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LESLEY PEARSE Echo glücklicher Tage ROMAN

SIE HAT ALLES VERLOREN - weltbild.de · Beth wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, des- halb ging sie zur Treppe und sah zu ihrer Mutter hoch in der Hoffnung, dass ihr etwas

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SIE HAT ALLES VERLOREN – DOCH DEN

TRAUM VOM GLÜCK GIBT SIE NIEMALS AUF

Liverpool 1893. Durch tragische Umstände zu Waisen geworden, sind die junge Beth und

ihr Bruder Sam plötzlich ganz auf sich allein gestellt. Wie so viele ihrer Landsleute

setzen sie alle Hoffnungen in das ferne, Glück verheißende Amerika und wagen die

Passage. Schnell fnden sie zwei treue Gefährten, und besonders der charmante Theo

lässt Beths Herz höher schlagen. Doch in New York erwartet die Freunde ein

erbarmungsloser Überlebenskampf. Erst Gerüchte über große Goldfunde in

Alaska geben ihnen neue Hoffnung – und sie machen sich erneut auf die Reise …

»Verlieren Sie sich in dieser epischen Saga« Bella

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LESLEY

PEARSEEcho glücklicher

Tage

ROMAN

Echo glücklicher Tage

Die Autorin

Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren und lebt mit ihrer Familie in Bristol. Ihre Romane belegen in England regelmä-ßig die ersten Plätze der Bestsellerlisten. Neben dem Schreiben engagiert sie sich intensiv für die Bedürfnisse von Frauen und Kindern und ist Präsidentin des Britischen Kinderschutzbundes.

Lesley Pearse

Echo glücklicher TageRoman

Aus dem Englischen von Katharina Kramp

Besuchen Sie uns im Internet:www.weltbild.de

Genehmigte Lizenzausgabe für Weltbild GmbH & Co. KG,Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Copyright der Originalausgabe © 2008 by Lesley PearseDieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 GarbsenCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Bastei Lübbe AG, Köln

Übersetzung: Katharina KrampUmschlaggestaltung: bürosüd°, München

Umschlagmotiv: Arcangel Images (© Malgorzata Maj) / Getty Images, München (© Daniel Osterkamp)

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in the EU

ISBN 978-3-95973-088-4

2019 2018 2017 2016Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.

Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Gypsy bei Penguin Books Ltd.

Für meinen Enkel Brandon. Meinen grössten Schatz und

meine grösste Freude.

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1893, Liverpool

»Hör auf, diese Teufelsmusik zu spielen, und komm her und hilf mir«, schrie Alice Bolton wütend aus der Küche.

Die fünfzehnjährige Beth grinste darüber, wie ihre Mut-ter ihr Geigenspiel beschrieb, und war versucht, noch lauter und wilder weiterzumachen. Aber Alice war in letzter Zeit leicht reizbar und würde vermutlich kommen und ihr die Geige wegnehmen, deshalb legte Beth sie zurück in den ab-gewetzten Kasten und verließ die Stube, um zu tun, worum ihre Mutter sie gebeten hatte.

Sie hatte gerade die Küche erreicht, als ein dumpfes Ge-räusch aus dem Laden unter ihrer Wohnung heraufdrang, dicht gefolgt von einem, das sich anhörte, als ob schwere Gegenstände zu Boden fielen.

»Was zur Hölle war das denn?«, rief Alice und drehte sich am Herd mit der Teekanne in der Hand um.

»Ich schätze, Papa hat wieder etwas umgestoßen«, erwi-derte Beth.

»Dann steh nicht da rum, geh hin und sieh nach«, fuhr ihre Mutter sie an.

Beth blieb auf dem Treppenabsatz stehen und blickte über das Geländer auf die Treppe, die in den Laden führte. Sie konnte unten etwas herumrollen hören, aber es erklang nicht das übliche Fluchen, das jeden Unfall normalerweise begleitete.

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»Geht es dir gut, Papa?«, rief sie.Es dämmerte bereits, und obwohl sie die Gaslampen oben

noch nicht entzündet hatten, war Beth überrascht, dass von unten kein Schein von den Lampen im Laden heraufdrang. Ihr Vater war Schuhmacher, und da er für die Feinarbeiten viel Licht brauchte, zündete er die Lampen immer schon an, bevor das Tageslicht draußen schwächer wurde.

»Was hat der ungeschickte Tölpel jetzt wieder gemacht?«, bellte ihre Mutter. »Sag ihm, er soll für heute aufhören zu arbeiten. Das Abendessen ist fast fertig.«

Auf der Church Street, einer von Liverpools Hauptein-kaufsstraßen, waren um sieben Uhr abends nur noch we-nige Pferdewagen und Kutschen unterwegs, also hätte ihr Vater die beleidigende Bemerkung ihrer Mutter klar und deutlich hören müssen. Als er nicht darauf reagierte, glaubte Beth, dass er auf dem Plumpsklo im Hinterhof sein müsse und dass vielleicht eine herumstreunende Katze in den La-den gekommen war und etwas umgeworfen hatte. Das letzte Mal, als das passierte, war der Inhalt eines Leimtopfes über den gesamten Boden gelaufen, und es hatte Stunden gedauert, das alles wieder sauber zu machen, deshalb lief sie schnell hinunter, um nachzusehen.

Ihr Vater war nicht auf dem Plumpsklo, denn die Tür, die auf den Hinterhof hinausführte, war von innen verriegelt, und als sie in den Laden ging, lag dieser im Halbdunkeln, denn die Rollos waren heruntergezogen worden.

»Wo bist du, Papa?«, rief sie. »Was war das für ein Lärm?«Eine Katze war nirgendwo zu sehen, und es war auch

nichts in Unordnung. Die Tür zur Straße war zu und der Riegel vorgeschoben; außerdem hatte er den Boden ge-

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kehrt, seine Werkbank aufgeräumt und seine Lederschürze wie jeden Abend an den Haken gehängt.

Verwirrt wandte Beth sich um und blickte zum Lager-raum, wo ihr Vater das Leder, die Schnittmuster und andere Dinge aufbewahrte, die er brauchte. Er musste dort drin sein, aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie er da drinnen bei geschlossener Tür etwas sehen konnte, denn selbst bei Tageslicht war es dort sehr düster.

Eine dunkle Vorahnung ließ ihre Haut prickeln, und sie wünschte, ihr Bruder Sam wäre zu Hause. Aber er brachte gerade ein Paar Stiefel zu einem Kunden, der einige Kilo-meter entfernt wohnte, deshalb würde es noch dauern, bis er wieder zurück war. Sie wagte es nicht, ihre Mutter zu ru-fen, aus Angst, sich eine Kopfnuss einzufangen, weil sie »fantasierte«; diesen Ausdruck benutzte Alice immer, wenn sie fand, dass Beth überreagierte. Aber ihre Mutter fand ja auch, dass eine Fünfzehnjährige nichts anderes im Kopf ha-ben sollte als die Verbesserung ihrer Fertigkeiten im Nähen, Kochen und anderen Dingen des Haushalts.

»Papa!«, rief Beth und drehte den Knauf der Lagerraum-tür. »Bist du da drin?« Die Tür öffnete sich nur einen Spalt-breit, so als stünde etwas dahinter, deshalb drückte sie mit der Schulter dagegen und schob. Sie konnte etwas über den Steinfußboden scharren hören, vielleicht einen Stuhl oder eine Kiste, die im Weg war, deshalb schob sie fester, bis die Tür weit genug aufstand, sodass sie in den Raum blicken konnte. Es war viel zu dunkel, um etwas zu erkennen, aber sie wusste, dass ihr Vater darin war, denn sie konnte seinen vertrauten Duft riechen, eine Mischung aus Leim, Leder und Pfeifentabak.

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»Papa? Was machst du da? Es ist stockdunkel«, rief sie, aber noch während sie das sagte, überlegte sie, ob vielleicht etwas auf ihn heruntergefallen war und ihn bewusstlos ge-schlagen hatte. Voller Panik rannte sie zurück in den Laden, um eine Gaslampe zu entzünden. Noch bevor die Flamme groß genug war, um die Glashülle zu beleuchten und den Laden in ein goldenes Licht zu tauchen, stand sie wieder im Lagerraum.

Eine Sekunde oder zwei dachte sie, es sei ein riesiger Sack voll Leder, der vor dem Fenster des Lagerraums hing, doch als das Gaslicht heller wurde, erkannte sie, dass es kein Sack war, sondern ihr Vater.

Er hing an einem der Haken an der Decke, ein Seil um den Hals.

Sie schrie unbewusst und wich entsetzt zurück. Sein Kopf hing schlaff zur Seite, seine Augen waren aus dem Kopf ge-treten, und sein Mund war zu einem stummen Schrei weit aufgerissen. Er sah aus wie eine grässliche Riesenpuppe.

Jetzt war klar, was sie vorhin für Geräusche gehört hatten. Als er den Stuhl, auf dem er stand, unter sich weggetreten hatte, waren eine Kiste mit Lederresten, eine Dose mit Schuh-creme und Flaschen mit Lederfärbemittel umgefallen.

Es war Anfang Mai, und erst vor ein paar Tagen war Beth auf dem Weg zur Bücherei wütend darüber gewesen, dass ihr Vater ihr nicht erlaubte, sich eine Arbeit zu suchen. Sie hatte die Schule im vergangenen Jahr beendet, aber er be-stand darauf, dass die Töchter »vornehmer Leute« zu Hause blieben und ihren Müttern halfen, bis sie heirateten.

Sam, ihr ein Jahr älterer Bruder, war ebenfalls wütend, weil er bei seinem Vater in die Lehre gehen musste. Eigent-

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lich wollte Sam Seemann, Hafenarbeiter, Schweißer oder ir-gendetwas anderes werden, bei dem er zusammen mit ande-ren Männern draußen im Freien sein konnte.

Aber Papa hatte dann immer auf das Schild über der Tür gedeutet, auf dem stand: »Bolton und Sohn, Stiefel- und Schuhmacher«, und erwartet, dass Sam genauso stolz auf das »Sohn« war wie er selbst damals, als sein Vater das Schild angefertigt hatte.

Doch wie frustrierend es auch gewesen war, dass ihr Le-ben vorgezeichnet schien, sowohl Beth als auch Sam ver-standen die Gründe ihres Vaters. Seine Eltern waren 1847 aus Irland nach Liverpool geflohen, um dem langsamen Verhungern während der Kartoffel-Hungersnot zu entge-hen. Jahrelang lebten sie in einem nasskalten Keller in Mai-den’s Green, einem der vielen berüchtigten, herunterge-kommenen Slumviertel, die es in der Stadt im Überfluss gab. Frank, der Vater von Sam und Beth, war dort ein Jahr später geboren worden, und seine früheste Kindheitserinne-rung war, dass sein Vater mit seinem kleinen Handkarren in den reicheren Vierteln von Liverpool von Tür zu Tür ging, um nach Schuhen und Stiefeln zu fragen, die er flicken konnte, und dass seine Mutter jeden Tag aus dem Haus ging, um als Wäscherin zu arbeiten.

Als Frank sieben war, half er beiden Eltern, indem er für seinen Vater Stiefel abholte und auslieferte und für seine Mutter die Mangel drehte. Selbst wenn er hungrig und müde war und fror, wurde ihm eingebläut, dass harte Arbeit der einzige Weg aus der Armut sei, bis sie schließlich genug Geld für einen eigenen kleinen Schusterladen zusammen-hatten.

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Alice, Sams und Beths Mutter, hatte eine ebenso harte Kindheit gehabt, denn sie war als Baby ausgesetzt worden und in einem Waisenhaus aufgewachsen. Mit zwölf musste sie als Küchenmagd arbeiten, und die Geschichten von der anstrengenden Arbeit und der Grausamkeit der Köche und Haushälterinnen, die sie erzählte, sorgten bei Beth für Alb-träume.

Frank war dreiundzwanzig, als er die sechzehnjährige Alice kennenlernte. Zu diesem Zeitpunkt hatten er und seine Eltern ihr Ziel bereits erreicht und besaßen einen klei-nen Laden mit zwei kleinen Zimmern darüber. Alice er-zählte oft mit einem Lächeln, dass ihr Hochzeitstag der glücklichste Tag in ihrem Leben gewesen war, weil Frank sie bei seinen Eltern einziehen ließ. Sie musste immer noch ge-nauso hart arbeiten, aber es machte ihr nichts aus, denn jetzt war das Ziel ein noch größerer Laden, wo ihr Schwie-gervater und ihr Mann eigene Schuhe anfertigen konnten, anstatt nur alte zu reparieren.

Die harte Arbeit zahlte sich schließlich aus und brachte sie in die Church Street mit zwei Stockwerken über dem Laden, wo sowohl Sam als auch Beth geboren wurden. Beth konnte sich nicht an ihre Großmutter erinnern, denn sie war noch ein Baby gewesen, als sie starb, aber sie hatte ihren Großvater geliebt, und er war es auch gewesen, der ihr das Geigespielen beigebracht hatte.

Seit dem Tod ihres Großvaters vor fünf Jahren hatte sich Papas Geschick als Schuhmacher herumgesprochen, und jetzt machte er Stiefel und Schuhe für die reichsten Leute in Liverpool. Er arbeitete immer noch extrem hart, vom ersten Tageslicht bis zur Dämmerung, und schlief meis-

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tens nach dem Abendbrot sofort ein. Doch bis zu diesem Abend hatte Beth ihn immer für einen sehr glücklichen Mann gehalten.

»Was zur Hölle ist denn da unten los? Ich habe dich schreien hören«, rief ihre Mutter gereizt von oben an der Treppe. »Ist es schon wieder eine Ratte?«

Beth schrak zusammen. Trotz ihrer Erschütterung und ihres Entsetzens versuchte sie instinktiv, ihre Mutter zu schützen.

»Komm nicht runter«, rief sie. »Ich hole Mr Craven.«»Du kannst die Nachbarn nicht beim Abendessen stören.

Sicher kann sich dein Vater doch darum kümmern?«Beth wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, des-

halb ging sie zur Treppe und sah zu ihrer Mutter hoch in der Hoffnung, dass ihr etwas einfallen würde.

Alice Bolton war achtunddreißig, sah jedoch viel jünger aus – sie war zierlich, mit blonden Haaren, großen blass-blauen Augen und so zarten Gesichtszügen und so heller Haut, dass sie zerbrechlich wirkte.

Sam hatte ihr blondes Haar und ihre blauen Augen ge-erbt, aber er war fast zwei Meter groß, und sein Elan und die ausgeprägten Gesichtszüge stammten von seinem Vater. Von Beth hieß es, dass sie mit ihren schwarzen Locken, ihren dunkelblauen Augen und ihrer frechen Art, die sie je-den Tag in Schwierigkeiten brachte, das Ebenbild ihrer iri-schen Großmutter war.

»Mein Gott, jetzt steh nicht da und schau so blöd«, fuhr Alice sie an. »Sag deinem Vater, dass er raufkommen soll, sonst brennt das Essen an.«

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Beth schluckte, weil sie wusste, dass Lügen und Ablen-kungsmanöver ihr bei einer solchen Sache nicht helfen wür-den. »Er kann nicht kommen, Mama«, platzte sie heraus. »Er ist tot.«

Ihre Mutter war nicht besonders schnell von Begriff, und dieses Mal war keine Ausnahme – sie starrte Beth nur ver-ständnislos an.

»Er hat sich erhängt, Mama«, sagte Beth, die mit den Trä-nen und aufsteigender Hysterie kämpfte. »Deshalb wollte ich Mr Craven holen. Geh du wieder zurück in die Küche.«

»Er kann nicht tot sein. Es ging ihm gut, als er zum Tee oben war.«

Beth konnte sich nur mühsam davon abhalten, das ganze Haus zusammenzuschreien, und die Ungläubigkeit ihrer Mutter ließ sie beinahe die Selbstbeherrschung verlieren. Doch es stimmte, was ihre Mutter sagte, ihr Vater hatte beim Tee noch ganz normal gewirkt. Er hatte den Mohnkuchen gelobt, den er köstlich fand, und ihnen ge-sagt, dass er mit den Stiefeln für Mr Greville fertig war.

Es schien nicht möglich zu sein, dass er wieder nach unten gegangen war, seine Arbeit für den Tag beendet und seine Werkbank aufgeräumt hatte, um sich dann ruhig das Leben zu nehmen, während seine Frau und seine Tochter nur ein Stockwerk höher waren.

»Er ist tot, Mama. Er hat sich im Lagerraum erhängt«, sagte Beth unverblümt.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf und lief die Treppe hin-unter. »Du bist ein böses Mädchen, wie kannst du so etwas sagen«, rief sie wütend und stieß Beth zur Seite, als sie unten ankam. »Mit dir befasse ich mich später.«

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Beth hielt sie am Arm fest und versuchte sie daran zu hin-dern, in den Laden zu gehen. »Du darfst da nicht reinge-hen, Mama«, flehte sie. »Es ist furchtbar.«

Aber ihre Mutter ließ sich nicht aufhalten; sie schüttelte Beth ab, lief zum Lagerraum und stieß die Tür auf. Als sie ihren Mann sah, stieß sie einen Schrei aus, der durch das ge-samte Gebäude hallte. Aber er brach abrupt ab, als sie ohn-mächtig zu Boden sank.

Eine Stunde später kam Sam nach Hause und stellte fest, dass der Laden nicht wie erwartet dunkel war. Durch das Fenster sah er den rundlichen Dr. Gillespie und den stäm-migen Mr Craven, ihren Nachbarn, aber noch bevor die beiden ihm die Tür öffneten, wusste er, dass etwas Schlim-mes passiert war.

Es war der Doktor, der ihm erklärte, dass Beth zu Mr Craven gelaufen war, als ihre Mutter zusammenbrach. Mr Craven hatte seinen Sohn zum Doktor geschickt und war dann mit Beth zurückgegangen, um Papas Leiche vom Seil loszuschneiden. Als Gillespie kam, hatte dieser Beth ange-wiesen, ihre Mutter nach oben zu bringen, ihr Brandy zu geben und sie ins Bett zu legen.

Sam war ein großer, schlaksiger Sechzehnjähriger. Er schwankte, als er die Neuigkeiten erfuhr, die Farbe wich aus seinem Gesicht, und der Schock ließ ihn beinahe auch zusammenbrechen. Die Leiche seines Vaters lag auf dem Boden, mit einem Laken bedeckt. Nur eine vom Le-derfärbemittel braune Hand schaute darunter hervor. Wenn die Hand nicht gewesen wäre, dann hätte Sam sich vielleicht geweigert zu glauben, was die Männer ihm da

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erzählten, aber Franks Hand war ihm so vertraut wie seine eigene.

Er wollte wissen, warum sein Vater das getan hatte, aber die beiden Männer konnten es ihm nicht sagen. Mr Craven kratzte sich am Kopf und sagte, dass es ihm ein Rätsel sei, denn er habe noch am Morgen im Laden vorbeigeschaut, und da sei Frank guter Dinge gewesen. Dr. Gillespie war ebenfalls ratlos und sprach davon, wie viel Respekt man Frank in der Gegend entgegenbrachte. Es wurde deutlich, dass beide Män-ner genauso entsetzt und schockiert waren wie Sam.

Der Doktor umfasste Sams Arme und blickte ihm fest in die Augen. »Die Leichenkarre wird gleich hier sein«, sagte er sanft. »Bei einem solchen Vorfall wird es eine Untersuchung geben. Du bist jetzt der Mann im Haus, Sam, und musst dich um deine Mutter und deine Schwester kümmern.«

Sam hatte das Gefühl, als hätte sich unter seinen Füßen eine Falltür geöffnet und ihn an einen Ort befördert, den er nicht kannte. Denn so lange er sich zurückerinnern konnte, war sein Leben geordnet und sicher gewesen. Er hatte sich zwar oft gegen die Langeweile des täglichen Einerleis ge-wehrt, bei dem sein Vater von sieben Uhr morgens bis spät abends arbeitete und seine Mutter oben kochte und putzte. Doch er hatte sich immer sicher gefühlt in dem Wissen, dass zu Hause alles gleich bleiben würde und er jederzeit hierher zurückkehren konnte, wenn er auf die Nase fiel, während er für sich selbst nach einem abenteuerlicheren Le-ben suchte.

Aber mit einem Schlag war diese Sicherheit dahin.Wie konnten in einem sanftmütigen, verlässlichen und

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freundlichen Mann solche Dämonen lauern? Und warum hatten die, die ihm am nächsten standen, nichts davon be-merkt? Noch an diesem Morgen hatte Sam seinen Vater an der Treppe stehen und Beths Geigenspiel lauschen sehen. Er hatte es nicht kommentiert, doch sein Gesicht hatte vor Stolz über ihr Talent gestrahlt. Später, als Sam mit der Re-paratur eines Stiefels fertig war, hatte Frank ihm auf die Schulter geklopft und ihn dafür gelobt.

Wieder und wieder hatten er und Beth gesehen, wie lie-bevoll ihr Vater ihre Mutter angesehen hatte, wie er sie um-armte und küsste. Wenn sie ihm alle so viel bedeuteten, wa-rum wollte er sie dann verlassen?

Und was würde jetzt mit der Familie passieren, ohne den Mann, der ihr Ernährer, ihr Halt und ihr Tröster gewesen war?

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Die Standuhr im Flur schlug Mitternacht, doch Sam und Beth saßen immer noch in der Küche, zu fassungslos und aufgewühlt, um auch nur an Schlaf zu denken. Die Leiche ihres Vaters war schon vor Stunden abgeholt worden, und Sam hielt Beths Hände fest, während sie noch einmal er-zählte, wie sie ihren Vater gefunden hatte. Von Zeit zu Zeit wischte er ihr mit einem Taschentuch die Tränen von den Wangen und strich ihr tröstend übers Haar. Und wenn Sam überreizt war und seine Stimme immer wütender wurde, war es Beth, die ihm über die Wange streichelte.

Dr. Gillespie hatte ihrer Mutter ein Schlafmittel gegeben, weil sie hysterisch gewesen war, sich die Haare gerauft und geschrien hatte, dass jemand anderes Frank aufgehängt ha-ben musste, weil er sie niemals freiwillig verlassen hätte. Obwohl beide Kinder wussten, dass niemand anderes die Hände bei den Geschehnissen des Abends im Spiel haben konnte, teilten sie dieses Gefühl. Ihre Eltern waren glück-lich miteinander gewesen.

»Der Arzt hat mich gefragt, ob der Laden in Schwierig-keiten war«, sagte Sam, und in seiner Stimme klang Verwir-rung mit. »Aber das war er nicht. Mir fällt nicht mal etwas Ungewöhnliches ein, das in den letzten Wochen passiert ist und dafür verantwortlich sein könnte.«

»Könnte ihn ein Kunde aufgeregt haben?«, fragte Beth.Manchmal gab es schwierige und unangenehme Kunden.

Sie beschwerten sich, dass Vater ihre Schuhe oder Stiefel

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nicht so schnell machen konnte, wie sie es wollten, und beim Abholen mäkelten sie dann oft am Ergebnis herum, um ihn im Preis zu drücken.

»Das hätte er gesagt. Außerdem weißt du doch, dass er damit immer sehr gut fertig geworden ist.«

»Du denkst doch nicht, dass es an uns lag, oder?«, fragte Beth ängstlich. »Weil ich mich immer beschwert habe, dass mir zu Hause langweilig ist, und du immer zu den Docks gelaufen bist?«

Sam schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich hörte ihn einmal mit einem Kunden über mich reden. Er lachte und sagte, ich sei ein guter Junge, selbst wenn ich ein Träumer sei. Und du hast ihn ganz sicher nicht aufgeregt; er war stolz auf dich.«

»Aber wovon sollen wir jetzt leben?«, fragte Beth. »Du hast nicht genug Erfahrung, um den Laden weiterzufüh-ren!«

Die Leute wunderten sich oft darüber, wie verschieden Beth und Sam waren. Nicht nur im Aussehen – der eine groß und blond, die andere klein und dunkelhaarig –, auch im Wesen unterschieden sie sich voneinander.

Sam war ein Träumer, lebte in einer Fantasiewelt aus fan-tastischen Abenteuern, Reichtümern und exotischen Or-ten. An einem Tag lungerte er unten am Hafen herum und blickte sehnsüchtig den auslaufenden Schiffen nach; am nächsten blickte er durch die Tore der großen Häuser und staunte darüber, wie die Reichen lebten. Obwohl er es Beth nie gestanden hatte, wusste sie, dass er nur deshalb kein Schuster oder Schuhmacher sein wollte, weil dabei nie-mand reich wurde oder Abenteuer erlebte.

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Beth war viel praktischer und vernünftiger als ihr Bruder, erledigte ihre Aufgaben gründlich und mit Fleiß. Sie war schlauer und las Bücher, um sich Wissen anzueignen, an-statt vor der Realität zu fliehen. Doch sie konnte verstehen, warum Sam in einer Fantasiewelt lebte, denn sie hatte auch Träume, wollte Geige vor einem großen Publikum spielen und donnernden Applaus hören.

Das war natürlich ein unerreichbarer Traum. Selbst wenn sie klassische Violine hätte spielen können, hatte sie noch nie eine weibliche Geigenspielerin in einem Orchester gese-hen. Doch sie spielte Jigs und Reels, Melodien, die ihr Großvater sie gelehrt hatte, obwohl die meisten Leute das als Zigeunermusik empfanden, die es nur in lauten Wirts-häusern gab.

Trotz aller Unterschiede standen Beth und Sam sich je-doch sehr nahe. Sie trennte nur ein Jahr, und weil sie nie mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft auf der Straße spielen durften, waren sie immer aufeinander ange-wiesen gewesen.

Sam stand von seinem Stuhl auf, kniete sich neben Beth und legte die Arme um sie. »Ich kümmere mich um euch beide, irgendwie«, sagte er mit bebender Stimme.

In den folgenden Tagen durchlebte Beth ein Wechselbad der Gefühle zwischen überwältigender Trauer und Wut. Sie hatte noch keinen Tag ihres Lebens ohne ihren Vater ver-bracht; er war eine Konstante gewesen, genau wie die Stand-uhr, die die Stunden schlug. Der drahtige Mann von fünf-undvierzig Jahren mit dem schütteren grauen Haar, dem sorgfältig getrimmten Schnurrbart und der eher dicken

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Nase war immer fröhlich gewesen und, wie sie geglaubt hatte, durchschaubar.

Er hatte seine Gefühle zwar nicht offen gezeigt  – ein Schulterklopfen war seine Art gewesen, Zuneigung oder Lob auszudrücken –, aber er war auch nicht so distanziert gewesen wie so viele andere Väter. Er hatte es gemocht, wenn sie in den Laden herunterkam und mit ihm redete, während er arbeitete; er hatte sich immer für das interes-siert, was sie las, und für ihre Musik.

Aber jetzt kam es ihr vor, als wenn sie ihn gar nicht wirk-lich gekannt hätte. Wie konnte er oben in die Küche kom-men und mit seiner Frau und seiner Tochter Tee trinken, wenn er die ganze Zeit über vorhatte, wieder nach unten zu gehen, seine Arbeit zu beenden und sich dann zu erhängen?

Er hatte über ein Paar geknöpfte Stiefel gesprochen, die eine Frau gerade an dem Morgen bestellt hatte, und darü-ber gelacht, dass sie blassblaue wollte, die zu ihrem Kleid passten. Er meinte, dass sie in den schmutzigen Straßen von Liverpool nicht lange gut aussehen würden. Warum hatte er das gesagt, wenn er doch wusste, dass er sie niemals machen würde?

Wenn er an einem Herzanfall gestorben wäre oder ein Pferdewagen ihn beim Überqueren der Straße überfahren hätte, dann wäre das schrecklich gewesen und der Schmerz, den sie alle empfunden hätten, genauso quälend. Doch dann hätte sich zumindest keiner von ihnen betrogen ge-fühlt.

Ihre Mutter hörte nicht auf zu weinen. Sie lag nur im Bett, weigerte sich zu essen und erlaubte ihnen nicht, die Vorhänge zu öffnen, und Sam war wie eine verwirrte verlo-

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rene Seele, überzeugt davon, dass es seine Schuld war, weil er so wenig Lust gehabt hatte, ein Schuhmacher zu werden.

Nur ein paar Nachbarn hatten ihr Beileid bekundet, und Beth wurde das Gefühl nicht los, dass sie es nicht aus Mit-gefühl getan hatten, sondern um an Informationen zu kom-men, die sie weitertratschen konnten. Vater Reilly hatte sie besucht, doch obwohl er freundlich gewesen war, hatte er sofort erklärt, dass Frank Bolton nicht in heiliger Erde be-stattet werden könne, weil es eine schwere Sünde sei, wenn ein Mann sich das Leben nehme.

Die Ergebnisse der Untersuchung würden in der Zeitung stehen, und alle ihre Freunde und Nachbarn würden es le-sen und ihnen danach aus dem Weg gehen. Sie fand es grau-sam und feige von ihrem Vater, dass er ihnen allen das an-getan hatte. Und sie glaubte nicht, dass ihre Mutter das Haus jemals wieder verlassen würde.

Fünf Tage nach dem Tod ihres Vaters saß Beth in der Stube und nähte schwarze Kleider für sich und ihre Mutter. Drau-ßen schien die Sonne, aber sie musste die Vorhänge tradi-tionell geschlossen halten, und es war so dunkel im Zim-mer, dass sie den Faden kaum in die Nadel einfädeln konnte.

Beth hatte immer gerne genäht, aber da ihre Mutter nicht aufstand, um ihr zu helfen, musste sie die Schnittmuster selbst heraussuchen, den Stoff auf dem Tisch in der Stube zuschneiden und die Kleider alleine nähen, denn ohne an-ständige Trauerkleider würden sie noch mehr in Verruf ge-raten.

Alles hätte sie dafür gegeben, ihre Geige herausholen und spielen zu können, denn sie wusste, dass sie sich in der Mu-

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sik verlieren und vielleicht Trost darin finden konnte. Aber ein Musikinstrument so kurz nach einem Trauerfall zu spie-len schickte sich nicht.

Wütend legte Beth das Nähzeug weg und ging zum Fens-ter, wo sie den Vorhang nur ein oder zwei Zentimeter auf-zog und hinunter auf die Church Street sah.

Wie immer war die Straße voller Menschen. Die Omni-busse, Droschken, Pferdewagen und Kutschen hinterließen große Haufen Pferdeäpfel, und der Gestank war wegen des warmen Sonnenscheins übler als sonst. Wohlhabende Da-men in eleganten Kleidern und mit hübschen Hüten gin-gen in Begleitung von Gentlemen mit hohen Kragen und Zylindern vorbei. Es gab seriös dunkel gekleidete, matro-nenhafte Haushälterinnen mit Körben voller Obst und Ge-müse und hier und da junge Mädchen, vielleicht Hausmäd-chen, die einen Nachmittag frei hatten und verträumt in die Schaufenster sahen.

Aber es gab auch sehr viele arme Leute. Ein einbeiniger Mann auf Krücken bettelte vor Bunney’s, dem Laden an der Kreuzung, die allgemein als Heilige Kreuzung bekannt war, weil dort die Lord Street, die Paradise Street, die Chapel Street und die Church Street aufeinandertrafen. Müde aus-sehende Frauen hielten Babys auf dem Arm, kleinere Kin-der liefen hinter ihnen her, und zerzauste Gassenjungen mit schmutzigen Gesichtern lungerten barfuß herum, vielleicht auf der Suche nach etwas, das sie stehlen konnten.

Vor der Fleischerei gegenüber stand eine Schlange, und weil die Sonne so warm schien, sahen die Frauen entspannt aus und schienen es nicht eilig zu haben. Sie unterhielten sich miteinander, während sie darauf warteten, bedient zu

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werden. Doch noch während Beth dastand, sah sie, wie zwei Frauen sich umdrehten und direkt zu den Fenstern über dem Laden hinaufblickten, und ihr wurde klar, dass sie gerade erfahren haben mussten, dass der Schumacher sich erhängt hatte.

Tränen schossen ihr in die Augen, denn sie wusste, dass das Gerede nach der Beerdigung noch schlimmer werden würde. Die Leute konnten so grausam sein, freuten sich im-mer über das Unglück der anderen. Sie konnte förmlich hö-ren, wie sie sagten, dass die Boltons sich immer für etwas Besseres gehalten hatten und dass Frank sich zweifellos um-gebracht hatte, weil er verschuldet war. Beth wünschte bei-nahe, dass das der Grund war; zumindest hätte sie das ver-stehen können.

Sie wandte sich vom Fenster ab und ließ den Blick durch die Stube schweifen. Das Zimmer war der ganze Stolz ihrer Mutter: Alles darin, von dem gemusterten viereckigen Tep-pich auf dem Boden und den Porzellanhunden neben dem Kamin bis hin zu den harten, ungemütlichen Sesseln mit den Knöpfen an der Lehne und den schweren Vorhängen, war eine Kopie von Dingen, die Alice als Küchenmagd in den großen Häusern gesehen hatte.

Auch ein Klavier hatte sie unbedingt haben wollen; es war von sechs Männern durch das Fenster hereingehievt worden. Beths Eltern konnten das Instrument beide nicht spielen, aber für ihre Mutter war es ein Zeichen von Vor-nehmheit gewesen, deshalb musste Beth es lernen. Sie be-zweifelte nicht, dass ihre Mutter gehofft hatte, es würde sie von der Geige weglocken, einem Instrument, das sie »ge-wöhnlich« fand.

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Obwohl Beth diese Einstellung ihrer Mutter zu ihrer ge-liebten Geige oft verletzte, war sie sehr froh, als Miss Clarkson ihre Klavierlehrerin wurde. Sie mochte zwar eine dreißigjährige alte Jungfer mit grauem Haar sein, die auf einem Auge schielte, aber sie war eine inspirierende Frau. Sie brachte Beth nicht nur das Notenlesen und das Klavier-spielen bei, sondern führte sie auch in eine ganz neue Welt der Bücher, der Musik und der Ideen ein.

Fünf Jahre lang war Miss Clarkson ihre Verbündete, Freundin, Vertraute und Lehrerin gewesen. Sie liebte es, Beth sowohl beim Geige- als auch beim Klavierspielen zu-zuhören, sie brachte Bücher mit, von denen sie fand, dass Beth sie lesen sollte, sie brachte ihr alle möglichen Arten von Musik bei und nahm sie manchmal zu Konzerten mit. Doch am besten gefiel Beth an ihr, dass sie nicht so engstir-nig war wie ihre Mutter. Miss Clarkson war überzeugt da-von, dass Frauen die gleichen Rechte haben sollten wie Männer, sei es bei Wahlen, bei der Ausbildung oder bei der Wahl ihres Berufes.

Beth wünschte, Miss Clarkson wäre noch in Liverpool, weil sie die einzige Person war, die ihr und Sam vielleicht hätte helfen können zu verstehen, warum ihr Vater etwas so Schreckliches getan hatte. Aber sie war nach Amerika aus-gewandert, weil sie das Gefühl hatte, in England an der Scheinheiligkeit, dem Klassensystem und den fehlenden Möglichkeiten für Frauen zu ersticken.

»Ich werde dich vermissen, Beth«, hatte sie beim Ab-schied mit einem resignierten Lächeln gesagt. »Nicht nur, weil du meine talentierteste Schülerin warst, sondern weil du einen wachen Verstand, ein mutiges Herz und unend-

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lich viel Enthusiasmus hast. Versprich mir, dass du nicht den erstbesten Mann heiratest, der um deine Hand anhält, nur um ein eigenes Heim zu haben. Die Ehe wird von den meisten als heiliger Stand betrachtet, aber das ist sie nicht, wenn du dir den falschen Mann aussuchst. Und gib die Musik nicht auf, denn sie macht dich fröhlich und gibt dir die Freiheit des Ausdrucks, die ein Mädchen wie du braucht.«

Beth stellte fest, dass Miss Clarkson recht hatte, was die Musik anging. Sie brachte sie an einen Ort, wo die Ermah-nungen ihrer Mutter, ihre Pflichten im Haushalt zu erledi-gen, sie nicht erreichen konnten, eine Welt, wo Spaß, Frei-heit und Begeisterung nicht missbilligt wurden.

Leider wusste sie, dass ihre Mutter das niemals verstan-den hätte. Zwar hatte sie bei den Nachbarn immer mit dem Talent ihrer Tochter angegeben, aber sie hörte nicht wirk-lich zu, wenn Beth Klavier spielte, und die Geige lehnte sie ab. Ihr Vater hatte zugehört und nichts lieber getan, als sonntagabends in der Stube zu sitzen und ihrem Klavier-spiel zu lauschen – am liebsten Chopin, doch er hatte sich auch gefreut, wenn sie beliebte Tanzlieder spielte. Selbst für ihn war die Geige jedoch ein leichter Stein des Anstoßes ge-wesen, vielleicht weil sie ihn an seine Kindheit erinnerte und weil er Angst hatte, dass die wilden irischen Jigs, die sein Vater Beth beigebracht hatte, sie in schlechte Gesell-schaft bringen würden.

Als sie Sam die Treppe hinaufkommen hörte, fing Beth wieder an zu nähen. Sie hörte, wie er nach ihrer Mutter in ihrem Zimmer neben der Küche sah, und ein paar Minuten später kam er in die Stube.

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Er sah blass und erschöpft aus und runzelte sorgenvoll die Stirn. »Der Leichenbeschauer gibt Papas Leiche morgen frei«, sagte er müde. »Er hat nichts gefunden, was erklären würde, wieso er das getan hat – er war nicht krank. Aber zu-mindest können wir ihn morgen beerdigen.«

»Hast du es Mama gesagt?«, fragte Beth.Sam nickte niedergeschlagen. »Sie weint immer noch.

Ich glaube nicht, dass sie jemals damit aufhören wird.«»Vielleicht tut sie es nach der Beerdigung«, sagte Beth

mit mehr Optimismus, als sie empfand. »Ich muss ihr Kleid bald abstecken. Ich hoffe, sie macht nicht wieder eine Szene.«

»Ich habe draußen Mrs Craven getroffen. Sie sagte, dass sie später vorbeikommen und versuchen wird, mit ihr zu sprechen; vielleicht solltest du die Gelegenheit nutzen, um das Kleid abzustecken. Wie schlecht es Mama auch geht, sie wird nicht wollen, dass die Nachbarn mitbekommen, dass sie alles uns überlässt.«

Beth hörte die Bitterkeit in seiner Stimme. Sie stand auf und legte die Arme um ihn. Er war fast jeden Tag vom Mor-gengrauen bis zur Abenddämmerung im Laden, um alle Reparaturen zu erledigen, und sie wusste, wie viel Angst er hatte und wie viele Sorgen er sich machte. »In der Nacht, als es passierte, hast du gesagt, dass wir es schaffen, und das werden wir auch«, sagte sie.

»Ich habe das Gefühl, dass Mama weiß, warum er es ge-tan hat«, sagte Sam leise und legte sein Kinn auf ihren Kopf, während sie ihn festhielt. »Ich bin die Bücher durchgegan-gen, und obwohl nicht viel Geld da ist, war er nicht in Schwierigkeiten. Er ist nie ausgegangen, hat also nicht ge-

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trunken oder gespielt, und er hatte auch ganz sicher keine andere Frau. Es muss etwas mit ihr zu tun haben.«

»Das darfst du nicht denken, Sam«, flehte Beth ihn an. »Es hilft nicht, Mama die Schuld zu geben.«

Sam umklammerte ihre Arme und sah ihr in die Augen. »Ist dir nicht klar, dass von jetzt an alles anders sein wird?«, rief er. »Wir werden arm sein. Ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass ich den Laden weiterführe, aber ich kann nur Schuhe reparieren. Ich bin nicht geschickt genug, um Stiefel und Schuhe zu machen, und damit hat Papa Geld verdient. Ich werde mir eine andere Arbeit suchen müssen, aber das wird nicht reichen, um uns alle drei durchzubrin-gen.«

»Ich kann mir auch Arbeit suchen«, erklärte Beth sofort. »Wir kommen schon zurecht, Sam.«

Er blickte sie zweifelnd an. »Es wird vielleicht so weit kommen, dass wir uns eine billigere Bleibe suchen oder ein Zimmer untervermieten müssen. Wir werden nicht mehr so leben können wie bisher.«

Erneut stieg Wut in Beth auf. Ihr ganzes Leben lang hatte ihr Vater ihr erzählt, er wolle, dass Sam und sie all die Vor-teile genießen konnten, die er nie gehabt hatte. Er hatte sie glauben lassen, dass sie vornehme Leute waren, besser als ihre Nachbarn. Aber er hatte sie beschämt und ruiniert, ohne ihnen den Grund dafür zu erklären.