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Sigurd SørlieSonnenrad und Hakenkreuz

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Sigurd Sørlie

Sonnenrad und HakenkreuzNorweger in der Waffen-SS

1941–1945

Aus dem Norwegischen übersetzt von Michael Schickenberg und Sylvia Kall

Ferdinand Schöningh

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:

Der Autor:Sigurd Sørlie, Historiker, ist Associate Professor am Norwegischen Institut

für Verteidigungsstudien. Er leitet dort das Institut für zivil-militärische Beziehungen und war zuvor am Institut für Holocaust- und Minderheitenstudien in Oslo tätig.

Umschlagabbildung:Ein 16-jähriger norwegischer Soldat der Waffen-SS (Privatbesitz Geir Brenden)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist

ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2019 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.schoeningh.de

Einbandgestaltung: Nora Krull, BielefeldSatz: Satzwerk Huber, Germering/München

Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-506-78690-6 (hardback)ISBN 978-3-657-78690-9 (e-book)

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Fragestellungen 10 – Forschungsstand 12 – Militärgeschichte von unten 21 – Ideologie und Situation: Perspektiven auf das Verhalten von Soldaten  22  – Quellen 24 – Aufbau 28

1 . Die Waffen-SS und Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Von der Wachtruppe zum Eliteorden 31 – Expansion 33 – Die Waffen-SS 34 – Ideologie 37 – Die Rekrutierung „germanischer“ Freiwilliger 41 – Die nationa-len Legionen 45 – Ein „germanisches“ Korps 46 – Ein multiethnisches Massen-heer 47

2 . Die Nasjonal Samling und die Freiwilligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Der norwegische Faschismus 50 – Die Ideologie der Nasjonal Samling 53 – Die Nasjonal Samling während der Besatzung 57 – Das Regiment „Nordland“ 60 – Die Legion „Norwegen“ 62 – Rückschläge 65 – Ultimatum? 67 – Das Regiment „Norge“ 69 – Zwangseinberufung? 71 – Die Skitruppen 73 – Die Polizeikompa-nien 75 – Das Tauziehen um die Freiwilligen 78

3 . Warum sich Norweger rekrutieren ließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Wer waren die Freiwilligen? 82 – Politische Orientierung 85 – Der Weg in die Nasjonal Samling 86 – Die Argumente der Rekrutierungspropaganda 90 – Für Norwegen – gegen den Bolschewismus  95  – Sympathie für den National-sozialismus  97  – Antisemitismus und Rassismus  100  – Nichtideologische Gründe 102 – Wie freiwillig? 106 – Erwartungen 109 – Waren sich die Freiwil-ligen der Ziele und Konsequenzen des Krieges bewusst? 113 – Wie ist der Idea-lismus zu bewerten? 115

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6 INHALT

4 . Ausbildung und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Das nationalsozialistische Erziehungsideal  118  – Der „politische Soldat“ der Waffen-SS  119  – Militärische Ausbildung  121  – Weltanschauliche Erzie-hung 123 – Ärztliche Aufnahmeuntersuchung 131 – Die Ausbildung „germani-scher“ Freiwilliger 132 – Das SS-Ausbildungslager Sennheim 133 – Die Behand-lung der Freiwilligen  141  – Die Division „Wiking“  142  – Die Legion „Norwegen“ 147 – Das Regiment „Norge“ 156 – Die Skitruppen 161 – Die SS-Junkerschule Tölz 162 – Der duale Charakter der Ausbildung 169

5 . Frontalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Die Ostfront 174 – Erfahrungsdiversität 178 – Der Kampf ums Leben 182 – Be-einflussung, Disziplinierung und Kontrolle  200  – Scheinbare Bestätigun-gen 217 – Die Wirkung des Frontdienstes 221

6 . Ideologie und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Soldatenideale 224 – „Politische Soldaten“ 227 – Rasse und Sippe 229 – Kapita-lismus und England 233 – Bolschewismus und Sowjetstaat 233 – Antisemitis-mus 235 – Freimaurerei 240 – Sowjetbevölkerung 242 – Norwegen und norwe-gische Werte  248  – Deutschland, Hitler und das „großgermanische Reich“ 251 – Sonnenrad oder Hakenkreuz? 254 – Totalitäre Züge 261 – Front-kämpferidentität 265

7 . Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Vernichtungskrieg  270  – Die Beteiligung der Waffen-SS an den Verbrechen Nazi-Deutschlands  274  – „Norwegische“ Truppenteile  276  – Warum töteten sie? 282 – Die Division „Wiking“ 286 – Die Legion „Norwegen“ 303 – Das Regi-ment „Norge“ 307 – Andere Truppenteile 311 – Mitmenschlichkeit und Frater-nisierung 314 – Wurden die Kriegsziele erkannt? 319

8 . Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Die Motivation von Soldaten  326  – Die Division „Wiking“  327  – Die Legion „Norwegen“ 338 – Das Regiment „Norge“ 350 – Die Skijäger in Ostkarelien 359 – Die norwegischen Freiwilligen in komparativer Perspektive  361  – Ein miss-glücktes Projekt 365

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7INHALT

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Perspektiven  375  – Die Freiwilligen und die norwegische Besatzungsge-schichte 376 – Die Freiwilligen und die Waffen-SS 378

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Abkürzungen und in den Quellenangaben verwendete norwegische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517A Unveröffentlichte Quellen 517 – B Veröffentlichte Quellen 519

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541

***

Bildteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . nach S. 268

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Einleitung

Am Abend des 24. September 1942 ertönte in den deutschen Stellungen südlich von Leningrad ein Schuss. Abgefeuert wurde er von Oddvar aus Kristiansand (Südnorwe-gen), 18 Jahre alt. Oddvar hatte sich freiwillig gemeldet, um im Krieg gegen die Sow-jetunion zu kämpfen, war aber an der Front von Anfang an nicht klargekommen. Wie die meisten anderen wünschte auch er sich fort aus dem Dreck und Schlamm der Schützengräben, fort von den Projektilen, die töteten und verstümmelten, fort von den Strapazen, Ratten und Läusen – und nicht zuletzt fort von der unablässig nagen-den Angst.1 Gegen 19.30 Uhr an jenem Abend richtete er voll Verzweiflung die Waffe auf seinen linken Oberarm und drückte ab. Er schoss durch ein Taschentuch, um Pulverspuren in der Wunde zu vermeiden, denn diese hätten womöglich verraten, dass er sich die Verletzung selbst zugefügt hatte. Anschließend begab sich Oddvar zum Bunker des Zugführers und erklärte dort, sich versehentlich angeschossen zu haben. Etwa eine halbe Stunde später wurde nahe der Stelle, wo Oddvar geschossen hatte, ein durchlöchertes Taschentuch gefunden. Als man ihn damit konfrontierte, räumte er ein, sich mit Absicht verwundet zu haben. Der verzweifelte 18-Jährige fiel auf die Knie und flehte seinen norwegischen Kompaniechef um Gnade an, aber ver-gebens.2 Am 5. März 1943 wurde Oddvar in Dachau hingerichtet.3

Oddvar war einer von schätzungsweise 4.500 Norwegern, die im Zweiten Welt-krieg Kriegsdienst für die deutsche Besatzungsmacht leisteten.4 Die überwälti-gende Mehrheit dieser sogenannten Frontkämpfer („frontkjempere“) versah ihren Dienst in Verbänden der Waffen-SS, dem militärischen Zweig der von Heinrich Himmler geführten SS. Für Himmler war die Rekrutierung von Waffen-SS-Freiwilli-gen aus „germanischen“ Ländern von großer Bedeutung, da sie einerseits für seine Vision eines „großgermanischen Reiches“, das alle „nordisch-germanischen Ras-sen“ vereinen sollte, eine wichtige Rolle spielte und andererseits den machtpoliti-schen Interessen der Organisation diente. Seine Absicht war es, die Freiwilligen zu effizienten Frontsoldaten und loyalen Vorkämpfern des Nationalsozialismus und der SS zu erziehen. Nach der vorbereitenden Ausbildung wurde der Großteil der Norweger in den gnadenlosen Krieg zwischen dem Deutschen Reich und der Sow-jetunion geschickt. Als Deutschland im Mai 1945 kapitulierte, waren etwa 850 nor-wegische Freiwillige gefallen.5 Zusätzlich trug eine unbekannte Anzahl dauerhafte Schäden davon.6 Die Überlebenden wurden nach Kriegsende in Norwegen wegen Landesverrats („landssvik“) angeklagt und in den meisten Fällen zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.7 In der vorliegenden Studie wird die norwegische Betei-ligung an den Aktivitäten der Waffen-SS während des Zweiten Weltkrieges genauer untersucht, wobei das Hauptaugenmerk auf den persönlichen Erfahrungen, Ge-danken und Taten der Freiwilligen liegt.

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10 EINLEITUNG

Fragestellungen

Noch lange nach Kriegsende war die Geschichte der „Frontkämpfer“ in Norwegen ein blinder Fleck in der kollektiven Erinnerung an die Kriegs- und Besatzungszeit. Erst einsetzend mit den 70er-Jahren erschien nach und nach eine Reihe von Bü-chern zum Thema, und seit der Jahrtausendwende ist die Kriegsteilnahme von Norwegern auf deutscher Seite endgültig im Fokus des öffentlichen Interesses an-gekommen. Dabei lassen sich vier Problemkomplexe ausmachen, die die Ge-schichtsschreibung und die öffentliche Debatte über die Kriegsfreiwilligen domi-nieren: Welche Motive und Triebkräfte bewegten die Freiwilligen dazu, sich zum Kriegsdienst für Deutschland zu melden? Welcher Art war die Armee, in der sie dienten, und welche Form von Krieg führte diese? Inwieweit identifizierten sie sich mit der nationalsozialistischen Ideologie und ihren Zielen? Und vor allem: In wel-chem Umfang wussten sie von den Verbrechen des NS-Regimes oder waren sie sogar daran beteiligt?

In der Debatte herrschen zwei Grundpositionen vor. Die erste lässt sich verein-facht wie folgt zusammenfassen: Die Freiwilligen handelten aus „edlen“ und „idea-listischen“ Motiven und wollten insbesondere den Kommunismus und die Sowjet-union bekämpfen, dem finnischen Brudervolk beistehen und zu einer selbstständigen und starken Stellung Norwegens beitragen. Mit ihrem Eintritt in die Waffen-SS wur-den sie Mitglied einer rein militärischen Eliteorganisation, die klar abgetrennt war von anderen Teilen des SS-Systems und die sich in der Praxis zu einem Teil der Wehrmacht, der regulären deutschen Streitkräfte, entwickelte. Während ihres Kriegsdienstes waren die Norweger kaum ideologischer Beeinflussung ausgesetzt; sie identifizierten sich nur in geringem Maß mit der nationalsozialistischen Ideolo-gie. Auch mit den Massentötungen, die das NS-Regime an Juden und anderen Grup-pen verübte, kamen sie nicht in Berührung. Derartige Gräueltaten wurden in den Konzentrationslagern und von gesonderten, hinter der Front operierenden Liqui-dierungseinheiten begangen. Die norwegischen Freiwilligen erfuhren als gewöhnli-che Soldaten erst nach dem Krieg davon.8

Die zweite Grundposition lautet zusammengefasst und wiederum vereinfacht: Auch wenn es plausibel ist, dass die SS-Freiwilligen sich häufig aus Überzeugung anwerben ließen, deutet alles darauf hin, dass diese sehr oft eine nationalsozialisti-sche Komponente hatte, die auch rassistische und antisemitische Vorstellungen beinhaltete. Mit dem Beitritt zur Waffen-SS wurden die Freiwilligen Teil einer Or-ganisation, die integraler Bestandteil von Himmlers SS-System war und die großen Wert auf die ideologische Indoktrinierung ihrer Mitglieder legte. Unabhängig von ihrer ursprünglichen Motivation dürften viele Freiwillige infolge dieser Indoktri-nierung die Ziele und Methoden des Regimes befürwortet haben. Die norwegi-schen Freiwilligen beteiligten sich an einem rassenideologisch geprägten Vernich-tungskrieg und dienten in Truppenverbänden, die tief in die Umsetzung der deutschen Mordpolitik involviert waren. Ein Teil von ihnen beteiligte sich nach-weislich und teils begeistert an den Gräueltaten, was mit Blick auf ihre rassistische und antisemitische Einstellung nicht verwundert. Wer nicht selbst zum Täter

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11FRAGESTELLUNGEN

wurde, muss nichtsdestotrotz von der massenhaften Ermordung von Juden und anderen Gruppen gewusst haben.9

Die Diskrepanz zwischen den beiden Positionen ist auffallend. Während Vertre-ter der ersten Position die Freiwilligen weitgehend als patriotische und ehrbare Frontsoldaten darstellen, die mit der Ideologie und den Verbrechen Hitler-Deutsch-lands nichts zu tun hatten, lässt die zweite Position leicht den Eindruck entstehen, dass – zugespitzt formuliert – das Gros der Freiwilligen aus fanatischen Nationalso-zialisten bestand, die in reinen Mordeinheiten dienten. Die beiden stark divergie-renden Sichtweisen auf die Kriegsteilnahme norwegischer Freiwilliger spielen auch für die vorliegende Untersuchung eine wichtige Rolle: Erstens wurde die Stu-die von eben jener polarisierten Debatte inspiriert. Zweitens greift sie weitgehend dieselben Fragestellungen auf. Drittens soll damit geklärt und begründet werden, welche der beiden Positionen sich am besten mit der historischen Wirklichkeit deckt, die beide zu beschreiben vorgeben.

Folgende übergeordnete Problemstellungen leiten das Erkenntnisinteresse der Studie: Aus welchen Motiven und Beweggründen traten Norweger in den Dienst der deutschen Streirkräfte? Welche militärische Ausbildung und ideologische Er-ziehung durchliefen sie in verschiedenen Phasen ihres Kriegsdienstes? Wie sah die Wirklichkeit aus, die sie als Soldaten an der Front und in den besetzten osteuropä-ischen Gebieten erlebten, und welche Auswirkungen hatten diese Erfahrungen auf die Haltung und die Reaktionsmuster der Gruppe? In welchem Umfang eigneten sie sich die Ideen, Werte und Normen der SS an? Inwieweit kamen sie mit den Ver-brechen NS-Deutschlands in Berührung, und in welchem Maß war ihnen bewusst, dass der Krieg auf die Vernichtung, Dezimierung und Versklavung bestimmter Be-völkerungsgruppen abzielte? Inwiefern entsprachen sie in der Praxis den soldati-schen Idealen der SS? Traten sie den mutmaßlichen Feinden des Nationalsozialis-mus gegenüber beispielsweise mit der geforderten Härte und Rücksichtslosigkeit auf? Bewiesen sie die erwartete Tapferkeit und Standhaftigkeit an der Front? Blie-ben sie der SS und ihren Idealen und Zielen gegenüber loyal?

Die Diskussion dieser Einzelproblemstellungen wirft auch Licht auf eine über-geordnete Frage: Inwieweit erreichte Himmler sein Ziel, die Norweger in die Waf-fen-SS zu integrieren und ihr Denken und Handeln mit dem Soldatenideal des SS-Ordens in Einklang zu bringen? Dabei erwiesen sich besonders die nationalistischen Motive und Einstellungen der Gruppe als hinderlich. Auch wenn die Mehrheit der Freiwilligen von Anfang an mit Hitler, dem Deutschen Reich und dem Nationalso-zialismus sympathisierte, lag ihr Hauptinteresse doch darin, die Vision Vidkun Quislings und der Nasjonal Samling zu verwirklichen und ein starkes, politisch „neu geordnetes“ und möglichst selbstständiges Norwegen zu erschaffen. In der Waffen-SS stießen sie auf eher begrenztes Verständnis für ihre spezifisch norwegi-schen Beweggründe und Erwartungen. Tatsächlich bemühte sich die SS-Führung aktiv, die Norweger von ihrem Engagement für die Nasjonal Samling und deren Wiederaufstiegsvision abzubringen und sie stattdessen dazu zu bewegen, sich der SS und ihrem Ziel einer supranationalen Rassegemeinschaft zu verschreiben. Die Folge war, dass die Freiwilligen immer mehr zwischen die Fronten zweier rivalisie-

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12 EINLEITUNG

render Organisationen und Zukunftsbilder gerieten, zwischen die Nasjonal Sam-ling und Norwegen auf der einen Seite und die SS und das „großgermanische Reich“ auf der anderen Seite, zwischen Sonnenrad und Hakenkreuz.10

Forschungsstand

Die unvereinbaren Perspektiven auf die norwegischen Freiwilligen müssen vor dem Hintergrund der breiteren, internationalen Debatte über die Waffen-SS be-trachtet werden. Im Herbst 1946 entschied das internationale Kriegsverbrechertri-bunal in Nürnberg, dass die SS, einschließlich der Waffen-SS, als verbrecherische Organisation einzustufen sei.11 Dass die Wehrmacht – aus formalrechtlichen Grün-den – nicht gleichermaßen verurteilt wurde, ermöglichte es ehemaligen Angehöri-gen der regulären Streitkräfte, die Verantwortung für die Verbrechen des Regimes von sich zu weisen und sie auf die SS und ihre bewaffneten Gliederungen abzuwäl-zen.12 Einzelne ehemalige Wehrmachtsgeneräle behaupteten zudem, die Waffen-SS sei von militärischer Inkompetenz geprägt gewesen und hätte die Gesamtkampf-kraft der deutschen Truppen geschwächt.13

Das Nürnberger Urteil und die Beschuldigungen der Wehrmachtsgeneräle führten zu scharfem Widerspruch seitens westdeutscher Waffen-SS-Veteranen, die sich ab Ende der 1940er-Jahre in sogenannten Hilfsgemeinschaften auf Gegenseitigkeit zu organisieren begannen. 1959 schlossen sich die diversen unabhängigen Unterstüt-zungs- und Interessengruppen zu einer bundesweiten Dachorganisation zusammen, dem Bundesverband der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS e. V. (HIAG). Der Verband verfolgte in erster Linie soziale und finanzielle Ziele, bemühte sich aber auch darum, das Ansehen der Waffen-SS wiederherzustellen.14 Genau wie einige Wehrmachtsgeneräle die Verantwortung für die Regimeverbrechen den bewaffneten SS-Verbänden zugeschoben hatten, versuchten die Apologeten der HIAG, sie ande-ren Teilen von Himmlers SS-Apparat zuzuschieben. Ihnen zufolge waren die SS-To-tenkopfverbände, die Allgemeine SS und die mobilen Einsatzgruppen für die Gräuel-taten inner- und außerhalb der Konzentrationslager verantwortlich.15 Die Waffen-SS dagegen sei administrativ, ideologisch und funktional klar vom Rest der SS abge-grenzt gewesen; ihre Truppen seien als reine Frontverbände eingesetzt worden und dem taktischen Kommando des Heeres unterstellt gewesen. Tatsächlich habe sich die Waffen-SS zu einem „vierten Wehrmachtsteil“ entwickelt, dem man ebenso wenig wie anderen Teilen der Streitkräfte die Verbrechen des Regimes anlasten könne. Die Waffen-SS sei auch keineswegs militärisch inkompetent gewesen, sondern habe sich ganz im Gegenteil durch herausragende Führer, moderne Führungs- und Ausbil-dungsprinzipien sowie hoch motivierte Mannschaften ausgezeichnet. Der breiten Öffentlichkeit wurden die Botschaften der HIAG unter anderem durch Bücher ehe-maliger SS-Generäle wie Paul Hausser und Felix Steiner nahegebracht.16

Um ihrem apologetischen Anliegen mehr Gehör zu verschaffen, begann die HIAG eine enge Zusammenarbeit mit den sogenannten Soldatenbünden  – der

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13FORSCHUNGSSTAND

breiteren westdeutschen Kriegsveteranenbewegung. Diese stellten in der Früh-phase der Bundesrepublik eine der einflussreichsten Lobbygruppen dar und waren somit mächtige Verbündete. Gleichzeitig entdeckten auch die politischen Parteien zunehmend ihr Interesse an der Wählergruppe der ehemaligen Waffen-SS-Solda-ten. Das Ergebnis war, dass es der HIAG weitgehend gelang, sich in die Legende der „sauberen“ Wehrmacht einzuschreiben.17 Populärhistorische Bücher sorgten in der Folge dafür, dass sich der Wehrmachts- und Waffen-SS-Mythos auch in den ehema-ligen westalliierten Ländern verbreitete, wo sich viele Leser – nicht zuletzt unter dem Eindruck des Kalten Krieges – empfänglich zeigten für diese Version der Ge-schichte.18 Diese Literatur ist stark von der Tendenz geprägt, die Wehrmacht und insbesondere die Waffen-SS als überragende Militärmaschinerien zu stilisieren, während die Beteiligung an NS-Verbrechen zurückgewiesen, verschwiegen oder heruntergespielt wird. Durchweg charakteristisch für das Genre ist ein Hang zur Romantisierung und Heroisierung.19

Die Forschung zur SS konzentrierte sich in den ersten Jahrzehnten stark auf die kritische Auseinandersetzung mit den apologetischen Thesen. Dabei richtete sich der Blick besonders auf die Organisationsstruktur der SS und die Rolle ihrer Unter-organisationen bei der Judenvernichtung. Bereits früh zeigte sich, dass die Behaup-tung, die Waffen-SS und die anderen Organisationsteile hätten mehr oder weniger vollständig isoliert voneinander existiert, nicht zu halten war.20

Die erste breit angelegte fachhistorische Monografie über die Waffen-SS legte 1966 der amerikanische Historiker George H. Stein vor. In seinem Buch „The Waf-fen-SS: Hitler’s Elite Guard at War“ – 1967 unter dem Titel „Geschichte der Waffen-SS“ auf Deutsch erschienen – akzeptiert Stein weitgehend die Auffassung, die Waf-fen-SS habe im Verlauf des Krieges zunehmend eine militärische Primärfunktion ausgeübt und sich durch ihre fanatische Kampfmoral und herausragende Kampf-kraft schließlich zur Elite der deutschen Truppen entwickelt.21 Hingegen wider-spricht er der Legende, die bewaffnete SS sei unpolitisch gewesen, habe völlig abge-trennt von anderen Teilen des SS-Systems existiert und sei kaum in die Verbrechen des Regimes involviert gewesen. Stein zufolge waren die bewaffneten SS-Einheiten durchdrungen von einem unverkennbar nationalsozialistischen Ethos. Zwischen dem militärischen Teil und anderen Teilen der SS habe es viel Personalaustausch gegeben, außerdem habe man oft zusammengearbeitet. Offensichtlich sei auch, dass gesonderte Einheiten der Waffen-SS an der Umsetzung der deutschen Ver-nichtungspolitik beteiligt gewesen seien, ebenso wie sich bisweilen auch Kampfdi-visionen daran beteiligt hätten. Letztere hätten sich zudem häufig anderer schwe-rer Verbrechen schuldig gemacht.22

Erst 1982 legte der deutsche Militärhistoriker Bernd Wegner unter dem Titel „Hit-lers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933–1945“ die nächste breit angelegte Studie zur Waffen-SS vor.23 Wegners gründliche und gut strukturierte Analyse konzentriert sich vor allem auf die Entwicklung der Funktion und Organisationsstruktur der Waffen-SS. Während in Teilen der Literatur davon ausgegangen wird, die Waffen-SS sei ursprünglich als militarisierte Polizeitruppe geplant gewesen, vertritt Wegner den Standpunkt, Himmler habe von Anfang an beabsichtigt, einen umfangreichen

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14 EINLEITUNG

Militärapparat aufzubauen, um diesen in einem zukünftigen Krieg an der Front ein-zusetzen. Ziel sei gewesen, durch den Aufbau eines mit inneren wie äußeren Sicher-heitsaufgaben betrauten „Staatsschutzkorps“ die Machtposition der SS auszubauen und ihr Prestige zu heben. Der Krieg habe dann eine weit umfangreichere Expan-sion als ursprünglich erwartet ermöglicht, in deren Folge die Waffen-SS ihren exklu-siven Charakter eingebüßt und sich in eine zunehmend heterogene Organisation mit einer spezifisch militärischen Kultur und Identität verwandelt habe. Auch wenn diese Entwicklungen das einheitliche Gefüge der Organisation belastet hätten, sei es Himmler gelungen, den bewaffneten Zweig als integralen Teil der SS zu erhal-ten.24

Während Wegners Studie die militärische Rolle der Waffen-SS und ihre Beteili-gung an den Verbrechen des NS-Regimes nur am Rande berücksichtigt, stehen diese Aspekte in Jean-Luc Leleus umfangreicher Dissertation „La Waffen-SS. Soldats poli-tiques en guerre“ (veröffentlicht 2007) an zentraler Stelle.25 Leleu bekräftigt Weg-ners These, dass die starke Expansion des militärischen SS-Teils primär als Ausdruck von Himmlers machtpolitischen Ambitionen zu werten sei. Des Weiteren unter-zieht er die militärischen Qualitäten der Waffen-SS einer gründlichen Analyse und demontiert so weitgehend das Bild von der bewaffneten SS als militärischen Elite. Von der Propaganda befördert, habe dieses Bild dazu gedient, die militärische Er-weiterung der SS zu legitimieren, jedoch zeigen Leleus Ergebnisse, dass die expan-dierende Waffen-SS sich zu einer stark heterogenen Organisation entwickelte, die hinsichtlich des Personals, der Ausbildung und Ausrüstung große Qualitätsunter-schiede aufwies. Nur die stärksten SS-Divisionen hätten das Niveau einer Elite-truppe gehabt, und das auch nur in einigen Phasen des Krieges.26 Auch was die Frage der Beteiligung an Kriegsverbrechen angeht, trägt Leleu dazu bei, das Bild der Waffen-SS zu nuancieren. Basierend auf einer Analyse des Verhaltens einzelner SS-Divisionen an der Westfront in den Jahren 1940 und 1944, stellt er fest, dass diese in einem für bewaffnete Konflikte ungewöhnlich hohen Maße Kriegsverbrechen be-gangen hätten, unterstreicht aber gleichzeitig, dass es zwischen den einzelnen Ver-bänden und Einheiten große Unterschiede gegeben habe. Leleu verortet diese Unterschiede vor allem zwischen „elitären“ und eher „durchschnittlichen“ Truppen-teilen, nicht zwischen Waffen-SS und Wehrmacht.27

Insgesamt deuten die Ergebnisse der Forschung derweil darauf hin, dass bewaff-nete SS-Einheiten im Allgemeinen brutaler auftraten als Wehrmachtseinheiten und dass das Personal der Waffen-SS sowohl direkt als auch indirekt stärker in die Verbrechen des Regimes involviert war.28 Vieles spricht zudem dafür, dass es der SS in hohem Maße gelang, unter den Waffen-SS-Soldaten eine spezifische Haltung und Identität herauszubilden, und dass sich Angehörige der Waffen-SS stärker mit dem Nationalsozialismus und den Kriegszielen identifizierten als ihre Wehr-machtskameraden.29

In den breit angelegten Monografien zur SS und Waffen-SS spielt die Rekrutie-rung außerhalb Deutschlands eine untergeordnete Rolle. Besonders Wegner arbei-tet allerdings gründlich die Hintergründe der Anwerbung von Nichtdeutschen her-aus und widerspricht klar der Auffassung, sie sei auf die hohen Verluste an der

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15FORSCHUNGSSTAND

Ostfront zurückzuführen. Vielmehr sei das Konzept zum langfristigen Ausbau der SS auf transnationaler, pangermanischer Grundlage bereits vor Kriegsbeginn ent-wickelt worden und müsse als logische Konsequenz der SS-Rassenideologie und als Element der Himmler’schen Pläne für ein „großgermanisches Reich“ verstanden werden. Davon abgesehen sei das Konzept eine willkommene Gelegenheit gewe-sen, die praktischen Probleme zu lösen, denen sich die SS-Führung bei der Expan-sion ihres militärischen Flügels gegenübersah.30

George Stein befasst sich von allen am eingehendsten mit den Motiven, Erfah-rungen und Reaktionsmustern der nationalen Freiwilligengruppen. Dabei liegt ihm viel daran, mit dem apologetischen Mythos aufzuräumen, die Waffen-SS sei ein multinationales Heer aus Idealisten gewesen, die sich der Verteidigung der westlichen Kultur gegen den Kommunismus verschrieben hätten. Entsprechend weist er darauf hin, dass die meisten nichtdeutschen Soldaten Osteuropäer gewe-sen seien, von denen sich viele keineswegs freiwillig gemeldet hätten, sondern ein-berufen oder zum Dienst für das Deutsche Reich gezwungen worden seien. Was die westeuropäischen Freiwilligen angehe, so sei die Mehrzahl von ihnen alles andere als politisch-ideologisch motiviert gewesen, sondern habe sich von Abenteuerlust und der Aussicht auf Status, Ehre und materielle Vorteile verlocken lassen.31 Jedoch habe sich nach Eintritt in die Waffen-SS aufgrund von nicht eingehaltenen Ver- sprechen, herabwürdigender Behandlung und Integrationsproblemen bald Er-nüchterung unter ihnen breitgemacht. Nichtsdestotrotz seien die westeuropäi-schen Freiwilligen – im Gegensatz zu ihren osteuropäischen Kampfgefährten – ein militärischer Aktivposten gewesen. Nicht selten überstieg ihr Kampfgeist Stein zu-folge sogar den der Deutschen.32

Steins empirische Basis für seine Schlussfolgerungen ist indes dürftig. Mittler-weile liegt eine Reihe fachhistorischer Arbeiten und historischer Sachbücher vor, die sich ganz oder zumindest teilweise den west- und nordeuropäischen Freiwilli-gen im Dienst der Waffen-SS widmen. In den meisten dieser Werke liegt der Fokus dabei stark auf der SS, so werden insbesondere Fragen diskutiert zu den Gründen der SS-Führung, Soldaten außerhalb Deutschlands zu rekrutieren, zu den damit verbundenen notwendigen politischen Maßnahmen, zur Expansion der Organisa-tion, die mit den Anwerbungen einherging, und zur militärischen Rolle der Freiwil-ligen.33 Mehr oder weniger ausführlich wird in diesen Arbeiten auch die Situation in den Heimatländern der Freiwilligen dargestellt, häufig mit Schwerpunkt auf dem jeweiligen Kollaborationsmilieu und dessen Verhältnis zur SS.34 In einzelnen Studien wird auch versucht, die Menschen in den Fokus zu rücken, die sich anwer-ben ließen – ihre Motivation, ihre Erlebnisse in der Waffen-SS, ihre Einstellung und ihr Verhalten.

Wie Stein gehen einige der Autoren davon aus, die Freiwilligen hätten nach dem Krieg, als sie sich für ihre Kriegsteilnahme auf deutscher Seite rechtfertigten, die Bedeutung politisch-ideologischer Faktoren übertrieben betont.35 Was die poli-tisch-ideologische Motivation betrifft, wird gerne angeführt, dass die Mehrheit der Freiwilligen sich gemeldet habe, um den Kommunismus zu bekämpfen und ihrem Land eine vorteilhafte Stellung in der neuen, von Deutschland dominierten Ord-

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16 EINLEITUNG

nung Europas zu sichern.36 Sowohl die fach- als auch die populärhistorischen Werke bekräftigen, dass innerhalb der nationalen Gruppen bereits früh Unzufrie-denheit geherrscht habe, die besonders auf Wortbruch seitens der Deutschen, eine herabsetzende Behandlung und Probleme bei der finanziellen Unterstützung der Familien der Soldaten zurückzuführen gewesen sei. Dieser Unmut habe seinen Teil dazu beigetragen, dass die Rekrutierung ins Stocken geraten und es zu Beschwer-den und Motivationsproblemen bei den bereits eingestellten Freiwilligen gekom-men sei.37 Steins vorbehaltloses Lob des Kampfgeistes der westeuropäischen Frei-willigen wird von der späteren Forschung nicht gestützt. Tatsächlich ergibt sich ein weit uneinheitlicheres Bild mit großen Unterschieden zwischen einzelnen Trup-penteilen, nationalen Gruppen und Kriegsphasen.38

Alles in allem tragen die Übersichtsarbeiten zur SS, Waffen-SS und zu den nicht-deutschen Freiwilligen nur bedingt dazu bei, die Motive, Erfahrungen, Einstellun-gen und Reaktionen des norwegischen Kontingents zu erhellen. Dies liegt zum einen daran, dass die breite Herangehensweise es nur in begrenztem Umfang er-laubt, einzelne nationale Gruppen im Detail zu untersuchen, zum anderen aber auch an Schwächen und Mängeln der Arbeiten. So ist die Analyse der Rekrutenmo-tivation beispielsweise durchgängig geprägt von schwach begründeten und wider-sprüchlichen Aussagen.39 Eine Reihe von Aspekten wird darüber hinaus so gut wie gar nicht untersucht. Zu nennen sind hier Themen wie militärische Ausbildung, ideologische Prägung, Frontalltag, Einstellung und Deutungsmuster der Freiwilli-gen sowie ihre Beteiligung an den Verbrechen des NS-Regimes.40

Teils werden diese Themen in Detailstudien zu einzelnen westeuropäischen Freiwilligenkontingenten gründlicher behandelt.41 Hier sind vor allem die Arbeiten über dänische Freiwillige von Claus Bundgård Christensen, Niels Bo Poulsen und Peter Scharff Smith zu nennen. In ihrem Übersichtswerk „Under hagekors og Dan-nebrog“ (Unter Hakenkreuz und Dannebrog) nehmen sie diverse Aspekte des däni-schen Engagements in den Blick, darunter die Motive, sich anwerben zu lassen, die ideologische Schulung, den Charakter der deutschen Kriegführung, die dänische Beteiligung an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie das Alltagsleben während der Ausbildung und an der Front.42 Kürzere und thema-tisch stärker fokussierte Forschungsbeiträge derselben Verfasser behandeln einige der genannten Themenkomplexe zusätzlich vertieft.43 Diese Arbeiten stellen nicht nur eine solide Vergleichsgrundlage dar, sondern eignen sich auch als Ausgangs-punkt und Modell für die Analyse von Freiwilligengruppen aus anderen Ländern.

Mittlerweile liegt auch eine Reihe von Detailstudien zu den Freiwilligen aus Norwegen vor. Die ersten beiden Fachartikel über norwegische „Frontkämpfer“ ver-öffentlichte der Psychiater Harald Frøshaug 1947 und 1955. Darin stellt Frøshaug die Ergebnisse einer umfassenden sozialpsychiatrischen Untersuchung von ehemali-gen Kriegsfreiwilligen vor, die nach dem Krieg ihre Strafe für Landesverrat im Ge-fängnis von Ilebu sowie im Umerziehungslager Gulskogen in Drammen verbüßten. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die große Mehrzahl von ihnen sich den Deutschen aus politisch-ideologischen Gründen angeschlossen habe. Intelligenz-minderung oder mentale Abnormität, die zu jener Zeit häufig bei den Verurteilten

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17FORSCHUNGSSTAND

vermutet wurden, hätten sich in der Untersuchungsgruppe nicht feststellen lassen; im Gegenteil handele es sich um eine leistungsstarke Gruppe.44

Die erste historische Forschungsarbeit zum Thema legte Ole Andreas Dahl 1972 mit seiner Magisterarbeit zu der von ihm so genannten „Frontkämpferbewegung“ in Norwegen vor.45 Einleitend beschreibt Dahl die den jeweiligen Rekrutierungsan-strengungen von SS-Führung und Nasjonal Samling zugrunde liegenden Motive. Es folgt ein knapper Überblick über die „norwegischen“ SS-Truppenteile. Hauptthema der Arbeit sind die militärpolitischen Spannungen zwischen SS und Nasjonal Sam-ling im Zusammenhang mit der SS-Freiwilligen-Legion „Norwegen“ („Den norske Legion“). In groben Zügen zeigt Dahl in seiner Arbeit auf, welche Rolle die Freiwil-ligenrekrutierung für die Politik von SS und Nasjonal Samling spielte und wie es aufgrund teils unvereinbarer Vorstellungen zu Konflikten kam. Dahl gehört damit zu den Ersten, die die Differenzen zwischen Besatzungsmacht und Nasjonal Sam-ling thematisieren.

Zwei Jahre später, 1974, folgte Harold Skilbreds Dissertation „The SS and ‚Germa-nic‘ Fascism during World War II: The Norwegian Case“.46 Skilbred vertritt die These, die SS habe sich Einfluss in den von Deutschland besetzten „germanischen“ Ländern verschaffen wollen, wozu ihr die Rekrutierung von Kriegsfreiwilligen für die Waffen-SS als zentrales Hilfsmittel gedient habe. Kerngedanke dabei sei gewe-sen, die Freiwilligen durch den Kriegsdienst an die SS zu binden, um auf diese Weise langfristig die Kontrolle über die nationalen faschistischen Bewegungen zu erlangen. Für die SS-Führung sei Norwegen eine Art Versuchsland gewesen, um diese Form der Annäherung zunächst zu testen, bevor man die Methode auf die bevölkerungsreicheren Länder in Europa übertragen wollte. In Norwegen seien die Bemühungen der SS auf Widerstand aus Kreisen der Nasjonal Samling gestoßen, zugleich seien viele Freiwillige unzufrieden damit gewesen, wie sie in der Waffen-SS behandelt wurden. Zusammen mit dem Druck, unter den Deutschland im Ver-lauf des Krieges zunehmend geriet, habe dies zum Scheitern der Strategie der SS beigetragen. Auch wenn gegen einzelne von Skilbreds Thesen zweifellos Einwände erhoben werden können, lieferte seine Sichtweise durchaus frische und fruchtbare Impulse. Nicht zuletzt zeigt seine Studie, dass viele norwegische Freiwillige eine ablehnende Haltung gegenüber der SS entwickelten. Bedauerlicherweise blieb Skilbreds Arbeit von norwegischen Historikern lange Zeit unbeachtet.47

Im selben Jahr, in dem Skilbred seine Arbeit abschloss, legte auch der Kompa-nie-Linge- und Milorg-Veteran Svein Blindheim seine Magisterarbeit über die nor-wegischen „Frontkämpfer“ vor.48 1977 wurde sie mit kleinen Änderungen unter dem Titel „Nordmenn under Hitlers fane“ (Norweger unter der Fahne Hitlers) ver-öffentlicht.49 Im Vergleich zu Dahl erweitert Blindheim den Blickwinkel. Der erste Teil des Buches bietet eine kurze Einführung ins Thema, wobei Motive und Struk-tur der SS sowie das Verhältnis zwischen Waffen-SS und den Behörden der norwe-gischen Nasjonal Samling im Mittelpunkt stehen. Anschließend wird die Ge-schichte der wichtigsten Institutionen und militärischen Truppenteile skizziert. Im zweiten Hauptteil folgt eine Analyse des sozialen Profils der Freiwilligen und ihrer Motive, sich in deutschen Dienst zu begeben. Blindheim zufolge war die Mehrheit

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18 EINLEITUNG

der Rekruten zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung sehr jung, entstammte der Mittel- und Oberschicht und war überdurchschnittlich gebildet. In Städten und stadtna-hen Gebieten sei die Rekrutierung am erfolgreichsten gewesen. Seiner Ansicht nach stammte der überwiegende Teil der Rekruten aus dem typischen Milieu der Nasjonal Samling und ließ sich primär aus „idealistischen“ Gründen anwerben. In erster Linie seien die Freiwilligen vom Widerstand gegen den Kommunismus ge-trieben gewesen, außerdem habe man Norwegen in Erwartung eines deutschen Sieges eine möglichst freie und starke Position in einem von Deutschland domi-nierten Europa verschaffen wollen. Viele hätten indes auch allgemein mit dem Na-tionalsozialismus sympathisiert und sich deshalb rekrutieren lassen.50

Blindheim leistete mit seiner Arbeit zweifelsohne einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung des Themas und lieferte nicht zuletzt grundlegend neue Erkennt-nisse zu Herkunft und Motivation der Freiwilligen. Doch weist „Nordmenn under Hitlers fane“ auch beträchtliche Mängel auf. Zu nennen ist hier die Tendenz, die „idealistischen“ Motive der Freiwilligen gleichzusetzen mit den Motiven der Nor-weger, die sich den Alliierten anschlossen.51 Noch schwerer wiegt, dass Blindheim dem apologetischen Mythos erliegt, die Waffen-SS sei eine rein militärische Orga-nisation gewesen, die keine Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes trage. Zwar räumt er ein, dass Angehörige der Waffen-SS durchaus Kriegsverbre-chen begangen hätten, diese seien jedoch kaum umfangreicher gewesen als ent-sprechende Verbrechen der Alliierten.52 So überrascht es nicht, dass die Frage, in-wieweit norwegische Freiwillige möglicherweise an Verbrechen in Deutschland, an der Front oder in den besetzten Gebieten beteiligt waren, im Buch nicht themati-siert wird. Die Darstellung lässt somit insgesamt den Eindruck entstehen, dass dies kaum und allerhöchstens in Einzelfällen vorgekommen sei.

Die 80er- und 90er-Jahre hindurch galt Blindheims Arbeit als eine Art Standard-werk zum Thema, da norwegische Fachhistoriker nur wenig Interesse an der Kriegsteilnahme von Norwegern auf deutscher Seite zeigten.53 Dagegen setzten sich mehrere populärhistorische Sachbücher mit dem Thema auseinander  – ein Trend, der bis ins neue Jahrtausend anhielt.54 Außerdem erschienen vermehrt Bü-cher von Autoren, die selbst am Krieg teilgenommen hatten.55 Insbesondere die historischen Sachbücher haben wesentlich dazu beigetragen, das Wissen über das Thema zu erweitern, nicht zuletzt durch die Schilderung individueller Erfahrungen von Freiwilligen während ihres Kriegsdienstes. Einige der Bücher griffen auch Punkte auf, zu denen sich die Freiwilligen selbst meist ausschwiegen, darunter Fra-gen nach ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus, ihrer Kenntnis der Judenver-folgung und Beteiligung an Kriegsverbrechen.56 Insgesamt neigten die Sachbuch-verfasser allerdings dazu, militärische Begebenheiten mehr oder weniger losgelöst vom politischen und ideologischen Kontext darzustellen, das Bild des patriotischen und antikommunistischen „Frontkämpfers“, der für den Nationalsozialismus nichts übrighatte, aufrechtzuerhalten und den Mythos der „sauberen“ Waffen-SS weiter-zupflegen.57

In einem Gastbeitrag in der Tageszeitung „Dagbladet“, erschienen im Mai 1998, forderte der Historiker Odd-Bjørn Fure die Forschung auf, sich verstärkt problema-

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19FORSCHUNGSSTAND

tischen und traumatischen Aspekten der norwegischen Kriegs- und Besatzungser-fahrung zuzuwenden. Eines der von ihm benannten Forschungsdesiderate war die Beschäftigung mit der norwegischen Kriegsteilnahme in bewaffneten Verbänden Nazi-Deutschlands.58 Fures Artikel bildet den Auftakt zu einer Phase zunehmen-den fachhistorischen Interesses am Thema. 2001 veröffentlichte Ivo de Figueiredo einen gründlich recherchierten historiografischen Artikel über Kriegsfreiwillige aus Norwegen.59 In den darauffolgenden gut zehn Jahren erschien eine Reihe von Arbeiten zu teils sehr unterschiedlichen Aspekten des Themas, darunter Frage- und Problemstellungen, die auch in der vorliegenden Studie im Mittelpunkt ste-hen.60

Mehrere dieser Arbeiten beschäftigen sich beispielsweise mit der Herkunft und Rekrutierungsmotivation der Freiwilligen. Zu nennen sind hier vor allem Jan Skjønsfjells Masterarbeit über Freiwillige aus Troms und Terje Nomelands entspre-chende Fallstudie zu Freiwilligen aus Agder.61 Harry Ellingsen widmet den Fragen, wer sich rekrutieren ließ und warum, in seinem Buch über Norweger im Regiment „Norge“ ein ganzes Kapitel.62 Gunnar Sverresson Sjåstad wiederum analysiert in sei-ner Magisterarbeit von 2006 detailliert die geografische Herkunft und die Alters-struktur der Freiwilligen.63 Um die Gründe, sich anwerben zu lassen, geht es auch in Vegard Sæthers breit angelegtem Buch „‚En av oss‘. Norske frontkjempere i krig og fred“ („Einer von uns“. Norwegische Frontkämpfer in Krieg und Frieden).64 Die genannten Untersuchungen vervollständigen das Bild der sozialen, geografischen und politischen Hintergründe der Gruppe, allerdings ist die Analyse der Beweg-gründe der norwegischen Rekruten nur von begrenztem Wert. Während Skjønsfjell und Nomeland sich in ihren Arbeiten ausschließlich auf Aussagen von „Front-kämpfern“ im Rahmen der strafrechtlichen Aufarbeitung („rettsoppgjøret“ oder „landssvikoppgjøret“) nach dem Krieg stützen, basieren die Untersuchungen von Sæther und Ellingsen auf späteren Interviews mit Kriegsfreiwilligen. In beiden Fäl-len handelt es sich um Quellen mit offensichtlichen Schwächen, die die tatsächli-che Motivation der Norweger, sich den Deutschen anzuschließen, kaum nennens-wert erhellen.

Ein weiteres Thema, das für die vorliegende Studie von Relevanz ist und das an-satzweise bereits fachhistorisch untersucht wurde, ist die norwegische Beteiligung an Verbrechen des NS-Regimes. Insbesondere diesen Aspekt unterstrich Odd-Bjørn Fure, als er in seinem erwähnten Artikel von 1998 die Forschung dazu anhielt, sich stärker mit den Kriegsfreiwilligen zu befassen.65 Als Erster setzte sich der Sach-buchautor Egil Ulateig nennenswert mit der Frage auseinander. In seinem Buch „Veien mot undergangen“ (Der Weg in den Untergang), erschienen 2002, widmet er dem Thema ein eigenes Kapitel. Zwei Jahre später griffen die Historiker Terje Em-berland und Bernt Rougthvedt das Thema in ihrer Biografie über den radikalen norwegischen Nationalsozialisten Per Imerslund auf. Während Ulateig noch kons-tatiert, es läge „kein einziger Beweis“ für die Beteiligung von Norwegern an Kriegs-verbrechen vor, kommen Emberland und Rougthvedt zu konträren Ergebnissen.66 Ulateig revidierte seine Meinung indes bald. 2006 legte er mit dem Buch „Jakten på massemorderne“ (Die Jagd nach den Massenmördern) die bis dato detaillierteste

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20 EINLEITUNG

Erörterung der Frage vor. Er argumentiert darin, dass Norweger während ihres Ein-satzes an der Ostfront Kriegsverbrechen begangen haben müssen und dass ihnen die mörderischen Ziele des Krieges mit hoher Wahrscheinlichkeit bewusst gewe-sen seien.67

2012 legten Terje Emberland und Matthew Kott ihr Buch „Himmlers Norge. Nordmenn i det storgermanske prosjekt“ (Himmlers Norwegen. Norweger als Teil des großgermanischen Projekts) vor.68 Wie auch die vorliegende Arbeit entsprang dieses Buch direkt der öffentlichen Debatte um eine mögliche Beteiligung norwe-gischer Freiwilliger an den Verbrechen Nazi-Deutschlands. Die Frage nach den Ver-brechen ist indes nur ein Thema unter vielen im Buch, das die Norwegen-Politik der SS mehr oder weniger in ihrer ganzen Breite behandelt. Eine der zentralen The-sen der Autoren lautet, dass die SS-Politik in Norwegen – und somit auch die Frei-willigenrekrutierung – primär vor dem Hintergrund der Rassenideologie Himmlers und der SS zu sehen sei. Bei den Anwerbungen habe ursprünglich der Wunsch im Mittelpunkt gestanden, Zugang zu einer besonders wertvollen „Blutquelle“ zu er-langen.69 Auf längere Sicht hätte die streng selektierte Gruppe der Freiwilligen dann die Rolle eines „Staatsschutzkorps“ im norwegischen Teil des „großgermani-schen Reiches“ übernehmen sollen. Ziel des Kriegsdienstes in der Waffen-SS sei die Erziehung und Abhärtung der neuen Elite gewesen.70 In der vorliegenden Studie wird die ideologische Perspektive auf die Rekrutierungen weitgehend übernom-men, allerdings unter stärkerer Betonung machtpolitischer Aspekte.

Emberland und Kott liefern darüber hinaus weitere Belege dafür, dass Norweger und ihre Einheiten während ihres Einsatzes an der Ostfront und auf dem Balkan direkt an der Tötung von Zivilisten, Partisanen und Kriegsgefangenen beteiligt wa-ren.71 Das Hauptinteresse des Buches gilt allerdings den Vernichtungsplänen der SS-Führung und dem Mitwirken der einzelnen Truppenteile daran, weshalb Ver-halten und Reaktionen der norwegischen Freiwilligen zwar gestreift, aber nicht systematisch analysiert werden.72 Die extreme Gewalt wird hauptsächlich im Rah-men der SS-Ideologie und der nationalsozialistischen Rassen- und Mordpolitik in-terpretiert.73 Obwohl diese Sichtweise im Wesentlichen zutrifft, ist es notwendig, auch andere, nichtideologische Faktoren zu berücksichtigen. Darauf wird im Fol-genden einzugehen sein.

Im Gegensatz zu Themen wie Herkunft der Freiwilligen, Rekrutierungsmotiva-tion und Beteiligung an NS-Verbrechen hat man sich mit der militärischen Ausbil-dung und ideologischen Erziehung der Freiwilligen in fachhistorischen Arbeiten bisher auffallend wenig befasst. In den frühen Studien werden Ausbildung und In-doktrinierung so gut wie überhaupt nicht berührt.74 In den letzten Jahren ist zwar ein wachsendes Interesse am Ausbildungsalltag der Freiwilligen festzustellen, aber die Darstellungen bleiben meist kursorisch.75 Autobiografische Werke und popu-lärhistorische Sachbücher füllen die Lücke zumindest teilweise.76 Einige Themen sind derweil immer noch weitgehend unbearbeitet, beispielsweise die Indoktrinie-rung in den Feldverbänden. Auch ist bisher kaum der Versuch unternommen wor-den, die Zielsetzungen der SS, ihre pädagogischen Grundsätze sowie die Ausbil-dungspraxis zu analysieren. Es mangelt ebenso an systematischen Analysen,

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21MILITÄRGESCHICHTE VON UNTEN

inwieweit die Freiwilligen die NS-Ideologie und das militärische Werte- und Nor-mensystem in der Praxis tatsächlich internalisierten.77

Aufstellungs- und Einsatzhistorie der „norwegischen“ SS-Formationen werden in der wissenschaftlichen und populärhistorischen Literatur relativ umfassend be-handelt.78 Anders die individuellen Erfahrungen und Reaktionen der Freiwilligen während ihres Kriegsdienstes: Dieses Feld wird bisher fast ausschließlich von Sach-buchautoren abgedeckt und findet in fachhistorischen Arbeiten kaum Beachtung.79 Zwar deutet sich hier in den vergangenen Jahren eine leichte Veränderung an, trotzdem muss sowohl den populärhistorischen als vielfach auch den fachhis-torischen Darstellungen eine Reihe von Mängeln bescheinigt werden, wie bei-spielsweise ungenügende Kontextualisierung, mangelnde Problematisierung und analytische Durchdringung, anekdotischer Charakter, dürftiges und einseitiges Quellenmaterial, unzureichende Quellenkritik und unvollständige Quellenanga-ben.80 In nicht wenigen Fällen tendieren die Arbeiten dazu, die Nachkriegsnarra-tive der Freiwilligen unkritisch zu übernehmen.81 Ganz abgesehen davon, dass ins-gesamt höchstens in Ansätzen versucht wird, die persönlichen Kriegserfahrungen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und sie im Hinblick auf Einstellung und Verhalten der Freiwilligen zu untersuchen, bleiben auch hinsichtlich der in der Gruppe herrschenden Unzufriedenheit viele Fragen offen: Wie ausgeprägt war sie? Was waren die Ursachen? Waren die norwegischen Freiwilligen im Vergleich zu anderen Freiwilligengruppen besonders unzufrieden? Gab es wesentliche Unter-schiede zwischen verschiedenen Truppenteilen und Phasen? Inwieweit beein-flusste die Unzufriedenheit die Motivation der Norweger?82 Trotz der erwähnten Mängel muss betont werden, dass die populär- und fachhistorischen Arbeiten von größtem Wert sind, wenn es um die Rekonstruktion der Erfahrungen und Verhal-tensweisen von Freiwilligen während ihres Kriegsdienstes geht.

Militärgeschichte von unten

Perspektive und Methode der vorliegenden Studie folgen einem noch relativ jun-gen Trend der militärhistorischen Forschungstradition. Lange konzentrierte sich das Studium der Militärgeschichte auf die Führung der Land- und Seestreitkräfte durch hochrangige Offiziere und die von ihnen geleiteten militärischen Operatio-nen. Die Geschichtsschreiber waren in aller Regel selbst Offiziere, häufig Angehö-rige militärischer Stäbe oder militärischer Forschungs- und Lehrinstitutionen ihres Landes, die zumeist von dem Wunsch motiviert waren, aus vergangenen Feldzügen und Schlachten zu lernen, um auf diese Weise die Erfolgschancen zukünftiger Kriegserfolge zu erhöhen.

Diese Art der Geschichtsschreibung blieb von den Perspektiven und methodi-schen Prinzipien, die sich innerhalb der akademischen Geschichtswissenschaft entwickelten, weitgehend unberührt. Die Darstellungen waren meist chronolo-gisch und deskriptiv angelegt, mit detaillierten Beschreibungen von Truppenbewe-

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22 EINLEITUNG

gungen und Schlachten. Üblicherweise betrachtete man die Streitkräfte dabei voll-ständig losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext. Dieser Ansatz ließ nur wenig Platz für „den kleinen Mann“, also den einfachen Soldaten und die unteren Dienst-ränge. Auch wenn mitunter Einzelpersonen aufgrund ihrer Tapferkeit und Opfer-bereitschaft anekdotenartig hervorgehoben wurden, blieb der einfache Soldat in der Darstellung für gewöhnlich ein gesichts- und willenloses Werkzeug seiner Vor-gesetzten.83

Die eher akademisch geprägte Militärgeschichtsschreibung erlebte in den 1960er- und 1970er-Jahren ihren Durchbruch.84 Die neue Militärgeschichte, zu-nächst stark beeinflusst von der sogenannten „War and Society“-Schule, ging davon aus, dass zwischen militärischen Systemen und den Gesellschaften, die sie hervor-bringen, stets wechselseitige Einflussbeziehungen bestehen. Militärische Traditio-nen, Institutionen und Vorhaben wurden fortan in einem erweiterten gesellschaft-lichen Kontext untersucht; die autonome Perspektive wurde aufgegeben. Gleiches galt für die einseitige Fokussierung auf militärische Operationen.85

Auch wenn der „War and Society“-Ansatz dazu beitrug, Perspektiven und Me-thoden der akademischen Geschichtswissenschaft in der Militärhistoriografie zu etablieren, führte dies keineswegs unmittelbar zu einer Beschäftigung mit „dem kleinen Mann“. Denn die Disziplin blieb die 1970er- und 1980er-Jahre hindurch stark strukturorientiert.86 Erst unter dem Einfluss allgemeinerer Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft – teils in Gang gebracht durch die sogenannte Neue Kulturgeschichte – erwachte nach und nach das Interesse am gewöhnlichen Solda-ten und seinen Lebensbedingungen, Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen.87 Besonders seit den 1990er- und 2000er-Jahren bestimmt dieser Ansatz auch die Forschung zu den kriegführenden Parteien des Zweiten Weltkrieges immer stär-ker.88 Entsprechende Arbeiten haben nicht nur neue empirische Erkenntnisse ge-liefert und mit Gewinn neue Perspektiven eingenommen, sondern auch zu einem kreativeren Umgang mit den Quellen und einem geschärften Blick für ihre Be-grenztheit geführt.89

Ideologie und Situation: Perspektiven auf das Verhalten von Soldaten

Das gestiegene Interesse an den einfachen Mannschaftssoldaten, dem Führungs-personal der unteren Dienstränge und dem Alltagsleben in militärischen Verbän-den erwies sich nicht zuletzt für Untersuchungen der Wehrmacht und anderer Teile des NS-deutschen Militär- und Polizeiapparates als fruchtbar. Auch für das Studium der norwegischen Freiwilligen in der Waffen-SS sind die empirischen Er-gebnisse und theoretischen Methoden, die diese Forschung hervorgebracht hat, von großem Wert.

An zentraler Stelle der vorliegenden Untersuchung steht die Frage, welche Kräfte und Einflussfaktoren die Reaktions- und Verhaltensmuster der norwegischen Kriegsfreiwilligen formten. Es ist zu vermuten, dass politische und ideologische

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23IDEOLOGIE UND SITUATION

Motive für den Entschluss, Kriegsdienst für Deutschland zu leisten, eine wichtige Rolle spielten. Doch inwiefern eignet sich ein ideologischer Erklärungsansatz auch, um das Verhalten der Gruppe nach ihrem Dienstantritt in der Waffen-SS und be-sonders später an der Front zu erklären? Lässt sich beispielsweise die Teilnahme an extremen Gewalthandlungen gegenüber Zivilisten und Kriegsgefangenen damit begründen, dass die Norweger sich mit der nationalsozialistischen Ideologie iden-tifizierten? Und welche Rolle spielten ideologische Gründe für die Bereitschaft, trotz großer körperlicher und psychischer Belastung den Dienst fortzusetzen und weiterzukämpfen?

Lange war die Ideologie ein zentrales Thema in der interdisziplinären Diskussion darüber, wie die extreme Brutalität des deutschen Militär- und Polizeiapparates und die hohe Kampfmoral der deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg zu erklären seien – ebenso wie derartiges Verhalten im Allgemeinen. Stark vereinfacht lassen sich die Forscher in zwei Gruppen einteilen: Die einen erklären das Verhalten vor allem intentional und ideologisch  – als Produkt nationalsozialistischer Überzeu-gung. Dieser Ansatz war beispielsweise richtungweisend für die Wehrmachtsaus-stellung in den 1990er-Jahren.90 Die andere Gruppe dagegen vertritt den Stand-punkt, das Verhalten sei hauptsächlich durch situative Faktoren wie die „Logik des Krieges“, Gruppenzwang, Rollenverständnis und Autoritätshörigkeit bedingt.91

2011 legten der Historiker Sönke Neitzel und der Sozialpsychologe Harald Welzer ihr Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ vor.92 Für ihre Untersuchung werteten sie einen neuen Quellentyp aus: die umfangreichen Proto-kolle der heimlichen Abhörung deutscher Kriegsgefangener in westalliierten Ge-fangenenlagern während des Krieges. In ihrer Studie analysieren die Autoren prä-zise den Referenzrahmen der deutschen Soldaten, also die geistige Orientierung, die menschliches Interpretieren und Handeln bestimmt. Sie bestreiten nicht, dass nationalsozialistische Ideologeme und – vor allem – die soziale Praxis des NS-Regi-mes auf den Referenzrahmen der Soldaten eingewirkt hätten, schränken aber ein, dass nur eine kleine Minderheit der Soldaten über ein fest gefügtes nationalsozia-listisches Weltbild verfügt habe und dass abstrakte Konzepte und Vorstellungen nur sehr begrenzt Einfluss darauf gehabt hätten, wie sich Soldaten in konkreten Situationen verhielten.93 Ihr Handeln sei stattdessen primär gesteuert gewesen von ihrer basalen Orientierung  – der Kriegswirklichkeit, der Gruppendynamik und dem Wissen um die eigenen formalen und sozialen Rollen und Pflichten. Es seien situative Faktoren gewesen, nicht ideologische, die die Handlungsmuster der Sol-daten maßgeblich geprägt hätten.94

Spätere Studien scheinen die Ergebnisse von Neitzel und Welzer in wesent- lichen Punkten zu stützen.95 Gleichzeitig ist offensichtlich, dass sowohl der Re-ferenzrahmen der Soldaten als auch ihre Handlungsmuster das Produkt eines kom-plexen Zusammenspiels kultureller, ideologischer und situationsbedingter Faktoren sind. Der Historiker Felix Römer spricht sich gegen eine strenge Zweiteilung in Inten-tion (Ideologie) und Situation aus.96 In einer Studie, in der er ebenfalls die erwähn-ten Abhörprotokolle auswertet, argumentiert er, dass das Selbstverständnis der Sol-daten, ihre Normen, Interpretationsmuster und Feindbilder in erheblichem Maße

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24 EINLEITUNG

von der NS-Ideologie beeinflusst gewesen seien. Dies habe Auswirkungen darauf gehabt, wie die Soldaten aufzutreten wünschten, ebenso wie auf die Gruppendyna-mik, die in hohem Maße den Handlungsspielraum des Einzelnen einschränkte. Die Ideologie habe die Internalisierung des militärischen Werte- und Normensystems mit seinen martialischen Idealen wie Härte, Tapferkeit, Kampf- und Opferwille, Pflichterfüllung, Gehorsam und Loyalität verstärkt.97 Gleichzeitig habe sie dazu bei-getragen, den normativen Referenzrahmen so anzupassen, dass die Tötung von Zivi-listen und Kriegsgefangenen  – unter bestimmten Bedingungen  – als normal und notwendig erachtet wurde.98 Vor dem Hintergrund der Ergebnisse Römers sei daran erinnert, dass auch Neitzel und Welzer nicht umhinkönnen, ideologischen Faktoren eine wesentliche Bedeutung beizumessen, wenn es darum geht, Unterschiede in Brutalität und Kampfgeist zwischen Wehrmacht und Waffen-SS zu erklären.99

Quellen

Jeder Militärhistoriker, der sich für eine Von-unten-Perspektive auf die norwegi-schen Waffen-SS-Freiwilligen entscheidet, steht vor einer großen Herausforderung: Der Zugang zu den Quellen ist teils schwierig, das Material ist fragmentarisch, la-gert weit verstreut und ist – in vielen Fällen – unzuverlässig.

Am leichtesten zugänglich sind Aussagen der Freiwilligen aus der Zeit nach dem Krieg. Sie lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: zum einen die Erklärungen von Kriegsteilnehmern, die im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung nach dem Krieg abgegeben wurden, zum anderen ihre mündlichen wie schriftlichen Berichte aus den Jahrzehnten danach. Jedoch sind diese Quellen höchst problematisch. Die drohende Verurteilung wegen Landesverrats beeinflusste die abgegebenen Aussa-gen, und auch die späteren Interviews und Berichte sind nicht notwendigerweise zuverlässige Zeugnisse der Kriegserlebnisse der Freiwilligen. Das historische Erin-nern von Menschen vollzieht sich stets in der Gegenwart, die Erinnerungen schwin-den kontinuierlich, werden bearbeitet und umgedeutet. Welche Ereignisse und Eindrücke wir anderen mitteilen, hängt davon ab, wer unser Gesprächspartner ist. Dabei werden traumatische und problematische Erinnerungen womöglich umin-terpretiert oder ganz ausgelassen. Die Erinnerungen vieler ehemaliger Kriegsfrei-williger waren hochgradig traumatisch. Resultierend aus dem Stigma des Landes-verrats und dem Wissen um die Verbrechen NS-Deutschlands, standen die Männer zudem unter starkem Druck, die eigenen Entscheidungen und Taten vor sich selbst und dem Umfeld zu rechtfertigen.

Nichtsdestotrotz werden mündliche wie schriftliche Nachkriegsberichte von Kriegsteilnehmern auch in der vorliegenden Arbeit als Quellenmaterial herangezo-gen.100 Verwendung finden sie in erster Linie für die Darstellung des Frontalltags der Freiwilligen, aber auch, wenn auch in begrenztem Umfang, in anderen Teilen der Arbeit. Vor allem als Ergänzung zu anderen Quellen sind diese Berichte durch-aus von Wert – stets vorausgesetzt, dass sie mit kritischer Sorgfalt verwendet wer-

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25QUELLEN

den. In einigen Fällen erweisen sie sich aus Mangel an Alternativen sogar als gera-dezu unverzichtbar. Hauptsächlich aber basiert die Studie auf publizierten und unpublizierten zeitgenössischen Quellen.

Auch wenn die vorliegende Arbeit vorrangig „von unten“ auf ihr Thema blickt, wird zugleich Wert darauf gelegt, die Einstellungen, Erfahrungen und Reaktionen der Freiwilligen in den größeren politischen, ideologischen, institutionellen und militärischen Kontext einzubetten. Dieser Kontext wird weitgehend mithilfe der existierenden Fachliteratur rekonstruiert, teils wird aber auch hier auf veröffent-lichte und unveröffentlichte Quellen zurückgegriffen.

Die Darstellung der Ideologie, Intentionen und Politik der SS basiert vorwiegend auf den archivierten Akten des Persönlichen Stabs Himmlers. Als teilweise nützlich erwiesen sich auch die Akten des SS-Hauptamtes (SS-HA), das für die Rekrutierung und ideologische Erziehung innerhalb der SS zuständig war, sowie die Akten des SS-Führungshauptamtes (SS-FHA), das die Truppenteile und das Personal der Waf-fen-SS verwaltete. Alle erwähnten Akten befinden sich in den Beständen des Bun-desarchivs Berlin-Lichterfelde (BAB).101 Zusätzlich wurden einzelne Dokumente verschiedener SS-Gerichte sowie des SS- und Polizeiapparates in Norwegen ver-wendet, die ebenfalls im BAB archiviert sind.102 Zusätzlich wurden für diesen Teil der Arbeit mehrere veröffentlichte Quellensammlungen herangezogen.103

Auch für die Untersuchung der Ideologie und Politik der Nasjonal Samling sowie der parteiinternen Spannungen waren Quellensammlungen von großem Wert. Dies gilt vor allem für die sogenannten Meldungen aus Norwegen – vom deutschen Sicherheitsdienst (SD) in Norwegen während der Besatzung nach Berlin geschickte Geheimberichte.104 Als sehr nützlich erwiesen sich außerdem die Nachlässe einiger Akteure der Nasjonal Samling, die wesentlich an der Rekrutierung mitwirkten.105 Nicht zuletzt fanden auch archivierte Aktenbestände verschiedener Partei- und Staatsinstitutionen sowie Akten aus den Landesverratsermittlungen als Quellen Eingang in die Studie. Diese Materialien lagern sämtlich im norwegischen Reichs-archiv (RA).106

Die Dokumente, die für die Darstellung der militärischen und ideologischen Schulung und der Gegebenheiten in den einzelnen Feldtruppenteilen verwendet wurden, stammen hauptsächlich aus den folgenden drei Archiven: dem BAB, wo vor allem der Bestand mit den Akten des Persönlichen Stabs Himmlers genutzt wurde; dem Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BAMA) mit den Aktenbestän-den der Feldverbände, Ausbildungseinheiten und Schulen der Waffen-SS107; und dem Militärhistorischen Archiv in Prag (Vojenský historický archiv, VHA), wo sich unter anderem die Akten des Kommandostabs Himmlers und der Freiwilligenle-gion „Norwegen“ befinden108. Im Übrigen findet Material aus dem US-Nationalar-chiv (US National Archives and Records Administration, NARA), dem britischen Nationalarchiv (The National Archives in Kew, TNA), dem Institut für Zeitge-schichte in München (IfZ) sowie der norwegischen Nationalbibliothek in Oslo (Nasjonalbiblioteket, NBO) Verwendung.109

Die Hauptschwierigkeit bestand darin, Quellen zu finden, die einen möglichst direkten Zugang zu den Erlebnissen, Gedanken und Handlungsmustern der Frei-

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26 EINLEITUNG

willigen ermöglichen. Dazu eignen sich zunächst sogenannte Ego-Dokumente, also Schriftstücke mit biografischem Charakter, die von den Soldaten selbst verfasst wurden, zum Beispiel Tagebücher und Feldpostbriefe.110 Insofern Tagebücher und Feldpostbriefe norwegischer Kriegsfreiwilliger noch existieren, befinden sie sich meist in Privatbesitz und nicht in öffentlichen Archiven. Dies erschwert Histori-kern den Zugang und erklärt teilweise, warum sich sowohl die Forschungs- als auch die populärhistorische Literatur in so hohem Maße auf spätere Berichte stüt- zen. Für die vorliegende Arbeit ist es gelungen, ein beträchtliches Korpus aus Ego-Dokumenten der Kriegsjahre zusammenzutragen. Die Dokumente stammen aus höchst unterschiedlichen Quellen: Eine Reihe von Briefen, Tagebuchkopien und -abschriften findet sich als Teil von Privatnachlässen in den Beständen öffentlicher Archive.111 Korrespondenz von Kriegsfreiwilligen befindet sich auch in den Akten ehemaliger zentraler Akteure der Nasjonal Samling sowie in den Akten norwegi-scher Behörden und diverser SS-Institutionen aus der Besatzungszeit.112 Die im nor-wegischen Reichsarchiv lagernden Akten zur strafrechtlichen Aufarbeitung der Besatzungszeit enthalten beschlagnahmte Briefe und andere Dokumente aus den Kriegsjahren.113 Weiterhin dienten als Quellen zahlreiche von norwegischen Frei-willigen verfasste Briefe, Artikel, Nachrufe, Gedichte und Lieder, die oftmals wäh-rend des Krieges in Zeitungen, Zeitschriften und selbstständigen Publikationen veröffentlicht wurden.114 Auszüge aus Tagebüchern und Briefen wurden zum Teil auch in Zeitungsartikeln und veröffentlichten wie unveröffentlichten Arbeiten aus der Nachkriegszeit abgedruckt.115 Zu guter Letzt waren auch die Einzeldokumente und Sammlungen, die dem Verfasser von mehreren Privatpersonen zur Verfügung gestellt wurden, von großem Gewinn.116

Obwohl zeitgenössische Ego-Dokumente für die vorliegende Arbeit einen höhe-ren Quellenwert besitzen als Berichte aus der Nachkriegszeit, sind auch sie nicht frei von Problemen und Begrenzungen. So wurden Feldpostbriefe nicht geschrie-ben, um eigene Erlebnisse und Gedanken zu dokumentieren, sondern um den Kontakt zur Familie und zu Freunden aufrechtzuerhalten. Das Schreiben diente in erster Linie dazu, sich emotional für kurze Zeit dem brutalen Soldatenalltag zu ent-ziehen, weshalb diese Briefe sehr häufig kaum etwas zur Situation an der Front enthalten. Darüber hinaus unterlagen die Briefe in zweifacher Hinsicht einer Zen-sur: Die „äußere“ Zensur in Form von Zensurstellen der SS kontrollierte die Feld-post und entfernte in der Regel konkrete Angaben über das Leben an der Front, zum Beispiel Äußerungen über Unzufriedenheit unter den Soldaten.117 Hinzu kam eine „innere“ Zensur in Form von Selbstzensur der Soldaten. Diese rührte einerseits daher, dass die Männer darauf bedacht waren, die Feldpostvorschriften nicht zu verletzen – denn das war strafbar –, andererseits wollten sie vermeiden, dass sich der Empfänger unnötig sorgte.118

Die genannten Einschränkungen und Probleme dürfen indes nicht überbewer-tet werden. Nicht selten gaben die Soldaten ihre Briefe Kameraden mit, die in Hei-maturlaub gingen, sodass die „äußere“ Zensur umgangen werden konnte.119 In den überlieferten Akten der Legion „Norwegen“ finden sich zudem zahlreiche Abschrif-ten von Briefen norwegischer Freiwilliger, in denen gegen die Zensurbestimmun-

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27QUELLEN

gen verstoßen wurde.120 Weder die „äußere“ noch die „innere“ Zensur mindern den Quellenwert der Feldpostbriefe, wenn es beispielsweise um die ideologische Hal-tung der Freiwilligen geht – es sei denn, diese stand klar im Widerspruch zu den Leitbildern und Prinzipien der SS. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass SS und Wehrmacht durchaus versuchten, auf den weltanschaulichen Gehalt der Briefe einzuwirken.121 Problematisch wird es zusätzlich dadurch, dass sich viele der Norweger als politische Aktivisten verstanden und ihre Korrespondenzpartner ideologisch überzeugen wollten. Einzelne Briefschreiber bezeichneten einen Teil ihrer Briefe sogar explizit als „Propaganda“.122 Gleichwohl dürften die Schreiber wohl kaum eine ideologische Botschaft vermittelt haben, mit der sie nicht grundle-gend selbst übereingestimmt hätten.123 Dagegen besteht kaum ein Zweifel, dass sie sich, um ihrer Botschaft mehr Nachdruck zu verleihen, durchaus der Übertreibung bedienten, beispielsweise durch Zeichnung eines besonders negativen Bildes der Sowjetunion.

Die Tagebücher liegen größtenteils als Kopien oder Abschriften vor, wobei sich die Provenienz der Dokumente oft nicht eindeutig klären lässt.124 Vor allem in den Fällen, in denen ausschließlich Abschriften vorliegen, stellt sich die Frage nach der Authentizität des Textes und der Genauigkeit der Übertragung. Was die Authenti-zität betrifft, kann in den meisten Fällen wohl ausgeschlossen werden, dass es sich um Fälschungen handelt. Auch wirken die Abschriften in der Regel, als seien sie gewissenhaft und mit großer Genauigkeit erstellt worden.125 Aus diesem Grund werden Abschriften in der vorliegenden Arbeit meist als gleichwertig mit Origina-len behandelt. Ausgenommen sind Fälle, in denen es Hinweise auf eine nachträgli-che Redaktion des Textes gibt.126

Veröffentlichte Feldpostbriefe und Artikel stellen als Quellen ein besonderes Problem dar, da sie stets Propagandazwecken dienten. Ganz abgesehen davon, dass die Briefverfasser selbst womöglich Dinge hinzudichteten oder übertrieben, um eine maximale Propagandawirkung zu erzielen, ist davon auszugehen, dass verein-zelt auch Texte vor der Veröffentlichung von Dritten bearbeitet wurden. Die Kern-botschaft der Briefe dürfte in diesen Fällen allerdings nicht wesentlich verändert worden sein, teils weil der Verfasser sonst womöglich protestiert hätte, teils weil man Gerüchte über derartige Manipulationen fürchtete, die die Wirkung der Pro-paganda geschwächt hätten. Nichtsdestotrotz ist bei der Verwendung dieser Quel-len große Vorsicht geboten.

Die Erlebnisse, Haltungen und Verhaltensweisen der Freiwilligen lassen sich häufig auch indirekt aus nichtbiografischen Quellen rekonstruieren. Kriegstage-bücher, Meldungen, Befehle, statistische Aufstellungen und SS-interner Schriftver-kehr verraten häufig viel über die Situation an der Front, die Stimmung unter den Soldaten und ihre Reaktionsmuster.127 Das Gleiche gilt für Dokumente, die im Zu-sammenhang mit der Feldpostzensur entstanden. Die sogenannte SS-Feldpost-prüfstelle und ihre Unterabteilungen waren nicht nur dafür verantwortlich, die Feldpost zu lesen und zu zensieren, sondern sie hatten auch, basierend auf dem Inhalt der Briefe, Berichte über die Stimmung und Haltung der Soldaten zu verfas-sen. Diese Berichte und die zugehörige Korrespondenz sind eine wichtige Ergän-

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28 EINLEITUNG

zung der übrigen Quellen.128 Ermittlungsunterlagen und juristische Dokumente der Truppenteile sowie der SS- und Polizeigerichte enthalten ebenfalls oft Informa-tionen zur Situation und zu den Gedanken und Reaktionen der Freiwilligen.129 Gleiches gilt für die Zeugenaussagen und beschlagnahmten Dokumente in den Er-mittlungsakten für die Landesverratsprozesse nach dem Krieg.130

Aufbau

Ziel der der ersten beiden Kapitel ist es, überblicksartig die Hintergründe der wei-teren Darstellung zu beleuchten, wobei hauptsächlich auf die existierende For-schung und Literatur zurückgegriffen wird.

Kapitel 1 gibt eine Übersicht über Entstehung, Entwicklung, Charakter und Ideo-logie der SS, mit besonderem Augenmerk auf der Waffen-SS und der Rekrutierung sogenannter germanischer Freiwilliger. Eine zentrale Frage lautet hier, welche Pläne und Absichten der SS-Rekrutierungspolitik im besetzten Westeuropa zugrunde lagen und wie diese die Rekrutierungspolitik bestimmten. Wie sich zeigt, verfolgte die SS mit den Rekrutierungen sowohl rassen- als auch machtpolitische Zielsetzun-gen. Ein wichtiges Ziel dabei war, die Freiwilligen durch den Kriegsdienst zu Vor-kämpfern der SS und ihrer Vision eines „großgermanischen Reiches“ zu erziehen.

Kapitel 2 betrachtet die Rekrutierungsaktivitäten der Nasjonal Samling. Einlei-tend wird diskutiert, warum und inwieweit Quisling und seine Partei die deutschen Besatzer bereitwillig militärisch unterstützten. Im Anschluss werden nacheinan-der die Hauptphasen der Rekrutierung norwegischer Kriegsfreiwilliger beschrie-ben. Die Darstellung zeigt die teils unvereinbaren Interessen und Ziele von Nasjo-nal Samling und SS auf, aus denen zunehmend Spannungen erwuchsen. Diese Gegensätze sind für das Verständnis der späteren Reaktionen der Freiwilligen uner-lässlich.

In Kapitel 3 beschäftigen wir uns näher mit der Frage, weshalb Norweger frei- willig in den Dienst der Deutschen traten. Dazu wird zunächst mithilfe der existierenden Forschung der soziale, geografische und politische Hintergrund der Freiwilligen beleuchtet. Anschließend werden die Hauptphasen der Rekrutie-rungspropaganda untersucht, um zu zeigen, auf welche Anreize die Freiwilligen ansprachen. Es folgt eine Analyse der wichtigsten Motive, die die Freiwilligen zu ihrer Entscheidung veranlassten. Dabei zeigt sich, dass die große Mehrzahl der Freiwilligen sich primär aus politisch-ideologischen Gründen meldete und Sympa-thie für den Nationalsozialismus in der Regel eine notwendige Voraussetzung dafür war, sich anwerben zu lassen. Im Rahmen der Analyse wird auch untersucht, wie diese Sympathie im Detail beschaffen war, welche Erwartungen die Freiwilligen an den bevorstehenden Kriegsdienst hatten und inwiefern sie sich zum Zeitpunkt der Rekrutierung der Ziele des Krieges und ihrer eigenen Rolle darin bewusst waren.

Kapitel 4 behandelt die Ausbildung, die norwegische Freiwille während ihres Kriegsdienstes durchliefen. Dazu werden zunächst die Ziele der Ausbildungs- und

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29AUFBAU

Erziehungsmaßnahmen in der Waffen-SS und die eingesetzten Mittel umrissen. Anschließend werden die Anpassungsmaßnahmen thematisiert, mit denen man allgemein die Integration „germanischer“ Freiwilliger zu verbessern hoffte, bevor schließlich die Perspektive verengt und das norwegische Kontingent in den Blick genommen wird. Dargestellt wird zunächst die reguläre Rekrutenausbildung der Norweger in den verschiedenen Truppenteilen und Ausbildungslagern. Danach wird die Ausbildung der Offiziere und Unteroffiziere dargestellt, besonders die Führerlehrgänge an den sogenannten SS-Junkerschulen. Durchgängig liegt ein be-sonderes Augenmerk auf der Frage, wie viel Aufmerksamkeit jeweils der militäri-schen Ausbildung und der ideologischen Erziehung gewidmet wurde. Übergeord-netes Ziel des Kapitels ist es, die mentale Formung des Individuums im Vorfeld des eigentlichen Fronteinsatzes nachzuvollziehen.

Kapitel 5 konzentriert sich auf die Erlebnisse der Kriegsfreiwilligen in den be-setzten Gebieten in Ost- und Südosteuropa und an der eigentlichen Ostfront. Dabei zielt die Darstellung nicht darauf ab, sämtliche Aspekte des Frontalltags der Frei-willigen erschöpfend zu analysieren. Vielmehr soll skizziert werden, wie verschie-dene Gruppen auf die Realität in den von Deutschland besetzten Gebieten und das Frontleben reagierten, um so zu erklären, wie das Zusammenwirken von Erwartun-gen, Vorurteilen, sozialem Druck, Disziplinierung, bewusster Beeinflussung und praktischen Erfahrungen die Einstellungs- und Reaktionsmuster der Freiwilligen beeinflusste. Eine wichtige Erkenntnis lautet hier, dass der Dienst an der Front Möglichkeiten zur wirkungsvollen Vermittlung der Leitbilder und Ideale eröffnete, die die SS-Führung in den Freiwilligen verankern wollte. Gleichzeitig wurden die Motivation und Überzeugung der Norweger durch die enorme Belastung – in Kom-bination mit erlebten Enttäuschungen – auf die Probe gestellt. Um Einstellung und Verhalten der Soldaten zu beeinflussen, bedienten sich die SS und andere deutsche Akteure diverser Instrumente zur Integration, Ideologisierung, Motivation, Diszip-linierung und Kontrolle. Auch diese werden in Kapitel 5 dargestellt. Außerdem wird gezeigt, welche Wirkung die an der Front und in den besetzten Gebieten ge-machten Erfahrungen auf Haltung und Verhalten der Soldaten hatten. Die genann-ten Punkte bilden eine wichtige Grundlage für die weitere Untersuchung.

In Kapitel 6 erfolgt eine Analyse des Einstellungsspektrums der Freiwilligen an-hand der oben aufgeführten Quellen. Zunächst wird diskutiert, inwieweit verschie-dene Gruppen von norwegischen Freiwilligen das in der Waffen-SS vorherrschende militärische Werte- und Normensystem verinnerlichten. Danach richtet sich der Blick auf die politisch-ideologische Haltung der Freiwilligen. Ziel der Analyse ist es, abzuschätzen, in welchem Maß die Norweger die Leitbilder und Vorstellungen an-nahmen, die man ihnen mithilfe der ideologischen Erziehung zu vermitteln ver-suchte. In diesem Zusammenhang wird untersucht, wie sie sich zum Bild einer überlegenen „nordisch-germanischen“ Rasse respektive zu den einzelnen Grup-pen, die das Feindbild der SS umfasste, verhielten. Ebenfalls geklärt werden soll die Frage, inwieweit sich die Norweger im Laufe der Zeit stärker mit der „großgermani-schen“ Gemeinschaft als mit der norwegischen Nation identifizierten. Abschlie-ßend wird diskutiert, in welchem Maß und auf welche Weise sich bei den „Front-