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NR. 350 JULI 2021 FOKUS: MENSCH UND TIER SOLL DIESER AFFE MENSCHENRECHTE ERHALTEN? — Ein Dilemma S.8 Drei Hundeleben Auf welchen Umwegen neue Besitzer zu ihren Tieren kommen. S. 24 Im Gespräch — Die israelische Soziologin Eva Illouz schimpft über ihr Land. S. 50

SOLLDIESER AFFEMENSCHENRECHTE —EinDilemma überihrLand. · nissen sei, hörtBaumeyer das nicht gern. Gerade muss der Kurator wegen der Initiative von Sentience Poli-tics wieder

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NR. 350 JULI 2021

FOKUS: MENSCH UND TIER SOLL DIESERAFFE MENSCHENRECHTEERHALTEN? — Ein Dilemma S.8

Drei Hundeleben—Auf welchen Umwegenneue Besitzer zu ihrenTieren kommen. S.24

Im Gespräch—Dieisraelische SoziologinEva Illouz schimpftüber ihr Land. S.50

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Eine kleine Initiativestellt grosse Fragen. Sie zwingtuns, unser Verhältnis zu Tierenzu überdenken.

Patric ist ein Greis, er ist zu dünn, hat Haarausfall –und er könnte am Anfang einer Revolution stehen.Früher war er ein ausgezeichneter Turner, er liebte es,sich durch die Luft zu schwingen. Aber jetzt ist erimmer müde. Wenn es Patric nicht gutgeht, sitzt erteilnahmslos auf seinem Lieblingsplatz und lässt dieBeine baumeln. Zwei Mal war er dem Tod schon nahe.Er legte sich hin und bekam Schmerzmittel.

Seine Töchter Estrella und Feliz wollten damalsnicht, dass ein Arzt ihren Vater untersucht. Sie wei-gerten sich, den Doktor zu ihm zu lassen, und nahmenalleine Abschied. Patrics Betreuer verschickten einePressemeldung, in der stand, er werde bald sterben.Das war eine Nachricht wert, Patric ist aussergewöhn-lich alt.

Seither sind zehn Jahre vergangen, und Patric lebtnoch immer. Er ist der Chef seiner kleinen Familie,ein stoischer Alter, freundlich und ruhig. Er ist nienachtragend, auch wenn einmal das Frühstück zu spätserviert wird. Patric hat schon zu viel erlebt, um sichaufzuregen.

Patrics Vorfahren kommen aus dem NordostenBrasiliens, er selber ist nie dort gewesen. Er wurde1984 in Holland geboren und kam weit herum, lebtezuerst in Schweden, später in Belgien. Patric gerietaber immer wieder in Streitereien mit Kollegen. 2003kam er nach Basel. Hier lernte er seine Freundin Mop

SOLLEN WIR PATRICMENSCHENRECHTE

GEBEN?

TEXTFLURIN CLALÜNA UND

ALINE WANNER

BILDERYVES BACHMANN

kennen. Es war zunächst eine schwierige Beziehung,Mop war kratzbürstig und erlitt mehrere Fehlgebur-ten. Nach drei Jahren kamen die ersten Kinder auf dieWelt, inzwischen sind es neun. Alle sind schon wie-der ausgezogen, bis auf die Töchter Estrella, 14jährig,und Feliz, 13jährig. Sie meinen es gut mit ihm. Amliebsten lässt er sich von ihnen den Rücken kraulen.Vor einem Jahr ist Mop gestorben, und falls Patrictraurig gewesen sein sollte, hat man es ihm nicht an-gemerkt.

Patric ist ein kleiner Affe und lebt im Zoo Basel.Der Weisskopfsaki ist heute 37 Jahre alt.

Auch wenn die Menschen ihn gut behandeln under in der Wildnis wohl früher gestorben wäre, Patricbleibt unser Gefangener. Das Verhältnis zwischenMensch und Tier ist kompliziert und widersprüchlich.

Vielleicht wird Patric noch erleben, wie er etwaserhält, was die Welt auf den Kopf stellen würde:Grundrechte. So, wie sie die Verfassung Menschengewährleistet. In Basel-Stadt kommt im Herbst oderspätestens im nächsten Frühjahr eine Initiative zurAbstimmung, die Grundrechte für Primaten fordert.Zu diesen gehören neben dem Menschen selbst auchAffen wie die Weisskopfsakis oder Makaken undMenschenaffen, also Schimpansen, Orang-Utans,Gorillas. Sie alle sollen in Zukunft das Recht auf Le-ben und körperliche und geistige Unversehrtheit

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Weisskopfsaki Patric lebt im Basler Zoo und ist Chef seiner kleinen Familie.

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haben. Lanciert hat die Initiative «Sentience Politics»,eine kleine Organisation, die sich seit 2013 in derSchweiz für ein grosses Ziel einsetzt: «eine diskrimi-nierungsfreie und tierfreundliche Gesellschaft».

Der politische Think-Tank sorgte schon mehrmalsfür Aufregung. Die Aktivisten forderten etwa einveganes Gericht in öffentlichen Kantinen. Geradewollen sie die Massentierhaltung in der Schweiz ab-schaffen. Mit der Primaten-Initiative lässt SentiencePolitics erstmals eine abstrakte und alte Idee aus derTierphilosophie auf die breite Bevölkerung prallen.

Die Anfänge der Tierrechtsbewegung gehen zu-rück in die Zeit der Aufklärung und wurden im21Jahrhundert modernisiert. 1993 haben bekannte

Philosophen im Rahmen des «Great Ape Project»Grundrechte für Menschenaffen gefordert. Die kan-tonale Volksinitiative macht das Anliegen zum erstenMal konkret – und für manche bedrohlich. Sie ver-langt, was wir nicht gern tun: unsere Handlungen zubegründen und unsere Gewohnheiten zu überdenken.

Die Abstimmung trifft den Zeitgeist, zumindest ineinem urbanen, grünen Milieu. Die Zahl der Vegeta-rier in der Schweiz nimmt von Jahr zu Jahr zu, derglobale Markt für Fleisch- und Milchersatzproduktewächst rasant, viele Leute beschäftigt das Tierwohl,die Massentierhaltung und ihre drastischen ökologi-schen und ethischen Folgen. Die Schweizer essenimmer weniger Fleisch, im vergangenen Jahr warenes aber immer noch 440 000 Tonnen, 51 Kilogrammpro Person. Weltweit steigt der jährliche Pro-Kopf-Konsum von Fleisch stetig und liegt heute im Durch-schnitt bei 43 Kilogramm. Entsprechend nimmt auchdie Zahl der gehaltenen Tiere zu. Die Fleischindustriemeldet Rekordumsätze. Es geht in dieser Frage nichtnur um Moral, sondern auch um Milliarden.

Grundrechte für Tiere sind ein Anliegen, dasstarke Emotionen auslöst, bei Befürwortern und Geg-nern. Die Initiative von Sentience Politics wird schonjetzt kontrovers diskutiert, selbst wenn sie womöglichkeine einzige konkrete Konsequenz hätte. In den Bas-ler Labors der Universität und der grossen Pharma-firmen werden seit Ende 2018 keine Primatenversu-che mehr durchgeführt − gerade für die Unternehmenist es oft einfacher im Ausland. In Basel gibt es nurim Zoo noch einige Studien. Dort untersuchen Wis-senschafter aber bloss das Verhalten der Affen. So las-sen sich die 125 Versuche mit Primaten im Kanton er-klären, die in der neuesten Tierversuchsstatistik desBundes von 2019 auftauchen. Den Tieren werden inden Experimenten keine Schmerzen zugefügt. Patricmerkt nichts davon, falls er hin und wieder in einer

Das Erbgut von Mensch undSchimpanse stimmt zu 98,5 Prozentüberein. 1,5 Prozentpunkte entscheiden,wer im Käfig sitzt und wer davorsteht.

wissenschaftlichen Arbeit auftaucht. Aber auch wenndie Annahme der Initiative nichts veränderte, würdesie doch alles verändern. Sie wäre ein Zeichen dafür,dass wir unser Verhältnis zu Tieren fundamental über-denken müssen.

Radikal und weltfremd − aber stimmt das?Wenn Meret Schneider die Welt neu erfinden

könnte, wäre sie eine andere: frei von Ställen, in denensich Schweine drängen, frei von Hunden in Stadtparksund Katzen auf kleinen Balkonen, frei von Tierlabors,in denenMäuse bluten, und Zoos, in denen sich Affenin ihren Käfigen langweilen. Vielleicht gäbe es nochein paar Bauernhöfe auf dem Land, in den Bergen, woKühe und Hühner in einer Art Symbiose mit demMenschen leben, so idyllisch wie in Kinderbüchern.Meret Schneider ist Nationalrätin der Grünen, 29jäh-rig, sie ist Leiterin Politik bei Sentience Politics undhat die Primaten-Initiative mitentworfen. Sie lebtvegan, fliegt nicht und sucht in Abfalleimern nachEsswaren. Man sagt über Schneider, sie sei radikalund weltfremd. Aber stimmt das?

Meret Schneider kennt den Affen Patric nicht, siewar schon lange nicht mehr in einem Zoo. Sie sagt:«Ob Patric betroffen ist oder nicht, darüber werdensich die Leute im Abstimmungskampf die Köpfe ein-schlagen. Aber diese Diskussion ist für mich vernach-lässigbar.» Es geht Schneider um die Veränderung desBewusstseins der breiten Masse, die Primaten sind danur der Anfang. «Es soll zum ersten Mal eine nicht-menschliche Spezies Rechte bekommen.» Das Anlie-gen beschränkt sich auf Primaten, weil es sonst po-litisch noch weniger Chancen hätte. Und sich derUnterschied zwischenMensch und Tier in diesem Fallbesonders schwer begründen lässt.

Das Erbgut von Mensch und Schimpanse stimmtzu 98,5 Prozent überein. 1,5 Prozentpunkte Abwei-chung entscheiden darüber, wer im Käfig sitzt und werdavorsteht, wer getötet wird und wer tötet. 80 Milliar-den Tiere schlachten Menschen weltweit jedes Jahr.Alleine in der Schweiz sind es 80 Millionen Hühner,Schweine, Kaninchen, Rinder.

Ist es radikal, daran etwas ändern zu wollen? Oderist es radikal, so weiterzumachen? Wer liegt falsch indiesem Dilemma, dass wir einige Tiere lieben und an-dere essen, manchmal auch beides gleichzeitig? MeretSchneider wundert sich, wie man an einem Poulet-schenkel nagen, die Katze streicheln und sich darüberempören kann, dass die Chinesen Hunde grillieren.Sie findet es nicht nur fragwürdig, wie ungleich undzufällig wir unser Mitgefühl auf die Tiere verteilen.Sie ist auch der Ansicht, dass keine eindeutige Gren-ze zwischen Mensch und Tier bestehe. Der Unter-schied sei nicht absolut, sondern graduell.

Aber gibt es denn gar keine Grenze zwischenMen-schen und Tieren? Schneider sagt: «Ich finde auchnicht, dass eine Ratte denselben Wert hat wie ein Pri-mat.» Es gehe darum, was ein Lebewesen empfindenkönne und was es wahrnehme. «Darf ich eine Mücketöten, bevor sie mich sticht? Dann muss man halt ab-wägen: ein Stich gegen das Leben eines Insekts.»

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Wie werden Menschen in hundertJahren darüber denken, dass wir Tierein Käfige sperren?

Je nachdem, auf welcher Seite man in dieser Dis-kussion steht, werden Unterschiede zwischen Men-schen und Tieren kleingeredet und Gemeinsamkeitenbetont oder umgekehrt. Es gibt viele Gründe, Tiereanders als Menschen zu behandeln: die religiös ge-prägte Vorstellung, Menschen seien die Krone derSchöpfung. Die Tatsache, dass Tiere keine Pflichtenwahrnehmen, nicht vernünftig handeln, sich keine Ge-danken um die Zukunft machen und nicht sprechenkönnen. Die Vorstellung, dass Tiere ein anderes Be-wusstsein haben als Menschen und deshalb eine an-dere Empfindung psychischen Leidens.

Tierrechtler hingegen argumentieren anders, unddas schon sehr lange. Der englische Jurist und Philo-soph Jeremy Bentham schrieb 1789 über Tiere: «DieFrage ist nicht, können sie denken, können sie spre-chen. Die Frage ist: Können sie leiden?» Wenn es dieLeidensfähigkeit ist, an der sich bemisst, wie wir mitanderen Lebewesen umgehen, fällt der kategorischeUnterschied zwischen Mensch und Tier. Aber dieserGedanke befremdet viele Menschen. Meret Schneiderspricht von einer «darwinistischen Kränkung». Siemeint damit eine menschliche Urangst, nicht mehreinzigartig zu sein.

Tierrechtsaktivisten wie Meret Schneider nennenunseren Umgang mit Tieren Speziesismus und stellenunser Verhalten damit in die Nähe von Rassismus undSexismus. Der Mensch fühle sich legitimiert, andereSpezies zu diskriminieren, weil sie nicht seiner Artangehörten. Geprägt hat den Begriff der umstritteneaustralische Moralphilosoph Peter Singer. Er ist einerder Gründer der modernen Tierethik. 1975 hat er dasBuch «Animal Liberation» veröffentlicht, so etwaswie die Bibel der Tierbefreiungsbewegung. Singerschreibt darin, die Ungleichbehandlung von Men-schen und Tieren sei willkürlich.

So hält Singer Tierversuche nur dann für zulässig,wenn wir uns vorstellen könnten, sie auch mit Men-schen durchzuführen. Es gibt Säugetiere, die ausge-prägtere kognitive Fähigkeiten haben als Behinderte

oder Babies. Wie aber können wir dann Experimentemit den einen zulassen, wenn wir sie bei den anderenablehnen?

Singer geht noch weiter. Er vertritt die These, dasses legitim sein könne, schwerbehinderte Säuglinge zutöten. Seine Kritiker werfen ihm deshalb geistigeNähe zum Nationalsozialismus vor. Er begründet sei-ne Haltung so: Die meisten Ärzte wären bereit, dasBeatmungsgerät abzustellen, wenn ein Frühgeborenesso massive Hirnblutungen habe, dass es nie einenanderenMenschen erkennen werde. Wenn das gleicheKind aber schon selber atme, lehne man es ab, ihm

eine Spritze zu geben, um es zu töten. Für Singer istdas nicht nachvollziehbar. In beiden Fällen treffe manein Urteil über das Leben des Kindes. Vor allem Be-hindertenverbände fühlen sich von Singer provoziert.

Wer wie Singer unsere moralischen Vorstellungenradikal hinterfragt, muss damit rechnen, dass er Un-behagen bei den Leuten auslöst. Mit der Frage, obTiere Grundrechte bekommen sollen, geschieht genaudas: sie irritiert.

Aus Menschen Tiere machenMarkus Schefer ist Professor an der Universität

Basel, er ist 56 Jahre alt und befasst sich seit mehr alsder Hälfte seines Lebens mit den Grundrechten. Siegehen zurück auf die englische Magna Carta, eine Ur-kunde aus dem 13. Jahrhundert, die zum ersten Maldie Macht des Königs beschränkte. Geprägt vom Ge-danken der Aufklärung, war es die französischeNationalversammlung, die 1798 die Erklärung derMenschen- und Bürgerrechte verabschiedete: einDokument, das die Rechtsstellung des Einzelnen ele-mentar verbesserte, das den Bürgern Ansprüche aufFreiheit, Eigentum, Sicherheit oder das Recht auf Wi-derstand zusicherte.

Grundrechte sind das Ergebnis einer Revolutiondes Volkes gegen die Obrigkeit, sie bilden heute auchdas Herz der modernen Schweizer Verfassung. Sollenwir diese vonMenschen für Menschen im Zeichen derVernunft errungenen Rechte ausgerechnet auf Tiereausweiten? Affen von Sachen zu Subjekten des Rech-tes machen?

Markus Schefer wartet für einen Spaziergang vordem Eingang des Zoos in Basel. Er muss sich nicht indie Schlange vor dem Ticketschalter stellen, er hat einAbo. Seine Töchter sind zwar volljährig, aber manch-mal kommen sie noch immer als Familie hierher. DerZoo ist eine gesellschaftliche Institution in der Stadt,über 200 Jahre alt und beliebt wie kaum eine andereFreizeitattraktion. Mehr als eine Million Besucheregistrierten die Betreiber im Jahr vor Ausbruch derPandemie, so viele wie noch nie.

Ob die Affen im Zoo überhaupt von der Volks-initiative von Sentience Politics betroffen wären, dar-über streiten die Juristen. Das Bundesgericht hat imvergangenen Jahr über die Zulässigkeit des Volks-begehrens beraten. Die Richter kamen zum Schluss,private Forschungseinrichtungen und der als privat-rechtliche Aktiengesellschaft organisierte Zoologi-sche Garten seien «nicht bzw. jedenfalls nichtunmittelbar» an Grundrechte gebunden. Keine Aus-wirkungen also für die Tiere im Affenhaus?

Grundrechtsexperte Schefer schlendert an denOrang-Utans und Schimpansen vorbei, wo Kinderihre Nasen an die Glasscheiben drücken und den Tie-ren beim Leben zusehen. «Ein bisschen befremdlichist das halt schon», sagt er. «Warum sollen die Affenim Gehege sein?» Bei denWeisskopfsakis bleiben wirstehen und suchen den Greis Patric, der sich sachte,vom Blick der Zuschauer unbehelligt, von einem Astzum nächsten hangelt. Was würde es bedeuten, wenner Grundrechte hätte? «Natürlich hätte so ein Volks-

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entscheid Auswirkungen auf den Zoo», sagt Schefer.Der Staat habe Schutzpflichten gegenüber jedem Indi-viduum, sowohl in einem öffentlichen Labor der Unials auch in einem privaten Zoo.

Wäre das Recht auf körperliche und geistige Un-versehrtheit von Patric gewahrt im Gehege, in dem erjetzt lebt? Was, wenn man den Affen töten müsste,weil er leidet? Wäre das vereinbar mit seinem abso-luten Recht auf Leben? Und wie würde die Situationaussehen, wenn nicht mehr nur Primaten, sondernauch alle anderen Tiere Grundrechte hätten?

Die Initiative wirft mehr Fragen auf, als dass sieAntworten liefert, und genau das mag Markus Sche-fer. «Wir sollten nachdenken, bevor wir abwehren undständig über Ressourcen oder Praktikabilität spre-chen.» Grundrechte auf Tiere auszudehnen halte er«grundsätzlich für eine gute Idee», weil sich so ihreLebensqualität verbessern könnte. Entscheidend seiin dieser Frage nicht das Wesen, also ob Patric ver-nünftig sei oder Verantwortung für sein Handeln

übernehmen könne, entscheidend seien die Konse-quenzen: Was es bewirken würde, wenn Tiere Grund-rechte hätten und ob wir das als Gesellschaft wollten.

Markus Schefer sieht in der Initiative aber aucheine Gefahr. Sie ergebe sich in Zusammenhang mitdem Behindertenrecht, auf das sich der Professor spe-zialisiert hat. «Es ist uns allen leider viel zu wenig be-wusst, dass Menschen mit einer Behinderung ihreGrundrechte bis heute nicht oder nur sehr einge-schränkt wahrnehmen können.» Der Kampf dieserMenschen für Gleichberechtigung, glaubt Schefer,werde noch viel schwieriger, wenn Tierrechtsaktivis-ten wie Peter Singer sie mit ihren Argumenten in dieNähe von Affen rückten. «So macht man aus Men-schen mit einer Behinderung noch mehr, was sieschon sind: Menschen zweiter Klasse.»

Der Spaziergang durch den Zoo endet bei den Fla-mingos und führt in die Vergangenheit. Wo heute diecrevettenfarbenen Vögel baden und schreien, erinnertMarkus Schefer daran, dass hier früher Völkerschauenstattgefunden hätten. Vor über hundert Jahren zeigteder Zoo etwa «die Singhalesen»: zwölf Elefanten undfünfzig Menschen aus Ceylon, dem heutigen SriLanka. Ägypter spielten für die Zuschauerinnen undZuschauer Krieg. Mit «Lippen-Negerinnen aus Zen-tralafrika» lockten die Betreiber 1932 noch einmal

Der Kurator des Zoos hat Angst umseine Affen. Unbegründet ist sie nicht.

Yves Bachmann hat für NZZ FolioTiere und Tierprodukte im Zürcherund Basler Zoo und in den Auslagenvon Globus fotografiert. Oben Amur-tiger in Zürich, unten Trockenfleisch.

Menschen mit Menschen und setzten sie so exotischenTieren gleich. Aus heutiger Perspektive wirken dieVölkerschauen, in denen die Grenze zwischen Menschund Tier verschwamm, entwürdigend und bizarr, siesind Ausdruck von Rassismus. Aber wie werden dieMenschen in hundert Jahren darüber denken, dass wirTiere weit weg von ihrer natürlichen Umgebung inKäfige sperren? Lernen wir tatsächlich mehr über sieund die Natur in fernen Ländern? Oder nehmen wiruns einfach ein Recht, das wir gar nicht haben?

Am Ende spielt es für die Tiere keine Rolle, war-um wir sie einschliessen. Sie sind gefangen. Wenn wirdas akzeptieren, zählt nur noch, dass es ihnen mög-lichst gut geht. Das ist die Logik des Zoos.

Adrian Baumeyer sitzt auf einer Parkbank, imAussengehege turnen drei Affen. Der Biologe arbeitetseit neun Jahren als Kurator im Basler Zoo. Baumeyerschaut den Tieren zu und fragt: «Sehen Sie, wie sieleiden?» Es ist eine rhetorische Frage. Wenn Zoo-Kri-tiker sagen, wie unwohl es den Affen in ihren Gefäng-nissen sei, hört Baumeyer das nicht gern. Gerade mussder Kurator wegen der Initiative von Sentience Poli-tics wieder oft erklären, wie im Zoo Basel die Affengehalten werden. Das Anliegen der Tierschützer seinicht zu Ende gedacht. Ein philosophisches Gedan-kenspiel, das die Realität der Tiere vernachlässige.Baumeyer hat Angst um seine Affen.

Ganz unbegründet ist diese Angst nicht. Wenn esein absolutes Recht auf Leben gäbe, dürfte Baumey-er einen Affen dann noch einschläfern, wenn dieserleidet? Adrian Baumeyer fragt: «Was hat ein Tier da-von, wenn man ihm Rechte gibt? Nichts, gar nichts.»Wenn Baumeyer durch seine Zooanlage geht, sieht erzufriedene Tiere. Gegner argumentieren: Artgerechtkönne ein Tier nur in Freiheit leben. Baumeyer findet,ein im Zoo geborener Affe könne die Freiheit garnicht vermissen, weil er sie nie kennengelernt habe.

Tiere lieben, Tiere tötenAn einem Juniabend fährt Marco Burgener, 36jäh-

rig, ein kräftiger Mann mit starken Unterarmen, miteinem weissen Pick-up auf seinen kleinen Bauernhofweit weg von der Stadt. Über die Wiese laufen ein paarschnatternde Enten, in einem ausrangierten Eisen-bahnwagen sitzen die Hasen und warten, bis sie ge-füttert werden.

Vor ein paar Jahren hatte Burgener ein grosses Pro-blem. Jetzt hat er keines mehr.

Sechs Monate lang hat Burgener im Schlacht-betrieb Zürich AG gearbeitet, gleich beim Fussball-stadion Letzigrund, mitten in der Stadt. Vor vier Jah-ren hat er gekündigt und von einem Tag auf denanderen zu arbeiten aufgehört. Burgener war immer

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gern Metzger. Aber das Massentöten im Schlachthaushat er irgendwann nicht mehr ausgehalten, 2000Schweine und 400 Kühe an einem Tag. Und am nächs-ten Morgen holte er die nächsten Tiere aus dem Stallund trieb sie wieder in den Schlachtkanal. «Wie wirdort mit den Tieren umgehen, hat mir auf die Psychegeschlagen.» Wie sie mit dem Wasserschlauch abge-spritzt werden, damit sie sich bewegen, wie sie in Stressgeraten − und wie sie dann mit einem Bolzenschuss be-täubt und im Akkord getötet werden. Heute hat Burge-ner eine andere Arbeit. Es geht ihm jetzt besser.

Marco Burgener heisst eigentlich anders. Ermöchte anonym bleiben, weil er zwischen den Fron-ten steht: Er ist Jäger und hat Angst, dass Aktivistenihm die Autopneus aufstechen oder die Hochsitze imWald ansägen. Gleichzeitig macht sich Burgener mitseiner Kritik an der Fleischindustrie unbeliebt. Dasist eine mächtige, einflussreiche Interessengruppe.«Niemand, der in der Branche tätig und auf den Jobangewiesen ist, traut sich, den Mund aufzumachen.»Der Druck auf die Mitarbeiter sei enorm, sagt Burge-ner. Im Schlachthof gebe es eine Art Schweigegelübde.Keiner rede über die verstörenden Bilder, über die auf-gehängten Tierleichen und die Angst und den Stress.

Nicht das Töten selber fiel ihm schwer, sonderndie Art des Tötens, das massenhafte, mechanischeTöten. Einmal stand er mit seinem Jagdgewehr imWald und zielte auf einen Rehbock. Er konnte nicht

abdrücken. Er sagte sich: «Jetzt habe ich den ganzenTag Tiere getötet, und am Abend soll ich nochmalseines erschiessen?» Als ihn einmal eine Aktivistin vordem Schlachthaus in Zürich ansprach und sagte, siekönne nicht akzeptieren, was hier geschehe, dachte er:«Du hast recht.» Aber sagen konnte er das damalsnoch nicht.

Zehn Grossbetriebe schlachten in der Schweiz82 Prozent aller Tiere. In Zürich steht das fünftgrösstevon 500 Schlachthäusern. 270 000 Tiere werden hierjedes Jahr getötet. Für Journalisten bleiben die Türengeschlossen, keiner der Metzger darf Auskunft geben.Marco Burgener hingegen möchte reden. «Vielleichtändert sich etwas, wenn die Leute wissen, was hinterden Fassaden geschieht», sagt er. Eigentlich weissman schon lange, was dort passiert. Es gab Reporta-

Marco Burgener war gern Metzger.Aber das Massentöten im Schlachthaushat er nicht mehr ausgehalten.

o. Roter Vari in der Masoalahallein Zürich

u. Sushi

gen im Fernsehen, Zeitungsartikel und Berichte vonAktivisten über die Schlachtbedingungen. Aber wennjemand wie Burgener erzählt, wie er das Töten selbererlebt hat, ist das etwas anderes. Er hat Tiere gern.Aber er ist kein Aktivist und kein Vegetarier, er isstoft und viel Fleisch und kauft es auch im Coop oderin der Migros.

Marco Burgener ist so wie die meisten von uns.Mit einem Unterschied. Er kann, was wir nicht tunwollen und froh sind, es nicht tun zu müssen: ein Tiertöten. Er weiss, was im Verborgenen passiert.

Burgener war gut in seinem Job, er war ein leiden-schaftlicher Metzger, ein Tier richtig zu zerlegen seidas schönste Handwerk der Welt. Auf seinem Hof le-ben fünf Schweine und achtzig Kaninchen. Die Säuebringt er in ein Schlachthüsli in der Gegend, die Hasenmetzget er selber. Und ein paar tötet er gar nie, weiler eine besondere Beziehung zu ihnen hat, weil sie lus-tig oder schon alt sind. Die Rehe und Wildsäue, die erauf der Jagd erlegt, verarbeitet er zu Hamburgern undWürsten. Das meiste Fleisch behält er für sich und sei-ne Verwandten, einen kleinen Teil verkauft er anFreunde.

Burgener hat eine Lösung für sich gefunden, sei-nem moralischen Dilemma auszuweichen. Aber gibtes auch einen Weg, um das Dilemma aufzulösen?

In den Regalen der Grossverteiler stehen immermehr Tofusteaks, Würstchen aus Weizen, Burger ausErbsen. Das sind aber nur 2,5 Prozent der Gesamt-menge von Fleisch und Fleischersatzprodukten. Vielzu wenig, damit sich für die Tiere etwas verändert.

Die tatsächliche Ernährungsrevolution könnte ausdem Reagenzglas kommen.

Am 19.Dezember des vergangenen Jahres konntenGäste eines Restaurants in Singapur zum ersten MalChicken Nuggets bestellen, für die kein Huhn gestor-ben war. Die Köche boten Fleisch an, das nicht voneinem geschlachteten Tier stammte, sondern auseinem Bioreaktor, einem Behälter, in dem Tierzellenkünstlich gezüchtet werden. Ein paar Wochen zuvorhatte die Regierung in Singapur grünes Licht gegeben.Bis heute ist es das erste Mal, dass eine Behörde sol-ches Fleisch für den Verzehr durch Menschen zuliess.Gäste, die die Chicken Nuggets probiert hatten, sag-ten, sie würden genau gleich wie Hühnerfleischschmecken. Journalisten auf der ganzen Welt habendarüber berichtet.

Wenn sich die Technologie durchsetzt und mankünstliches Fleisch preisgünstig und in grossen Men-gen erzeugen wird, könnten sich unsere Essgewohn-heiten schnell verändern. Vielleicht sind wir die letzteGeneration, die Tiere tötet, um sie zu essen. Auf derganzen Welt sind über dreissig Start-ups daran, alle

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Pelikan im Basler Zoo mit Shrimps und Tintenfisch.

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Sorten von Laborfleisch herzustellen, Huhn, Schwein,Rind, Fisch und sogar Entenleber. Es ist bereits einvielversprechendes Geschäft, in das Unternehmer wieBill Gates oder Richard Branson investieren.

Es geht beim künstlichen Fleisch nicht nur um dasTierwohl, es geht auch um Umweltschutz. 15 Prozentder Treibhausgase werden auf die weltweite Fleisch-produktion zurückgeführt. Und der Fleischkonsumnimmt zu. Bis 2050 wird eine Verdoppelung erwartet,weil vor allem die Menschen in Entwicklungsländernmehr Fleisch essen werden.

Wenn wir aber dank künstlichem Fleisch aufhörenwürden, Tiere zu töten, um sie zu essen, wäre einWegaus einem Dilemma vorgezeichnet. Wir müssten aufnichts verzichten und könnten das Verhältnis zu Tie-ren einfacher neu definieren.

Der alte weisse Mann und die KatzenProfessor Peter V.Kunz geriet mit Anfang 50 in

eine kleine Midlife-Crisis, die ihm eine neue Welt er-öffnete. Der Jurist sitzt im Anzug in seinem Büro, inder Ecke steht eine Golftasche. Kunz war einmal An-walt, bevor er sich an der Universität Bern lange undausschliesslich mit Wirtschaftsrecht beschäftigte, mitBanken und Steuern und Aktien.

Vor ein paar Jahren begann sich Kunz für etwasNeues zu interessieren. Damals sei er «mit seiner Frauauf eine Trennung zugesteuert». Er musste sich plötz-lich damit beschäftigen, wer die geliebten KatzenMicki, Daisy und Beni bekommen sollte. Er merkterasch, dass es in diesem Rechtsbereich Lücken gibt.

Kunz sagt, anders als seine Frau sei er kein Tier-schützer oder Tieraktivist. Ihm gehe es nicht um «ani-mal rights», sondern um ganz konkrete Fragen: Waspassiert mit den Kühen, wenn ein Bauer konkursgeht?Was geschieht, wenn jemand seinem Hund Geld ver-erbt? Darf ein Arbeitnehmer zu Hause bleiben, wennseine Katze krank ist? In diesem Jahr publiziert er die

ersten Aufsätze dazu, im kommenden Jahr ein Buch.Seine Vorlesung ist gut besucht, für die Seminareinteressierten sich über hundert Studentinnen und Stu-denten – Plätze hatte Kunz keine zwanzig. Der Pro-fessor will die Ausbildung der Juristen verbessern undmehr Wissen über Tiere in die Gesellschaft bringen.

Kunz’ berufliches Interesse wirkt sich auch aufsein persönliches Verhalten aus. Er isst Fleisch, aberkeine Tierkinder, «weil ich es falsch finde, geboren zuwerden, um gleich wieder zu sterben». Gleichzeitigkann er sich eine Schweiz ohne Nutztiere nicht vor-stellen. Er sei nicht gegen Schlachtung, und es sei auchkomplett illusorisch zu glauben, ein Bauer würde einTier nur zur Freude halten. «Die Konsequenz eines

«Warum soll die Nestlé AGGrundrechte haben?» fragt ProfessorKunz. Warum nicht auch ein Affe?

Schlachtverbotes wäre, dass die Tiere gar nicht erstgeboren würden.» Peter V.Kunz bewegt sich gedank-lich irgendwo zwischen einem Aktivisten und einemFleischlobbyisten. Es sei entscheidend, sagt Kunz,dass auch «alte weisse Männer wie ich» sich für dieInteressen der Tiere einsetzten – quasi als Bindegliedzur Durchschnittsgesellschaft. Kunz sagt: «Ich bin einBub aus demMittelland, aus Dulliken. Wenn ich dortam 1.August darüber reden würde, kein Fleisch mehrzu essen, liefen alle davon.»

Was hält Peter Kunz davon, einem Affen Grund-rechte zu geben? Der Professor antwortet mit einerGegenfrage: «Warum soll die Nestlé AGGrundrechtehaben?» Dass man etwa juristischen Personen dieWirtschaftsfreiheit zugestehe, ist für Kunz ein gutesArgument, auch Primaten zu Rechtssubjekten zu ma-chen. Allerdings fragt er: «Warum dann nicht gleichalle Tiere?» Kunz hat Sympathien für das Anliegenvon Sentience Politics, aber er hegt auch Zweifel: «DieInitiative ist sehr theoretisch und weit weg von derSchweizer Durchschnittsbevölkerung.» Es bestehe dieGefahr, dass sie abgelehnt werde und die Diskussionum die Verbesserung der Stellung des Tieres in derGesellschaft dann wieder für viele Jahre verschwinde.

Kunz will lieber kleine Schritte machen, um dieGesellschaft zu sensibilisieren. Er erhebt vor allemeine Forderung: die «tieradäquate Auslegung» desRechtes. Kunz will, dass Tiere überhaupt berücksich-tigt werden. Oder, wie er sagt: «In dubio pro animale,im Zweifel für das Tier.» In der Wirklichkeit gelte oftdas Gegenteil, besonders wenn wichtige Interessen fürdie Menschen auf dem Spiel stünden.

Von Mäusen und MenschenAn das Töten hat sich Nicole Kirchhammer «auf

eine gewisse Weise» gewöhnt. Die 28jährige Moleku-larmedizinerin hat im vergangenen Jahr ihre Disser-tation abgeschlossen und dafür Labormäuse für Ver-suche gebraucht. Keines der Tiere lebt mehr. Längsthat die Forscherin in der hauseigenen ZuchtstationneueMäuse für neue Versuche bestellt. Kirchhammerträgt zwei Schichten Schutzkleidung, ihr langes blon-des Haar hat sie unter einer Haube zusammengebun-den. Wer das Labor betreten will, muss sich an stren-ge Hygieneregeln halten. So sollen die Tiere vorKeimen geschützt werden.

Im Untergeschoss des Universitätsspitals Basel istes heiss und riecht nach Streu. 18000 Mäuse lebenhier, in der grössten der fünf Tierstationen der Univer-sität. Sechs davon sitzen im Käfig, den Nicole Kirch-hammer aus einem der Regale hervorzieht. Die Wis-senschafterin hebt den Deckel hoch und nimmt eineMaus heraus. «Ich habe eine enge Beziehung zu Tie-ren», sagt Kirchhammer. «Und ich will, dass sie dasbeste Leben haben, das hier möglich ist.» Das Fell derMaus glänzt schwarz, noch kann Kirchhammer denTumor, der im Tier wächst, nicht ertasten. Die For-scherin hat den Mäusen Zellen unter die Haut ge-spritzt, die sich in den nächsten Tagen rasch vermeh-ren. Sie will herausfinden, wie man Krebs besserbehandeln kann. Dafür machen Kirchhammer und

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ihre Kollegen die gesunden Tiere erst einmal krank.Die Mäuse wurden gezüchtet, um für den Menschenzu sterben.

Würden wir nicht nur Primaten, sondern auchSchweinen und Katzen und Nagetieren und Fischenein Recht auf Leben und körperliche und geistige Un-versehrtheit zugestehen, wären Tierversuche generellin Frage gestellt. Das Wesen der meisten Tierversu-che liegt ja gerade darin, an einem Tierkörper etwasauszuprobieren, was man für Menschen für zu gefähr-lich hält. Das würde aber auch bedeuten: Die Behör-den könnten kaum mehr ein Medikament zulassen,weil Arzneimittel in Tieren getestet werden müssen.Dennoch sind es nicht nur radikale Aktivisten, dieTierversuche ablehnen. Viele Leute bestreiten derenNotwendigkeit, ohne eine schlüssige Antwort auf dieFrage zu geben, wie man etwa die Giftigkeit vonWirkstoffen oder die Reaktion des Immunsystemsausserhalb des Tieres testen könne. Oft lösen Tier-schützer das Dilemma, indem sie ignorieren, dass esein Dilemma gibt.

Während Metzger im Schlachthof Millionen vonHühnern und Schweinen für unsere kulinarischen Ge-lüste töten, machen die Forscher im Labor immer eineGüterabwägung: tierisches Leid gegen Nutzen für denMenschen. Tierversuche sind in der Schweiz nur er-laubt, wenn die Forscher nachweisen können, dass siemit keiner anderen Methode zur beabsichtigten Er-

Würden wir Nagetieren, Schweinen oderKatzen ein Recht auf Leben geben,wären Tierversuche in Frage gestellt.

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kenntnis gelangten – und dass diese Erkenntnis vongrundsätzlichem Nutzen für die Gesellschaft sei. DasLand hat im weltweiten Vergleich strenge Vorschrif-ten. Jeder Versuch wird von einer kantonalen Kom-mission überprüft.

Nicole Kirchhammer beschäftigt sich mit derGüterabwägung aber nicht nur, wenn sie das Gesuchfür die Bewilligung ausfüllt, sondern auch jeden Tagim Labor. «Niemandem macht es Freude, ein Tier lei-den zu sehen.» Wie stark ein Tier in einem Versuch

belastet wird, bemisst sich nach den Schweregraden0 bis 3. Die Mäuse von Nicole Kirchhammer sollennicht stark beeinträchtigt werden. Bevor die Tiere zusehr unter dem Tumor und seinen Folgen leiden könn-ten, schläfert Nicole Kirchhammer sie ein.

Kirchhammer ist Mitglied der Forschungsgruppevon Alfred Zippelius. Der 51jährige Arzt ist Onkologeund Tumorspezialist geworden, weil ihn als Medizin-student das Schicksal einer Leukämiepatientin so be-

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rührte. Sein ganzes Berufsleben schon kämpft Zippe-lius gegen die grosse gesundheitliche Bedrohungunserer Zivilisation. Jedes Jahr erkranken 42000Menschen in der Schweiz an Krebs, 17000 sterbendaran. Zippelius hat sich auf eine neue Art der Be-handlung spezialisiert, die besondere Hoffnungenweckt: die Immuntherapie. Dank ihr soll der Körperselbst Abwehrkräfte gegen einen Tumor entwickeln.

Auf manche Fragen, sagt Zippelius, finde er nur«im Mausmodell» Antworten. Deshalb hat er vor elfJahren – damals forschte er ausschliesslich an mensch-lichen Tumoren – ein Labor mit Tierversuchen aufge-baut. Der Aufwand sei gross gewesen, die Forschungist teuer, aber aus seiner Sicht notwendig. Zippeliusträgt einen weissen Kittel, er sitzt in seinem Büro imSpital mehrere Stockwerke über der Tierstation. ImAlltag arbeitet er nicht mehr viel mit Mäusen, dafürmit Menschen, die leiden und hoffen. Wären Tierver-suche verboten, könnte er keinen einzigen von ihnenso behandeln, wie er es heute tut. Dass sie sich leichtersetzen liessen, wie manche Tierschützer argumen-tieren, bestreitet Zippelius wie die meisten Forscher.Die Methoden hätten sich zwar in den vergangenenJahren stark weiterentwickelt, aber noch gebe es keineAlternative.

Die Arbeit von Zippelius’ Forschungsgruppe isteng verknüpft mit den Fragen, die sich dem Arzt imAlltag stellen. Komme etwa ein Patient mit Hautkrebs,der nicht mehr auf eine Therapie anspreche, weil derTumor resistent sei, könne er die Situation in der Mausnachstellen. «So können wir überlegen, wie wir einenPatienten vielleicht eines Tages behandeln können.»

Alfred Zippelius ist sich bewusst, dass er den Wertseiner Forschung jeden Tag über den Wert von Tier-leben stellt. «Das menschliche Wohl ist mir einfachwichtiger als jenes von Tieren. Ich kann nicht sagen,dass das ethisch ist. Es ist für mich richtig.» Zippeliusbeschreibt ein Gefühl, das vielen Leuten vertraut ist,das sie aber dennoch nicht so leicht begründen kön-nen: Der Mensch steht über dem Tier, und das ist inOrdnung. Aber ist es das wirklich?

Die schlauen VersuchsaffenValerio Mante weiss, was es heisst, Feinde zu

haben. Der Forscher konnte jahrelang nicht mehr tun,was für seine Arbeit entscheidend ist: Primaten trai-nieren. Tierschützer demonstrierten gegen seine Ver-suche und legten gegen die Bewilligung Rekurs ein.Während des Verfahrens vor Gericht hatte Mante vielZeit, sich zu überlegen, ob er seinen Job wirklich nochwolle, ob das alles einen Sinn habe. Er fand: ja. Manteist Neurowissenschafter, er hat an der ETH Physik stu-diert und später mehrere Jahre an der amerikanischen

Die grosse Mehrheit der 570 000Versuchstiere in der Schweiz sind Nager.Nur an der Universität Zürich werdenExperimente mit Affen durchgeführt.

Asiatischer Elefant im Zoo Zürichund Trüffel-Brie.

Stanford-Universität geforscht. Der 44jährige machthierzulande etwas Aussergewöhnliches. Die grosseMehrheit der 570 000 Versuchstiere in der Schweizsind Nager, Mante ist der Einzige an der UniversitätZürich, der belastende Versuche mit Affen durchführt.Es ist jene Art Experiment, von der Schreckensbilderkursieren: Affen mit verstörtem Blick, die Arme undBeine befestigt an Stangen, den Kopf zwischen Bret-tern eingeklemmt. Affen, die uns an uns selbst erin-nern, an Menschen, die schlau und sozial sind undrasch lernen.

Wer das Labor von Valerio Mante betritt, sieht einunauffälliges Gestell, in dem die Makaken-Männchen,die hier seit 2017 leben, während des Experiments sit-zen. Den Primatenstuhl haben Mante und sein Teaman die Bedürfnisse der Tiere angepasst. Anstatt ihreKöpfe zu fixieren, entwickelten die Forscher für dieAffen eine individuelle Maske, in die sie derzeit wäh-rend 10 Minuten täglich ihre Gesichter legen. Sohaben es Alan und Paul gelernt.

Valerio Mante will mit seinem Versuch an denAffen herausfinden, wie das menschliche Gehirnfunktioniert, zum Beispiel, wenn wir eine Entschei-dung treffen. Er möchte dazu beitragen, die Entste-hung psychischer Krankheiten wie Schizophrenie

oder Depression besser zu verstehen. Dafür müssendie Affen zuerst lernen, gewisse Aufgaben an einemBildschirm zu lösen: mit den Augen fixieren sie etwaverschiedenfarbige Punkte. Wenn sie das richtig ma-chen, bekommen die Affen zur Belohnung aus einemStrohhalm ihren Lieblingssaft.

Wasser haben die Forscher den Tieren am Morgennoch nie vorenthalten. Auch das wäre ein Ansporn,um sie zum Mitmachen am Versuch zu bewegen. AberMante hat bisher auf diese Methode verzichtet, zu-gunsten des Tierwohls. Er sagt: «Die gesellschaftlicheSensibilität hat sich verändert, ich möchte darauf ein-gehen.»

Valerio Mantes Versuche sind eigentlich zwei Ver-suche in einem: Er will einerseits Gedanken lesen ler-nen und andererseits die Affen dazu bringen, beimExperiment freiwillig mitzumachen. Mante hat dievier Makaken in einer Zuchtstation in Belgien gekauft,

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für 6000 Franken das Stück. Zwei von ihnen, Alanund Paul, waren besonders interessiert an den Versu-chen. «Alan ist super. Er lernt rasch und ist nichtgleich frustriert, wenn er einen Fehler macht», sagtMante. Auch Primaten haben einen Charakter.

Eine Pflegerin holt die Affen jeden Morgen ausdem 60 Quadratmeter grossen Gehege und bringt sieins Labor. Sie ist es auch, die mit den Tieren dortarbeitet. «Sie ist eher ihre Anwältin als die der For-scher», sagt Mante. «Wenn die Tiere nicht mehr wol-len, hören wir ohnehin sofort auf. Sonst sind sie amnächsten Tag nicht mehr bereit, mitzukommen.» Vale-rio Mante zeichnet die Versuche immer auf. In einemSitzungsraum stellt er seinen Laptop auf den Tischund spielt Videos ab, auf denen zu sehen ist, wie dieAffen üben, sich in den Primatenstuhl zu setzen.

Die Makaken sind noch immer in der Trainings-phase, sie lernen jeden Tag etwas Neues. Mante hofft,dass er Alan und Paul im kommenden Jahr operierenund ihnen einen kleinen Chip in das Hirn einsetzenkann, mit dem sich später die Hirnaktivität messenlässt. Der Eingriff findet unter Vollnarkose statt. Den-noch entspricht das Vorgehen Schweregrad 3, dermaximalen Belastung also. Was Mante macht, istallerdings nicht nur deshalb so umstritten.

Im Unterschied zu Onkologe Alfred Zippelius amUniversitätsspital Basel ist Valerio Mante mit seinerArt von Grundlagenforschung auf dem Campus Irchelsehr viel weiter von einer konkreten Therapie entfernt.

Er weiss nicht, ob die Resultate seiner Forschung einesTages zur Entwicklung einer Heilmethode beitragen,er weiss nur, dass sich seine Fragen ausschliesslichmit Affenversuchen beantworten lassen. Mante arbei-tet mit dem Anspruch, eine Disziplin zu objektivieren,in der bisher sehr viele Ursachen von Krankheiten ver-borgen blieben: die Psychiatrie. Der Forscher ist über-zeugt, dass seine Versuche wichtig sind. «Es gibt vieleBeispiele, bei denen sich rückwirkend zeigte, dass dieExperimente wichtige Erkenntnisse brachten, etwa beider Entwicklung von Parkinson-Medikamenten oderbei der Impfung gegen die Kinderlähmung.»

Valerio Mante spricht mit seiner Familie, seinenFreunden und Feinden offen über seine Arbeit und er-klärt ausführlich, was er macht. Regelmässig lädt er

Gibt es einen Unterschied zwischenMensch und Tier? Ja, sagt der Forscher.Aber er kann ihn nicht begründen.

Australien-Krokodil im Basler Zoound Wagyu-Beef.

Gäste an sein Institut ein. «Die meisten verstehenmeine Arbeit danach besser und sehen, was sie bringtund dass wir die Tiere gut behandeln», sagt er. Den-noch setzt auch Mante das Wohl des Menschen täg-lich und selbstverständlich über das Wohl des Tieres.Gibt es für ihn einen grundsätzlichen Unterschiedzwischen Mensch und Tier? «Ja», sagt Mante, «aberich kann das nicht rational begründen.»

Warum verhalten wir uns so, wie wir es tun? An-genommen, uns überlegene Ausserirdische würdendie Erde überfallen, uns gefangen nehmen, mit unsexperimentieren und essen − wären wir einverstandendamit, dass die Macht des Stärkeren gilt?

Sollen Affen Grundrechte bekommen? Vielleichtist es eine dieser Fragen, die wir zuerst einmal zu-lassen sollten, bevor wir sie verneinen.

Flurin Clalüna ist NZZ-Folio-Redaktor.Aline Wanner ist Redaktionsleiterin von NZZ Folio.

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