde und er fürch-

tete, zu Hause ‚Besuch’ vorzufinden. Er ließ durch Frau Engel

zu Hause anrufen. Lina erzählte ihm von meinerVerhaftung.

Bei einem späteren Anruf antwortete ihr eine fremde Stim-

me. Da wusste sie, die SA war im Hause. Sie hatten alle

Mühe, Willi zurückzuhalten, der unbedingt ins Haus wollte,

um sich zu stellen und mich frei zu bekommen. In aller Frühe

war er aus dem Hause gegangen, wollte Ernst von der

Schule abfangen und mit ihm in die neue Wohnung Engels’

gehen.

Ich erklärte Frau Engel, dass Willi auf keinen Fall von den

SA-Leuten entdeckt werden dürfte, da sie ihn in Prag ver-

muteten und man sie in diesem Glauben lassen musste.

Später erzählte mir Frau Engel, dass einige Minuten, nach-

dem ich ihre Wohnung verlassen hatte, SA angefahren

Eine Seite aus dem Vokabelheft von Hans Vogel, mit dem er in

London recht mühsam die englische Sprache erlernte

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kam, die Engel holen wollte. Wenn sie mich oder Willi dort

gefunden hätten!

Natürlich wollten sie von Frau Engel die neueWohnung wis-

sen. Durch geschicktes Manövrieren von Frau Engel und

Geistesgegenwart des Spediteurs wurde die SA getäuscht,

die den Möbeltransport bis in das Lager des Spediteurs ver-

folgte. Erst abends konnten die Möbel vom Lager in die

neue Wohnung Engels’ gebracht werden.

Am Abend nach Geschäftsschluss traf ich mich mit

Willi und Ernst bei Engels’. Wir besprachen, dass ich noch

heute von der Polizei Friedrichshagen polizeilichen Schutz

verlangen sollte. Dann bat Willi mich, zu versuchen, seinen

Pass, seine Invaliden- und Steuerkarte aus der Wohnung zu

schmuggeln.

Ich ging am gleichen Abend (21 Uhr) mit Ernst zum Polizei-

revier Friedrichshagen und erbat polizeilichen Schutz. Die

Polizei bedauerte, nicht eingreifen zu können, die Besetzung

des Hauses sei allerdings Hausfriedensbruch nach dem

bürgerlichen Gesetzbuch, aber es sei eine Angelegenheit

Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 0930

der Geheimen Staatspolizei, in die einzugreifen sie nicht

berechtigt sei. Sie rieten mir, mich schriftlich an die Gehei-

me Staatspolizei zu wenden.

Als wir gegen 21:30 Uhr nach Hause kamen, standen meh-

rere SA-Männer vor dem Gartentor in Gesellschaft von

mehreren Frauen und Mädchen. Den SA-Leuten merkte

man eine gewisse Erwartung und Ungeduld an – vielleicht

hatten sie gehofft, ich werde nicht mehr in das Haus zurück-

kehren. Dann hätten sie wenigstens das Feld frei gehabt. Im

Hause großes Gewimmel von SA und ihren Frauen, die un-

ser Haus inspizierten. Lina erzählte mir, dass sie der SA die

Stiefel putzen und für sie kochen musste. Sie weinte und sah

schlecht aus. Ernst und ich gingen sofort, nachdem wir un-

seren Schlüssel verlangt hatten, in das Schlafzimmer unse-

rer Eltern. Dann schlich ich mich in Willis Zimmer – den

Schlüssel hatte man mir zufälligerweise mit den anderen

gegeben –, öffnete die Schreibtischschublade und suchte

nach seinen Papieren. Zum Glück waren sie noch da. Dann

suchte ich in seinem schwarzen Rock, der in meinem

Schrank hing, nach seinem Pass. Auch er war noch da. Ich

Der Exilparteivorstand der SPD in Paris, zu Gast bei einer Versammlung der französischen Schwesterpartei „Section française de l'in-

ternationale ouvrière“ (SFIO). An der Stirnseite: 2. von rechts: Dina Vogel, 3. von rechts: Hans Vogel, 4. von rechts: Antonia (Toni)

Wels, 5. von rechts: der SPD-Vorsitzende Otto Wels

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Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 09 31

legte mir die teuren Schätze unter das Kopfkissen und am

nächsten Morgen steckte ich sie mir vorne ins Kleid. Ich war

vielleicht gerade 50 Schritte vom Hause entfernt, als ein SA-

Mann, laut meinen Namen rufend, mir nachgerannt kam

und mir erklärte, er habe den Befehl, mich sofort in das Haus

zurückzubringen. Mein erster Gedanke: Jetzt haben sie den

‚Diebstahl’ des Passes und der Papiere entdeckt. Ich be-

schloss, auf keinen Fall zurückzugehen und alles zu versu-

chen, den SA-Mann umzustimmen. Ich erklärte ihm, dass es

mir unmöglich sei, zurückzugehen. ‚Im Amt warten Leute

auf mich, die bestellt sind, ich darf sie nicht warten lassen,

ich muss weiter.’ Er zuckte mit den Achseln. Ich fragte, wes-

halb ich zurückgehen sollte. Er zögerte. Dann erzählte er mir,

ich hätte mich bei dem Wachhabenden nicht persönlich ab-

gemeldet, nur bei ihm, der amTor stand. Das genüge aber

nicht. Ich bat den SA-Mann, mich bei dem Wachhabenden

für diesesVersäumnis zu entschuldigen und ihm klar zu ma-

chen, dass ich mich jetzt persönlich nicht entschuldigen

könnte, da meine Arbeit nicht warten könne. Das versprach

mir der SA-Mann. Ich war gerettet und konnte ungehindert

zur Arbeit. – Ein Glück übrigens, dass ich den Pass am

Abend herausgenommen hatte. Am Morgen nämlich fehlte

Willis schwarzer Rock. In der Nacht wütete ein heftiger

Sturm mit starkem Regen. Die SA-Leute, die amTor und im

Garten Dienst hatten, brauchten einen Regenschutz. Sie

wussten, dass im alten Schrank verschiedene Mäntel hin-

gen. Nachts klopften sie an unser Schlafzimmer und baten

mich, ihnen die Mäntel auszuhändigen. Ich tat es, doch am

Morgen fehlten nicht nur die Mäntel, sondern auch ver-

schiedene Hemden aus Willis Schubladen und außerdem

sein schwarzer Rock aus meinem Schrank.

Nach Geschäftsschluss traf ich mich mit Willi, Ernst,

Eberhard und Mariechen beiTietz. Wir besprachen das Not-

wendigste und schickten einen Brief an die Eltern ab, in dem

Willi sie über die Hausbesetzung informierte. Wir beschlos-

sen, dass ich am Sonnabend zur Geheimen Staatspolizei

gehen sollte, um dort die Freigabe des Hauses zu erlangen.

Am Abend ließ ich mich beim Sturmführer Scholz melden,

als er zur Inspektion in das Haus kam. Er saß in Vaters Ar-

beitszimmer. Das Ebertbildnis war bereits entfernt worden.

Über dem Schreibtisch hatte man eine große Hakenkreuz-

fahne angebracht und das Bildnis Hitlers aufgehangen.

Scholz empfing mich sehr höflich, bot mir einen Platz an und

fragte nach meinen Wünschen oder eventuellen Beschwer-

den. Ich erzählte ihm, dass wir Donnerstagabend, als wir

nach Hause kamen, Frauen und Mädchen im Haus trafen

und dass ich der Meinung sei, dass sie nicht hineingehör-

ten, da ich mir nicht denken könne, dass sie eine politische

Aufgabe zu erfüllen hätten. Scholz war von dieser Mittei-

lung überrascht und versprach Abhilfe. Weiter erzählte ich

ihm von der Behandlung Linas durch die SA und wies ihn

darauf hin, dass bei Linas Herzen bei weiterem Komman-

dieren der SA für nichts zu garantieren sei und bat ihn, sei-

nen Leuten zu verbieten, von Lina Dienste zu verlangen.

Außerdem bat ich ihn darum, Lina in den nächsten Tagen

nach Hause fahren zu lassen, damit sie zur Ruhe käme. Er

meinte, Lina könne nach Hause fahren, wann immer sie

wolle.

Außerdem bat ich darum, meine Zimmerschlüssel beim

Weggehen nicht einem x-beliebigen SA-Mann übergeben

zu müssen, der jederzeit in den Räumen herumsuchen

könnte, sondern nur ihm. Da er nicht immer im Hause war,

schlug er mir vor, die Schlüssel nur dem Wachhabenden

auszuhändigen, der dann für sie verantwortlich sei und eine

Durchsuchung nur auf seinen Befehl durchführen dürfte.

Weiter erklärte ich ihm, dass ich mit meinem Gehalt nicht

die Gas-, Wasser- und Lichtrechnungen bezahlen könnte,

die durch eine Besatzung von acht bis zehn Mann entste-

hen würden. Er versprach mir die Bezahlung durch die SA.

Zuletzt noch verständigte ich ihn von meiner Absicht, am

Sonnabend die Geheime Staatspolizei aufzusuchen und ei-

ne Beschleunigung der Angelegenheit zu erreichen. Ich bat

ihn um eine schriftliche Bestätigung, dass ich mit seiner Ein-

willigung die Geheime Staatspolizei aufsuche. Er lehnte es

ab, mir diesen Beleg zu geben, stellte es mir aber frei, zur

Gestapo zu gehen. Er versprach sich davon keine Beschleu-

nigung, weil die Unterlagen für eine endgültige Entschei-

dung noch nicht von ihnen herbeigeschafft werden konn-

ten. Er seinerseits würde nach seinen Kräften dafür sorgen,

dass die Sache so schnell als möglich erledigt würde. Nach

Besprechung dieser ‚dienstlichen’ Angelegenheiten kamen

wir in ein persönliches Gespräch, an dem sich auch Weihe,

Scholzens Adjutant, beteiligte. Man malte mir die Schre-

cken des Bolschewismus in den schwärzesten Farben und

verherrlichte dieTat des Nationalsozialismus, das deutsche

Volk von diesem Schrecken bewahrt zu haben.

Als ich die Methoden des nationalsozialistischen Kampfes,

sein autoritäres, diktatorisches System angriff, antwortete

man mir mit Schlagwörtern, die mit Pathos, aber nicht mit

überzeugender Bestimmtheit vorgebracht wurden. Wir ka-

men fast in einen heftigen Streit, in dessen Verlauf Scholz

mir erklärte, er sei überzeugt, dass wenn wir uns auf einem

anderen Planeten als Mensch begegnet wären, wir uns gut

verstanden hätten, er schätze mich als Menschen, aber poli-

tisch sei er mein Gegner.

Er hätte seinen Leuten Befehl gegeben, mir höflich entge-

genzutreten, und wenn ich in dieser Beziehung eine Klage

hätte, sollte ich ihn sofort davon unterrichten. Solange er in

diesem Haus etwas zu sagen hätte, dürfte ich seines Schut-

zes gewiss sein. Sollte er aber höheren Befehl erhalten, so

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würde er diesen Befehl ausführen, auch wenn er hart zupak-

ken müsste.

Sonnabend, den 24. Juni 1933Meine Absicht, zur Gestapo zu gehen, unterließ ich auf drin-

gendes Zureden einer Geschäftskollegin und Genossin, die

den Zeitraum vom 21. bis 24. Juni zu kurz für eine endgülti-

ge Entscheidung hielt. Sie fürchtete auch, dass man in die-

serVerwirrung – in den letztenTagen war eine große Anzahl

Verhaftungen auch bei Zentrumsleuten und Deutschnatio-

nalen vorgenommen worden – mich kurzerhand in der Ge-

stapo behalten würde und Ernst dann vollkommen allein

sei.

In der Nacht vom 24. zum 25. Juni fand auf den

Müggelbergen eine große Sonnwendfeier der Hitlerjugend

und SA statt. Gegen 3 Uhr nachts herrschte auf der Seestra-

ße und auf der Spree großes Getöse, denn da kehrten die

Festteilnehmer von der Feier zurück.

Ich erwachte durch Gesang und in der Turmallee hörte ich

eine Truppe marschieren. Am Hause angekommen, wurde

von einer jungen schneidigen Stimme ‚Halt’ kommandiert

Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 0932

und der Führer der Truppe hielt eine Ansprache an seine

Leute, in der er zum Ausdruck brachte, dass die SA das

Haus des sozialdemokratischen Bonzen Vogel erobert hät-

te, dass jetzt die Zeiten für die Bonzen vorbei seien und das

Haus von der Hitlerjugend in Besitz genommen würde, der

es fortan gehören sollte.

Es folgten weitere Verächtlichmachungen meines Vaters, in

gehässigstem und überheblichstem Ton ausgestoßen. Of-

fenbar wurde diese Rede gehalten, um mich, die man doch

im Hause vermuten musste, aufsTiefste zu beleidigen und

zu verletzen.

Sonntag, den 25. Juni 1933Am Mittag fuhr Lina mit ihrem Schwager Fürst, der bei ei-

nem Berlinbesuch Lina im besetzten Haus antraf, in ihre Hei-

mat. Nachmittags trafen wir uns mit Mariechen und Eber-

hard. Als wir abends nach Hause kamen und uns in der

Küche Abendbrot machten, erschien der Wachhabende.

Derjenige, der mir am Morgen nach der Verhaftung die

Schlüssel übergab, und eröffnete mir in einer ruhigen, fast

väterlichen Weise, dass er an mich eine Gewissensfrage zu

stellen habe, da man vermeiden wollte, mich im Beisein der

jungen Burschen auszufragen. Er bat mich, die Frage wahr-

heitsgemäß zu beantworten, da sie die Wahrheit doch an

denTag bringen würden. Ich war gespannt auf diese Frage.

Sie lautete: ‚Haben Sie in diesem Haus unterirdische Gän-

ge?’

Ich war so sprachlos, dass ich nur ein ‚Nein’ heraus-

bringen konnte. Der SA-Mann entfernte sich. Als er nach

kurzer Zeit zurückkam, erzählte er mir, dass er eben mit

Scholz telefoniert habe und ihn über den Eindruck, den

seine Gewissensfrage auf mich gemacht habe, berichtet

hätte. Er und der Sturmführer Scholz seien schon vorher der

Überzeugung gewesen, dass solche Gänge in dem Hause

nicht existierten. Man habe aber, bevor man an die fach-

männische Untersuchung des Hauses gehen wollte, meine

Antwort wissen wollen. Mit der Untersuchung sei er beauf-

tragt worden, weil er der einzige Fachmann für Berlin sei.

Der Apparat würde nächste Woche eintreffen, dann würde

man mit der Untersuchung beginnen. Ich fragte, wie ein sol-

cher Verdacht entstehen konnte. Er erzählte mir, dass ein

uns ‚freundlich’ gesinnter Nachbar die Anzeige gemacht ha-

be, dass sich in unserem Haus unterirdische Gänge befän-

den. ‚Wissen Sie’, sagte er, ‚Schweinehunde gibt es überall.

Wenn einer Unglück hat, dann häufen Schadenfrohe noch

mehr auf ihn.’ Dann erzählte er mir aus seinem Leben. Dass

er einmal ganz links gestanden hätte, aber durch bittere Er-

fahrungen zur NSDAP gekommen sei. Er sei abstinent und

arbeite in der Trinkerfürsorge. Er suche immer den Men-

schen im anderen und möchte aus der Politik die Gehässig-

keit ausscheiden.

Diese Zeichnung von Hans Vogel entstand Anfang 1940 in Süd-

frankreich, während sich der SPD-Politiker auf der Flucht vor

den Nazis befand.

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Einsichten und Perspektiven 1 | 09 33

Sonntag, den 25. Juni 1933 bis 1. Juli 1933Die ganze Woche hatte die Wache den gleichen Wachha-

benden, den SA-Mann Stolzenfels. Ein widerlicher Mensch,

gleißend, glatt, mit gönnerhaften Manieren. Er badete in un-

serem Badezimmer, während ich im Geschäft war. Er spiel-

te, wo er konnte, den Herrn des Hauses. Er kam fast die gan-

zen achtTage nicht aus den Kleidern, roch oft nach Bier. Ich

ging morgens aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter,

verabschiedete mich von Ernst und verließ das Haus. Das

ärgerte ihn sehr, weil ihm das Ganze zu schnell ging, so

äußerte er sich Ernst gegenüber. Abends, wenn Ernst und

ich nach Hause kamen, verlangten wir unsere Schlüssel,

machten uns einen schnellen Imbiss und gingen in unser

Schlafzimmer, weil wir nichts mehr sehen wollten von den

Nazis. Ernst ging nach der Schule zu Mariechen. Als er ein-

mal mittags nach Hause kam, versuchte man ihn einzu-

schüchtern und stellte an ihn alle möglichen Fragen.

Da meine Aktentasche jeden Morgen kontrolliert

wurde, konnte ich das Notwendigste an Kleidern und Wä-

sche nur dadurch aus dem Hause bringen, dass ich mir je-

den Morgen zwei Garnituren anzog und darüber meinen

Gummimantel.

Die Nächte waren nicht immer ruhig. Man hörte die SA um

das Haus laufen, die Wache am Haustor wechseln, Motor-

räder ankommen usw. Auf unserer Schreibmaschine wurde

oft geschrieben – anscheinend Berichte über Beobachtun-

gen im Hause, über die Zeiten des Eintreffens und Verlas-

sens unseres Hauses. Als ich am Dienstagabend nach

Hause kam, teilte mir derWachhabende mit, dass die Polizei

Friedrichshagen nach mir gefragt hätte und dass ich mich

am nächsten Tag im Polizeirevier zu melden hätte. Als ich

am Mittwoch Abend dort erschien, war bereits geschlossen,

aber ich hinterließ Bescheid, dass ich dort gewesen war. Am

Donnerstag Abend teilte mir derWachhabende mit, dass die

Polizei ein zweites Mal hier gewesen sei und energisch mein

Erscheinen gefordert habe. Ich war aber am gleichen Tag

auf dem Polizeirevier gewesen.

Man verlangte dort von mir den Aufenthaltsort meines Va-

ters und seine Abmeldung. Ich erklärte, nichts Bestimmtes

über Vaters Aufenthalt zu wissen, nur das, was in der Zei-

tung stehe. Danach sollte er sich angeblich in Prag aufhal-

ten. Ich weigerte mich,Vater und Mutter abzumelden, da ich

dazu von ihnen keinen Auftrag hatte, und fragte, weshalb

man die Abmeldung verlange.

Der Polizeiwachtmeister erzählte mir, dass die Nazis bei ihm

gewesen seien und gemeldet hätten, dass mein Vater und

meine Mutter geflüchtet seien. Sie wollten seinen jetzigen

Aufenthalt wissen und verlangten von der Polizei, dass sie

versuchen sollte, ihn durch mich zu erfahren, bzw. dass ich

die Abmeldung meinesVaters vornehmen sollte. Der Zweck

dieser ganzen Aktion war auch dem Wachtmeister nicht klar

geworden, aber er musste die Meldung über die Abreise

meines Vaters dienstlich weiter verfolgen.

Als ich am Freitag Abend nach Hause kam, machte

der Wachhabende Stolzenfels mir regelrechte Vorwürfe,

dass ich noch immer nicht zur Polizei gegangen sei, trotz

zweimaliger Mahnung. Heute sei die Polizei zum dritten Mal

erschienen. Stolzenfels tat immer so, als wüsste er nicht, um

welche Angelegenheit es sich handelte. Ich hütete mich

aber, ihm Näheres zu erzählen. Wenn ich nicht freiwillig er-

schiene, müsste man mich zwangsweise vorführen, sagte

Stolzenfels. Darauf erwiderte ich ihm, dass die Angelegen-

heit bereits gestern erledigt worden sei und dass mir das

nochmalige Erscheinen der Polizei unerklärlich sei.

Aber ein neues Problem harrte seiner Lösung. Ernst

bekam am 1. Juli Ferien. An diesemTag sollte Willi ihn über

die Grenze zu den Eltern bringen, denn es war unmöglich,

den Jungen den ganzen Tag unter der SA-Besatzung des

Hauses allein zu lassen.

Ich wollte ausharren, solange ich Arbeit hatte, denn ich

wollte unser Eigentum nicht kampflos den Nazis überlas-

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Wenzel Jaksch (links), hier

1966 an seinem 70. Geburtstag, war seit der Emigration nach

Prag eng mit der Familie von Hans Vogel verbunden.

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sen, das sie ohne jedes Recht an sich gerissen hatten. Die

Schwierigkeit bestand darin, Ernst auf legalem Wege aus

dem Haus zu bringen, das heißt mit seinen Sachen, unter

Einwilligung der Nazis. Wie leicht konnten sie auf Grund

des gefundenen Briefes Verdacht schöpfen, dass wir ihn zu

unseren Eltern nach Prag bringen wollten!

Das hatte ich doch bei der Verhaftung energisch abgestrit-

ten sowie jede Verbindung mit Prag. Deshalb hatten wir

(Willi, Eberhard, Mariechen und ich) Folgendes uns ausge-

dacht: Mariechens Mutter schickt Ernst eine Einladung aus

Kiel. Diese Einladung werden die Nazis zu lesen bekommen,

da sie ja alle Posteingänge kontrollierten. Die Karte wurde

in Kiel abgeschickt, doch warteten wir bis Donnerstag ver-

geblich auf ihr Erscheinen. Am Abend erzählte mir Ernst,

dass er den Postboten gefragt hätte, ob er keine Karte aus

Kiel für ihn hätte. Der Postbote erzählte ihm, dass er vor zwei

Tagen eine Kieler Karte dem Nazi am Gartentor übergeben

wollte, dieser aber die Karte nicht annahm, mit der Begrün-

dung, dass hier Vogels nicht mehr wohnten. Diese Karte

habe er in Friedrichshagen wieder abgeliefert. Am nächsten

Morgen erkundigte ich mich auf der Post in Friedrichshagen

nach dieser Karte. Leider konnte man sie nicht finden.

Am Abend ließ ich mich bei Sturmführer Scholz mel-

den. Ich hatte die Absicht, einige Angelegenheiten mit ihm

zu besprechen und im Laufe des Gesprächs ganz unauffäl-

lig zu erwähnen, dass ich Ernst am nächsten Morgen nach

Kiel zu Verwandten bringen wollte. Als ich im Zimmer ein-

trat, aß er gerade eine Stulle und trank Kaffee. Er entschul-

digte sich, dass er während unserer Besprechung esse bzw.

trinke, aber er sei bis auf die Haut durchnässt und ausge-

hungert. Er kam von der Gedenkfeier für die in Köpenick er-

schossenen SA-Männer. Ich verständigte ihn, dass ichTele-

fon und Radio abbestellen würde, weil ich die Kosten von

nun ab nicht bestreiten könnte. Ich teilte ihm mit, dass die

Hemden, die in der Nacht vom 22. zum 23. Juni aus meines

Bruders Schubladen entwendet wurden, sowie sein Rock

und die geliehenen Mäntel noch nicht zurückgegeben wor-

den seien. Darauf Weihe: ‚Ich verbitte mir, dass Sie uns für

Diebe halten.’

Ich hatte nichts von Dieben gesagt, wollte nur die

Angelegenheit in ihrem eigenen Interesse in Ordnung ge-

bracht haben. Scholz beruhigte Weihe und versprach mir,

dass mir Weihe eine Quittung über die entliehenen Gegen-

stände ausstellen würde. Ich unterrichtete ihn, dass Stolzen-

fels während meiner Abwesenheit öfters gebadet habe und

dass aus diesem Grund das Bad von mir nicht mehr benützt

werden könnte, dass ich aber nicht wünsche, dass er Stol-

zenfels das Baden untersage. Weihe brauste auf, als ich das

sagte, aber Scholz verstand meinen Standpunkt, meinte

aber, dass es besser sei, die Sache totzuschweigen, weil

man mich eventuell zu schikanieren versuchen werde, so-

Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 0934

bald Stolzenfels erfahren werde, dass ich ihm die Sache ge-

meldet habe. Dann erkundigte ich mich nach dem Stand

der Hausangelegenheit. Ganz zum Schluss sprach ich den

Wunsch aus, Ernst am nächsten Morgen zum Zug nach Kiel

bringen zu dürfen, und erbat sein Einverständnis. Er antwor-

tete mir, dass hierzu der Inspektionsführer in Friedrichsha-

gen seine Einwilligung geben müsse und dass einige Tage

darüber vergehen würden.

Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, dass Ernst bereits

am nächsten Morgen aus dem Haus gebracht werden müs-

se. Er werde in Kiel erwartet und es sei ganz unmöglich, den

Jungen den ganzenTag allein im Hause bei der Besatzung

zu lassen, während ich in der Stadt arbeitete. Er sah das ein,

überlegte einige Minuten und fragte ganz unvermittelt:

‚Wie ist der Name und die Adresse Ihrer Verwandten in

Kiel?’

Ich antwortete rasch: ‚Grete Binoch, Kiel, Prinz-Heinrich-

Straße 86.’

Er befahl seinem AdjutantenWeihe genau Name und

Adresse zu notieren. Dann ging er ans Telefon und suchte

Verbindung mit dem Inspektionsführer in Friedrichshagen.

Er trug ihm mein Anliegen vor und fügte hinzu, dass sie ge-

nauen Namen und Adresse meiner Verwandten in Kiel hät-

ten. Der Inspektionsführer gab daraufhin seine Einwilli-

gung. Ich bat darum, dass Scholz den Wachhabenden ver-

ständigte, dass am nächsten Morgen Ernst mit seinem Ge-

päck das Haus verlassen würde. Scholz meinte, das würde

ohne weiteres nach Kontrolle des Gepäcks geschehen kön-

nen. Ich badete Ernst, der vor Müdigkeit fast im Bad ein-

schlief. Wie hatte er um sein Schicksal gebangt, während

der Unterredung mit dem Sturmführer. Dann packte ich

seine Sachen in einen Rucksack und einen Koffer, in den ich

WillisWanderhose, seine Schuhe und seinen Kocher auf gut

Glück hineinschmuggelte.

Samstag, 1. Juli 1933Um 6 Uhr verließen wir das Haus und trafen Willi am Bahn-

hof in Berlin-Niederschöneweide. Schweren Herzens ließ

ich die beiden ziehen. Würde der Übergang über die Grenze

gelingen? Würde Willi gut zurückkommen?

Als ich ins Geschäft kam, machte man mir die Mitteilung,

dass ich sofort entlassen sei. Grund: Staatsfeindlichkeit,

langjährige SPD-Mitgliedschaft.

Ich gab meiner Kollegin, die ahnungslos mein Arbeitsgebiet

zu übernehmen hatte, noch die notwendigsten Ratschläge,

dann ging ich zur Personalstelle des Arbeitsamtes Mitte, um

dort meine Papiere abzuholen. Dort ersuchte ich auch um

eine persönliche Rücksprache mit dem Personalreferenten

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Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 09 35

Meyer. Er bedauerte mein Ausscheiden aus der Reichsan-

stalt, erzählte, dass er die Verlängerung meines Arbeitsver-

trages für den Monat Juli bereits unterzeichnet habe, da er

noch einige Zeit bis zur Entscheidung über meine endgülti-

ge Anstellung verstreichen lassen wolle. Auf höhere Wei-

sung habe er die unterzeichnete Verlängerung rückgängig

machen müssen.

Man hätte ihm Vorwürfe gemacht, dass er mich, das lang-

jährige SPD-Mitglied, nicht schon längst aus dem Amte ent-

fernt hätte. Er hätte gestern viele Entlassungen unterzeich-

nen müssen und sei sich wie ein Henker vorgekommen.

Ich hielt ihm entgegen, dass ich wissenschaftliche Arbeit ge-

leistet hätte, bei der nationale Zuverlässigkeit keine Rolle

spielen könne. Halb gab er es zu, musste aber die offizielle

Meinung vertreten, dass überall nationale Zuverlässigkeit

verlangt werden müsse. Er selbst wolle alles tun, mir den

Weg zu einem neuen Arbeitsplatz zu ebnen. Als Grund der

Entlassung in meiner Arbeitsbescheinigung schrieb er nicht

‚Staatsfeindlichkeit’, sondern ‚Beendigung der Aushilfe’. Er

erbot sich auch, mir ein persönlicher gehaltenes Zeugnis

auszustellen, da das behördliche Zeugnis zu wenig enthal-

ten würde. Ich sollte ihm den Entwurf des Zeugnisses brin-

gen. EinigeTage später erhielt ich von ihm ein persönliches

Zeugnis, trotz des Widerstandes eines SA-Beamten.

Sonntag, den 2. Juli 1933Mit Engels auf Fahrt. Am Abend, als ich in der Küche war,

kam der Scharführer, der Abstinenzler herein. Meist ver-

schwanden die SA-Leute aus der Küche, wenn ich erschien,

und gingen hinunter in den Keller. Der Scharführer hatte

Sonntagnachmittag Stolzenfels, der fast acht Tage als

Wachhabender im Hause war, abgelöst. Der Scharführer

fragte mich, ob ich den Leuten ein weißes Tischtuch gege-

ben hätte, da sie zurzeit ein solches benützten. Ich vernein-

te, guckte in die Küchenschublade – dasTischtuch fehlte. Er

fragte mich weiter, ob unser Radioapparat einen Akku be-

sessen habe. Er habe seinen eigenen hergegeben, weil er

fehlte. Ich sagte ihm, dass unser Radio mit einem Akku ver-

sehen gewesen sei, also hatte man den Akku gestohlen.

Dann fragte er mich, ob ich aus dem Nähkästchen die Sche-

re entfernt hätte, da er sie heute Morgen bei einer Kontrolle

vermisst habe. Ich hatte sie nicht herausgenommen.

Dieser Scharführer hatte nämlich die erste Wache nach der

Besetzung des Hauses zu übernehmen. Damals kontrollier-

te er genau die Einrichtung des Hauses und schien sich die

Dinge sehr genau gemerkt zu haben, da er sogar das Fehlen

der Knopflochschere bemerkte. Er war über die Wegnahme

des Tischtuches, des Akkus und der Knopflochschere sehr

entrüstet, hielt solche Handlungsweisen unvereinbar mit

der Ehre eines SA-Mannes, wollte gleich eine Anzeige an

seine Vorgesetzten machen, damit der Schuldige bestraft

werde und er daran gehindert werde, in Zukunft sich noch

einmal an unserem Eigentum zu vergreifen.

Er wetterte dagegen, dass acht Tage lang ein und derselbe

SA-Mann Wachhabender gewesen sei, obgleich es sehr

schwer sei, Wachhabende zu finden, da es bei der jungen

Mannschaft ältere, gesetzte SA-Männer sein mussten, diese

aber meist in Arbeit standen.

Dann fragte er mich, ob ich Klagen über die Leute

habe, mir stünde jederzeit das Recht der Beschwerde zu. Ich

beklagte mich über die Verächtlichmachung meines Vaters

in der in der Nacht vom 24. zum 25. Juni vor unserm Haus

gehaltenen Ansprache eines Nationalsozialisten. Darauf

entgegnete er, dass er gegen das, was gegen meinen Vater,

als Politiker, gesagt werde, nicht einschreiten könne. Ich

wandte dagegen ein, dass die Rede offensichtlich in der Ab-

sicht gehalten wurde, mich zu verletzen, denn meinVater sei

nicht im Hause gewesen, aber mich habe man darin ver-

muten müssen. Der Wachhabende versprach mir, die Ange-

legenheit Scholz zu melden. Dann beklagte ich mich, dass

ich die geliehenen Mäntel und die entnommenen Hemden

noch immer nicht zurückerhalten hätte. Daraufhin führte er

mich in den Keller und übergab mir Willis blauen Mantel

und seinen Lodenmantel. Der Schupomantel war aber nicht

mehr zu finden.

Montag, den 3. Juli 1933Ich war arbeitslos. ‚Zuhause’ wollte ich nicht bleiben, denn

den Nazis wollte ich nicht zu dieser Schadenfreude verhel-

fen. Nur dem anständigenWachhabenden, der sich wirklich

immer ganz korrekt verhalten hatte, sagte ich am Morgen,

dass ich arbeitslos geworden war, bat ihn aber, seinen Ka-

meraden und auch Scholz davon nichts zu erzählen.

Der Wachhabende war über meine Mitteilung wirklich er-

schrocken, klopfte mir tröstend auf die Schulter und meinte:

‚Dass Sie das auch noch treffen muss, ist doch zu schwer!

Was werden Sie jetzt machen?’

Ich ging am Morgen zum Arbeitsamt Friedrichsha-

gen, weil ich dort einen Antrag auf Arbeitslosenunterstüt-

zung stellen wollte. Der Beamte erklärte mir, dass ich keinen

Anspruch auf Alu habe, da ich zu kurz gearbeitet habe, nur

acht Monate, gesetzlich seien zwei Jahre erforderlich. Da-

rauf ging ich zur Post und bestellte Radio undTelefon ab.

Abends war ich bei Lenz17 eingeladen. Er hielt es für

ausgeschlossen, dass ich durch weiteres Verbleiben in dem

17 Handschriftliche Anmerkung: „Gute Freunde meines Vaters, die sich als ‚Demokratische Staatsparteiler‘ bekannten“.

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Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 0936

18 „Onkel Michel“ ist Hans Vogels älterer Bruder Michael Vogel (1872-1950), der nach der Befreiung von Erlangen im Frühjahr 1945 von denAmerikanern für einige Tage wegen der Einquartierung von vier Offizieren aus seinem Haus geworfen und in einem Lager interniertwurde, bevor die Amerikaner den Irrtum bemerkten und Michael Vogel rehabilitierten.

besetzten Haus die Freigabe unserer Einrichtung erzwingen

würde. Aus früheren Erfahrungen wisse man, dass das Ver-

mögen von ‚Staatsfeinden’ rücksichtslos eingezogen wor-

den sei. Das Einzige, was ihm zu erreichen möglich schien,

war die Freigabe meiner persönlichen Möbel auf Grund ei-

ner Rücksprache mit Scholz, der dann allerdings die Erlaub-

nis auf eigene Faust erteilen müsste. Im Übrigen hielt er es

für zu gewagt für mich, noch weiter im Hause wohnen zu

bleiben, da jeden Augenblick die getarnte Ferienreise Ernsts

nach Kiel entdeckt werden könne und in diesem Fall man

mich sicher ins Konzentrationslager bringen werde.

Dienstag, den 4. Juli 1933Als ich am Morgen später als sonst vom Schlafzimmer her-

unterkam, fragte mich der Wachhabende sofort, ob ich heu-

te Nacht geschlafen habe. Mitten in der Nacht sei ein hefti-

ger Schlag erfolgt. Man habe im ganzen Haus herumge-

sucht, aber die Ursache nicht entdecken können. Sie hätten

mich aber nicht wecken wollen. Als ich am Morgen nicht zu

meiner gewohnten Zeit herunterkam, fürchteten sie, es sei

mir während der Nacht etwas zugestoßen und das Gepolter

rühre davon her. Ich aber hatte von dem Gepolter nichts ge-

merkt und als ich dem Wachhabenden dies erzählte, sah er

etwas ungläubig drein. Ich musste dann den Schlüssel für

unser Wohnzimmer verlangen. Seit zehnTagen ging ich das

erste Mal wieder hinein. Als ich dieTüre aufmachte, lag am

Boden, zerbrochen das große schwere Bild, das Onkel

Michel18 Vater zum 50. Geburtstag geschenkt hat. Dieses

Bild war in der Nacht vom Nagel gefallen und hatte das

geheimnisvolle Gepolter verursacht, das den Nazis schein-

bar sehr viel zu denken und raten aufgab.

Ich traf bei einer Besorgung in Friedrichshagen den

Genossen Weck. Er fragte sofort nach Ernst. Ich antwortete

ihm, er sei in Kiel bei Verwandten zu Besuch. Er sah mich

zweifelnd an und sagte: ‚Ich dachte, er sei in Prag bei den

Eltern.’

Ich versicherte ihm nochmals, dass Ernst in Kiel sei.

Darauf meinte er: ‚Es freut mich, dass Sie so verschwiegen

sind. Aber ich weiß bestimmt, dass Willi Ernst am Sonn-

abend über die Grenze gebracht hat. Das erzählt man sich in

Friedrichshagen. Der Junge von Klott hat es anderen Kin-

derfreundekindern auch erzählt, dass er wisse, dass Ernst

schon in Prag bei seinen Eltern sei.’

Wie war das möglich? Niemand hatten wir davon

erzählt.

Weck fürchtete, dass die SA sehr schnell erfahren würde,

dass Ernst nicht in Kiel, sondern in Prag sei, nachdem man

in Friedrichshagen schon davon sprach. Er riet mir drin-

gend ab, noch weiter im Hause zu bleiben, da jeden Augen-

blick meine ‚Vorspiegelung falscher Tatsachen’ entdeckt

werden könne und in diesem Fall mir das Konzentrations-

lager sicher sei.

Ich fuhr dann zum Arbeitsnachweis, um mich dort zu mel-

den. Vier Stunden musste ich warten, bis ich an die Reihe

kam. Während dieser Zeit fand eine Durchsuchung des gan-

zen Arbeitsamtes durch ein großes Aufgebot von Polizei

statt. Ich musste Handtasche und Aktentasche vorzeigen,

die nach kleinen Zetteln durchsucht wurden. Es waren näm-

lich von Kommunisten Zigarettenbilder an die Türe geklebt

worden, die auf der Rückseite einen Gummistempel trugen

mit den Worten: ‚Die KPD lebt doch.’ Diese Zigarettenbil-

derverteiler suchte man.

Als ich am Abend zu Engels kam, traf ich Willi bereits

dort, der heil von seiner Mission zurückgekehrt war. Ich teil-

te ihm mit, was ich von Weck erfahren hatte.

Das Grab von Hans Vogel auf dem Nürnberger Westfriedhof.

Das Foto entstand an seinem 100. Geburtstag, im Februar 1981.

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Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 09 37

Haus herumrennen, die Schreibmaschine klapperte. Natür-

lich sah ich auf das alles im Zusammenhang mit der Ent-

deckung und bereitete mich innerlich darauf vor, am Mor-

gen beim Aufstehen als verhaftet erklärt zu werden.

Freitag, den 7. Juli 1933Um 8 Uhr verließ ich endgültig das Haus. In der Aktentasche

zeigte ich zur Kontrolle meine Badesachen vor und meine

Handtasche. Mein letztes Geld hatte ich mir auf den Leib

gebunden.

Den Wachhabenden, bei dem ich mich abzumelden hatte

und dem ich meine Schlüssel übergab, verständigte ich,

dass ich am Abend später als sonst nach Hause kommen

werde, da ich bei einer Geburtstagsfeier eingeladen sei. Er

entließ mich. Am Anhalter Bahnhof erwartete michWilli mit

dem Rucksack, in dem das Notwendigste verpackt war.

Wir fuhren bis Bad Schandau, stiegen dort aus dem D-Zug,

ließen uns auf unsere Pässe einen Grenzschein ausstellen,

fuhren mit dem Personenzug bis Bodenbach. Dort wurden

wir auf Geld und Pass von den Deutschen, auf unseren

Rucksack von denTschechen kontrolliert. In Bodenbach hat-

ten wir einige Stunden Aufenthalt. Willi brachte mich zum

D-Zug nach Prag und fuhr dann wieder nach Berlin zurück.

Am Abend wurde, das hatten wir mit Eberhard vereinbart,

bei der SA-Wache angerufen, dass ich bei der Geburtstags-

feier einen Nervenzusammenbruch bekommen habe und

die Nacht nicht nach Hause zurück könnte, aber am nächs-

ten Tag zurückzukommen hoffte. Am nächsten Tag rief

Eberhard wieder an und verständigte die SA, dass man

mich in ein Sanatorium hätte bringen müssen und dass ich

darum gebeten habe, die Hausangelegenheit in Ordnung

weiterzuführen. In beiden Fällen wollte die SA wissen, wer

am Telefon sei und in welches Sanatorium man mich ge-

bracht hätte. Doch Eberhard antwortete immer, dass das

nichts zur Sache täte.

Nachbemerkung von Frieda VogelIch habe in diesem Bericht nur Tatsachen gegeben und es

unterlassen, außer den Handlungen noch mehr zu beschrei-

ben, das heißt, die gefühlsmäßige Wirkung der mannigfa-

chen Ereignisse auf mich, Willi und Ernst. Der Sinn dieses

Berichtes soll nur der sein, den äußerenVerlauf dieser ereig-

nisreichen Zeit festzuhalten, damit sie nicht im Laufe der

Zeit ihre Deutlichkeit verlieren können. Das persönliche Er-

lebnis wird unvergessen bleiben und braucht nicht schrift-

lich festgehalten zu werden.

Nicht gut gelungen ist die Charakterisierung der SA-

Besatzung. Ich habe sie – ein seltenes Glück – von ihrer

menschlichsten Seite kennengelernt. Zu diesem Glück gra-

tulierte mir Sturmführer Scholz bei seinem ersten Zusam-

Unter diesen Umständen erschien Willi mein weiteres

Verbleiben im Hause als Spiel mit dem Schicksal und wir be-

schlossen, dass er mich Freitag über die Grenze bringen

wollte, denn ich brauchte noch ein paar Tage, um mich für

die Reise vorzubereiten, wollte die schmutzige Wäsche aus

dem Haus geben und noch einige Kleidungsstücke heraus-

schmuggeln. Es war ein Risiko, noch ein paar Tage auszu-

harren, aber wir versuchten unser Glück.

Mittwoch, den 5. Juli 1933 und Donnerstag,den 6. Juli 1933Ich zog die Bettwäsche ab. Nur mein Bett ließ ich bezogen,

um keinen Verdacht zu erregen. Ich ließ die schmutzige Wä-

sche zur Wäscherei bringen. Ich sichtete nochmals meine

Briefsachen und Mutters Schatulle, verbrannte heimlich in

der Nacht, was mir gefährlich erschien. Am Donnerstag be-

suchte ich Fräulein Haas. Sie bat mich, sofort abzureisen,

keine Stunde länger in Berlin zu bleiben. Sie schalt mich,

weil ich um der Sachen willen meine Freiheit aufs Spiel

setzte. Doch trotz aller Bitten, ich entschloss mich noch ein-

mal in das Haus zurückzukehren, für die letzte Nacht. Diese

letzte Nacht war seltsam unruhig. Die ganze Nacht fuhren

Motorräder vor das Haus. SA-Leute hörte ich eilig um das

Diese Postkarte mit einem Foto des jungen Abgeordneten Hans

Vogel erschien im Herbst 1945 nach seinem Tod, um ihn vor dem

Vergessen zu bewahren.

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Mit dem Gesicht nach Deutschland

Schon bald muss Hans Vogel erkennen, dass die Herrschaftder Nationalsozialisten keineswegs nur eine kurze Episodebleiben wird, wie er zunächst gehofft hat. Jahr um Jahrschwindet die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in dieHeimat. Die Nazis haben ihn 1934 ausgebürgert, sein Ei-gentum nun auch offiziell konfisziert. Im Frühjahr 1938wird das Büro des Exilparteivorstands der SPD aus Pragnach Paris verlegt. Inzwischen sind die finanziellen Mittel,die man 1933 noch auf Auslandskonten überweisen konn-te, weitgehend verbraucht. Die propagandistischen Aktivi-täten gegen das NS-Regime leiden indes nicht nur unter demGeldmangel, sondern auch, weil weder die tschechischenoch die französische Regierung die Nazis allzu offen pro-vozieren möchte. Willi und Frieda Vogel leben inzwischenin Stockholm. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegsverschlägt es Hans Vogel und seine Frau auf der Flucht vorden deutschen Truppen nach Südfrankreich. Auch hier kön-nen sie nicht bleiben.

Hans Vogel steht ganz oben auf den Fahndungslistender Gestapo, schließlich ist er seit dem Tod von OttoWels der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei.Auf abenteuerlichen Wegen wird das Ehepaar durchSpanien nach Portugal geschleust und gelangt schließ-

Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 0938

lich an Bord eines Dampfers Ende 1940 mit einem alli-ierten Geleitzug nach Großbritannien.

Die Labour Party hat ihnen dabei geholfen, die notwendi-gen Papiere zu beschaffen. Es ist eine bewusste Entschei-dung des Franken. Von London aus, mit dem Gesicht nachDeutschland, soll die Auseinandersetzung mit den Nazisfortgesetzt werden. Es hätte auch die Möglichkeit bestan-den, in die Vereinigten Staaten zu gehen. Das wäre jedochzu weit entfernt vom Kriegsgeschehen, meint Vogel. Jetzt istseine Familie gänzlich zerrissen, denn Ernst, mittlerweile 19Jahre alt, entschließt sich zur Auswanderung in die Verei-nigten Staaten. Hans und Dina Vogel beziehen eine kleineWohnung im Norden von London, im Stadtteil Mill Hill.Sie beziehen eine kleine finanzielle Unterstützung der La-bour Party, die ihnen ein bescheidenes Leben erlaubt. VielRaum zur politischen Aktivität hat er allerdings nicht, zu-mal ihm das Erlernen der englischen Sprache nicht sehrleicht fällt.

Im Sommer 1945 möchte Hans Vogel so rasch wie mög-lich zurück in die Heimat und zwar nicht zuletzt ausprivaten Gründen. Er sehnt sich nach einer Botschaftvon seinem Bruder Michael. Der von den Amerikanernneu ernannte Bayerische Ministerpräsident Wilhelm

19 Frieda Vogel emigrierte mit ihren Geschwistern in die Tschechoslowakei. 1937 ging sie über Dänemark nach Schweden. Sie arbeitete alsHaushaltshilfe bei verschiedenen Familien in Stockholm. 1938 sah sie ihren Vater das letzte Mal. Nach ihrer Rückkehr nach Westdeutsch-land im März 1947 amtierte sie zunächst als Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt in Nürnberg und anschließend von 1948–1969 alsLeiterin des Stadtjugendamtes in Fürth: „Das war das erste Mal, dass eine Frau in leitender Stellung bei der Stadtverwaltung in Fürth beru-fen wurde, und bedeutete natürlich besonders für den Oberbürgermeister ein Experiment. Doch das Experiment gelang.“ Das Haus derFamilie Vogel in der Berliner Turmallee wurde nach der Abreise der Kinder von SA-Leuten vollständig geplündert. Im Sommer 1934 warennur noch einige Bücher, eine Lampe sowie „wertloses Inventar“ übrig. Frieda Vogel verstarb am 11. Juni 1991.

mentreffen mit ihm, indem er sagte: ‚Sie können von Glück

sagen, Fräulein Vogel, dass unser Sturm die Haussuchung

und Besetzung ihres Hauses vornahm. Hätten sie den Köpe-

nicker Sturm bekommen, dann hätte ich keine Garantie für

Ihre Person und Ihr Haus übernehmen mögen. Sie könnten

heute im Spital oder sonst wo liegen und Ihr Haus könnte

zerschlagen sein.’

Dieses Glück hatte ich zwar, aber es stand auf sehr

unsicherem Boden, denn jeden Augenblick konnte der

‚höhere Befehl’ kommen, der den anständigen Hirschgart-

ner Sturm in die Ecke fegte, um einem schneidigeren SA-

Sturm Platz zu machen. Was dann?

Nur eines gab es: Alles zu wagen, mit allen Möglichkeiten

zu rechnen und im Ernstfalle kaltes Blut zu bewahren und

sich nicht verblüffen lassen. Man könnte sagen:Warum bist

du noch weiter im Hause geblieben, nachdem du wusstest,

dass man alle Augenblicke deine Lüge entdecken konnte

und dir dann das Konzentrationslager bevorstand? Ich

möchte darauf antworten: Solange es sich darum handelte,

den Namen des Briefüberbringers nicht zu nennen, oder

wichtige Papiere aus dem Haus zu holen, Ernst in Sicherheit

zu bringen, wagte ich den Einsatz.

In dem Augenblick, als ich dies erreicht hatte und um der

Möbel willen meine Freiheit aufs Spiel setzen, meine Eltern

in Sorgen stürzen sollte, hatte ich nicht mehr die Kraft, noch

länger auszuharren, da es sich um Möbel und nicht um Men-

schenleben handelte. Und ich glaube recht gehandelt zu

haben.“19

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Hans Vogel (1881 – 1945)

Einsichten und Perspektiven 1 | 09 39

Am 4. Februar 1940 erschien

eine der letzten Ausgaben des

„Neuen Vorwärts“. Darin

forderte Hans Vogel auf der

Titelseite direkt das deutsche

Volk auf, sich nicht an den

„ungeheuren Verbrechen“ der

Nazis mitschuldig zu machen.

Dina Vogel kehrte nach dem

Krieg aus London zurück

nach Deutschland und lebte

mit ihrer Tochter Frieda

in Nürnberg, wo sie 1966

verstarb.

Hoegner möchte ihn und seinen Sohn Willi so rasch wiemöglich zurück nach Bayern holen.

Doch Hans Vogels Magenprobleme wollen nicht besserwerden. Schließlich wird er in ein Krankenhaus eingewie-sen. Noch immer ahnt er nicht, wie schlimm es um ihn steht.Wenn alles gut verlaufe, sagt ihm sein Arzt, könne er nochdreißig Jahre leben. Am 3. Oktober 1945 wird operiert. An-

fangs sieht alles gut aus. Doch am Vormittag des 6. Oktober,etwa zur gleichen Stunde, während im Kloster Wennigsenbei Hannover die erste Reichskonferenz der SPD nach demUntergang des Nazi-Regimes eröffnet wird, verschlechtertsich sein Zustand rasant. Hans Vogel ist an einer Lungen-entzündung erkrankt. Als seine telefonisch alarmierte FrauDina in Begleitung von Martha Ollenhauer in seinem Kran-kenzimmer eintrifft, ist Hans Vogel bereits verstorben.❙

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Auf Initiative der Bayerischen Landeszentrale für politischeBildungsarbeit veranstalteten der Münchner Lehrstuhl fürJüdische Geschichte und Kultur (Prof. Dr. Michael Bren-ner) und die Landesgeschichte an der Katholischen Univer-sität Eichstätt (Prof. Dr. Sabine Ullmann) am JüdischenKulturmuseum Augsburg-Schwaben eine Tagung zur Jüdi-schen Geschichte in Schwaben. International renommierteHistorikerinnen und Historiker trugen zu verschiedenenEpochen und Themenstellungen vor einer zahlreichen Hö-rerschaft vor.

Bei der Konzeption hatten verschiedene Personenund Institutionen zusammengewirkt, die Tagung stand da-her in gewisser Weise auf „vielen Beinen“: die jüdische Kul-tusgemeinde von Augsburg, vertreten durch Herrn Rab-biner Dr. Brandt, das Jüdische Museum Augsburg-Schwa-ben, vertreten durch ihre Leiterin, Frau Dr. Benigna Schön-hagen, sowie die Landeszentrale für politische Bildungs-arbeit, die das Unternehmen finanzierte und organisierte.

Die Augsburger Tagung bildete dabei den dritten Teileiner Veranstaltungsreihe, die 2006 in der Oberpfalzund 2007 in Franken jüdische Geschichte in Bayern aus-gehend von den verschiedenen historischen Landschaf-ten des heutigen Bundeslandes zum Thema hatte undin diesem Jahr nun für Schwaben weitergeführt wurde.Den Ausgangspunkt bildete dabei die Zusammenfas-sung bestehender historischer Befunde sowie die Vor-stellung neuer, aktueller Forschungsprojekte in denjeweiligen Regionen und deren Vermittlung an einbreites, interessiertes Publikum.

Jüdische Geschichte an der Schnittstellezwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit

Die „vielen Beine“, auf denen diese Tagung stand, sind be-zeichnend für die Rahmenbedingungen, in denen sichgegenwärtig die Erforschung jüdischer Geschichte in

Deutschland vollzieht. Diese Strukturen sind in besondererWeise davon geprägt, dass eine wachsende Zahl außeruni-versitärer Einrichtungen – die Heimatpflege, Museen undArchive – auf diesem Felde tätig ist. Das Anwachsen desInteresses an jüdischer Geschichte im Rahmen der Denk-malgeschichte, der Stadt- und Lokalgeschichte sowie imbreiten Kontext politischer Kulturarbeit lässt sich in vielerHinsicht besonders auch in Schwaben beobachten. Hierwirkten die Ausstellungs- und Museumsprojekte in einebreite Öffentlichkeit hinein, wobei nicht nur das Augsbur-ger Museum zu nennen wäre, sondern auch mehrere Pro-jekte, die von den noch erhaltenen und nun restauriertenLandsynagogen ihren Ausgang nahmen. Sie werden getra-gen von örtlichen Freundeskreisen und Vereinen, etwa inHainsfarth, in Oberstdorf, in Binswangen oder in Ichen-hausen.

Das Netzwerk ‚Historische Synagogenorte inBayerisch-Schwaben‘ führt seit 2004 nun auch die einzelnenAktivitäten unter einem überörtlichen, regionalen Dach zu-sammen. Nicht zuletzt haben die Initiativen der Bezirkshei-matpflege durch die seit nunmehr 20 Jahren von Herrn Dr.Peter Fassl veranstalteten Irseer Tagungen zur jüdischenGeschichte und Kultur in Schwaben frühe und wichtige Im-pulse gegeben.

In weitaus größerem Umfang als in anderen Berei-chen der historischen Forschung ergeben sich in der jüdi-schen Geschichte daher gemeinsame Schnittstellen zwi-schen universitärer Wissenschaft, außeruniversitären Ein-richtungen und einer interessierten Öffentlichkeit. DenAustausch zwischen beiden Seiten – wie er sich gegenwär-tig in vielen Bereichen der jüdischen Historiographie voll-zieht – führte diese Veranstaltung wieder ein gutes Stückweiter.

Gegenwärtig ist die jüdische Geschichtsschreibungweiterhin v. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie in vielfälti-ger Weise die methodischen Debatten der allgemeinen his-

Jüdische Geschichte in Schwaben

Einsichten und Perspektiven 1 | 0940

Tagung im Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben vom 1. 2. bis 3. 2. 2009

Jüdische Geschichtein Schwaben

Von Sabine Ullmann

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Jüdische Geschichte in Schwaben

Einsichten und Perspektiven 1 | 09 41

torischen Forschung aufgreift. Diese Öffnung wird etwabesonders deutlich in der Rezeption verschiedener Diskur-se der neueren Kulturgeschichte. Zugleich lässt sich die Ten-denz beobachten, dass sie in einem weit gestreuten Feld, dasvon der Reichsgeschichte bis zur Geschlechtergeschichtereicht, mit thematisiert wird. Bei dieser Einbindung in die‚allgemeine‘ Geschichte, sei es methodisch, sei es durch eineVerknüpfung der Themenfelder, spielt die Landesge-schichte eine zentrale Rolle. Für Schwaben wurde diese Ver-bindung maßgeblich durch die langjährigen Forschungenvon Prof. Dr. Rolf Kießling an der Universität in Augsburggeprägt. Den Zugang universitärer landesgeschichtlicherForschung zu diesem Thema können wir nicht nur in Bay-ern, sondern etwa auch in Hessen oder in Niedersachsenund anderen Ländern beobachten. Dies korrespondiert au-genfällig damit, dass ein erheblicher Teil der deutschen For-schungslandschaft zur jüdischen Geschichte sich gegenwär-tig weniger an bundesweiten oder europäischen Dimensio-nen orientiert, sondern vielmehr durch Regionalstudiengeprägt wird. An diesem Punkt setzte auch die AugsburgerTagung an, insofern sie sich dezidiert auf eine Region –Schwaben – konzentrierte.

Diese engere räumliche Orientierung bringt zweifellosauch ihre Probleme mit sich: Die jüdische Emanzipationwar – um nur ein Beispiel herauszugreifen – ein euro-päischer Vorgang, der als solcher erst durch die transre-gionale und transnationale Kommunikation zwischenGelehrten (bzw. ihrer Werke) möglich wurde. Die ver-schiedenen Emanzipationskonzepte beeinflussten sichzwar gegenseitig, sie trafen aber auch auf sehr verschie-dene strukturelle Bedingungen jüdischer Existenz vorOrt und in den Regionen, die ein Ergebnis der deut-schen Ländervielfalt waren. Der Übergang des mittelal-terlichen Judenschutzes von einem zunächst königli-chen Privileg zur Ansiedlung und Besteuerung vonJuden an die zahlreichen Landesherren bewirkte einehohe Differenz jüdischen Lebens. Die Unterschiedereichten von Fragen der Religionspraxis bis zum Aus-maß des wirtschaftlichen Handlungsspielraums.

Auch die grundsätzliche Frage, an welchem Ort bzw. inwelchem Land Juden überhaupt siedeln konnten, wurdenicht auf einer zentralstaatlichen, sondern jeweils auf lan-desherrlicher bzw. örtlicher Ebene entschieden. JüdischeGeschichte war bis 1871 in Deutschland in Abhängigkeitvon der staatlichen Fragmentierung daher auch stark regio-nal fragmentiert. Nutzen, Erkenntnisgewinn und die Pro-blematik eines so räumlich begrenzten Zugriffs wurden inden Vorträgen und Diskussionen thematisiert.

Schwaben als historische Landschaft

Welches Schwaben war bei der Tagung gemeint? Schwabenist eine historische Landschaft, die durch wechselndeGrenzziehungen und herrschaftliche Zuordnungen immerwieder Brüche aufweist, daher gestaltet sich das Verständnisdes Begriffs ‚Schwaben‘ höchst divergent. Das Schwabendes Mittelalters ist weitaus größer – wenn es mit dem ale-mannischen Stammes- und Sprachgebiet und dem hochmit-telalterlichen Herzogtum gleichgesetzt wird. Es ist weiter-hin geprägt durch die territoriale Zersplitterung in nach-staufischer Zeit mit dem Erlöschen der schwäbischen Her-zogswürde 1254 bzw. 1268. Wenn Mediävisten von Schwa-ben sprechen, so meinen sie also damit in der Regel einenanderen Raum als Frühneuzeithistoriker oder Zeithistori-ker. Auch für die Vormoderne ist dieser Raum keineswegsklar zu begrenzen.

Am ehesten deckt sich der mittelalterliche und früh-neuzeitliche Schwabenbegriff mit der weiter gefasstenregionalen Bezeichnung ‚Oberschwaben‘, d.h. vomSchwarzwald im Westen über den Bodensee im Südenbis zum Lauf des Lechs als östliche Grenze. Die Fixie-rung gegen Norden und Süden erweist sich dabei alsungleich problematischer, v. a. in der schwäbisch-frän-kischen Übergangszone im Norden. Für die Geschichtedes 19. und 20. Jahrhunderts wird dann der kleinereZugriff des heutigen Regierungsbezirkes evident, derden Raum zwischen Iller und Lech umfasst. Auch fürdieses Schwaben kommen weitere regionale Differen-zierungen hinzu – es zerfällt in die Teilregionen desRieses, Mittelschwabens und des Allgäus. Zugleich exis-tieren die beiden konkurrierenden Begriffe ‚Ostschwa-ben‘ und ‚Bayerisch-Schwaben‘: Mit ‚Ostschwaben‘wird stärker der Zusammenhang mit dem hochmittelal-terlichen Herzogtum Schwaben betont und der heutigeRegierungsbezirk als östlicher Teil desselben begriffen.‚Bayerisch-Schwaben‘ unterstreicht dagegen die bayeri-sche Perspektive und versteht diesen Raum in ersterLinie als denjenigen Teil Schwabens, der in das neuebayerische Königreich 1803 integriert wurde.

Der Zuschnitt, der auf der Tagung zugrunde lag, umfassteden heutigen Regierungsbezirk und ist somit ein Produktdes 19. Jahrhunderts, als es zur Bildung moderner Verwal-tungseinheiten bei der Eingliederung in das bayerische Kö-nigreich kam. Dabei wurde von Schwaben nur der östlicheRandstreifen bayerisch. Die 1808 vorgenommene Kreisein-teilung orientierte sich zunächst am Muster des französi-schen Departmentsystems. Erst 1837 erfolgte dann die Um-

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benennung der bayerischen Kreise von Flüssen auf Stämme– dahinter stand der Versuch, das neue Königreich in eineTraditionslinie mit den alten Stammesherzogtümern zu stel-len. Für Schwaben wurde außerdem der Name eines einzi-gen jüngeren pfälzischen Territoriums neu belebt, weil derOberdonaukreis durch das Ries vergrößert zum KreisSchwaben und Neuburg wurde – damit war der verwal-tungsorganisatorische Zuschnitt des heutigen Regierungs-bezirkes geschaffen.

Der Raum zwischen Iller und Lech ist folglich geradezuder Idealtypus einer vergleichsweise jungen Region, inder regionale Zuordnungen erst im Laufe des 19. Jahr-hunderts geschaffen wurden und der eben keine konti-nuierliche staatliche Entwicklungslinie aufweist. DieseKonstruktion des 19. Jahrhunderts hat freilich für mit-telalterliche und frühneuzeitliche Phänomene als Beob-achtungsraum nur eine begrenzte Relevanz und wurdeauf der Tagung gerade auch für die jüdische Geschichteweiter diskutiert.

Die Tagungsreihe der Landeszentrale für politische Bil-dungsarbeit verfolgt allerdings einen räumlichen Zugriff,bei dem die Diskussion um das Verständnis des Schwaben-Begriffs zunächst in den Hintergrund tritt. Hier stehen dieBinnengliederung und der regionale Vergleich innerhalb derGrenzen des heutigen Landes im Mittelpunkt. Für die jüdi-sche Geschichte eröffnet sich dabei an einer entscheidendenSchnittstelle im süddeutschen Raum eine vergleichendePerspektive, weil damit der Blick auf vier verschiedene his-torische Regionen fällt: auf Altbayern, Schwaben, Frankenund die Oberpfalz. Der aktuelle politische Raum Bayernsbietet den Vorteil, dass die gegenwärtige Grenzziehung –übertragen auf die historische Landkarte – einen exempla-rischen Ausschnitt der jüdischen Siedlungssituation imReich bietet. So finden sich sowohl großflächige, geschlos-sene Territorialstaaten, die der jüdischen Bevölkerung denZugang bis auf wenige Ausnahmen verwehrten, wie dasWittelsbacher Kurfürstentum in Altbayern, als auch Land-schaften mit zahlreichen Judengemeinden, in denen klein-räumige, offene oder geteilte Staatsformen vorherrschen,wie Schwaben, Franken oder die Oberpfalz.

Die Geschichte Schwabens und ihr Wirkenauf die jüdische Geschichte

Jüdische Geschichte in einem eng begrenzten Raum wiedem Regierungsbezirk Schwaben zu erforschen und zu be-schreiben macht es erforderlich, die räumlichen Strukturenals Ausgangsbedingungen ernst zu nehmen und entspre-chend zu gewichten. Mehrere spezifische historische Ent-

wicklungslinien Schwabens haben die jüdische Geschichtedieses Raumes in besonderer Weise mit geprägt und wurdenauf dieser Tagung weiter diskutiert.

Dabei stehen die im Vergleich zu anderen Regionengroße Bedeutung der städtischen Zentren und der hoheUrbanisierungsgrad bereits im Hoch- und Spätmittel-alter an erster Stelle. Weil Schwaben eine urbane Land-schaft war, wo sich auf engem Raum mehrere Reichs-städte ausbilden konnten – am Ende des Alten Reichessind es insgesamt acht –, spielte auch das urbane Juden-tum des Mittelalters eine entscheidende Rolle. Von hiernahm die jüdische Geschichte Schwabens ihren Anfang.Urkundlich gesicherte Siedlungsnachweise liegen fürAugsburg, Ulm, Donauwörth und Lindau in der erstenHälfte des 13. Jahrhunderts vor. Die frühesten Belegefür Nördlingen lassen sich aus der Rindfleischverfol-gung 1298 erschließen, für Memmingen und Kaufbeu-ren stammen sie dann erst aus den Listen von Verfol-gungsorten der Pestpogrome von 1348 bis 1350, fürKempten gar erst aus der zweiten Hälfte des 14. Jahr-hunderts.

Am Beginn der Frühen Neuzeit vollzog sich dann eine Ver-schiebung der jüdischen Wohnorte in die Dorfgemeindenund Marktorte in Form einer langfristigen, komplexen Mi-gration, die sich über mehrere Generationen hinzog unddurch die Vertreibungen während des 15. Jahrhunderts undzu Beginn des 16. Jahrhunderts ausgelöst wurde. DieseWandlungsprozesse sind ein weit verbreitetes Phänomen,das neue Siedlungsmuster weist aber für Schwaben ganzspezifische Merkmale auf: Die jüdische Bevölkerung genosshier den Vorzug, jeweils in großen örtlichen Glaubensge-meinschaften zu leben. In Fischach zählte man im Jahr 1743113 Judenfamilien, in Ichenhausen um 1750 schon 120 jüdi-sche Haushalte mit steigender Tendenz. Die Relation in denGemeinden verschob sich im Laufe des 18. Jahrhundertsimmer mehr zugunsten der jüdischen Familien mit verein-zelten Bevölkerungsanteilen von bis zu 50 Prozent. Das warnicht überall so: In Hessen oder in Niedersachsen herrsch-te dagegen eine starke Vereinzelung der Siedlungen miteinem jüdischen Bevölkerungsanteil von lediglich einem bisfünf Prozent vor.

Diese regionalspezifische Situation hatte weitreichendeFolgen für die Lebensbedingungen des Judentums inSchwaben. So konnte die jüdische Bevölkerung im Ge-gensatz zu vielen ihrer Glaubensgenossen ihrer religiö-sen Praxis stets im eigenen Dorf nachkommen. Wassonst nur von Fall zu Fall durch Zusammenkünfte vonJuden benachbarter Orte zu erreichen war, der Syna-

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gogengottesdienst, fand hier regelmäßig statt, und dieSynagogen waren bereits im 18. Jahrhundert in einerbesonders repräsentativen Form vorhanden.

Eine Erklärung liefern die besonderen politischen Struktu-ren und Herrschaftsverhältnisse. Durch den hohen Gradder territorialen Zersplitterung dieses Raumes verfügtenmehrere Landesherren gleichzeitig über das Recht zur An-siedlung und Besteuerung von Schutzjuden – und konkur-rierten darum. Der Judenschutz gewann dabei zum eineneine wichtige fiskalische Funktion, war aber zugleich auchein politisches Statussymbol für die vielfach umstritteneLandeshoheit. Mit der Ansiedlung von Juden konnte jedeSeite auf äußerst lukrative Weise die Anzahl der besteuer-baren Untertanen vermehren und zugleich ihre jeweiligePosition in den zahlreichen territorialen Herrschaftskon-flikten immer wieder neu behaupten. Dieser Prozess lässtsich sehr deutlich in der Markgrafschaft Burgau beobach-ten, wo die Habsburger mit den autonomen Rechten desAdels rangen, sodass beide Seiten das Judenregal für sichund geradezu im Wettlauf gegeneinander beanspruchten.Da aber zugleich andere Herrschaftsträger in der Region,z.B. die Klöster und Stifte, sowie die Fugger, im Gegensatzdazu eine restriktive Judenpolitik betrieben und Juden kei-ne Wohnrechte einräumten, konzentrierte sich die jüdischeBevölkerung Schwabens auf wenige Dörfer und Märkte, er-reichte dort aber sehr hohe Zahlen. In anderen Regionen,etwa in Ober- und Unterfranken, nahmen dagegen mehre-re Herrschaftsträger parallel zueinander Juden in ihrenSchutz auf, sodass dort im Gegensatz zu Schwaben eine we-sentlich breitere Streuung der Siedlungen entstehen konnte.

Aus der politischen Präsenz der Habsburger folgteeine weitere Besonderheit Schwabens, die Nähe zu Kaiserund Reich, die insgesamt für Schwaben als ‚Reichsland-schaft‘ eine wichtige Bedeutung hatte. Neben dem Territo-rialbesitz der Habsburger war es v. a. die große Anzahl ankleinen Reichsständen, die auf den Schutz des Reiches zurIntegrität ihrer Herrschaft angewiesen waren und ein dich-tes Klientelsystem zum Reich schufen. Dazu gehört auch,dass die Verfassungseinrichtungen des Reiches eine beson-dere Lebendigkeit entfalteten, vom Schwäbischen Reichs-kreis bis hin zu den Reichsgerichten. In dieses System einerschwäbischen Reichslandschaft waren die Judenschaftenmit eingebunden: Sei es als kaiserliche Hofagenten, sei esdurch die intensive Nutzung des Rechtsweges an die beidenobersten Reichsgerichte oder die kaiserlichen Interventio-nen bei drohenden Ausweisungen, etwa 1618 durch KaiserMatthias. Dass Schwaben in der Vormoderne eine Reichs-

landschaft und zugleich eine der Kernlandschaften des Ju-dentums war, ist folglich kein Zufall, sondern vielmehr einstrukturbedingter Zusammenhang.

Das waren die Ausgangsbedingungen, mit denendie Judengemeinden Schwabens in das 19. Jahrhundert gin-gen. Dieses Jahrhundert brachte insofern einen tiefgreifen-den Einschnitt, als sich die Rahmenbedingungen nungrundlegend änderten. Die Schritte zur rechtlichen Gleich-stellung reichten vom bayerischen Judenedikt von 1813, dasim Vergleich mit anderen Edikten der neuen deutschen Mit-telstaaten einen insgesamt sehr restriktiven Charakter aus-weist, bis zum Abschluss 1871. Die staatlich-verfassungs-rechtlichen Akte wurden begleitet von den Prozessen derVerbürgerlichung und der Akkulturation, die damit korre-spondierten. Auch dies sind deutschlandweite Vorgänge,aber in Bayern wirkte das historisch bedingte Verteilungs-muster wiederum in spezifischer Weise fort.

Die Angliederung Frankens und Schwabens brachtejüdische Gemeinden in großer Anzahl in den bayeri-schen Staatsverband, in dem zuvor seit der endgültigenAusweisung aus dem Herzogtum 1553 kaum mehr Ju-den gelebt hatten. Mit dem Prozess der Urbanisierungund der Wiederzulassung der Juden in die Städte ent-stand zugleich eine neue regionale Struktur. Das enor-me Wachstum der neuen städtischen Gemeinden zwi-schen 1875 und 1910 vollzog sich daher in besondersmarkanter Weise.

Der dritte und umfangreichste Abschnitt der Tagung wardiesen Entwicklungslinien des 19. Jahrhunderts sowie denFolgen der Politik des Nationalsozialismus gewidmet. Prof.Dr. Rolf Kießling von der Universität Augsburg rekonstru-ierte dabei einen pragmatischen Weg zur Emanzipation, derseinen Ausgang von der bereits früher erfolgten kommuna-len Einbindung der jüdischen Gemeinden genommen hatte.Aus der Perspektive der Vorgänge in Augsburg verdeutlich-te Dr. Benigna Schönhagen den Wandel jüdischen Lebensvor und nach 1933. Prof. Dr. Andreas Wirsching von derUniversität Augsburg beschrieb abschließend den Umgangmit jüdischen Friedhöfen durch das NS-Regime 1933 bis1945.

Dieser Weg durch die jüdische Geschichte Schwa-bens folgte einer chronologischen Ordnung, die diese unter-schiedlichen Phasen jüdischer Existenz in Schwaben spie-gelte: Von den städtischen Judengemeinden des Mittelaltersüber das Landjudentum der Frühen Neuzeit bis zur Ge-schichte des 19. und 20. Jahrhunderts.❙

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Über viele Jahrzehnte galt die Taiwanstraße als einer dergefährlichsten Konfliktherde in Ostasien. Mit 1300 auf dieInsel gerichteten chinesischen Mittelstreckenraketen be-steht hier eine der größten Raketenkonzentrationen auf derWelt. Seit Antritt des neuen, im März 2008 vergangenenJahres gewählten Präsidenten Ma Ying-jeou (Ma Ying jiu)1

ist eine deutliche Entspannung der Situation eingetreten.Damit haben sich ziemlich genau 60 Jahre nach der Über-siedlung der Regierung der Republik China nach Taiwansowie 30 Jahre nach der Normalisierung der Beziehungenzwischen der Volksrepublik China (VR China) und derUSA, der Schutzmacht Taiwans, erstmals Chancen auf einenachhaltige Entschärfung des Konflikts und eine friedlicheLösung eröffnet. Auf Grundlage einer Rekonstruktion derhistorischen Hintergründe und Dimensionen dieses schonviele Jahrzehnte alten Konflikts soll der folgende Beitrageinen Überblick über die von Präsident Ma Ying-jeou ein-geleitete Politik sowie über die Reaktionen in Peking undWashington geben.

Machtwechsel inTaipei

Es gibt Tage in der Geschichte eines Landes, die sich imNachhinein als Glückstage erweisen. Ob der 22. März 2008ein solcher Glückstag für Taiwan war, darüber waren undsind die Ansichten auf der kleinen, 150 Seemeilen vor derKüste des chinesischen Festlands gelegenen Pazifikinsel ge-teilt. Und daran dürfte sich auch in nächster Zukunft wenigändern. Ungeteilt positiv waren dagegen die Reaktionen inden Außenämtern und Kanzleien der USA, Westeuropasund der asiatischen Nachbarstaaten. Hier atmete man er-leichtert auf, war doch einer der brisantesten Konfliktherdeder Region ein wenig entschärft und damit Zeit für friedli-che Lösungen gefunden. Und durchaus ähnlich waren dieReaktionen auf dem chinesischen Festland, in Peking, aus-gefallen – obwohl man sich hier mit Kommentaren zunächstnoch sichtlich zurückhielt.

Was war geschehen? Am 22. März 2008 hatten sichdie Wähler Taiwans – korrekter: der „Republik China“ auf

1 Chinesische Namen und Bezeichnungen werden im Folgenden in zwei verschiedenen Umschriften wiedergegeben: in der älteren, in derRepublik China noch immer verwendeten Wade-Giles-Umschrift sowie in der von der Volksrepublik China eingeführten und inzwischenvor den VN anerkannten Pinyin-Umschrift. Sofern es sich nicht um die in Deutschland seit langem eingebürgerte Schreibweise handelt –wie z.B. Peking und Kanton, Chiang Kai-shek und Sun Yatsen –, werden im Folgenden bei taiwanesischen Persönlichkeiten in Klammerndie Pinyin-Umschrift, bei Namen von Persönlichkeiten aus der VR China die Wade-Giles-Umschrift hinzugefügt, z. B. Mao Zedong (MaoTse-tung).

Tauwetter in der Taiwanstraße?

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Historische Dimensionen und aktuelle Entwicklungeneines Jahrzehnte alten Konflikts

Tauwetter in derTaiwanstraße?

Von Peter J. Opitz

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Taiwan und der asiatisch-pazifische Raum Karten: Taiwan verstehen Nr. 67 – www.weltatlas.de (große Karte)

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Staatspräsident Chen Shui-bian auf dem Parteitag der DPP,

März 2005 Foto: ullstein bild

Abbildung: Taiwan heute Heft 2/2008

Taiwan – bei den Präsidentschaftswahlen mit deutlicherMehrheit für einen friedlichen Machtwechsel entschieden.Mit 58,45 Prozent der Stimmen hatte sich der Kandidat derNationalen Volkspartei (Kuomintang/KMT), Ma Ying-jeou, deutlich gegen den Bewerber der DemokratischenFortschrittspartei (DPP), Frank Hsieh (Xie Changting), dernur 41,55 Prozent der Stimmen erhalten hatte, durchgesetzt.Der amtierende Präsident Chen Shui-bian hatte nachAblauf seiner zweiten Amtszeit lt. Verfassung der RepublikChina nicht mehr für das höchste Staatsamt kandidierendürfen. Mit einem Vorsprung von ca. 2,2 Mio. Stimmen warder Sieg von Ma Ying-jeou überraschend deutlich ausgefal-len. Mit der Erringung des Präsidentenamtes war die KMTnach acht Jahren wieder an die Hebel der Macht zurückge-kehrt. Wie immer man das Ergebnis politisch bewerten mag:Die friedlich und fair verlaufenden Präsidentschaftswahlen– es waren die vierten, seit im Jahr 1996 die Direktwahl desPräsidenten eingeführt worden war – bedeuteten einen ein-drucksvollen Sieg der jungen Demokratie auf Taiwan. Zu-

2 Taiwan heute, 21. Jg., Nr. 2 v. 1. Mai 2008, S. 7.

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recht kommentierte die amerikanische Zeitschrift Time Ma-gazin: „Das ist der ermutigendste Aspekt – der Triumph derDemokratie in einer kleinen Ecke dessen, was China als seinuntrennbares Territorium betrachtete. Das Volk sprach undwurde gehört, und ein friedlicher Machtwechsel fand statt,was ein Beispiel für die chinesische Welt setzt.“2

Allerdings hatte sich der Sieg Ma Ying-jeous schonzu Beginn des Jahres angedeutet, als es der KMT bei denParlamentswahlen am 12. Januar gelang, 81 der insgesamt113 Parlamentssitze zu gewinnen, während sich die DPPmit nur 27 Sitzen bescheiden musste. Zugute gekommenwar der KMT allerdings das neue Wahlsystem. Denn wennsie auch prozentual gesehen 51 Prozent der Stimmen ge-wonnen hatte, so hatte doch auch die DPP mit 36,9 Prozentein respektables Ergebnis erzielt und ihre Position gegen-über den Wahlen von 2001 (33,4 Prozent) und 2004 (35,7Prozent) weiter ausbauen können.

Sieht man einmal von den gegenseitigen Korrup-tionsvorwürfen ab und von dem Streit über die unbefriedi-gende Wirtschaftslage Taiwans, die die KMT dem amtieren-den Präsidenten anlastete, so hatte bei den Wahlen vor allemdas Verhältnis zur chinesischen Volksrepublik (VR China)im Mittelpunkt gestanden.

Während die DPP und die mit ihr verbündeten Partei-en (das sog. „grüne Lager“ – die Bezeichnung nimmtBezug auf die Farbe der Parteifahne) vehement füreine eigene Taiwan-Identität eingetreten waren, dasEin-China-Prinzip in Frage gestellt und damit zumin-dest mittelfristig die Unabhängigkeit Taiwans im Blickgehabt hatten, so hatten Ma Ying-jeou, die KMT und

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Ma Ying-jeou, August 2005 Foto: ullstein bild Frank Hsieh, Präsidentschaftskandidat der DPP im Wahlkampf,

März 2008 Foto: ullstein bild

ihre Verbündeten (das sog. „blaue Lager“) die Politikder „drei Nein“ vertreten – keine Unabhängigkeit,keine Wiedervereinigung, keine Anwendung von Ge-walt – und damit die Beibehaltung des Status quo, fürden, wie jüngste Wählerbefragungen erneut bestätig-ten, auch die Mehrheit der Bevölkerung der Insel steht.

Zudem hatten sie für eine Verbesserung der Beziehungenzum Festland geworben. So kündigte Ma für den Fall einesWahlsieges die Aufnahme der „drei Verbindungen“ (Trans-port, Post, Handel) an, also die Schaffung direkter Flug-und Schiffsverbindungen zwischen Taiwan und dem Fest-land (sie liefen bis dahin noch immer über Hongkong undJapan). Dies wurde insbesondere von den 200.000 taiwa-nesischen Unternehmern begrüßt, die auf dem Festlandinvestiert haben und an schnellen Verkehrsverbindungeninteressiert sind.

Obwohl sich auch Ma Ying-jeou der Gefahren be-wusst sein dürfte, die ein weiterer Ausbau der Wirtschafts-beziehungen mit dem Festland mit sich bringt – nämlicheine gefährliche Abhängigkeit der Wirtschaft der Insel, dieauch den politischen Bewegungsspielraum der Regierungeinzuengen droht –, so überwiegen für ihn doch die Vortei-le. Die Zukunft der Wirtschaft Taiwans – so seine Überzeu-gung – könne nicht in Abgrenzung oder gar Abschottungvon dem dynamisch sich entwickelnden Festland liegen,sondern nur in einer noch stärkeren Anbindung, u.a. durchden Abbau der noch immer bestehenden Obergrenzen fürInvestitionen auf dem Festland und eine weitere Verstär-kung des Handels. Wichtiger noch:

Als Folge einer Normalisierung und Intensivierungder Wirtschaftsbeziehungen versprach sich Ma nebenlebenswichtigen Impulsen für die Wirtschaft Taiwansauch grundlegende atmosphärische Verbesserungenin den politischen Beziehungen zu Peking.

Es war vor diesem Hintergrund keine Überraschung, dassdie chinesische Führung schon weit im zeitlichen Vorfeldauf einen Sieg der Nationalen Volkspartei bei den bevor-stehenden Wahlen setzte. Während sie sich Gesprächen mitPräsident Chen Shui-bian strikt verweigerte, kompromiss-los auf dem Ein-China-Prinzip beharrte und im März 2005mit der Verabschiedung eines Antisezessionsgesetzes ihreEntschlossenheit demonstrierte, notfalls auch mit „nicht-freundlichen Mitteln“ gegen Abspaltungsversuche vorzu-gehen, lud sie nur wenig später, Ende April, hochrangigeVertreter der Oppositionsparteien zu Gesprächen nach Pe-king ein und signalisierte auf vielfältige Weise, dass sich un-ter einer KMT-Führung auf Taiwan die Chancen für eineEntspannung deutlich verbessern würden. Gleichzeitigmachte sie aber auch kein Hehl daraus, dass weitere Wahl-siege der DPP und eine Fortsetzung des von Präsident ChenShui-bian eingeschlagenen Kurses die Fronten nicht nurweiter verhärten, sondern auch zu einer gefährlichen Ver-schärfung der Lage führen würden.

Wenngleich offen blieb, was darunter genau zu verste-hen war – das Spektrum der Optionen Pekings ist weitund reicht von einer Wirtschaftsblockade bis zu militä-rischen Maßnahmen –, war doch klar, dass eine solcheVerschärfung nicht ohne Auswirkungen auf die ame-rikanisch-chinesischen Beziehungen bleiben würde.Denn Washington, die Schutzmacht Taiwans, müsstedie schon zur Wahrung ihrer eigenen strategischenInteressen in der Region und ihres Ansehens gegenüberihren asiatischen Verbündeten entsprechenden Gegen-maßnahmen ergreifen.

So hatte Präsident Clinton 1996, als Peking aus Ärger übereinen Privatbesuch des damaligen taiwanesischen Präsiden-ten Lee Teng-hui (Li Denghui) Raketenübungen im Seege-biet um Taiwan durchführen ließ, zwei Flugzeugträger der

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Staatspräsident Lee Teng-hui

inspiziert Armeehubschrauber,

Oktober 1997.

Foto: ullstein bild

Siebten US-Flotte in die Taiwanstraße geschickt und Pekingso vor einer weiteren Verschärfung der Lage gewarnt. Zu-dem war allen Seiten bewusst: Ein amerikanisch-chinesi-scher Konflikt würde nicht auf diese beiden Mächte be-schränkt bleiben, sondern mit Sicherheit in der einen oderanderen Weise auch die Verbündeten Washingtons in derRegion – Japan und Südkorea – einbeziehen. Die Folge wäreeine gefährliche Destabilisierung der gesamten asiatisch-pa-zifischen Region. Vor diesem Hintergrund ist es verständ-lich, dass der Ausgang der Wahlen am 22. März 2008 vonallen Staaten der Region, von den USA und von der Volks-republik China mit Erleichterung aufgenommen und vondem amerikanischen Präsidenten George W. Bush mit derFeststellung kommentiert wurde: „Meiner Überzeugungnach bietet die Wahl beiden Seiten (der Taiwanstraße) einefrische Gelegenheit, aufeinander zuzugehen und miteinan-der umzugehen, um die Differenzen friedlich beizulegen.Der Frieden und die Stabilität in der Taiwanstraße sowie dasWohlergehen der Menschen in Taiwan aufrechtzuerhalten,ist für die Vereinigten Staaten von großer Bedeutung.“3

Um was für „Differenzen“ handelt es sich? Undwie könnte eine „friedliche Beilegung“ des Konflikts ausse-hen? Die Worte des amerikanischen Präsidenten geben An-lass zu einem Rückblick auf die tieferen historischen Ursa-chen der Taiwanfrage und ihre aktuellen strategischen Im-plikationen.

Tauwetter in der Taiwanstraße?

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Geschichtliche Wurzeln und Hintergründe

Die Erste Einheitsfront zwischen KMT und KPCh

Die Wurzeln des Taiwanproblems reichen bis tief in die ers-te Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zurück, sie sindnicht direkt mit der Insel verknüpft; sie verweisen auf daschinesische Festland in die Zeit der Republikgründung. Am12. Februar 1912 hatte in China die Mandschu-Dynastie un-ter dem wachsenden Druck der revolutionären Bewegun-gen abgedankt und den Weg für die Errichtung der Repu-blik China freigemacht. Diese stand jedoch von Beginn anunter einem dunklen Stern.

So erwies sich etwa die Empfehlung des prominentestenFührers der revolutionären Kräfte, Sun Yat-sen (1866–1925), der im Dezember 1911 von einer in Nanking zu-sammengetretenen Nationalversammlung zum Provi-sorischen Präsidenten ernannt worden war, Yüan Shih-k’ai (Yuan Shikai), den Ministerpräsidenten der kaiserli-chen Regierung und Befehlshaber der modernstenArmee zum Präsidenten der Republik zu wählen, als einschwerer Fehler. Denn statt sich in den Dienst der jun-gen Republik zu stellen und diese nach demokratischenPrinzipien zu führen, zeigte sich bald, dass Yüan nachAlleinherrschaft, möglicherweise nach Wiederherstel-

3 Taipeh Times, 28. März 2008, S. 1.

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Sun Yat-sen Foto: ullstein bild Propagandaplakat gegen die warlords: Chiang Kai-shek (rechts vorne im Boot) ret-

tet ertrinkende Landsleute, während eigenmächtige Generäle das Volk unterdrü-

cken (links); oben rechts Sun Yat-sen um 1927 Foto: ullstein bild

lung der alten oder Gründung einer neuen Dynastiestrebte.

Das Parlament wurde aufgelöst, die Führer der republika-nischen Bewegung wurden verfolgt, ins Exil gezwungenoder ermordet. Auch der unerwartete Tod Yüans im Juni1916 brachte nicht die erhoffte Wende zugunsten derRepublik. Im Gegenteil, ihre Situation verschlechterte sichweiter. Denn in den verschiedenen Regionen Chinas rissennun Militärmachthaber die Macht an sich und begannen denKampf um das Erbe Yüans und die Macht in China. Die Zeitder warlords war angebrochen, und sie sollte mehr als einJahrzehnt dauern.

Nach dem Tode Yüans hatte Sun Yat-sen damitbegonnen, die versprengten republikanischen Kräfte im Sü-den Chinas zu sammeln, die von ihm 1912 gegründete Na-tionale Volkspartei wieder aufzubauen und sich mit Hilferepublikfreundlicher warlords eine neue Machtbasis zuschaffen. Doch schon bald zeigte sich: Ohne eine eigene mi-litärische Basis und internationale Unterstützung bliebennachhaltige Erfolge aus.

Die westlichen Demokratien, auf deren Hilfe Sun ge-hofft hatte, zogen es allerdings vor, mit seinen Gegnernzu paktieren. Das Blatt begann sich für Sun und seinePartei erst zum Besseren zu wenden, als das neue sow-jetische Regime – im Bemühen, die internationale Iso-lierung zu durchbrechen und auf der Suche nach Ver-bündeten im Kampf gegen die kapitalistischen Staaten –

Sun Yat-sen und seiner Partei organisatorische undmilitärische Unterstützung anbot.

Am 26. Januar 1923 vereinbarten Sun Yat-sen und der sow-jetische Gesandte Adolf A. Joffe die Zusammenarbeit vonKMT und der Sowjetunion beim Aufbau einer straff orga-nisierten Partei und einer schlagkräftigen Armee. Als Ge-genleistung verpflichtete sich Sun Yat-sen zur Zusammen-arbeit mit der gerade erst gegründeten KommunistischenPartei Chinas (KPCh) sowie zur Aufnahme von ca. 300Kommunisten in die KMT.

Ende 1923 begannen sowjetische Zivil- und Mili-tärberater unter der Leitung von Michael Borodin damit,die KMT in eine Kaderpartei nach leninistischem Vorbildumzuformen. Parallel dazu liefen die Vorbereitungen zurErrichtung einer Militärakademie in Whampoa unterhalbvon Kanton an. Ihnen lag die Überzeugung zugrunde, dasssich die KMT auf Dauer nur mit Hilfe einer eigenen schlag-kräftigen und unbedingt loyalen Armee gegen die warlordswürde durchsetzen können. Kommandeur der neuen, mitsowjetischen Waffen ausgerüsteten Armee, deren Offiziers-korps nun in Whampoa ausgebildet wurde, war seit Mai1925 Chiang Kai-shek, sein Stellvertreter war Zhou Enlai(Chou En-lai), der einige Jahrzehnte später Ministerpräsi-dent der VR China werden sollte. Mit Hilfe der Armee undkonservativer Kräfte in der Partei gelang Chiang in denMachtkämpfen, die nach dem Tode Sun Yat-sens im März1925 in der KMT ausbrachen, der Aufstieg zum starkenMann der Partei. Darüber hinaus benutzte er die Armee

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Chiang Kai-shek in Uniform, 1926 Foto: ullstein bild

bald zur Ausschaltung der Kommunisten, deren Einfluss inder KMT inzwischen bedenklich gewachsen und denen esgelungen war, wichtige Führungspositionen mit Anhängernoder Mitgliedern zu besetzen.

Im April 1927 ging Chiang Kai-shek gegen die kommu-nistischen Bündnispartner vor, zerschlug ihre Organi-sationen und liquidierte tausende ihrer Kader undAnhänger. Die Erste Einheitsfront zwischen der KMTund der KPCh endete damit in einem Blutbad.

Der Aufstieg der chinesischen Kommunistenund die Zweite Einheitsfront

Während Chiang Kai-shek im Juni 1928 nach dem siegreichbeendeten Nordfeldzug in Peking einzog und im Oktober1928 ein Organisationsgesetz für die neue Nationalregie-rung mit Sitz in der neuen Hauptstadt Nanking erließ, ver-suchte der junge Mao Zedong (Mao Tse-tung) zusammenmit anderen kommunistischen Führern, die die Massakerüberlebt hatten, die versprengten kommunistischen Kräfteim Grenzgebiet von Kiangsi (Jiangxi) und Fukien (Fujian)zu sammeln und sich mit einer neuen Strategie auf einenzweiten Anlauf zum Kampf um China vorzubereiten. DenMittelpunkt der neuen Strategie bildeten zwei Einsichten:

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erstens, dass in einem Agrarland wie China die Bauernmas-sen die wichtigste revolutionäre Kraft darstellten und daherdie Revolution nicht von den Städten, sondern von denLandgebieten ausgehen musste – allerdings unter der Füh-rung der kommunistischen Partei; und zweitens, dass diepolitische Macht „aus den Läufen der Gewehre kommt“,also ohne eine eigene Armee nicht errungen werden konn-te.

Mit dieser Feststellung, die sich gegen Stalin und dieKomintern richtete, die, um die Einheitsfront mit derKMT nicht zu gefährden, den chinesischen Kommu-nisten die Aufstellung eigener militärischer Verbändeuntersagt hatten, zog Mao letztlich dieselbe Konse-quenz wie einige Jahre zuvor Sun Yat-sen. Sie führte1927 zur Gründung der „Volksbefreiungsarmee“.

Ein weiteres Element der neuen Strategie bestand in derErrichtung revolutionärer Basen im chinesischen Hinter-land, um von dort aus die kommunistische Herrschaftschließlich auf ganz China auszudehnen. Mit derselbenStrategie plante viele Jahrzehnte später, Anfang der sechzi-ger Jahre, der designierte Nachfolger Maos, Lin Biao (LinPiao), die Weltrevolution durchzuführen: Von den Land-gebieten der Dritten Welt aus sollten die kapitalistischenStädte der Welt eingeschlossen und schließlich vernichtetwerden.

Wenn es den chinesischen Kommunisten unter derFührung Maos in den folgenden beiden Jahrzehnten gelang,sich allmählich wieder zu reorganisieren, ihren Machtbe-reich auszuweiten und sich schließlich gegen Chiang Kai-shek und die KMT durchzusetzen, so war dies allerdingsnicht allein auf die im Ansatz durchaus richtige neue Strate-gie zurückzuführen, sondern die Folge einer Reihe weitererFaktoren. Der wichtigste war zweifellos die imperialistischePolitik Japans. Nachdem Japan seit Beginn des Jahrhundertsseinen Machtbereich auf dem chinesischen Festland konti-nuierlich ausgeweitet hatte, lieferte im Mai 1931 ein Attentatauf einen japanischen Offizier und der Mukden-Zwischen-fall am 18. September 1931 Tokio den gewünschten Vor-wand für die Besetzung der an Bodenschätzen und Acker-land reichen Mandschurei, nachdem diese sich am 9. März1932 von China losgelöst, als Kaiserreich Mandschukuoihre Unabhängigkeit erklärt und unter japanischen Schutzgestellt hatte. Proteste des Völkerbunds gegen das japani-sche Vorgehen und die Aufforderung zum Truppenrückzugblieben folgenlos und veranlassten Japan lediglich am 27.März 1933 zum Austritt. Bald darauf brachte Tokio weite-re Teile Nordchinas unter japanische Kontrolle, und am 7.August 1937 nutzte Japan einen militärischen Zwischenfallan der Marco-Polo-Brücke in Peking, um China den Kriegzu erklären und weite Teile des Landes zu besetzen.

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Japanische Truppen besetzen Qi Qihar (Tsitsikar), Anfang 1932 Foto: ullstein bild

Die japanische Invasion hatte zwei bedeutsame Neben-effekte: Sie verschlechterte – zum einen – die Rahmenbedin-gungen der von Chiang Kai-shek eingeleiteten Reform- undModernisierungspolitik. So verschlang der Krieg gegen Ja-pan große Teile der finanziellen Ressourcen der Republik,während zugleich die unsichere Lage in China und die Welt-wirtschaftskrise den Zufluss ausländischer Investitionen er-heblich beeinträchtigten. Zudem lähmte der wachsendeEinfluss konservativer Kräfte – insbesondere der Groß-grundbesitzer, auf die sich die KMT zunehmend stützenmusste – die dringend erforderlichen Agrarreformen, waszur Entfremdung der Landbevölkerung führte. Angesichtsschwerer Niederlagen im Kampf gegen Japan, ausbleiben-der Reformen und zunehmender Repressionen gegen Kri-tiker des Regimes begann sich der Stern der KMT zusehendszu verdunkeln.

Die andere Folge der japanischen Invasion betrafdie chinesischen Kommunisten, die Ende 1931 in der Pro-vinz Kiangsi eine „Provisorische chinesische Sowjetrepu-blik“ errichtet hatten.

Die Bindung wichtiger militärischer Kräfte der Repu-blik durch den Widerstand gegen Japan – aber auch dieUnfähigkeit der KMT-Generäle und die Zähigkeit ihrerkommunistischen Gegner – verhinderten die VersucheChiangs, die Kommunisten endgültig zu vernichten.Diesen gelang es vielmehr, sich im Herbst 1934 nacheinem „langen Marsch“ stark geschwächt, in den Nord-westen des Landes abzusetzen und dort eine neue Basiszu errichten.

Mit einer rigoros antijapanischen Haltung und der Durch-führung sozialer Reformen in den von ihnen besetzten Ge-bieten zogen sie sich die Sympathien großer Teile der chi-nesischen Bevölkerung zu, sodass sich Chiang Kai-shek unddie KMT – unter dem Druck der öffentlichen Meinung undvon Teilen seiner eigenen Armee (Sian-Zwischenfall) –schließlich gezwungen sah, mit ihnen eine zweite, nun gegenJapan gerichtete Einheitsfront einzugehen. Am 22. Septem-ber 1937, sechs Wochen nach Ausbruch des chinesisch-japa-nischen Krieges, erklärten KMT und KPCh die Bildung der

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Mao proklamiert in Peking die Volksrepublik China,

1. Oktober 1949. Foto: ullstein bild

Einheitsfront. Sie war von Beginn an auf beiden Seiten vonMisstrauen, Argwohn und zunehmend von militärisch aus-getragenen Konflikten geprägt.

Als Japan nach dem Abwurf amerikanischer Atom-bomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasa-ki am 14. August 1945 kapitulierte und der Zweite Weltkriegin Asien endete, war die Einheitsfront in China de factoschon längst wieder zerfallen und KMT wie KPCh bereite-ten sich auf eine neue Runde im Ringen um China vor. Die-ses Mal war die Ausgangslage für die Kommunisten erheb-lich besser als zwei Jahrzehnte zuvor. Obwohl zahlenmäßigihrem Gegner zunächst weit überlegen und von den USAdurch Militär- und Wirtschaftshilfe massiv unterstützt, gingder von Korruption und Inkompetenz geprägten KMT undihren Armeen bald die Kraft aus, sich gegen die militärischerstarkten und von der Unterstützung großer Teile der chi-nesischen Bevölkerung getragenen Kommunisten auf dieDauer erfolgreich durchzusetzen. Nach Anfangserfolgenging die militärische Initiative zunehmend auf die Kommu-nisten über, deren Armeen immer größere Teile des Landesbesetzten und schnell nach Süden vorstießen.

Tauwetter in der Taiwanstraße?

Einsichten und Perspektiven 1 | 0952

Damit war die zweite Runde im Ringen zwischen KMT undKPCh um die Herrschaft in China zugunsten der Letzterenausgefallen. Und doch war der Kampf noch immer nichtentschieden. Denn während Mao Tse-tung am 1. Oktober1949 in Peking die Volksrepublik China ausrief, hatte sichChiang Kai-shek mit zahlreichen Mitgliedern der National-regierung, der Parteiführung und des 1948 gewählten ge-samtchinesischen Parlaments sowie mit einer halben Mil-lion Soldaten und fast zwei Millionen Zivilpersonen auf dieInsel Taiwan zurückgezogen, um von hier aus den Kampffortzusetzen. Die dritte Runde im Konflikt zwischen Na-tionalisten und Kommunisten hatte begonnen – und erst mitdieser Runde beginnt das, was man im Laufe der Zeit als die„Taiwanfrage“ bezeichnen sollte.

Die Internationalisierung des chinesischen Bürger-kriegs und die Entstehung derTaiwanfrage

In der dritten Runde im Ringen zwischen KMT und KPChtrat nun eine entscheidende Veränderung der Rahmenbe-dingungen ein: Es kam zu einer Internationalisierung deschinesischen Bürgerkriegs. Das war nicht ganz neu: Denn,wie schon gezeigt, hatte es schon in den zwanziger Jahren,während der Ersten Einheitsfront zwischen KMT undKPCh, starke Einmischungen der UdSSR auf Seiten beiderParteien gegeben, die wesentlich zum Zustandekommenihrer Allianz beigetragen hatten. Und auch die Bereitschaftder chinesischen Kommunisten, trotz schlechter Erfah-rungen mit der KMT noch eine weitere Einheitsfront ein-zugehen, war erst nach starkem Druck Stalins und derKomintern zustande gekommen.

In dieser zweiten Runde hatten zudem die USA aufSeiten der KMT eingegriffen, da Washington einen Siegder chinesischen Kommunisten unbedingt verhindernwollte und in einem von der KMT geführten China einstarkes Gegengewicht zur Sowjetunion in Asien sah.So war es vor allem amerikanischem Drängen zuzu-schreiben, dass die Republik China zu einem der Grün-dungsmitglieder der Vereinten Nationen wurde, mitStändigem Sitz im VN-Sicherheitsrat.

War bei den Verhandlungen in Dumbarton Oaks im Okto-ber 1944 und in San Francisco im Frühjahr 1945 die ameri-kanisch-sowjetische Allianz gegen Deutschland und Japannoch intakt gewesen, so brachen bald darauf die Wider-sprüche zwischen den westlichen Mächten auf der einenund Moskau mit seinen Verbündeten auf der anderen Seiteoffen aus.

Und mit dem Sieg der chinesischen Kommunisten imBürgerkrieg, dem bald darauf, am 14. Februar 1950, ein

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Tauwetter in der Taiwanstraße?

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Ein Propagandaplakat zur Kommunistischen Revolution zeigt den von Mao geführten Einzug der kommunistischen Truppen in Peking,

Januar 1949. Foto: ullstein bild

Friedensvertrag zwischen Moskau und Peking folgte,war aus amerikanischer Sicht das worst-case-Szenarioeingetreten: Ein gewaltiger kommunistischer Blockunter der Führung der Sowjetunion war entstanden,der von der Elbe bis an die Küsten des westlichen Pazi-fiks reichte und dessen Führer Stalin und Mao Tse-tungaus ihren weltrevolutionären Ambitionen keinen Hehlmachten.

Mit der Eroberung Taiwans, auf die sich die chinesischeVolksbefreiungsarmee inzwischen vorbereitete, würden diechinesischen Kommunisten ihre Machtbasis noch weiternach Osten vorschieben, mit der Taiwanstraße einen wich-tigen Seeweg kontrollieren und zugleich Zugang zum Pazi-fik erhalten.

Dennoch zögerte der amerikanische PräsidentHarry S. Truman, den einstigen Bündnispartner, die Repu-

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Douglas MacArthur, commander-in-chief im Koreakrieg,

September 1950 Foto: ullstein bild

blik China auf Taiwan, zu verteidigen. Am 5. Januar 1950verkündete er eine hands-off-Taiwan-Politik, die im Kerndarauf hinauslief, die Republik China sich selbst zu über-lassen. Nur wenige Tage später, am 12. Januar 1950, mar-kierte sein Außenminister Dean Acheson die Linien, andenen sich die amerikanische Vorwärtsverteidigung imwestlichen Pazifik von nun an orientieren sollte. Sie verlie-fen von den Aleuten, über Japan und die Riukiu-Inseln biszu den Philippinen und von dort weiter nach Australien undNeuseeland. Taiwan – ebenso wie die koreanische Halbinselund Indochina – lag außerhalb dieser Verteidigungsparame-ter. Das Ende der Republik China erschien nur noch als eineFrage der Zeit, nachdem die Truppen Maos im April 1950schon die Insel Hainan und nur wenige Wochen später auchwichtige Inseln im Delta des Yangtse-Flusses erobert hat-ten.

Doch dann kam Rettung in letzter Minute, und siekam ironischerweise von einer Seite, von der niemandsie erwartet hatte: nämlich von dem Führer Nordkore-as, Kim Il-sung, dessen Truppen mit Billigung und mas-siver Militärhilfe der Sowjetunion am 25. Juni 1950 dieGrenze überschritten und tief in den Süden der Halb-insel vorstießen. Der Angriff erwies sich als Rettung derRepublik China und ihrer Fluchtburg Taiwan.

Denn unmittelbar nach dem nordkoreanischen Überfall aufden Süden des Landes veränderte Washington erneut seineVerteidigungsparameter und bezog nun auch Taiwan undKorea in seinen Verteidigungsbereich mit ein. Am 27. Juni1950 befahl Präsident Truman der Siebten US-Flotte, einenkommunistischen Angriff auf Taiwan zu verhindern, legte

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Einsichten und Perspektiven 1 | 0954

allerdings gleichzeitig der Regierung in Taipei nahe, alle See-und Luftoperationen gegen das Festland einzustellen. Am31. Juli kam der amerikanische General Douglas MacArthurzu Gesprächen mit Chiang Kai-shek nach Taipei undbezeichnete bei dieser Gelegenheit die Insel als einen „un-versenkbaren Flugzeugträger“. Am 4. August wurde eineStaffel der US-Airforce nach Taiwan verlegt, und nur knappein Jahr später begann eine Beratergruppe amerikanischerMilitärs mit den Vorbereitungen zur Stationierung amerika-nischer Truppen auf der Insel. Zudem beteiligte sich Wa-shington mit umfangreicher Militär- und Wirtschaftshilfeam Aufbau einer modern ausgerüsteten taiwanesischenArmee.

Die Taiwanfrage hatte damit eine neue strategischeDimension gewonnen: Sie war Teil des weltweiten Ost-West-Konflikts geworden. Ihre Lösung hing damit seitdieser Zeit von Entwicklungen auf zwei Ebenen ab: vongrundlegenden Veränderungen im Ost-West-Konflikt,für den Fall, dass diese den strategischen Wert Taiwansfür das amerikanische Verteidigungssystem im Pazifikrelativieren, sowie vom Ausgang des Ringens zwischenKMT und KPCh.

Um die Dynamik und Dialektik des weiteren Geschehenszu erfassen, sind somit beide eng aufeinander bezogene undsich gegenseitig beeinflussende Ebenen im Blick zu behal-ten.

Pekings Politik der „Befreiung“Taiwans –die erste Phase

Wenden wir uns zunächst der Bürgerkriegsebene zu. Dennbei der Taiwanfrage – um dies nochmals zu wiederholen –handelte es sich zu dieser Zeit noch immer um einen „Bür-gerkrieg“. So betrachtete Chiang Kai-shek die Kommunis-ten als „aufrührerische Banditen“ und Mao seine Gegner alsVertreter einer „abtrünnigen Provinz“.

Diese erste Phase war weiterhin von militärischenAuseinandersetzungen gekennzeichnet.

Während sich die Regierung der Republik Chinamit amerikanischer Unterstützung auf den AusbauTaiwans zu einer Festung konzentrierte, allerdingsimmer mit Blick auf eine günstige Gelegenheit zurRückeroberung des Festlands, versuchten die chinesi-schen Kommunisten durch eine Reihe von Angriffenund Kanonaden auf die Taiwan vorgelagerten und vonstarken Kräften der Republik verteidigten Inseln dieWiderstandskraft ihrer Gegner zu testen und zu zer-mürben.

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Militärische Ausbildung taiwanischer Frauen, März 1950 Foto: ullstein bild

Es waren im Wesentlichen drei Offensiven, die an der Insel-front in jeweils vierjährigen Abständen erfolgten. Zu einerersten Offensive auf die Inseln Quemoy (Jinmen) und Da-dan kam es noch im Herbst 1949 und im Frühjahr 1950.Eine zweite Militäraktion erfolgte vier Jahre später imHerbst 1954 – bald nach der Niederlage Frankreichs in In-dochina gegen die von China unterstützten Vietminh, undangesichts von Überlegungen Washingtons, die RepublikChina in die SEATO aufzunehmen bzw. mit ihr einen bila-teralen Verteidigungspakt abzuschließen. Wenn die chinesi-sche Führung gehofft hatte, durch diese Offensive Washing-ton vom Abschluss des Verteidigungspakts abhalten zukönnen, so erreichte sie genau das Gegenteil. Am 2. Dezem-ber 1954 kam es zu dessen Unterzeichnung. In ihm ver-pflichteten sich die Vertragsparteien, notfalls „bewaffneteAngriffe“ sowie „kommunistische Subversionsversuche,die von außen her gegen ihre territoriale Integrität und ihrepolitische Stabilität gerichtet sind“,4 abzuwehren. Aller-dings bezog sich der Vertrag nur auf Taiwan, die Pescadorenund die westpazifischen Inseln der USA, während die Küs-teninseln unerwähnt blieben. De facto schloss der amerika-nische Schutz jedoch auch diese ein. Denn der amerikani-sche Präsident erhielt vom Kongress die Ermächtigung, imFalle eines chinesischen Angriffes auf die Inseln, diese, so-fern er dies für die Sicherheit der USA geboten hielt, zu ver-teidigen. Zu diesem Zweck erlaubte die Republik China denUSA so viele Land-, See- und Luftstreitkräfte auf und umTaiwan zu stationieren, wie „nach gegenseitiger Überein-

kunft für die Verteidigung notwendig sind“. In der Folgeerrichteten die USA eine Reihe von Luft- und Marinestütz-punkten und erhöhten ihre Militärhilfe an Taipei.

Mit einer dritten Offensive zur „Befreiung“ Tai-wans begann Peking vier Jahre später, am 23. April 1958. Sierichtete sich erneut gegen die Inseln Quemoy und Matsu –mit See- und Luftangriffen und einem schweren Artillerie-beschuss, der über die nächsten Jahre fortgesetzt wurde.

Obwohl Peking am Ziel der „Befreiung“ Taiwansauch weiterhin festhielt, erfolgten in den folgenden Jahrenkeine größeren militärischen Unternehmen mehr. Einer derGründe dafür dürfte der Ende der fünfziger Jahre einset-zende Konflikt Chinas mit der Sowjetunion gewesen sein –ein anderer eine vorsichtige Entspannung in den amerika-nisch-chinesischen Beziehungen. So hatten Peking und Wa-shington am 1. August 1955 Gespräche in Warschau aufge-nommen. Die amerikanische Regierung signalisierte in de-ren Verlauf, dass sie Taiwan zwar im Falle eines Angriffsunterstützen würde, nicht aber bei einem von Taiwan gegendas Festland gerichteten Unternehmen.

Während auf der innerchinesischen Ebene das Gesche-hen in den nächsten Jahren stagnierte, wobei sich dieKonfliktparteien auch weiterhin unversöhnlich gegen-überstanden, bahnten sich auf der internationalen Ebe-ne Entwicklungen an, die die internationale Stellungder Republik China nachhaltig schwächen sollten.

4 Oskar Weggel, Geschichte Taiwans. Vom 17. Jahrhundert bis heute, München 2007, S. 204.

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Mao begrüßt US-Präsident Nixon in Peking, Februar 1972

Foto: ullstein bild

Sie betrafen zum einen das sino-sowjetische Verhältnis, dassich in den sechziger Jahren weiter verschlechtert hatte und1969 anlässlich der Ussuri-Zwischenfälle zu einem offenenKrieg zu eskalieren drohte, und zum anderen die USA, diein Vietnam in einen verlustreichen Krieg verstrickt warenund sich zudem mit einer zunehmend expansiven PolitikMoskaus im pazifischen Raume konfrontiert sahen. BeideEntwicklungen begünstigten in Washington und in Pekingdie Bereitschaft zu einem grundlegenden Strategiewechselim gegenseitigen Verhältnis. Während sich die chinesischeFührung von einer Annäherung an die USA Schutz voreinem Angriff der Sowjetunion versprach, erhoffte sichWashington von einer Détènte eine Verbesserung seinerstrategischen Position gegenüber Moskau, wie aber auchHilfe Chinas bei der Vorbereitung eines gesichtswahrendenFriedens in Vietnam.

Zu denjenigen, die für diese strategische Wende Wa-shingtons einen Preis zu zahlen hatten, gehörte dieRepublik China – und sie zahlte ihn in drei Raten. Dieerste Rate wurde am 25. Oktober 1971 fällig, als – gegenden nur halbherzigen Widerstand Washingtons – eineMehrheit der VN-Generalversammlung (mit 76 gegen35 Stimmen bei 17 Enthaltungen) die VR China alsRepräsentantin Chinas anerkannte und der RepublikChina gleichzeitig Sitz und Stimme in allen Gremiender Weltorganisation entzog. Es war der Beginn einersich von nun an schnell entwickelnden internationalenIsolierung Taiwans.

Denn in der Folge entschlossen sich viele Staaten zur diplo-matischen Anerkennung der Volksrepublik, die ihrerseitsauf ihrem Alleinvertretungsanspruch bestand und als Preisfür die Aufnahme diplomatischer Beziehungen den Ab-bruch der Beziehungen zu Taipei forderte – ein Preis, denviele Länder mit Blick auf den zukünftigen chinesischenMarkt gern zu zahlen bereit waren.

Die zweite Rate war nur kurze Zeit später zu entrichten:Schon im Jahre 1969 hatten die USA als Zeichen ihrer Ent-spannungsbereitschaft die Patrouillen der Siebten US-Flot-te in der Taiwanstraße eingestellt; 1970 waren die eine Zeit-lang zuvor unterbrochenen amerikanisch-chinesischenBotschaftergespräche in Warschau wieder aufgenommenworden. Vom 9. bis 11. Juli 1971 kam es zu Geheimge-sprächen zwischen dem amerikanischen SicherheitsberaterHenry Kissinger und der chinesischen Führung in Peking.Kurz zuvor hatten die USA – offensichtlich als Zeichen gu-ten Willens – das 21 Jahre alte Handelsembargo gegen dieVolksrepublik aufgehoben. Und vom 21. bis 28. Februar

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1972 stattete dann der amerikanische Präsident RichardNixon der Volksrepublik einen Besuch ab, der am 28. Fe-bruar mit dem von Richard Nixon und Chou En-lai unter-zeichneten Kommuniqué von Shanghai seinen Höhepunktfand.

Während die Pekinger Regierung darin ihre bekanntenPositionen zu Protokoll gab – dass sie die einzige recht-mäßige Regierung Chinas sei und Taiwan lediglich eineabtrünnige Provinz, deren Befreiung eine „innere An-gelegenheit“ Chinas darstelle –, anerkannte Washing-ton, dass alle Chinesen auf beiden Seiten der Taiwan-straße der Auffassung seien, dass es nur ein China gäbeund Taiwan ein Teil Chinas sei.

Zudem wies die amerikanische Regierung darauf hin, dassdie USA diesen Standpunkt nicht in Frage stellten, und be-kräftigte zugleich ihr Interesse an einer friedlichen Lösungder Taiwanfrage durch die Chinesen selbst. Dazu kündigteman an, „Streitkräfte und militärischen Einrichtungen aufTaiwan fortschreitend in dem Maße abzuziehen, wie sich dieSpannungen in diesem Raum verminderten“.5 Eine vorheri-ge Konsultation mit Taipei hatte nicht stattgefunden – einBeispiel dafür, wie Großmächte mit ihren Verbündeten um-gehen.

Schon bald darauf, im Februar 1973, kam es in Wa-shington und Peking zur Errichtung von Verbindungsbüros– ein erster Schritt auf dem Wege zur Normalisierung deramerikanisch-chinesischen Beziehungen, die sich jedochaufgrund des Sturzes von Nixon infolge des Watergate-Skandals in den USA und der einsetzenden Nachfolge- undLinienkämpfe in China noch verzögern sollte.

5 Text des Kommuniqués von Shanghai in: Peter J. Opitz (Hg.), China zwischen Weltrevolution und Realpolitik, München 1979, S. 289–293.

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Die dritte Rate – es war für Taipei die größte und zu-gleich schmerzlichste – wurde einige Jahre später fällig.Am 15. Dezember 1978 teilte der neue amerikanischePräsident Jimmy Carter – ebenfalls ohne vorherigeKonsultation mit der Regierung in Taipei – in einerFernsehansprache dem amerikanischen Volk mit, dassdie USA die VR China als einzige legitime RegierungChinas anerkennen und am 1. Januar 1979 diplomati-sche Beziehungen mit ihr aufnehmen würden.

Der Preis, den Washington für eine Normalisierung derBeziehungen zu zahlen hatte, bestand in der Nichtaner-kennung („de-recognition“) der Souveränität der RepublikChinas sowie – konsequenterweise – im Abbruch der diplo-matischen Beziehungen mit Taipei und in der Kündigungdes Verteidigungspakts von 1954.

Die Normalisierung der amerikanisch-chinesischenBeziehungen war also letztlich zu Lasten der über denVertrauensbruch Washingtons zutiefst verbittertenRegierung in Taipei und der Bevölkerung Taiwanser-folgt.

Da Washington jedoch aus strategischen Erwägungen undmit Blick auf seine anderen Verbündeten in der RegionTaiwan nicht einfach seinem Schicksal überlassen konnte –zumal Peking nicht auf sein Recht auf eine gewaltsame „Be-freiung“ der Insel verzichtet hatte –, verabschiedete deramerikanische Kongress Ende März 1979 den Taiwan Rela-tions Act (TRA), der die zukünftigen Beziehungen der USAzur Republik China regelte. Er besagte im Kern, dass dieAufnahme diplomatischer Beziehungen zu Peking „auf derErwartung beruht, dass die Zukunft Taiwans durch friedli-che Mittel bestimmt wird“ und dass „alle Handlungen, wel-che die Zukunft Taiwans durch nicht-friedliche Mittelbestimmen, worunter auch Boykotts und Embargos fallen,als eine Bedrohung des Friedens und der Sicherheit deswestpazifischen Gebietes und als eine ernstzunehmendeAngelegenheit von großer Bedeutung für die USA“ dar-stellten. Zudem bekundete das Gesetz die Absicht der USA,Taiwan „mit Waffen zu versorgen, die für friedliche Zweckebestimmt sind; (und) die Fähigkeit der Vereinigten Staatenaufrecht zu erhalten, sich jeder Anwendung von Gewaltoder sonstigen Form der Nötigung zu widersetzen, die dieSicherheit oder die soziale und wirtschaftliche Ordnung derBewohner auf Taiwan gefährden könnte.“6

Da ferner vorgesehen war, die Beziehungen zu Tai-wan in ihrer vollen Breite – allerdings unterhalb der offi-ziellen Anerkennung – fortzuführen, wurde die Errichtungvon Verbindungsbüros vereinbart. So kam es bald darauf in

Taipei zur Errichtung des American Institute of Taiwan undin Washington des Coordinative Council for North Ameri-can Affairs. Zwei Jahrzehnte nach ihrem Rückzug nachTaiwan hatte die Republik China und die sie mit diktatori-schen Mitteln regierende KMT im Ringen mit Peking ihrevielleicht entscheidende Niederlage hinnehmen müssen.

Zwar war es der Regierung in Taipei in der Zwischen-zeit gelungen, auf Taiwan eine blühende Wirtschaft auf-zubauen, deren Handelsvolumen sich im Jahre 1979 auffast 40 Mrd. US-$ belief. Doch außenpolitisch führte dieRepublik China nach ihrem Ausschluss aus den Verein-ten Nationen nur noch ein Schattendasein und war inihrer Sicherheit und weiteren Existenz völlig vomSchutz der USA abhängig.

Auf dem Wege zu einer „friedlichen Wieder-vereinigung“ – die zweite Phase

Mit der Normalisierung der amerikanisch-chinesischenBeziehungen und der informellen strategischen Allianz derbeiden Mächte gegen eine in der asiatisch-pazifischen Re-gion expandierende Sowjetunion begann auch ein neuerAbschnitt in den Beziehungen zwischen Peking und Taipei.Das zeigte sich u.a. darin, dass die Volksbefreiungsarmeedie Beschießung von Quemoy einstellte, die chinesischeFührung ihren Kampfruf nach der „Befreiung“ (jiefang)Taiwans aufgab und von nun an immer wieder neue Initia-tiven zu einer „friedlichen Wiedervereinigung“ (heping ton-gyi) startete – freilich unter der Bedingung, dass Taipei dieEinheit Chinas unter der Führung der Zentralregierung inPeking anerkannte.

Dazu hatte Deng Xiaoping (Teng Hsiao-p’ing), dernach dem Tode Maos und der Entmachtung derLinksfraktion der Partei 1978 in Peking wieder an dieHebel der Macht zurückgekehrt war, ein Konzept ent-wickelt, das die Bezeichnung „Ein Land, zwei Systeme“(yiguo, liangzhi) trug und das Peking Anfang der acht-ziger Jahre den mit Großbritannien beginnendenVerhandlungen über die Zukunft der KronkolonieHongkong zugrunde legte.

Für eine Übergangszeit von 50 Jahren – so das Angebot –sollte Hongkong das bisherige Wirtschafts- und Gesell-schaftssystem beibehalten können, musste allerdings zuvorals Sonderverwaltungszone unter die Souveränität der Pe-kinger Zentralregierung zurückkehren, die ihrerseits ver-sprach, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Stadteinzumischen. Besonders in wirtschaftlicher Hinsicht

6 Text in: Taiwan-Gesetz/Taiwan Relations Act, hg. v. Kwang Hwa Publishing Company, Taiwan, ROC, September 1993.

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machte Peking große Konzessionen: Das Privateigentumwar gesetzlich garantiert, ebenso das Eigentum an Betriebensowie die ausländischen Investitionen; auch die Finanz- undWirtschaftspolitik sollte weiterhin von Hongkong selbstbestimmt werden.

Das alles klang sehr großzügig, war allerdings auch imEigeninteresse der Volksrepublik, bildete die wirtschaft-lich starke und international vernetzte Hafenstadt zujener Zeit doch das Tor Chinas zur Welt.

Allerdings hatte das Konzept Dengs mehrere Haken: Es gabkeine ergebnisoffene Konkurrenz der „beiden Systeme“ –am Ende der Übergangszeit würde der Prozess in das Sys-tem der sozialistischen Volksrepublik einmünden. Dochauch für die Übergangszeit hatte sich Peking wichtige Rech-te reserviert, um bei Fehlentwicklungen notfalls eingreifenzu können. Die Regierung in Taipei ließ deshalb von Beginnan keinen Zweifel daran, dass dieses Konzept auf Taiwannicht übertragbar und für sie völlig inakzeptabel sei, undBefragungen zeigten, dass auch eine Zweidrittelmehrheitder Bevölkerung Taiwans das Konzept „Ein Land, zweiSysteme“ als Grundlage für eine Wiedervereinigung mitdem Festland ablehnte. Daran hat sich bis heute nichts geän-dert.

Wenn die Pekinger „Offensive des Lächelns“ bei derRegierung in Taipei zunächst keine Wirkung zeigte undman an der 1980 beschlossenen Politik der „Drei Nein“(san bu) – „keine Kontakte, keine Verhandlungen, keineKompromisse“ – festhielt, so war dies Ausdruck desVertrauens sowohl in die starke internationale Stellungder Wirtschaft des Landes wie auch in ihre schlagkräfti-ge Armee, die zu jener Zeit durchaus noch in der Lagewar, militärische Angriffe Pekings zurückzuschlagen,ganz abgesehen vom Vertrauen in den amerikanischenSicherheitsschirm.

Hinzu kam aber wohl auch, dass sich die Regierung inTaipei erst langsam der immer schwieriger werdenden Lagebewusst wurde, in die sie durch die internationale Isolierungund die erfolgreiche Modernisierungspolitik auf dem chi-nesischen Festland geriet und deshalb die Taiwan drohen-den Gefahren unterschätzte. Dennoch begannen sich auchauf Seiten der Regierung in Taipei schon bald Ton und Ter-minologie zu ändern: So bezeichnete sie die Kommunistennicht mehr als „Banditen“ (fei), und wenn man auf dem 12.Parteitag der KMT im April 1981 beschloss, den bislang ver-wendeten Begriff „glorreiche Rückeroberung des Fest-lands“ durch „Vereinigung nach den drei Volksprinzipien“zu ersetzen – gemeint waren die San-min chu-yi Sun Yat-sens, die schon die Grundlage der ersten Einheitsfront mit

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den Kommunisten gebildet hatten –, so kündigte sich darineine neue Strategie an, mit der man auf die veränderte Situ-ation reagierte: nämlich den Wandel auf dem Festland mitfriedlichen Mitteln zu fördern und abzuwarten, bis demo-kratische Verhältnisse eingetreten waren. Aus dieser Pers-pektive war es auch durchaus sinnvoll, dass die Regierungin Taipei ab November 1987 Verwandtenbesuche und baldauch Journalisten- und Touristenreisen aufs Festland gestat-tete.

Mit der Folge, dass bis Ende der achtziger Jahre übereine Million Taiwaner die Volksrepublik besucht hatte.Es war eine Art Volksdiplomatie taiwanesischer Art:Einerseits sollten sich die Besucher ein Bild von dendesolaten wirtschaftlichen und politischen Zuständenauf dem Festland machen, um so die eigenen Lebens-verhältnisse besser schätzen zu lernen, andererseits soll-ten sie dort für Freiheit und Demokratie werben und soeinen friedlichen Systemwechsel vorbereiten.

Noch ein weiterer Bereich in den bilateralen Beziehungenwar in Bewegung geraten: Spätestens Mitte der achtzigerJahre hatten – mit stiller Duldung der Regierung in Taipei –Handelsströme eingesetzt, die zunächst über Hongkongund Singapur verliefen. Zudem war es, zunächst noch ille-gal, zu ersten Investitionen taiwanesischer Unternehmenauf dem Festland gekommen, ab Juli 1988 begünstigt durchden Erlass von Sondervorschriften zur Förderung vonInvestitionen taiwanesischer Firmen durch die chinesischenBehörden. Für Peking waren verstärkte Wirtschaftsbezie-hungen mit dem prosperierenden Taiwan – die Insel ver-zeichnete 1989 ein Pro-Kopf-BSP von über 6.000 US-$ undbelegte unter den Handelsnationen Platz 13 – im doppeltenSinne von Interesse: Zum einen unterstützte man auf dieseWeise die 1978 von der neuen Führung unter Deng Xiao-ping aufgenommene Modernisierungspolitik, zum anderenschuf man sich in den auf dem Festland investierenden tai-wanesischen Unternehmern eine Gruppe, die man, wenndie Zeit dafür reif war, unschwer für die Durchsetzung eige-ner politischer Interessen instrumentalisieren konnte. Endeder achtziger Jahre hatte das Handelsvolumen die Fünf-Mrd.-US-$-Grenze überschritten, und auch der Strom tai-wanesischer Investitionen aufs Festland, insbesondere in ar-beitsintensiven Bereichen, wuchs kontinuierlich an.

Anfang der neunziger Jahre begann sich auch auf derpolitischen Ebene eine vorsichtige Annäherung anzu-bahnen.

So errichtete 1990 Taipei einen „Rat zur nationalen Wieder-vereinigung“, der bald darauf „Richtlinien zur nationalenWiedervereinigung“ verabschiedete. Schon zuvor hatte der

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neue Staatspräsident der Republik China, Lee Teng-hui (LiDenghui), das Ende der „Periode der nationalen Mobilisie-rung zur Niederwerfung der kommunistischen Rebellion“verkündet und damit implizit die Existenz zweier chinesi-scher Regierungen anerkannt und – in Abkehr von der bis-herigen Politik der „Drei Nein“ – Peking drei Vorschlägeunterbreitet: Schaffung von Kommunikationskanälen aufkulturellem, wirtschaftlichem und akademischem Gebiet;gleichberechtigte Verhandlungen auf Regierungsebene; Ab-gabe von Zeichen guten Willens. Als solche Zeichen nannteer: verstärkte Demokratisierung und Liberalisierung aufdem Festland; einen förmlichen Verzicht auf Gewaltanwen-dung gegen Taiwan sowie die Beendigung der internationa-len Isolierung der Republik China. Obwohl Peking die Vor-schläge Lees ablehnte und ihm eine Politik unter der Devise„Ein Land, zwei Regierungen“ (yi guo liang fu) vorwarf,kam es auf beiden Seiten zur Gründung halboffizieller In-stitutionen zwecks Regelung der zahlreichen praktischenProbleme, die sich infolge der sich verdichtenden gesell-schaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen stellten. Sowar auf Taiwan schon 1991 die „Stiftung für den Austauschüber die Taiwanstraße (Straits Exchange Foundation / SEF)gegründet worden, während auf dem Festland als Gegen-part im Dezember 1991 die „Gesellschaft für Beziehungenüber die Taiwanstraße (Association for Relations Across theTaiwan Straits /ARATS) geschaffen worden war, die bald inHongkong erste Gespräche aufnahmen. Damit hatten sichzum ersten Mal bevollmächtigte Repräsentanten der beidenSeiten getroffen. Im April 1993 folgten in Singapur undschließlich mehrere Jahre später, im Oktober 1998, in Shang-hai weitere Treffen. Doch dann riss der dünne Gesprächs-faden: Der in Taipei vereinbarte Gegenbesuch des chinesi-schen Verhandlungsführers Wang Daohan wurde von chi-nesischer Seite abgesagt, und es sollte ein ganzes Jahrzehntdauern, bis es 2008 zu einem neuen Treffen kam. Was wargeschehen?

Neue Weichenstellungen aufTaiwan:die dritte Phase

Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns der letztenund zugleich aufregendsten Periode in der Entwicklung derTaiwanfrage zuwenden. Während das Ende dieser Phasepräzis datierbar ist – sie endete mit der Wahl von Ma Ying-jeou am 22. März 2008 –, reichen ihre Anfänge bis weit in,ja über die siebziger Jahre zurück. Dort nämlich liegen dieWurzeln von zwei Prozessen, die Gesellschaft und PolitikTaiwans – und damit auch die Beziehungen zum Festland –tiefgreifend verändern sollten.

Neben vielen anderen Auswirkungen beendeten sieauch auf Taiwan den Konsens über die zukünftige

Politik gegenüber China und führten so zu einer tiefenpolitischen Spaltung der Insel. Auf zwei Begriffe ver-kürzt, handelte es sich um die „Demokratisierung“ unddie „Taiwanisierung“ der Republik China.

Genau betrachtet liegen die Ursprünge der „Taiwanisie-rung“ sogar schon in den späten vierziger Jahren. Damalshatten die Einwohner Taiwans, zumeist Chinesen, die seitdem 17. Jahrhundert aus den gegenüberliegenden Küsten-provinzen Chinas auf die Insel eingewandert waren, sowieeinige hunderttausend Ureinwohner das Ende der japani-schen Besetzung und die Ankunft der Truppen der Repu-blik zunächst begrüßt.

Doch schon bald nach der Übergabe der Insel an die Re-publik China war ihre Freude in Ernüchterung undbald in Hass umgeschlagen. Denn statt eine friedliche,die Inselbewohner als gleichberechtigt einbeziehendedemokratische Ordnung zu errichten, kam es unterdem ersten Gouverneur Chen Yi zu Korruption, hem-mungsloser Bereicherung der „Festländer“ und zuEntmündigung, Unterdrückung und Ausbeutung derTaiwaner.

Deren Forderung nach Gleichbehandlung und Demokratiebeantwortete der Gouverneur Ende Februar 1947 mit derVerhängung des Ausnahmezustands und blutigen Massa-kern, denen Hunderte von Taiwanern zum Opfer fielen.Der 28. Februar 1947 – der Tag, an dem die Polizei das Feuerauf die Demonstranten eröffnete und zahlreiche von ihnentötete – wurde so zum Tag des taiwanesischen Widerstandsgegen die „Festländer“. 1995, nachdem die Ereignisse jahr-zehntelang tabuisiert worden waren, wurde dieses Datumvom damaligen Staatspräsidenten Lee Teng-hui zum natio-nalen Gedenktag erhoben. Sein Nachfolger, Chen Shui-bian, bezeichnete später das „2.28-Geschehen“ sogar als den„Versuch eines fremden Regimes, die Eliten Taiwans syste-matisch abzuschlachten“.

Es waren jedoch nicht nur die Ereignisse vom Frühjahr1947, die schon früh zur Entfremdung zwischen Taiwanernund „Festländern“ sowie zur Entstehung einer Unabhän-gigkeitsbewegung führten. Hinzu kam, dass die KMT allewichtigen politischen Positionen mit eigenen Leuten be-setzt hatte und sich die Macht auf Chiang Kai-shek, Mitglie-der seiner Familie und einige KMT-Spitzenpolitiker kon-zentrierte, die die Insel, gestützt auf allgegenwärtige Sicher-heitsapparate, die nächsten Jahrzehnte mit diktatorischenVollmachten regierten.

Unter dem Vorwand, sich gegen die vom Festland dro-henden Gefahren schützen zu müssen, diente der seit

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Lee Teng-hui bei einer Rede in Taipei, August 1996

1947 herrschende Ausnahmezustand dazu, Regime-gegner zu verfolgen, Demokratieforderungen der tai-wanesischen Bevölkerung im Keim zu ersticken und dieGründung von Parteien, die das Machtmonopol derKMT und der „Festländer“ hätten in Gefahr bringenkönnten, zu verbieten.

Um die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass die RepublikChina noch immer ganz China repräsentierte, blieben auchdie politischen Zentralorgane weiterhin von jenen Abge-ordneten besetzt, die 1947/48 noch auf dem Festland, inNanking, gewählt worden waren. Die Folge war bald eineÜberalterung der Führung, die erst Ende der sechzigerJahre durch überfällig gewordene Ergänzungswahlen derwichtigsten politischen Gremien beendet wurde. Damitkam es in der Konsequenz zu einer vorsichtig einsetzendenVerjüngung – und zugleich zu einer Taiwanisierung.

Gleichzeitig begannen – Folge von Industrialisierungund zunehmender Urbanisierung, eines wachsendenwirtschaftlichen Wohlstands und gesellschaftlicherDifferenzierung, vor allem aber zunehmender Bildungund eines Wertewandels – die Forderungen nach Demo-kratisierung immer lauter zu werden. Bürgerinitiativenund soziale Bewegungen entstanden, und der Druck aufdie Einleitung von politischen Reformen nahm ständigzu.

Es war der seit März 1978 regierende Präsident ChiangChing-guo (Jiang Jingguo), der Sohn des am 5. April ver-storbenen Chiang Kai-sheks, der Mitte der achtziger Jahredie Zeichen der Zeit erkannte und die Weichen für politi-sche Reformen stellte.

Am 14. Juni 1987 hob er den nunmehr 38 Jahre andau-ernden Ausnahmezustand auf, wodurch die bis dahinsuspendierten Grundrechte der Verfassung wieder inKraft gesetzt wurden – u. a. die Presse-, Demonstrati-ons- und Versammlungsfreiheit. Zwei Jahre späterwurde die Gründung neuer politischer Parteien zuge-lassen.

In schneller Folge kam es nun zur Gründung und Registrie-rung neuer Parteien, unter ihnen die am 28. September 1986gegründete Demokratische Fortschrittspartei (Minjin-dang), die bald zur wichtigsten Oppositionspartei undzugleich größten Herausforderin der noch immer regieren-den KMT werden sollte. Eine weitere, nicht minder wichti-ge Maßnahme war die via Gesetz verfügte und vom Ver-fassungsgericht bestätigte Forderung nach freiwilligemRücktritt der Abgeordneten der Nationalversammlung unddes Legislativ-Yüan, die noch auf dem Festland gewählt

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worden waren und seitdem ohne Neuwahlen amtiert hat-ten. Man mag es als eine Ironie der Geschichte ansehen, dassim selben Jahr, in dem auf Taiwan die KMT ihr Macht-monopol freiwillig aufgab und sich die Demokratie Bahnbrach, auf dem gegenüberliegenden Festland die Führungder kommunistischen Partei die dortige Demokratiebe-wegung blutig niederschlagen ließ, um ihr Machtmonopolzu verteidigen. Hatte sich Taiwan bislang vor allem durchseine Wirtschaftsleistung gegen Peking profilieren können,so begann der Insel nun eine weitere, nämlich demokrati-sche Legitimation zuzuwachsen: Die Republik China warim Begriff, zur ersten chinesischen Demokratie zu werden.

Am 21. März 1990 wurde Lee Teng-hui, bis dahin Stell-vertreter des am 31. Januar 1988 verstorbenen ChiangChing-guo, zum neuen Präsidenten der Republik Chinagewählt. Seine Wahl bildete im doppelten Sinne eineZäsur: Mit Lee besetzte erstmals ein gebürtiger Taiwa-ner das höchste Staatsamt der Republik China, und mitihm endete zugleich die Herrschaft des Chiang-Klans,der von 1927 bis 1988 die höchsten Führungsämter derRepublik besetzt und die Geschicke der Republik Chinabestimmt hatte.

Obwohl der neue Präsident offiziell am „Ein-China-Prin-zip“ festhielt, begann er, wie schon erwähnt, in der Wieder-vereinigungsfrage einen neuen Kurs einzuschlagen.

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Aufgrund der Annahme, dass eine friedliche Wiederver-einigung erst nach grundlegenden demokratischen Re-formen auf dem Festland und damit in ferner Zukunftzu erwarten war, lief der neue Kurs darauf hinaus, diestaatliche Eigenständigkeit und Souveränität Taiwanszu festigen. Wie die Führung in Peking durchaus zuRecht erkannte, lief dies de facto auf die für sie unan-nehmbare Politik von „Ein Land, zwei Regierungen“hinaus.

In diese Perspektive passten auch die seit Herbst 1993 ein-setzenden Bestrebungen Taipeis, Taiwan wieder die Rück-kehr in die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisa-tionen zu ermöglichen, denen Peking allerdings schärfstenWiderspruch entgegensetzte. Die politische Atmosphärezwischen Taiwan und dem Festland begann sich nun schnellweiter abzukühlen, und als Lee Teng-hui 1996 erneut für diePräsidentschaft kandidierte, versuchte Peking durch schar-fe propagandistische Attacken, Flottenmanöver und Rake-tenübungen vor der taiwanesischen Küste die Bevölkerungder Insel einzuschüchtern, um seine Wiederwahl zu verhin-dern. Der Versuch misslang: Nicht nur entsandte der ame-rikanische Präsident Clinton zwei Flugzeugträger in dieTaiwanstraße und signalisierte damit die Entschlossenheitder USA, Taiwan gegen einen militärischen Angriff zuschützen. Wichtiger noch: Bei den Präsidentschaftswahlen– es waren im Übrigen die ersten Direktwahlen – wurde LeeTeng-hui mit 53,9 Prozent der Stimmen wiedergewählt,während der Kandidat der DPP nur 21,1 Prozent erhielt.Das Verhältnis zu Peking erreichte einen weiteren Tief-punkt, als Lee im Juli 1999 in einem Interview mit der Deut-

schen Welle erklärte, die Beziehungen zwischen der VRChina und der Republik China seien „besondere Beziehun-gen zwischen zwei souveränen Staaten“. Taiwan hatte damit– so jedenfalls sah es Peking – einen Kurs eingeschlagen, derà la longue auf die Unabhängigkeit hinauslief. Es war vordiesem Hintergrund wenig überraschend, wenn die chine-sische Führung die Fortsetzung der in Taipei geplantenGespräche zwischen der SEF und ARATS absagte.

Die Beziehungen fielen auf neue Tiefpunkte, als sich am18. März 2000 bei den Präsidentschaftswahlen der Kan-didat des „grünen Lagers“, Chen Shui-bian, ehemaligerBürgermeister von Taipei und eloquenter Befürworterder Unabhängigkeit Taiwans, mit 39,3 Prozent derStimmen durchsetzte, während die KMT nicht zuletztaufgrund zahlreicher Korruptionsskandale mit 23,1Prozent von den Wählern deutlich abgestraft wurde.

Die taiwanesische Demokratie hatte damit ihre erste großeBewährungsprobe bestanden. In einem friedlichen Macht-wechsel hatte die KMT nach mehr als einem halben Jahr-hundert das wichtigste politische Amt verloren. Der neuePräsident gelobte, mit Blick auf Peking, aber auch auf dieKMT, schon in seiner Antrittsrede, sich in seiner Politik anden „Fünf Nein“ zu orientieren – keine UnabhängigkeitTaiwans, keine Aufnahme des Zweistaaten-Konzepts in dieVerfassung, keine Änderung des Staatsnamens, keine Volks-abstimmung über den Status Taiwans und keine Abschaf-fung des „Rats für nationale Wiedervereinigung“ – immervorausgesetzt, dass Peking auf die Anwendung militärischerGewalt verzichtete. Doch bald wurde erkennbar, dass er

Friedensdemonstration in Taipei Foto: Taiwan verstehen Nr. 67, S. 26

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unterhalb der Fünf-Nein-Politik durch eine Strategie derkleinen Schritte der Unabhängigkeit Taiwans näher zukommen suchte. Während er sich von der Bevölkerung indiesem Ziel bestärkt fühlte, als er bei den Präsidentschafts-wahlen am 20. März 2004 als Kandidat des „grünen Lagers“mit 50,11 Prozent erneut siegte – sein Gegner vom „blauenLager“ fuhr immerhin 49,89 Prozent Stimmen ein –, war dieinternationale Großwetterlage inzwischen zu seinen Un-gunsten umgeschlagen. Im Spiel der zwei Ebenen verlager-ten sich Dynamik und Dominanz nun wieder auf die erste,auf die internationale Ebene.

Am 11. September 2001 war es in den USA zu mas-siven Terrorangriffen von Al Quaida gekommen, denenbald darauf weitere Anschläge in Europa und Asien folgten.Für die in Washington neu ins Amt gekommene Adminis-tration unter Präsident George W. Bush war dies das Signalfür einen tiefgreifenden Strategiewechsel. Präsident Bushhatte bis zu diesem Zeitpunkt, wie schon im Wahlkampfangekündigt, einen deutlich härteren Kurs gegenüber derVR China gesteuert, in der er nicht mehr, wie noch sein Vor-gänger Clinton, einen „strategischen Partner“, sondern ei-nen „strategischen Herausforderer“ sah. Aus diesem Grun-de hatte er nicht nur die Schutzzusagen für Taiwan erneu-ert, sondern im April 2001 ein großes Waffengeschäft mitTaipei vorgeschlagen.

Mit den Ereignissen vom 11. September 2001 rückte derKrieg gegen den Internationalen Terrorismus an dieerste Stelle der außenpolitischen Agenda Washingtons.Denn für diesen Krieg, für die anstehenden Militärak-tionen gegen Afghanistan und bald auch gegen denIrak benötigten die USA die Unterstützung Pekingsoder zumindest doch dessen stillschweigende diploma-tische Duldung.

Da diese aber zur wachsenden Verärgerung Washingtonsdurch die Politik Chen Shui-bians gefährdet wurde, sah sichPräsident Bush wiederholt gezwungen, Peking gegenüberdas Festhalten der USA am „Ein-China“-Prinzip zu beteu-ern und Taipei öffentlich vor Provokationen und einer Ver-änderung des Status quo zu warnen.

Um die Entschlossenheit Chinas zu unterstreichen,notfalls auch militärisch gegen Taiwan vorzugehen, hatteder Nationale Volkskongress am 14. März 2005 in Pekingein Antisezessionsgesetz verabschiedet, das klarstellte, dassChina zur Abwehr von Abspaltungsversuchen notfalls auchzu „unfreundlichen Mitteln“ greifen würde. Um zu zeigen,dass dies keine leere Drohung sei, hatte die Volksbefreiungs-armee mit der Aufstellung von Mittelstreckenraketen in derTaiwan gegenüberliegenden Küstenprovinz begonnen so-wie mit dem Aufbau von für eine Invasion erforderlichenLandungseinheiten.

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Unbeeindruckt von den Attacken aus Peking und denWarnungen aus Washington verfolgte Chen Shui-bianseine Strategie der kleinen Schritte in Richtung Unab-hängigkeit jedoch weiter. So kam es unterdessen zuverstärkten Anstrengungen zur Schaffung eines eigen-ständigen Taiwan-Bewusstseins (Taiwan yishi).

Dazu gehörte die Betonung der vom Festland getrennt ver-laufenden Geschichte Taiwans seit der Annexion der Inseldurch Japan 1895 sowie die Umbenennung zahlreicher Bau-ten und Denkmäler, die an die Herrschaft Chiang Kai-shekserinnerten. In Richtung Unabhängigkeit deuteten auchMaßnahmen, wie die Auflösung des 1991 geschaffenen„Rats für Nationale Wiedervereinigung“ und die von die-sem entworfenen „Richtlinien für die Nationale Wiederver-einigung“; die Ersetzung der Bezeichnung „Republik Chi-na“ in den Lehrbüchern und in den Pässen durch dieBezeichnung „Taiwan“; Pläne für eine neue Verfassung; dieDurchführung einer Reihe problematischer Volksbefragun-gen, u.a. ein mit den Präsidentschaftswahlen von 2008gekoppeltes VN-Referendum sowie verstärkte Bemühun-gen um die Aufnahme in die UNO und einige ihrer Sonder-organisationen.

Während sich die politischen Fronten zwischen Pe-king und Taipei damit zunehmend verhärteten, verdichtetensich die Wirtschaftsbeziehungen über die Taiwanstraße vonJahr zu Jahr. So hatte sich das Handelsvolumen zwischen1990 und 2006 von 2,3 auf 115 Mrd. US-$ erhöht und mach-te damit – bei einem Handelsüberschuss von 62,5 Mrd. US-$ zugunsten Taiwans – 40 Prozent des Gesamthandels derRepublik China aus. Im gleichen Zeitraum war die taiwane-sische Wirtschaft mit weit mehr als 100 Mrd. US-$ zumgrößten ausländischen Investor auf dem chinesischen Fest-land aufgestiegen. Allerdings war die Freude auf Taiwanüber die guten Wirtschaftsbeziehungen nicht ungeteilt:Denn anders als die taiwanesischen Wirtschaftsunterneh-men, die von dieser Entwicklung profitierten, war sich dieRegierung der mit ihr verbundenen wirtschaftlichen undpolitischen Gefahren durchaus bewusst:

Abgesehen davon, dass mit der Auslagerung zahlrei-cher Industrien aufs Festland wichtiges Kapital fürInvestitionen auf der Insel verlorenging und Arbeits-plätze wegfielen, lieferte die zunehmende Abhängigkeitder taiwanesischen Wirtschaft vom Festland der chine-sischen Führung die Hebel, mit denen sie bei passenderGelegenheit die Regierung in Taipei bei Fragen derWiedervereinigung über die taiwanesischen Unterneh-mer unter Druck setzen kann.

Als nicht minder gefährlich erwies sich eine andere StrategiePekings. Sie verfolgte parallel zur internationalen Isolierung

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der Republik China das Ziel, die DPP in Taiwan zu isolie-ren. Während die chinesische Führung Gesprächsangebotevon Präsident Chen Shui-bian ignorierte, auf Maximalfor-derungen beharrte und keinerlei Kompromissbereitschaftzeigte, begann sie schon weit im Vorfeld der nächsten Par-laments- und Präsidentschaftswahlen, führende Politikerder KMT zu Gesprächen aufs Festland einzuladen. Die Bot-schaft an die Bevölkerung Taiwans war unzweideutig: Wäh-rend es mit der auf Unabhängigkeit drängenden DPP zukeinem konstruktiven Dialog und damit auch zu keinerEntspannung in den politischen Beziehungen kommenwürde, sondern stattdessen eine riskante Verschärfung mitunkalkulierbaren Folgen drohte, war mit der am Prinzip dernationalen Einheit (einschließlich Taiwan) grundsätzlichfesthaltenden KMT und mit dem von ihr geführten „blau-en Lager“ eine Verständigung und damit eine Verbesserungder Beziehungen durchaus möglich.

Die Position des „grünen Lagers“ hatte sich damit vorden Wahlen im Frühjahr 2008 deutlich verschlechtert:Abgesehen davon, dass es Präsident Chen nicht gelun-gen war, die internationale Isolierung Taiwans zudurchbrechen und für die Republik China wenigstenseinen Beobachterstatus in der einen oder anderen VN-Organisation zu erreichen, hatte er sich durch seineStrategie der kleinen Schritte in Richtung Unabhän-gigkeit auch den Unmut der Schutzmacht USA zu-gezogen.

Und auch in Taiwan selbst standen jene Teile der Geschäfts-welt, die bei einem sich verschärfenden Konflikt auf demFestland viel zu verlieren bzw. bei einer weiteren wirtschaft-lichen Verflechtung viel zu gewinnen hatten, den Forde-rungen nach Unabhängigkeit kritisch gegenüber, ganz zuschweigen von zahlreichen Anhängern des „blauen Lagers“,die eine Verschlechterung des Status quo befürchteten, fürdessen Erhalt die große Mehrheit der Bevölkerung der Inselstand. Hinzu kam, dass inzwischen auch die DPP aufgrundvon Korruptionsskandalen, in die führende Spitzenpoliti-ker aus ihren Reihen, u.a. auch die Präsidentenfamilie ver-wickelt waren, einiges von ihrem früheren Glanz verlorenhatte. Die KMT hingegen verfügte mit Ma Ying-jeou inzwi-schen über einen jungen und charismatischen Parteivorsit-zenden und Präsidentschaftskandidaten, der als frühererOberbürgermeister von Taipei nicht nur bei großen Teilender taiwanesischen Bevölkerung hohes Ansehen genoss,sondern auch in Washington und Peking geschätzt wurde.

Die Entwicklungen nach den Wahlen

Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen vom März 2008hatte eine wichtige Voraussetzung für eine Entspannung in

der Taiwanstraße und die Einleitung eines konstruktivenDialogs zwischen Peking und Taipei geschaffen. Haben sichnun, ein Jahr später, die damit verbundenen hohen Erwar-tungen erfüllt? Und haben sich – sechs Jahrzehnte nach derFlucht der KMT nach Taiwan und drei Jahrzehnte nach derNormalisierung der amerikanisch-chinesischen Beziehun-gen – die Chancen für eine tragfähige Lösung des Taiwan-Problems verbessert?

Lassen wir zur Beantwortung dieser Fragen dieEntwicklungen des vergangenen Jahres im Dreieck zwi-schen Taipei, Peking und Washington Revue passieren.Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ausgangslage für jededer drei Seiten schwierig ist, hat doch jede von ihnen höchstunterschiedliche und nur schwer miteinander zu vereinba-rende Zielsetzungen in Einklang zu bringen:

• Das gilt vor allem für Präsident Ma Ying-jeou. Diesermuss einerseits die von großen Teilen der taiwanesischenBevölkerung, aber auch von Washington und Peking er-hoffte Verbesserung der Beziehungen zum Festland ein-leiten, andererseits aber unter allen Umständen den Ein-druck von Nachgiebigkeit gegenüber der chinesischenFührung und einem Ausverkauf der Souveränität Taiwansvermeiden. Letzteres würde die ohnehin schon tiefe Spal-tung zwischen den beiden politischen Lagern auf Taiwannoch verstärken, Wasser auf die Mühlen der auf Unabhän-gigkeit drängenden Kräfte leiten und seine eigene Wieder-wahl gefährden.

• Vor nicht minder großen Schwierigkeiten steht die Füh-rung in Peking: Einerseits muss sie – nicht nur aufgrundder eigenen Überzeugung, sondern auch mit Blick auf denstarken Nationalismus in der chinesischen Gesellschaftund der Volksbefreiungsarmee – am „Ein-China“-Prinzipfesthalten; andererseits muss sie aber Präsident Ma Ying-

Wu Poh-Hsiung, Chairman der KMT, mit dem chinesischen

Ministerpräsidenten Hu, Mai 2008 Foto: Reuters

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jeou substanzielle Zugeständnisse machen, will sie dessenStellung und damit die Chancen auf eine weitere Annähe-rung nicht gefährden.

• Schwierig ist schließlich auch die Position der USA: Denneinerseits ist Washington auch weiterhin an guten Bezie-hungen zur VR China interessiert – inzwischen nicht nurzwecks gemeinsamer Bekämpfung des internationalenTerrorismus, sondern auch mit Blick auf die internationa-le Finanz- und Wirtschaftskrise. Andererseits kann dieamerikanische Regierung zur Wahrung der strategischenInteressen und des Ansehens der USA in der asiatisch-pazifischen Region die Sicherheit Taiwans nicht aufs Spielsetzen. Denn wenn der Hegemonialkonflikt mit Pekingaufgrund der Ereignisse vom 11. September 2001 auch andie zweite Stelle gerückt ist, so dauert er doch weiter anund verlangt die höchste Aufmerksamkeit der amerikani-schen Administration.

Dass angesichts so komplizierter Ausgangsbedingungen aufSeiten aller Beteiligten keine schnellen Lösungen zu erwar-ten sind, liegt auf der Hand. Dennoch signalisieren die Ent-wicklungen der vergangenen Jahre den guten Willen allerSeiten. Fortschritte zeigten sich, wie nach den Wahlkampf-

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ankündigungen Ma Ying-jeous zu erwarten war, vor allemim Verhältnis zwischen Taipei und Peking.

Die ersten Signale für die gegenseitige Verständigungs-bereitschaft erfolgten schon am 12. April 2008, alsonoch vor dem Amtsantritt des neuen taiwanesischenPräsidenten, auf einem internationalen Wirtschafts-kongress, dem sogenannten BOAO-Forum, auf dem eszu einer Begegnung – und zugleich zu einem kurzenGespräch – zwischen dem chinesischen Staatspräsiden-ten und Generalsekretär der KPCh, Hu Jintao, unddem designierten Vizepräsidenten Taiwans, VincentSiew (Xiao Wangchang), kam.

Bei dieser Gelegenheit formulierten beide Seiten – in für diepolitische Kultur Chinas üblichen Formeln – die Leitlinien,denen sie bei der zukünftigen Gestaltung ihrer Beziehungenfolgen wollten. So forderte Vincent Siew: „Sich derWirklichkeit stellen, den Weg in eine neue Zukunft bahnen,Streitpunkte ausklammern und beidseitige Vorteile anstre-ben.“ Durchaus ähnlich formulierte es Hu Jintao: „Auf bei-den Seiten Vertrauen bilden. Streitpunkte ausklammern,

Ma Ying-jeou spricht vor der militärischen Akademie in Kaoksiung, Juli 2008; im Hintergrund ein Bild von Sun Yat-sen.

Foto: ullstein bild

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Der erste Charter-Direktflug zwischen Peking und Taipei, Juli 2008 Foto: ullstein bild

trotz bestehender Unterschiede nach Gemeinsamkeiten su-chen, und zusammen beidseitige Vorteile realisieren.“7

Nur wenige Wochen nach diesem „Eröffnungs-zug“ reiste eine Delegation unter Leitung des KMT-Vor-sitzenden Wu Po-hsiung (Wu Boxiang) nach China (s. BildS. 63). Bei dieser Gelegenheit informierte Wu Hu Jintao, of-fenbar in dessen Funktion als Parteiführer, über die zukünf-tige Festlandpolitik der neuen Administration.

Wichtigstes Ergebnis neben der Einigung auf regelmä-ßige Wochenend-Charterflüge dürfte aus taiwanesi-scher Sicht der Hinweis Hus gewesen sein, dass in Zu-kunft auch über den Beitritt Taiwans zu internationa-len Organisationen wie der WHO verhandelt werdenkönnte.

Ein weiteres Ergebnis war die Verständigung über die Wie-deraufnahme der Gespräche zwischen ARATS und SEF. Zueiner ersten Gesprächsrunde kam es zwischen dem 11. und14. Juli 2008, auf der über Passagier- und Frachtcharterflügeverhandelt wurde; es war das erste Treffen seit dem Abbruch

der Gespräche zehn Jahre zuvor. Nach einer schnellen Eini-gung setzten im Juni auch schon die ersten direkten Char-terflüge ein. Im selben Monat begann auch ein „kleinerGrenzverkehr“, nämlich Schiffsverbindungen zwischenden während der fünfziger Jahre hart umkämpften InselnKinmen (Quemoy) und Mazu, die noch immer unter derHerrschaft der Republik Chinas stehen, und dem Festland.Ein weiteres Zeichen guten Willens und Entgegenkommensder taiwanesischen Seite war Anfang August die Lockerungder Beschränkungen für Kapitalinvestitionen auf demFestland.

In der ersten Novemberwoche fand schließlich ein wei-teres Treffen der Vorsitzenden von SEF und ARATS,Chiang Pin-kung und Chen Yunlin, in Taipei statt; eswar der erste Besuch eines ARATS-Vorsitzenden inTaiwan und insofern eine Premiere. Gleich am zweitenBesuchstag, am 4. November, erfolgte die Unterzeich-nung von vier Verträgen, die zur Verbesserung derWirtschaftsbeziehungen beitragen sollen.

7 Hans-Wilm Schütte, Entspannung an der Taiwan-Straße: ein Land, zwei Regionen, in: China aktuell 4 (2008), S. 188.

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Dabei handelt es sich um Verträge über direkte Flugverbin-dungen, direkte Frachtverkehrverschiffung, Verbesserungder postalischen Dienste sowie über Lebensmittelsicherheit– ein Problemkomplex, der durch den Melanin-Skandal aufdem Festland entstanden war. „Das Treffen signalisierte,dass die beiden Seiten der Taiwanstraße einen Gesprächs-mechanismus institutionalisiert haben“, erklärte ChiangPin-kung, der Vorsitzende von SEF, nach dem Treffen undfügte hinzu: „Dabei zeigte es sich auch, dass beide Seiten aufgleicher Augenhöhe verhandeln können.“8

Noch eine weitere wichtige Premiere fand statt:Während seines Besuches stattete Chen Yunlin der für dieFestland-Angelegenheiten zuständigen Ministerin LaiShin-yuan einen Besuch ab. Es war das erste öffentlicheTreffen eines hochrangigen Beamten der VR China mit ei-nem Mitglied des taiwanesischen Kabinetts.

Am Rande der Verhandlungen zwischen den Vertreternvon SEF und ARATS war es auch zu Gesprächen übereine finanzielle Zusammenarbeit gekommen, in denenman sich über die Eröffnung von Kommunikationska-nälen u.a. in den Bereichen Banken und Versicherungeneinigte wie auch die Errichtung eines gemeinsamenÜberwachungsmechanismus im Finanzbereich ankün-digte.

Zudem regte Chen Yunlin an, angesichts der die internatio-nale Finanzkrise begleitenden Gefahren auch über Mög-lichkeiten einer gemeinsamen Nutzung der Devisenreser-ven von China, Hongkong und Taiwan nachzudenken. Zu-dem stattete Chen Präsident Ma einen kurzen Höflichkeits-besuch ab, der aber wohl eher symbolische Bedeutung hatteund zeigen sollte, dass die Gespräche auf gleicher Augen-höhe stattfanden – hatte doch im Juni zuvor auch schon derSEF-Vorsitzende Chiang den chinesischen Präsidenten HuJintao seine Aufwartung gemacht.

Aufgrund der Warnung vor größeren antichinesischenDemonstrationen von Anhängern der Unabhängig-keitsbewegung, zu denen es schon kurz zuvor beimBesuch des stellvertretenden Vorsitzenden von ARATSZhang Mingquing gekommen war und die auch denBesuch von Chen Yulin begleiteten, hatten die Behör-den Taiwans zehntausende Sicherheitskräfte aufgebo-ten.

Allerdings zeigten Meinungsbefragungen, dass die Mehr-heit der Inselbevölkerung der Aufnahme von Gesprächendurchaus zustimmt. Noch bei Umfragen im September hat-ten sich 30 Prozent der Befragten – zehn Prozent mehr als

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ein halbes Jahr zuvor – besorgt über die Schnelligkeit derAnnäherung gezeigt. Zur Beruhigung der Gemüter und derGegner des Treffens bekräftigte Präsident Ma unmittelbarnach der Gesprächsrunde nochmals öffentlich seine Ent-schlossenheit, die Souveränität Taiwans und die Rechte sei-ner 23 Mio. Einwohner zu schützen; zugleich rief er dieFührung der DPP zu einem Dialog über die drohende Fi-nanzkrise auf.

Auch im militärischen Bereich übte sich der neue Prä-sident Taiwans in einem diplomatisch-politischen Spa-gat, um den unterschiedlichen Erwartungen gerechtzu werden. So war er einerseits bemüht, durch ver-söhnliche Gesten in Richtung Peking vertrauensbil-dende Signale auszusenden, gleichzeitig jedoch durchden Abschluss eines größeren Waffengeschäftes mitden USA dem Sicherheitsbedürfnis der taiwanesischenBevölkerung gerecht zu werden.

Regierungssprecher erklärten mit Blick in Richtung Fest-land, dass der neuen Politik die Prinzipien „kein Erstschlag“und „kein Angriff auf nicht-militärische Ziele“ zugrunde lä-gen. Gleichzeitig deutete sich an, dass die Regierung nicht –wie von ihrer Vorgängerin erwogen – als Teil ihrer Abschre-ckungsstrategie gegen einen Raketenangriff vom Festlanddie Reichweite ihrer Hsiung-Feng-2E-Raketen soweit ver-längern würde, dass sie Shanghai und andere Städte im Süd-osten Chinas erreichen könnten. Die 1998 entwickelte HF-2E-Boden-Boden-Cruise-Missile – eine Weiterentwicklungder in Taiwan entwickelten und produzierten HF-2-Anti-schiffsraketen – besitzt derzeit eine Reichweite von 600–800Kilometern; allerdings fanden schon Tests mit einer neuen,weiter reichenden Version statt. In den Bereich der vertrau-ensbildenden Maßnahmen gehört zweifellos auch die An-kündigung Taipeis, den Verteidigungshaushalt im Jahr 2009auf zehn Mrd. US-$ zu senken, von denen 2,95 Mrd. US-$für die Anschaffung von Defensivwaffen vorgesehen sind.

Ob die chinesische Führung auf diese Signale mit eige-nen vertrauensbildenden Maßnahmen antworten wird– und wie diese aussehen werden –, bleibt abzuwarten.Sie werden sich, sofern man sich überhaupt dazu ent-schließt, voraussichtlich in engen Grenzen halten.

Denn Anfang Oktober 2008 – sechs Monate nach Amtsan-tritt von Präsident Ma – gab die Bush-Administration be-kannt, dass sie den amerikanischen Kongress über ihreEntscheidung informiert habe, Taiwan Waffen zu liefern.Mit einem Volumen von 6,43 Mrd. US-$ handelt es sich umdie größte Waffenlieferung der USA an Taiwan seit 1982.

8 Taiwan Journal Vol. XXV. No. 4, 7. November 2008, S. 1.

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Damit steht ein Geschäft vor dem Abschluss, dessen Anfän-ge bis ins Frühjahr 2001 zurückreichen, als die amerikani-sche Regierung Taiwan umfangreiche Waffenangebotemachte. Wenn sich die Verhandlungen darüber schließlichüber sieben Jahre hinzogen, so war dies zum einen auf denWiderstand der KMT-Mehrheit im Parlament zurückzu-führen, der sich vor allem gegen die hohen Kosten richtete.Hinzu kamen von Seiten Washingtons Rücksichten aufEmpfindlichkeiten Pekings.

Beide Hindernisse waren inzwischen gefallen: Im taiwa-nesischen Parlament hatte sich inzwischen eine Mehr-heit für den Erwerb der Waffensysteme ausgesprochen,und die ausgehende Bush-Administration hatte sichüber die zu erwartenden Proteste aus Peking hinweg-gesetzt, teils weil sie das Risiko einer ernsthaften Ver-stimmung für kalkulierbar hielt, teils aber auch aus derBefürchtung, dass die kommende Regierung, sollte sievon den Demokraten gestellt werden, das Waffen-geschäft stoppen oder gar verzögern würde.

Berücksichtigt man, dass die Modernisierung der Volksbe-freiungsarmee in den vergangenen Jahren erhebliche Fort-schritte gemacht hat und das auf dem Festland dislozierteDrohpotenzial ständig zunimmt, so tragen die Waffenliefe-rungen Washingtons durchaus dazu bei, die Bildung vongefährlichen militärischen Ungleichgewichten zu verhin-dern und die Selbstverteidigungskräfte Taiwans zu stärken.Zugleich sind sie aber auch geeignet, die Ängste der Bevöl-kerung Taiwans vor einer gewaltsamen Übernahme Pekingszu besänftigen und das Vertrauen in die amerikanischeSchutzmacht zu stärken.

Dass die chinesische Führung auf den Waffendealmit Empörung reagieren, diese als Einmischung in die inne-ren Angelegenheiten des Landes verurteilen und mit sym-bolischen Gegenmaßnahmen beantworten würde, war zuerwarten. Dennoch dürfte auch ihr bewusst gewesen sein,dass Washington mit dieser Lieferung die innenpolitischeStellung des Präsidenten Ma und damit dessen Entspan-nungspolitik stärkte. Ferner dürfte es ihr nicht entgangensein, dass zwei der von Taiwan georderten Waffensysteme,über deren defensiven Charakter man geteilter Meinungsein kann (acht dieselgetriebene U-Boote sowie die 60-UH-60-Black-Hawk-Helicopter) nicht in der Lieferung enthal-ten waren. Auch über die Lieferung von 66 F-16- C/D-Kampfjets, mit denen Taiwan das Gleichgewicht der Kräfteüber der Taiwanstraße erhalten will, wurde die Entschei-dung weiter aufgeschoben. Also war man auch auf ameri-kanischer Seite bemüht, China nicht zu provozieren.

Die Strategie von Präsident Ma gegenüber Peking istunschwer erkennbar: Auf der Agenda stehen zunächstnur „weiche Themen“, an denen beide Seiten interes-siert sind und über die weitgehende Interessengleichheitbesteht, wie vor allem Schritte zur Normalisierung undIntensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeitund des Kulturaustausches. Dagegen bleiben „harte“Themen zunächst ausgespart.

Das gilt insbesondere für Bereiche, bei denen für beideSeiten heikle Souveränitätsfragen berührt werden. Damit eshier zu einvernehmlichen Lösungen kommt, muss zunächsteinmal ein Klima gegenseitigen Vertrauens geschaffen undsodann eine erfolgversprechende roadmap entworfen wer-den. Ma hatte dazu, wie schon zuvor im Wahlkampf, in sei-ner Antrittsrede die Grundprinzipien und Konzepte aufge-listet, an denen er sich orientieren wolle:9 Beibehaltung desStatus quo in der Taiwanstraße gemäß dem Konzept „keineWiedervereinigung (gemeint ist: während seiner erstenAmtszeit – PJO), keine Unabhängigkeit und keine Gewalt-anwendung“; Wiederaufnahme von Verhandlungen mit Pe-king auf der Grundlage des „Konsens von 1992“, der besagt,dass beide Seiten der Taiwanstraße an „einem China“ fest-halten, jedoch unterschiedliche Auffassungen darüber ha-ben – eine diplomatische, für beide Seiten gesichtswahren-de Formel, die den Vorzug hat, die Aufnahme von Gesprä-chen über praktische Probleme zu ermöglichen.

Allerdings ging Ma Ying-jeou bei der Beschreibungdes Verhältnisses der beiden Seiten zueinander noch einenSchritt weiter und platzierte sich mit ihm geschickt zwi-schen den Positionen seiner Vorgänger und Peking. So hatteLee Teng-hui – wie oben erwähnt – im Juli 1999 die Bezie-hungen zwischen der VR China und der Republik China als„besondere Beziehungen zwischen zwei souveränen Staa-ten“ charakterisiert und sich damit – zum Ärger der chine-sischen Führung – deutlich gegen die von ihr vertreteneAuffassung abgegrenzt, dass es sich bei Taiwan um eine ab-trünnige Provinz handle. Die Formel Lees hatte denn auchzum Abbruch der Gespräche zwischen SEF und ARATSbeigetragen.

Zur Charakterisierung des Verhältnisses zwischenTaiwan und dem Festland musste Präsident Ma eineFormel finden, die einerseits den SouveränitätsanspruchTaiwans nicht aufgab – das hätte ihm schärfste Kritikdes „grünen Lagers“ eingebracht, die Gräben zwischenden beiden Lagern weiter vertieft und seine eigene poli-tische Stellung geschwächt –, die andererseits aber auchdas Ein-China-Prinzip Pekings nicht in Frage stellte,

9 Text der Antrittsrede findet sich in: Taiwan heute, 21. Jg. Nr. 3 v. 1. 7. 2008, S. 2–7.

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auf dem ja sowohl Peking wie auch die KMT weiterhinbeharrten.

Als einen solchen Versuch, die gegenseitigen Positionen zuüberbrücken, muss ein Interview gesehen werden, das Maam 3. Dezember 2008 einer mexikanischen Zeitung gab. Indiesem erklärte er, dass „für uns die Beziehung zwischenden beiden Seiten der [Taiwan-] Straße im Grunde keine sol-che zwischen zwei Chinas, sondern eine spezielle Bezie-hung“ sei.10

Zur Erläuterung dieser Besonderheit wies derSprecher des Präsidentenamtes auf die Verfassung Taiwanshin, die vom „Verhältnis zwischen den Menschen der Tai-wanregion und der Festlandregion“ spricht.

Mit dem Hinweis, dass sich die Besonderheit aus derBeziehung zwischen den Menschen „zweier Regionen“ergebe, hatte Ma die heikle staatsrechtliche Ebene ver-lassen und die Problematik gewissermaßen entpoliti-siert. Ob sich auch die chinesische Führung diese neueLesart – mit der sich Ma noch immer auf dem Bodender taiwanesischen Verfassung bewegt – zu Eigenmachen wird, wird sich zeigen.

Dass sie zumindest mit ihr leben kann, geht aus der Tatsachehervor, dass sie ihr – zumindest bislang – nicht vehementwidersprach und die anstehenden Gespräche zwischen SEFund ARATS nicht platzen ließ.

„Ein Land, zwei Regionen“ könnte sich somit als eineFormel erweisen, die nicht nur für beide Seiten der Tai-wanstraße akzeptabel ist, sondern im Laufe der Zeit diePekinger Formel „Ein Land, zwei Systeme“ verdrängt,die von der überwiegenden Mehrheit der BevölkerungTaiwans strikt abgelehnt wird.

Durch die beiden SEF-ARATS-Gesprächsrunden und diedabei getroffenen Vereinbarungen wurde eine Reihe vonHindernissen, die bis dahin einer weiteren Intensivierungder wirtschaftlichen, kulturellen und menschlichen Bezie-hungen im Weg gestanden waren, beseitigt. BesondereKompromissbereitschaft war dabei allerdings nicht erfor-derlich gewesen, da dies den Interessen beider Seiten ent-sprach. Anders verhält es sich mit den beiden anderen Pro-blemkomplexen, bei denen vor allem von Peking Entge-genkommen nötig wäre: bei der von Taipei gefordertenLockerung der von der chinesischen Führung betriebeneninternationalen Isolierung sowie bei der Beendigung dermilitärischen Bedrohung Taiwans.

10 Hans-Wilm (wie Anm. 7), S. 198.

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Zumindest bei der ersten der beiden Fragen – der interna-tionalen Isolierung der Republik China – gibt es Signale, diedarauf hindeuten, dass die chinesische Führung bereit seinkönnte, ihre bisher unnachgiebige Haltung zu lockern undTaipei entgegenzukommen. Nochmals zum Hintergrund:Spätestens seit ihrem Einzug in die Vereinten Nationen hatdie chinesische Führung alles getan, um das Ein-China-Prinzip international durchzusetzen. Diese Politik lief imWesentlichen über zwei Schienen: Sie hatte – zum einen –auf der Anerkennung ihres Alleinvertretungsanspruchesbestanden und unter Einsatz wirtschaftlichen politischenDrucks und Angebote zahlreiche Staaten dazu veranlasst,ihre diplomatischen Beziehungen zur Republik China ab-zubrechen. Diese Strategie war überaus erfolgreich:

Derzeit ist die Zahl der Staaten, die weltweit Taiwananerkennen, auf 23 zusammengeschmolzen, meist klei-nere afrikanische und lateinamerikanische Staaten.Zum anderen hatte man, nicht minder erfolgreich, alleVersuche Taiwans abgeblockt, wieder Mitglied der Ver-einten Nationen, ihrer Unter- und ihrer Sonderorgani-sationen zu werden.

Dass Peking, wollte es die Stellung von Präsident Ma stär-ken, sich auf diesem Gebiet bewegen und seiner Forderungnach mehr internationalem Spielraum entgegenkommenmusste, war evident. Auf beiden Feldern hatte Ma bereitsKurskorrekturen vorgenommen. So hatte er sich von demVersuch seines Vorgängers distanziert, den Vereinten Na-tionen unter dem Namen „Taiwan“ beizutreten, der auch inWashington als Provokation verstanden und kritisiert wor-den war. Stattdessen ersuchte Taiwan im August 2008 die 63.VN-Generalversammlung, nach Wegen zu suchen, um Tai-wan eine „sinnvolle Teilnahme“ in den internationalen Son-derorganisationen, etwa der Weltgesundheitsorganisation(WHO), der International Civil Aviation Organisation(ICAO) und der International Maritime Organisation(IMO) zu ermöglichen.

Obwohl ein spektakulärer Erfolg noch aussteht – trotzder deutlich verbesserten Atmosphäre hatte die chine-sische Führung die jüngste VN-Initiative durch ihrenVN-Botschafter erneut torpedieren lassen –, ist zuerwarten, dass sie bei der Frage einlenken und die Teil-nahme Taiwans in der einen oder anderen VN-Sonder-organisation demnächst akzeptieren wird.

Dass sich Peking in dieser Frage schwer tut, dürfte vor allemzwei Ursachen haben: Uneinigkeit innerhalb der kommu-

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nistischen Führung selbst sowie die Sorge, dass eine inter-nationale Aufwertung Taipeis nur schwer mit dem Ein-China-Prinzip zu vereinbaren ist und im Falle eines Wahl-siegs der DPP bei kommenden Wahlen diese die neu gewon-nen Spielräume für ihre Unabhängigkeitspolitik nutzenkönnte.

Dennoch verdichten sich die Zeichen eines vorsichtigenEinlenkens. So kam es etwa auf dem Treffen des AsianPacific Economic Council (APEC) im November 2008in Peru, auf dem Taiwan, von dem KMT-Führer LienChan repräsentiert wurde, zu einem längeren Gesprächzwischen ihm und Hu Jintao, das von beiden als ein„Treffen alter Freunde“ bezeichnet wurde und in demsie sich positiv über die bisherigen Entwicklungen aus-sprachen.

Auch im Bereich der diplomatischen Anerkennung deutensich Zeichen einer Annäherung an. Hier hatte Präsident Mafür einen „diplomatischen Waffenstillstand“ geworben, d.h.für eine Beendigung des gegenseitigen Abwerbens vonStaaten und des „Tauziehens um Alliierte“. Indizien spre-

chen nun dafür, dass Peking das WaffenstillstandsangebotMas angenommen hat. So ist Paraguay, das die Absicht be-kundet hatte, seine Beziehungen zu Taipei abzubrechen,nicht auf Seiten Pekings übergewechselt – wie man vermu-tet, im stillschweigenden Einverständnis mit der chinesi-schen Führung.

Schwieriger dürfe eine Entspannung im militäri-schen Bereich zu erzielen sein. Auch hier hatte Taipei mitdem Produktionsstopp für Raketen, die Shanghai und ande-re Städte auf dem Festland bedrohen könnten, eine zumin-dest symbolische Vorleistung erbracht. Sie sollte es der chi-nesischen Führung erleichtern, ihrerseits Zeichen der Ent-spannung zu setzen – nicht zuletzt auch, um auf dem Wegzur Beendigung des noch immer bestehenden Bürger-krieges und zum Abschluss eines noch immer ausstehendenFriedensvertrages einige Schritte weiterzukommen.

Der Wahlsieg Mas hat schließlich auch deutlich zurEntspannung der Beziehungen Taipeis zur SchutzmachtUSA beigetragen. So hatte, wie schon zitiert, Präsident Bushzum Wahlausgang bemerkt, dass er „für beide Seiten einegute Gelegenheit biete, aufeinander zuzugehen und Diffe-renzen friedlich zu lösen“.11 Ferner hatte Washington wie-

Pressekonferenz Hu Jintaos zur Taiwanpolitik, Dezember 2008 Foto: Reuters

11 Dennis V. Hikey, New Directions and New Concepts: President Ma and Taiwans’ Chief Challenges (unveröff. Manuskript), 11. Oktober2008.

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derholt die Hoffnung auf einen „fruchtbaren Dialog“ zwi-schen Peking und Taipei zum Ausdruck gebracht, und wäh-rend man 2007 die Bemühungen von Chen Shui-bian, denVereinten Nationen als Vollmitglied beizutreten, als „pro-vokativ“ bezeichnet hatte, signalisierte man nun Verständ-nis und Unterstützung für die Bemühungen des neuenPräsidenten um „sinnvolle Teilnahme“ in der WHO undanderen Sonderorganisationen. Das deutlichste Zeichen desVertrauens, das Washington in Präsident Ma setzt, ist je-doch, dass die Bush-Administration schließlich doch nochgrünes Licht für das große Waffengeschäft gab.

Wie die China-Politik des neuen amerikanischen Präsi-denten Barack Obama im Allgemeinen, seine Haltungin der Taiwanfrage im Besonderen aussehen wird, bleibtabzuwarten. Bislang deutet jedoch nichts darauf hin,dass Obama von den Grundpositionen seiner Vorgän-ger abrücken wird.

Mit der Verbesserung der Beziehungen zu Peking und Wa-shington hat der neue taiwanesische Präsident zwar die bei-den wichtigsten außenpolitischen Aufgaben erfolgreich inAngriff genommen. Doch er steht noch vor einer weiteren,nicht minder wichtigen, vielleicht noch schwierigeren He-rausforderung: der politischen Versöhnung einer zutiefstgespaltenen Gesellschaft.

Dass Ma Ying-jeou sich dieser Herausforderung be-wusst ist, zeigte in seiner Antrittsrede die Feststellung,dass sich die neue Regierung bemühen werde, die „Har-monie zwischen den ethnischen Volksgruppen sowiezwischen den alten und neuen Zuwanderern voranzu-treiben“.12

Angesprochen ist damit die Spaltung der Ge-sellschaft Taiwans zwischen den „alten“, d. h. den seitdem 17. Jahrhundert eingewanderten Chinesen undden Nachkommen der mit Chiang Kai-shek 1949 einge-wanderten „Festländern“, die inzwischen nur noch 15Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Diese „ethnische“ Spaltung wird dadurch vertieft, dass viele„Festländer“ Anhänger der KMT und des „blauen Lagers“sind und – verständlicherweise – dem Gedanken einer Wie-dervereinigung mit dem Festland offener gegenüberstehen,

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als die einheimischen Taiwaner – also die „alten Zuwande-rer“ – sowie die ca. 420.000 Ureinwohner Taiwans, die dieDPP und das „grüne Lager“ unterstützen.

Zweifellos wurde diese Spaltung durch die dezi-diert eine spezielle taiwanesische Identität betonende undauf die Unabhängigkeit der Insel setzende Politik von ChenShui-bian weiter vertieft. Bezeichnenderweise hielt MaYing-jeou, dem im Wahlkampf von Seiten seiner Gegneraufgrund seines Geburtsortes Hongkong vorgeworfenwurde, „ein Außenseiter aus Hongkong“ zu sein, es für nö-tig, immer wieder zu beteuern: „[I]ch esse taiwanesischenReis, trinke taiwanesisches Wasser und will, wenn ich ster-be, als ein Taiwaner begraben werden.“13 Als Zeichen seinesguten Willens und um die Unterstellung, er werde als Prä-sident eine Politik des Ausverkaufs der Insel an Peking be-treiben, zu entkräften, ernannte er – wie schon erwähnt –Lai Shin-yuan, Parlamentsabgeordnete der für die Unab-hängigkeit eintretenden Taiwan Solidarity Union (TSU),zur Ministerin des Amtes für Festlandangelegenheiten(MAC). Dennoch halten, wie Meinungsbefragungen zeig-ten, 45,3 Prozent der Befragten Mas mangelnde Fähigkeit,die Spannungen zwischen den beiden Lagern zu verringern,für die „größte Krise“ der Insel. Dagegen zeigt allerdings diedeutliche Mehrheit von 58,45 Prozent der Stimmen, die MaYing-jeou bei den Präsidentschaftswahlen erhielt, dass erdennoch das Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit genießt.

Ob es Ma gelingen wird, diese Mehrheit weiter auszu-bauen und bei den kommenden Wahlen ein weiteresMandat zu erringen, hängt vor allem von drei Faktorenab: (1) von seiner Fähigkeit, die Beziehungen zu Wa-shington und Peking zu verbessern, ohne die Sicherheitund Souveränität Taiwans zu beschädigen; (2) von derErweiterung des internationalen Spielraums der Repu-blik China sowie (3) von der weiteren wirtschaftlichenEntwicklung der Insel.

Letzteres dürfte angesichts der schweren internationalenFinanz- und Wirtschaftskrise, in der sich die Weltwirtschaftbefindet, besonders schwierig sein. Denn beide Länder, mitdenen die Wirtschaft Taiwans eng verflochten ist – Chinaund die USA –, sind von der Krise stark betroffen. Da aberdie Regierung Taiwans kaum Einfluss auf die weitereEntwicklung der internationalen Wirtschaftskrise nehmen

12 S. Antrittsrede (wie Anm. 9).13 Time v. 13.3.2008.

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kann, wird es darauf ankommen, dass es gelingt, durch eige-ne Investitionen und Stärkung der einheimischen Nachfra-ge die Auswirkungen der Krise auf die Masse der Bevöl-kerung Taiwans in Grenzen zu halten. Darüber hinaus musssie dazu beitragen, durch Deregulierung, Privatisierung undModernisierung die internationale Wettbewerbsfähigkeitder eigenen Wirtschaft für die Zeit nach der Krise zu stär-ken und Taiwan für ausländische Investoren attraktiv zumachen. Bei all dem kann sich eine grundlegende Verbesse-rung der Beziehungen zu Peking nur positiv auswirken.Gelingt es Ma Ying-jeou, die ethnische und politische Pola-risierung abzubauen und einen gesellschaftlichen Grund-konsens in zentralen Fragen herzustellen, so dürfte diesauch seine eigene Stellung in den anstehenden Verhand-lungen mit der chinesischen Führung in Peking stärken undsich positiv auf deren Ergebnisse auswirken. Misslingt dage-

gen die Schaffung eines politischen Burgfriedens zwischenden verfeindeten Lagern und vertieft sich die Spaltung dertaiwanesischen Gesellschaft weiter, so wird dies nicht nurdie Position Taipeis in den Verhandlungen mit Pekingschwächen, sondern sich auch negativ auf die internationa-le Stellung der Insel auswirken. Zudem wären erheblicheBeschädigungen der Demokratie in Taiwan nicht auszu-schließen.

Es steht also viel auf dem Spiel. Der Start der neu-en Politik war noch relativ einfach, aber Präsident Ma wirdsich darauf einstellen müssen, dass die Strecke von nun anerheblich steiler und steiniger wird. Dass es sie dennoch er-folgreich bewältigt, ist nicht nur der Bevölkerung Taiwanszu wünschen – auch die internationale Gemeinschaft, ins-besondere die asiatisch-pazifische Region, würde davonprofitieren.❙

Die Pandabären Tuan Tuan und Yuan Yuan, Geschenke der VR China an KMT-Chef Lien Chan, Dezember 2008 Foto: Reuters

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