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[Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

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Springer-Lehrbuch

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Martin Treiber · Arne Kesting

Verkehrsdynamikund -simulation

Daten, Modelle und Anwendungen derVerkehrsflussdynamik

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Dr. Martin TreiberTU DresdenInstitut für Wirtschaft undVerkehrWürzburger Str. 3501062 [email protected]

Dr. Arne KestingTU DresdenInstitut für Wirtschaftund VerkehrWürzburger Str. 3501062 [email protected]

ISSN 0937-7433ISBN 978-3-642-05227-9 e-ISBN 978-3-642-05228-6DOI 10.1007/978-3-642-05228-6Springer Heidelberg Dordrecht London New York

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

c© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die derÜbersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, derFunksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherungin Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. EineVervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzender gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9.September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig.Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk be-rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne derWarenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermannbenutzt werden dürften.

Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg

Gedruckt auf säurefreiem Papier

Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)

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Vorwort

Verkehr bewegt die Menschen in vielfältiger Weise. Die Wissenschaft ist herausge-fordert, die beobachtbaren individuellen und kollektiven Effekte im Straßenverkehrzu beschreiben und zu verstehen. In jüngerer Zeit haben Beiträge aus verschiedenenFachbereichen für ein immer besseres Verständnis der Verkehrsdynamik gesorgt.Die Relevanz dieses interdisziplinären Gebiets wird in Zukunft für weitere Fort-schritte sorgen. Im Fokus stehen dabei mögliche Anwendungen, die von der Ent-wicklung neuartiger Fahrerassistenzsysteme bis zu immer präziseren Stauprognosenfür die dynamische Navigation reichen.

Mit diesem Lehrbuch liegt erstmals eine umfassende und didaktische Darstellungder Dynamik und Modellierung des Straßenverkehrs vor. Wir hoffen, dass dieses an-schauliche und faszinierende Gebiet, welches bisher nur in der englischsprachigenOriginalliteratur verfügbar war, damit einem breiteren Leserkreis erschlossen wird.

Im ersten Teil des Buches werden Methoden der Datenerhebung über das Ver-kehrsgeschehen, die die Grundlage jeder Modellierung bilden, vorgestellt. Derzweite Teil widmet sich den verschiedenen Ansätzen und Modellen zur Beschrei-bung des Verkehrsflusses. Diese basieren zum großen Teil auf Konzepten der Phy-sik – Vielteilchensysteme, Hydrodynamik und klassische Newton’sche Mechanik.Anwendungen wie die Verkehrslageschätzung, Ermittlung von Reisezeiten, Berech-nung des Kraftstoffverbrauchs und Verkehrsbeeinflussung werden im dritten Teildargestellt.

Das vorliegende Buch ist aus der Vorlesungs- und Übungstätigkeit an der Tech-nischen Universität Dresden hervorgegangen und richtet sich an Studierende undDoktoranden in den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen. Weiterhinsoll es Schülern und Lehrern, aber auch Ingenieuren in der Berufswelt einen Ein-blick in das Fachgebiet der Verkehrsflussmodellierung ermöglichen

Damit es dem Charakter eines Lehrbuchs gerecht wird, enthält es viele Übungs-aufgaben zusammen mit ausführlichen Lösungen. Sie sollen die selbständige Aus-einandersetzung mit dem Fachgebiet und das Verständnis fördern. Die vorgestelltenModelle eignen sich auch als Anwendungsbeispiele für Computersimulationen undnumerische Methoden.

Unser Dank gilt unseren Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Verkehrs-ökonometrie und -modellierung der TU Dresden, insbesondere Herrn Prof. DirkHelbing, für die zahlreichen wissenschaftlichen Anregungen in den vergangenen

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vi Vorwort

Jahren. Herzlich bedanken wir uns bei Marietta Seifert, Christian Thiemann undStefan Lämmer für die inhaltlichen Vorschläge und Korrekturen bei der Erstellungdes Manuskripts. Darüber hinaus haben Martina Seifert, Christine und HanskarlTreiber, Ingrid, Bernd und Dörte Kesting, Claudia Perlitius und Ralph Germ mit ih-ren wertvollen Hinweisen wesentlich zum Gelingen des Buches beigetragen. Auchdafür herzlichen Dank.

Dresden, Martin TreiberMärz 2010 Arne Kesting

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Teil I Verkehrsdaten

2 Trajektoriendaten und Floating-Car-Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72.1 Erfassungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72.2 Darstellung im Raum-Zeit-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

3 Querschnittsdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133.1 Mikroskopische Erfassung: Einzelfahrzeugdaten . . . . . . . . . . . . . . 133.2 Aggregierung: Makroskopische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153.3 Schätzung räumlicher Größen aus Querschnittsdaten . . . . . . . . . . . 16

3.3.1 Verkehrsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173.3.2 Räumliches Geschwindigkeitsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . 20

3.4 Geschwindigkeit aus Einfach-Schleifendetektoren . . . . . . . . . . . . . 22Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

4 Darstellung von Querschnittsdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254.1 Zeitreihen makroskopischer Größen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254.2 Geschwindigkeits-Dichte-Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284.3 Zeitlückenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304.4 Fluss-Dichte-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324.5 Geschwindigkeits-Fluss-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

5 Raumzeitliche Rekonstruktion der Verkehrslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375.1 Raumzeitliche Interpolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375.2 Verkehrsadaptives Glättungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

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viii Inhaltsverzeichnis

5.2.1 Charakteristische Ausbreitungsgeschwindigkeiten . . . . 415.2.2 Adaptiver Geschwindigkeitsfilter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425.2.3 Parameter und Validierung des Verfahrens . . . . . . . . . . . 43

5.3 Datenfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Teil II Modellierung der Verkehrsflussdynamik

6 Allgemeines zur Verkehrsflussmodellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516.1 Historie und Abgrenzung von verwandten Gebieten . . . . . . . . . . . . 516.2 Modellkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

6.2.1 Inhaltliche Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526.2.2 Mathematische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556.2.3 Einteilung bezüglich weiterer Kriterien . . . . . . . . . . . . . . 57

6.3 Nichtmotorisierter Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

7 Kontinuitätsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617.1 Verkehrsdichte und hydrodynamische Fluss-Dichte-Relation . . . . 617.2 Formulierung der Kontinuitätsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

7.2.1 Homogene Strecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637.2.2 Bereiche von Zu- oder Abfahrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647.2.3 Änderung der Fahrstreifenzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657.2.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

7.3 Kontinuitätsgleichung aus Sicht des Autofahrers . . . . . . . . . . . . . . . 68Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738.1 Modellgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738.2 Ausbreitung kontinuierlicher Dichteschwankungen . . . . . . . . . . . . 758.3 Schockwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm . . . . . . . . . 82

8.4.1 Modellparameter und Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 838.4.2 Wahl der Streckenabschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898.4.3 Modellierung von Engstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908.4.4 Numerische Lösung des Cell-Transmission-Modells . . . 948.4.5 Lösung des Section-Based-Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . 978.4.6 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

8.5 Diffusion und Burgers-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhaltsverzeichnis ix

9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1159.1 Makroskopische Beschleunigungsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1159.2 Eigenschaften der Beschleunigungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1179.3 Allgemeine Form der Modellgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1189.4 Übersicht über einige Makromodelle zweiter Ordnung . . . . . . . . . . 123

9.4.1 Payne-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239.4.2 Kerner-Konhäuser-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1259.4.3 GKT-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

9.5 Numerische Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

10 Einfache Fahrzeugfolgemodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13910.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13910.2 Mathematische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14010.3 Gleichgewichtsbeziehungen und Fundamentaldiagramm . . . . . . . . 14210.4 Heterogener Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14310.5 Optimal-Velocity-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14410.6 Full-Velocity-Difference-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14710.7 Newell-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle . . . . . . . . . . . . . 15511.1 Modellkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15511.2 Gipps-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

11.2.1 Sichere Geschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15711.2.2 Modellgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15811.2.3 Fließgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15811.2.4 Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

11.3 Intelligent-Driver-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16111.3.1 Geforderte Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16111.3.2 Modellgleichung und mathematische Beschreibung . . . 16211.3.3 Modellparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16211.3.4 Intelligente Bremsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16311.3.5 Dynamische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16611.3.6 Fließgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16811.3.7 Verbesserte Beschleunigungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . 169

Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

12 Modellierung menschlichen Fahrverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17312.1 Unterschied zwischen Mensch und Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . 17312.2 Modellierung der Reaktionszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

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x Inhaltsverzeichnis

12.3 Schätzfehler und unvollkommene Fahrweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17612.3.1 Modellierung der Schätzfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17612.3.2 Modellierung der Fahrfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

12.4 Zeitliche Antizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18012.5 Berücksichtigung mehrerer Fahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18012.6 Berücksichtigung weiterer menschlicher Faktoren . . . . . . . . . . . . . 183Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

13 Zelluläre Automaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18713.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18713.2 Nagel-Schreckenberg-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18913.3 Verfeinerte Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19213.4 Vergleich zellulärer Automaten mit Fahrzeugfolgemodellen . . . . . 194Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

14 Fahrstreifenwechsel und andere diskrete Entscheidungen . . . . . . . . . . 19714.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19714.2 Allgemeines Entscheidungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19814.3 Fahrstreifenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

14.3.1 Sicherheitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19914.3.2 Anreizkriterium egoistischer Fahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . 20014.3.3 Spurwechseln mit Höflichkeit: MOBIL . . . . . . . . . . . . . . 20114.3.4 Anwendung auf spezifische Fahrzeugfolgemodelle . . . . 202

14.4 Entscheidungssituation beim Annähern an eine Ampel . . . . . . . . . 20614.5 Einfahren in eine vorfahrtsberechtigte Straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

15 Stabilitätsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21115.1 Entstehung von Stop-and-Go-Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21115.2 Relevante Instabilitätskonzepte für den Verkehrsfluss . . . . . . . . . . . 21215.3 Lokale Instabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21715.4 Kolonneninstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

15.4.1 Stabilitätsbedingungen für Fahrzeugfolgemodelle . . . . . 22115.4.2 Stabilitätsbedingungen für makroskopische Modelle . . . 22615.4.3 Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

15.5 Konvektive Instabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23315.6 Nichtlineare Instabilitäten und das Stabilitätsdiagramm . . . . . . . . . 237

15.6.1 Stabilitätsklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

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Inhaltsverzeichnis xi

16 Phasendiagramm der Stauzustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24316.1 Von geschlossenen zu offenen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24316.2 Begründung der Staumuster: Phasendiagramm . . . . . . . . . . . . . . . . 244

16.2.1 Stabilitätsklasse 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24516.2.2 Stabilitätsklasse 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24816.2.3 Stabilitätsklasse 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

16.3 Simulierte und reale Staumuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Teil III Anwendungen der Verkehrsmodellierung

17 Stauentstehung und Stauausbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25717.1 Drei Faktoren für den Verkehrszusammenbruch . . . . . . . . . . . . . . . 25717.2 Charakteristische Merkmale der Stauausbreitung . . . . . . . . . . . . . . 26217.3 Gibt es den „Stau aus dem Nichts“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26317.4 Grundlagen der Verkehrslageschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

18 Schätzung der Reisezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26718.1 Definitionen der Reisezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26718.2 Reisezeitbestimmung in der Mikrosimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . 26718.3 Kumulierte Fahrzeugzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26818.4 Reisezeitschätzung aus Detektor- und Floating-Car-Daten . . . . . . . 26918.5 Reisezeitbestimmung in der Makrosimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . 27118.6 Schätzung der Reisezeit aus dem Geschwindigkeitsfeld . . . . . . . . . 272Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

19 Treibstoffverbrauch und Emissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27519.1 Modell-Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

19.1.1 Makroskopische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27519.1.2 Mikroskopische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

19.2 Physik-basiertes Modell für den Treibstoffverbrauch . . . . . . . . . . . 27719.3 Fahrwiderstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27819.4 Motorleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27819.5 Verbrauchsrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27919.6 Motorkennfeld und instantane Verbrauchsraten . . . . . . . . . . . . . . . . 28019.7 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

19.7.1 Verbrauch bezogen auf 100 km . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28219.7.2 Berechnung des Gesamt-Treibstoffverbrauchs . . . . . . . . 28419.7.3 Kohlendioxid- und andere Schadstoffemissionen . . . . . . 284

19.8 Ermittlung des Treibstoffverbrauchs mit Makromodellen . . . . . . . 284Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

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xii Inhaltsverzeichnis

20 Modellgestützte Optimierung des Verkehrsflusses . . . . . . . . . . . . . . . . . 28920.1 Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28920.2 Geschwindigkeitsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29020.3 Zuflussdosierung an Auffahrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29220.4 Effizientes Fahrverhalten und ACC-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29420.5 LKW-Überholverbot und weitere lokale Verkehrsregeln . . . . . . . . 29720.6 Zielfunktionen für die Verkehrsoptimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

Anhang A Lösungen zu den Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

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Kapitel 1Einleitung

Was wir wissen, ist ein Tropfen; was wir nicht wissen, einOzean.

Isaac Newton

In diesem Lehrbuch geht es um die Beschreibung der Dynamik des Straßenverkehrsmit Hilfe mathematischer Modelle. Der mathematische Zugang ist im Bereichder quantitativen Naturwissenschaften außerordentlich erfolgreich. Bereits IsaacNewton bemerkte, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik ge-schrieben sei. In der jüngeren Zeit wurde eine mathematische Herangehensweiseverstärkt auch zur Beschreibung menschlichen Handelns genutzt. Dies erscheint aufden ersten Blick paradox, da der Mensch als Individuum mit seinen Entscheidungensicherlich nicht schematisch durch mathematische Formeln beschreibbar ist.

Zwei Aspekte machen die Verkehrsdynamik dennoch einer quantitativen Be-schreibung zugänglich. Zum einen gibt es eine Fülle von Daten, die im nichtna-turwissenschaftlichen Bereich wohl nur mit jener der Finanzwirtschaft vergleich-bar ist – Messungen reichen vom Verhalten einzelner Fahrer bis hin zur Erfassungzahlreicher Verkehrsgrößen durch Sensoren. Diese Messungen, welche in den Na-turwissenschaften den Experimenten entsprechen, bilden die Grundlage jeder Mo-dellierung (vgl. Abb. 1.1). Durch den Vergleich mit den Beobachtungen könnenModelle entwickelt und deren Parameter angepasst („kalibriert“) werden.

Modelle

Empirische Aussagen

Kali−brierung

MathematischeMethoden

Prinzipien derVerkehrsflussdynamik

Verkehrsflussmodellierung

PrognoseVerkehrsdaten

Abb. 1.1 Verkehrsflussmodelle beschreiben die Verkehrsdynamik in der Sprache der Mathematik.Die durch Simulationen gewonnenen Modellaussagen werden mit empirischen Daten verglichen.So werden die Modellparameter kalibriert. Ein kalibriertes Modell kann zur Verkehrsprognose undfür weitere Anwendungen eingesetzt werden

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_1, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

1

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2 1 Einleitung

Zum anderen umfasst die Verkehrsdynamik das Zusammenwirken vieler Ver-kehrsteilnehmer, und eine individuelle Beschreibung der Handlungen einzelnerFahrer ist oft nicht notwendig. Vielmehr entstehen aus dem mikroskopischenZusammenwirken der „elementaren Bausteine“, technisch oft auch als „Fahrer-Fahrzeug-Einheiten“ bezeichnet, neue kollektive Phänomene. Diese reichen von derStauentstehung über die Ausbildung einzelner Stauwellen bis zu komplexen raum-zeitlichen Staumustern. Dabei „mitteln“ sich die im Detail oft unvorhersehbarensowie schwer modellier- und messbaren Aktionen der einzelnen Fahrer weg, so dasses möglich ist, mit Modellen ein auf makroskopischer Ebene richtiges Verhalten zubeschreiben. Dies hat seine Entsprechung in der Thermodynamik. Beispielsweise istes zur Beschreibung der Schallwellenausbreitung in der Luft nicht nötig, die Kräf-te, Beschleunigungen und Wechselwirkungen der einzelnen Sauerstoff-, Stickstoff-oder CO2-Moleküle zu kennen.

Schließlich unterliegen die individuellen Verhaltensweisen des Autofahrers ge-wissen Prinzipien und Randbedingungen. So reagieren Fahrer in erster Linie aufihr unmittelbares Umfeld – die Wechselwirkungen sind also, ebenso wie bei Gasenoder Flüssigkeiten, lokal. Darüber hinaus findet die Kinematik, das Bremsen undBeschleunigen, innerhalb gewisser physikalischer Grenzen statt: Zwar sind nichtdie Fahrer, wohl aber die Fahrzeuge physikalische Objekte im klassischen Sinn.

Abgrenzung zu anderen Fachgebieten. Eine Abgrenzung zu anderen Gebieten derVerkehrswissenschaften lässt sich anhand der betrachteten Zeitskalen in Tabelle 1.1vollziehen. Die Modellierung des Verkehrsflusses und der -dynamik umfasst Zei-tintervalle, die von ca. einer Sekunde bis zu wenigen Stunden reichen. Menschli-che Reaktionszeiten und typische Zeitabstände zwischen Fahrzeugen liegen in derGrößenordnung von 1 s, während das Bremsen und Beschleunigen einige Sekundenin Anspruch nimmt. Die Umlaufzeiten von Ampeln betragen ungefähr 1 min undauf Autobahnen werden Perioden von Stop-and-Go-Wellen von bis zu 20 min be-obachtet. Die für den Verkehrsfluss relevante Nachfrage ändert sich typischerweiseinnerhalb von 1–2 Stunden.

Tabelle 1.1 Abgrenzung der Verkehrsflussmodellierung von der Fahrzeugdynamik und Verkehrs-planung

Zeitskala Gebiet Modelle Verkehrliche Aspekte

<0.1 s Fahrzeugdynamik submikroskopisch Motorsteuerung, Bremssystem

1 s

VerkehrsdynamikFahrzeugfolgemodelleMakroskopische Modelle

Reaktionszeit, Zeitlücke10 s Beschleunigen und Bremsen1 min Umlaufzeit einer Ampel10 min Stop-and-Go-Wellen

1 h

Verkehrsplanung

VerkehrsumlegungVerkehrsnachfrage

Spitzenstunde1 Tag tägliches Verkehrsverhalten1 Jahr Infrastrukturmaßnahmen5 Jahre Statistik Änderung der Raumstruktur50 Jahre Prognose demographischer Wandel

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1 Einleitung 3

Längere Zeiträume, die von einer Stunde bis zu 50 Jahren reichen können, wer-den in der Verkehrsplanung und Transportlogistik betrachtet. Ziel der Verkehrspla-nung ist es unter anderem, die in der Verkehrsflussdynamik als extern gegebeneVerkehrsnachfrage zu prognostizieren. Dabei werden die Ursachen der Mobilitätund deren Änderungen betrachtet. Die Transportplanung als Teilgebiet der Logistikunterscheidet sich von der Verkehrsmodellierung durch ihren Zweck: Es werdeneinzelne Güterströme optimiert, wobei der Verkehr nur die Rolle einer (meist stö-renden) Randbedingung spielt.

Kleinere Zeiten als in der Verkehrsflussdynamik spielen in der Fahrzeugdyna-mik eine Rolle. Dort werden Zeiten auch deutlich unterhalb einer Sekunde, z.B. beiAirbags oder ESP, relevant.

Anwendungen. Die Anwendungsbereiche der Verkehrsmodellierung sind vielfältig.Sie reichen von der Erzeugung realistischen „Umgebungsverkehrs“ in Fahrsimula-toren bis zur Simulation des gesamten Verkehrsgeschehens in großräumigen Netzen.Modelle werden zur Verkehrslageschätzung und Prognose eingesetzt und dienenals Werkzeug bei der Planung von Infrastrukturmaßnahmen oder zur Optimierungdes Verkehrsmanagements. Beispielsweise ist eine Optimierung der Ampelsteue-rung in innerstädtischen Netzen nur im Rahmen von Computersimulationen mög-lich. Das Gleiche gilt für die Untersuchung verkehrlicher Auswirkungen von in derEntwicklung befindlichen neuen Fahrerassistenzsystemen und Verkehrstelematik-Anwendungen.

Gliederung des Buches. Das vorliegende Buch besteht aus drei Hauptteilen. Imersten Teil werden verschiedene Kategorien von Verkehrsdaten für die Verkehrs-flussmodellierung eingeführt und anhand empirischer Daten die Phänomene derVerkehrsdynamik vorgestellt.

Der zweite Teil widmet sich der Beschreibung des Straßenverkehrsflusses mitHilfe mathematischer Modelle. Nach einer Vorstellung der verschiedenen Modell-klassen werden zunächst makroskopische Modelle und anschließend mikroskopi-sche Modelle eingeführt. Während bei den Mikromodellen die einzelnen Fahrzeugebetrachtet werden, der Verkehr also als Vielteilchensystem aufgefasst wird, beschrei-ben Makromodelle den Systemzustand des Verkehrs durch wenige Variablen wieVerkehrsfluss, Verkehrsdichte und mittlere Geschwindigkeit. Für eine mikrosko-pische Beschreibung bzw. Simulation des Verkehrs werden Modelle für diskreteEntscheidungen, wie z.B. das Spurwechseln, vorgestellt. Abschließend werden dieverschiedenen Arten von Verkehrsinstabilitäten analysiert.

Im dritten Teil des Buches werden ausgewählte Anwendungen der dargestelltenKonzepte und Modelle thematisiert. Es werden die Entstehung und Ausbreitung vonStaus, die Grundlagen der Verkehrslageschätzung, die Berechnung von Reisezeiten,ein Modell zur detaillierten Kraftstoffverbrauchs- und Emissionsberechnung sowieAnwendungen der Verkehrstelematik besprochen.

Für einen schnellen Überblick und eine erste Orientierung ist jedem Kapitel einekurze Zusammenfassung vorangestellt. Im Haupttext sind die wichtigsten Formelnund Gleichungen hervorgehoben. Zahlreiche Abbildungen illustrieren die Sachver-halte sowie Modelleigenschaften. Kleinere Aufgaben und Fragen im Haupttext sol-

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4 1 Einleitung

len zur Anregung und Kontrolle des eigenen Verständnisses dienen. Literaturhin-weise und zahlreiche Übungsaufgaben dienen der Festigung und Vertiefung desGelesenen. Ausführliche Lösungen sind in einem Anhang am Ende des Bucheszusammengestellt.

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Teil IVerkehrsdaten

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Kapitel 2Trajektoriendaten und Floating-Car-Daten

Miss alles, was sich messen lässt, und mach alles messbar,was sich nicht messen lässt.

Galileo Galilei

2.1 Erfassungsmethoden

Mit Hilfe von Kameras kann das Verkehrsgeschehen von erhöhten Beobachtungs-posten oder Flugzeugen aus direkt erfasst werden. Aus den Video-Bildern oderFoto-Serien lassen sich mit Tracking-Software die Trajektorien xα(t), d.h. die Posi-tionen der Fahrzeuge α über die Zeit, verfolgen. Werden die Orts-Zeit-Linien vonallen Fahrzeugen innerhalb eines raumzeitlichen Bereichs erfasst, spricht man vonTrajektoriendaten.

Trajektoriendaten stellen damit die detailreichsten Verkehrsinformationen bereitund erlauben als einzige Datenkategorie eine direkte Bestimmung der Verkehrs-dichte (vgl. Abschn. 3.3) und der Fahrstreifenwechsel-Ereignisse. KamerabasierteMessmethoden sind aber in der Regel aufwändige und fehlerträchtige Verfahren,die automatische und robuste Algorithmen zum Fahrzeug-Tracking benötigen. Siestellen oft auch die teuerste Lösung dar.

Zur Erfassung sogenannter Floating-Car-Daten (FC-Daten) werden einzelneMessfahrzeuge (floating cars) eingesetzt, die im Verkehrsstrom „mitschwimmen“.Diese Fahrzeuge zeichnen ihre Geschwindigkeiten vα(t) und teils auch ihren (perGPS bestimmten) Ort xα(t) auf. Ansonsten errechnet man den Ort durch Integrationder Geschwindigkeit. In jüngster Zeit werden FC-Daten auch von Navigationsgerä-ten erfasst und (anonymisiert) an die Hersteller gesendet. Die Messfahrzeuge kön-nen zusätzlich mit weiteren Messsensoren (z.B. Radarsensoren) ausgestattet sein, sodass sich auch Geschwindigkeits- und Abstandsunterschiede zum Vorderfahrzeugerfassen lassen. Eine derartige Ausstattung sowie die Datenauswertung sind rechtkostenintensiv. Es besteht außerdem die Gefahr, dass die Daten nicht repräsentativsind, da ausgestattete Fahrzeuge oftmals auch überdurchschnittlich leistungsfähigsind.

Beide Datenkategorien enthalten den Ort xα(t) von Fahrzeugen α als Funktionder Zeit, sie unterscheiden sich aber in folgenden Aspekten:

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_2, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

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8 2 Trajektoriendaten und Floating-Car-Daten

• Während Trajektoriendaten die Orts-Zeit-Kurven xα(t) aller Fahrzeuge inner-halb eines raumzeitlichen Bereichs enthalten, erhält man im Falle von FC-Datennur Informationen über einen geringen Teil der Fahrzeuge, nämlich den der aus-gestatteten Floating Cars.

• Im Gegensatz zu Trajektoriendaten enthalten FC-Daten meist keine Informationüber den genutzten Fahrstreifen.

• Teilweise sind in FC-Daten weitergehende Informationen wie Abstand zum Vor-derfahrzeug, Gaspedalstellung, Bremsdruck, Informationen über gesetzte Blin-ker etc. enthalten. Im Prinzip können in Floating Cars alle Daten als Zeitreihenaufgezeichnet werden, die über den CAN-Bus (eine Schnittstelle über die allemodernen Fahrzeuge verfügen) abgerufen werden können. Derartige Informa-tionen fehlen in den Trajektoriendaten aufgrund der im Allgemeinen optischenDatenerfassung.

2.2 Darstellung im Raum-Zeit-Diagramm

In den Abb. 2.1 und 2.2 sind zwei Beispiele von Trajektoriendaten für jeweils einenFahrstreifen in einem Raum-Zeit-Diagramm aufgetragen. Als Konvention vereinba-ren wir eine Auftragung des Ortes (als Ordinate) über der Zeit (Abszisse). Aus ei-nem solchen Trajektorien-Diagramm kann man folgende Informationen entnehmen:

0 30 60 90 120

1000

2000

0Zeit (s)

Ort (m)

Abb. 2.1 Trajektorien von laufenden Stop-and-Go-Wellen auf einem britischen Autobahnabschnitt(Quelle: Treiterer et al., 1970)

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2.2 Darstellung im Raum-Zeit-Diagramm 9

Zeit (s)

Ort

(m

)

Highway 99, Fahrstreifen 2

Abb. 2.2 Trajektorien von laufenden Stop-and-Go-Wellen auf dem amerikanischen Highway 99(Quelle: www.ece.osu.edu/ ∼coifman/shock)

• Die lokale Geschwindigkeit am Ort x zur Zeit t ist durch die Steigung derTrajektorien gegeben. Eine horizontale Trajektorie entspricht der Geschwindig-keit Null.

• Die Brutto-Folgezeit Δtα (vgl. Abschn. 3.1) ist gleich dem horizontalen Abstandbenachbarter Kurven.

• Der Verkehrsfluss lässt sich anhand seiner Definition Zahl der einen bestimmtenOrt pro Zeiteinheit passierenden Fahrzeuge als Zahl der Trajektorien ablesen,welche ein horizontales Liniensegment kreuzen. Er ist damit gleich dem zeitli-chen Mittel des Kehrwertes der Bruttoabstände.

• Der räumliche Bruttoabstand zweier Fahrzeuge ist gleich dem vertikalen Abstandder entsprechenden Trajektorien.

• Die Verkehrsdichte lässt sich direkt anhand ihrer Definition Fahrzeugzahl proStreckenlänge zu einer bestimmten Zeit als Zahl der Trajektorien ablesen, welcheein vertikales Liniensegment kreuzen. Sie ist damit gleich dem räumlichen Mitteldes Kehrwertes der Bruttoabstände (vgl. Abschn. 3.3).

• Das Ende einer Trajektorie entspricht einem Fahrstreifenwechsel auf einen ande-ren Fahrstreifen. Entsprechend zeigt der Beginn einer Trajektorie einen Wechselvon einem anderen Fahrstreifen an.

• Die Steigung einer Verkehrsverdichtung gibt die Fortpflanzungsgeschwindigkeitdes Staus an. Bei den in den Abb. 2.1 und 2.2 zu sehenden Verdichtungen sind die

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10 2 Trajektoriendaten und Floating-Car-Daten

Steigungen (Geschwindigkeiten) negativ. Es handelt sich um Stauwellen, welcheden Fahrzeugen entgegenkommen.

Werden neben den longitudinalen Fahrzeugpositionen xα(t) zudem die lateralenPositionen yα(t) ermittelt, erhält man 2D-Trajektoriendiagramme, aus denen auchdie Dauer für das Vollziehen eines Fahrstreifenwechsels sowie seitliche Beschleu-nigungen ermittelt werden können.

Kann man aus Trajektoriendaten die aktuelle Reisezeit zum Durchfahren einerStrecke bestimmen? Wie würde man eine staubedingte Reisezeitverlängerungberechnen? Unter welcher zusätzlichen Annahme kann man damit die Zeit-verluste aller durch den Stau fahrenden Personen abschätzen?

Übungsaufgaben

2.1 Floating-Car-DatenIn Zukunft soll ein gewisser Anteil von mit GPS-Systemen ausgestatteten Fahrzeu-gen (Genauigkeit: etwa 20 m) in festen Zeitabständen anonymisiert Orte und da-zugehörige Zeiten an eine Verkehrszentrale senden. Könnte man mit diesen Daten(1) Trajektorien (Orts-Zeit-Linien) einzelner Fahrzeuge, (2) Orte und Zeiten vonFahrstreifenwechseln, (3) die Verkehrsdichte (Fahrzeuge pro Kilometer), (4) denVerkehrsfluss (Fahrzeuge pro Stunde), (5) die Fahrzeuggeschwindigkeit und (6) dieLänge von Staus und Lage von Staufronten rekonstruieren? Geben Sie jeweils einekurze Begründung.

2.2 Auswertung empirischer TrajektoriendatenBetrachten Sie das Trajektoriendiagramm 2.2.

1. Bestimmen Sie die Verkehrsdichte (Fahrzeuge pro Strecke), den Verkehrsfluss(Fahrzeuge pro Zeit) und die Geschwindigkeit in ausgewählten raumzeitlichenBereichen mit freiem und mit gestautem Verkehr. Sie können die Bereiche [10 s,30 s] × [20 m, 80 m] (freier Verkehr) und [50 s, 70 s] × [20 m, 100 m] (Stau)auswerten.

2. Mit welcher Geschwindigkeit breitet sich die Stauwelle aus? Propagiert sie inoder entgegen der Fahrtrichtung?

3. Welchen Zeitverlust verursacht die Stauwelle einem Fahrzeug, dessen Trajekto-rie bei x = 0 m zur Zeit t ≈ 50 s startet?

4. Schätzen Sie für den gesamten dargestellten raumzeitlichen Abschnitt die typi-sche Fahrstreifenwechselrate, d.h. Fahrstreifenwechsel pro Kilometer und proStunde, ab. Nehmen Sie dabei an, dass in sechs Fällen Trajektorien innerhalbdes Bereichs [0 s, 80 s]×[0 m, 140 m] beginnen oder enden.

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Literaturhinweise 11

2.3 Trajektoriendaten eines Verkehrsflusses mit „Störung“Gegeben sind die Trajektoriendaten in folgender Abbildung:

–80

–40

0

40

80

–20 0 20 40 60 80

x (m

)

t (s)

1. Welche Verkehrssituation könnte hier dargestellt sein? Welche Rolle spielt derhorizontale Balken?

2. Wie groß ist die Verkehrsnachfrage, d.h. der Zufluss für t ≤ 20 s?3. Wie groß sind die Verkehrsdichte und die Geschwindigkeit in den Bereichen

freien Verkehrs stromaufwärts der „Verkehrsbehinderung“?4. Wie groß ist die Dichte im Stau?5. Wie groß ist der Ausfluss nach Aufhebung der Behinderung? Geben Sie auch

Dichte und Geschwindigkeit des Ausflusses nach Abschluss der Beschleuni-gungsphase (in der Abbildung durch Punkte gekennzeichnet) an.

6. Wie groß sind die Ausbreitungsgeschwindigkeiten der Übergangszonen „freierVerkehr → Stau“ sowie „Stau → freier Verkehr“?

7. Welche Reisezeitverzögerung erfährt das zur Zeit t = 20 s bei x = −80 m ein-fahrende Fahrzeug durch die „Behinderung“?

8. Ermitteln Sie schließlich die Bremsverzögerung und die Beschleunigung derFahrzeuge unter der Annahme konstanter Verzögerungen bzw. Beschleunigun-gen. Der Beginn der Verzögerung und das Ende der Beschleunigung sind imDiagramm gekennzeichnet.

Literaturhinweise

May, A.D.: Traffic Flow Fundamentals. Prentice Hall, Eaglewood Cliffs, N.J. (1990)Treiterer, J., et al.: Investigation of traffic dynamics by aerial photogrammetric techniques. Interim

Report EES 278-3, Ohio State University, Columbus, OH (1970)Thiemann, C., Treiber, M., Kesting, A.: Estimating acceleration and lane-changing dynamics from

next generation simulation trajectory data. Transp. Res. Rec. 2088, 90–101 (2008)

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Kapitel 3Querschnittsdaten

Das Wesen der Dinge hat die Angewohnheit, sich zuverbergen.

Heraklit

3.1 Mikroskopische Erfassung: Einzelfahrzeugdaten

Die Querschnittsdetektion, also die Messung von Verkehrsdaten an einem festenStraßenquerschnitt, kann auf vielerlei Arten erfolgen, beispielsweise pneumatisch(über die Fahrbahn gelegte Schläuche), per Radar oder optisch (Infrarotsensorenoder Lichtschranken). Die höchste Verbreitung haben Induktionsschleifen, die unterder Fahrbahndecke der Fahrstreifen positioniert sind. Sie detektieren, ob sich me-tallische Gegenstände (Fahrzeuge) über ihnen befinden oder nicht (vgl. Abb. 3.1).Eine einzelne Mess-Schleife kann für jeden Fahrstreifen lediglich folgende Größenerfassen:

• Zeitpunkt tα = t0α , zu dem die Fahrzeugfront den Messquerschnitt überquert

(Flanke des Spannungsabfalls in Abb. 3.1).• Zeitpunkt t1

α , zu dem das Fahrzeugheck den Messquerschnitt überquert (Flankedes Spannungsanstiegs in Abb. 3.1).

Fahrzeuggeschwindigkeiten können Einfach-Induktionsschleifen jedoch nicht di-rekt messen. Man kann allenfalls mit Hilfe gewisser Annahmen über die mittlerenFahrzeuglängen und bei nicht zu stark schwankenden Geschwindigkeiten Mittel-werte der Geschwindigkeiten mit relativ großen Fehlern abschätzen (wie später inAbschn. 3.4 gezeigt wird).

Doppel-Induktionsschleifendetektoren verfügen über mindestens zwei Indukti-onsschleifen in einem festen Abstand von z.B. 1 m zueinander. Sie erlauben durchden Zeitversatz der zwei Anstiegsflanken eine direkte Messung der Geschwindig-keit vα des Fahrzeugs α. Aus den direkt gemessenen Größen lassen sich weiteresekundäre mikroskopische Größen ermitteln (vgl. Abb. 3.2):

• Fahrzeuglängen der einzelnen Fahrzeuge α

lα = vα(t1α − t0

α). (3.1)

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_3, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

13

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14 3 Querschnittsdaten

~U

Spannung Ueff

Zeit t

Abb. 3.1 Prinzip des Induktionsschleifendetektors. Ein elektrischer Schwingkreis (mit einerWechselspannungsquelle, einem externen Kondensator als Kapazität und der Schleife als Induk-tivität) ist im „unbelegten“ Zustand „in Resonanz“, d.h. es liegt eine hohe Wechselspannung Ueffan. Fährt ein Fahrzeug über die Schleife, vergrößert sich aufgrund der Metallteile die Induktivität,so dass der Schwingkreis „verstimmt“ wird und die anliegende Spannung Ueff abnimmt

tα1tα

0 Δ xαsα

Δ tα

lαvα

t

x x

t

Fahrzeugα−1 Fahrzeug

α

Abb. 3.2 Gewinnung von Einzelfahrzeuggrößen direkt aus dem Induktionssignal von Doppel-schleifendetektoren bzw. dem Signal anderer geeigneter Querschnittsdetektoren. Die schraffiertenFlächen geben den raumzeitlichen Bereich der Belegung an

• Identifizierung verschiedener Fahrzeug-Typen (Zweirad, PKW, LKW, etc.) an-hand der Fahrzeug-Längen.

• Brutto-Zeitlücken zwischen aufeinander folgenden Fahrzeugen

Δtα = t0α − t0

α−1, (3.2)

wobei das Vorderfahrzeug den niedrigeren Index (α − 1) hat.• Netto-Zeitlücken

Tα = t0α − t1

α−1 = Δtα − vα−1

lα−1. (3.3)

• Bruttoabstände

dα = vα−1Δtα. (3.4)

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3.2 Aggregierung: Makroskopische Daten 15

• Nettoabstände

sα = dα − lα−1. (3.5)

Dabei wird bei der Bestimmung von räumlichen Größen wie Längen und Abständenimplizit eine während der Messung konstante Geschwindigkeit angenommen.

3.2 Aggregierung: Makroskopische Daten

In den meisten Fällen werden die mikroskopischen Einzelfahrzeugdaten bereits amOrt der Erfassung durch Mittelwertbildung über feste Zeitintervalle Δt aggregiertund nur die resultierenden makroskopischen Daten, auch aggregierte Daten ge-nannt, an die Verkehrszentrale übertragen. Dies spart sowohl Bandbreite bei derInformationsübertragung als auch Speicherplatz bei der Daten-Archivierung. Diemikroskopischen Informationen gehen bei der Aggregierung verloren. Die Mitte-lungsintervalle liegen zwischen 20 s und 5 min. Am häufigsten wird ein Intervall Δtvon 60 s verwendet. Mittelungen über feste Fahrzeugzahlen (von z.B. ΔN = 50Fahrzeugen) werden dagegen, obwohl sie statistisch sinnvoll wären, kaum verwen-det. Eine oder mehrere der folgende Größen werden an die Zentrale übertragen:

Verkehrsfluss. Unter dem Verkehrsfluss versteht man die Anzahl der FahrzeugeΔN , die einen am Ort x positionierten Querschnitt innerhalb eines ZeitintervallsΔt überqueren:

Q(x, t) = ΔN

Δt. (3.6)

Der Verkehrsfluss wird meist in Einheiten von Fahrzeugen pro Stunde (Fz/h) oderFahrzeugen pro Minute angegeben.

Belegungsgrad. Der dimensionslose Belegungsgrad (occupancy) gibt den zeitli-chen Anteil des Mittelungsintervalls an, in dem der Detektorquerschnitt von Fahr-zeugen belegt ist:

O(x, t) = 1

Δt

α0+ΔN−1∑

α=α0

(t1α − t0

α). (3.7)

Arithmetisches Geschwindigkeitsmittel. Das arithmetische Mittel der Geschwin-digkeit ergibt sich als Mittelwert aus den Einzelgeschwindigkeiten der ΔN Fahr-zeuge, die den Querschnitt bei x im Mittelungsintervall überqueren:

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16 3 Querschnittsdaten

V (x, t) = 〈vα〉 = 1

ΔN

α0+ΔN−1∑

α=α0

vα. (3.8)

Die Verwendung des Bezeichners V für die makroskopische Geschwindigkeit dientder Unterscheidung von (mikroskopischen) Fahrzeuggeschwindigkeiten vα einzel-ner Fahrzeuge. Im Zusammenhang mit Messungen bezeichnet 〈·〉 das arithmetischeMittel. Bei statistischen Überlegungen (Abschn. 3.3) bezeichnet es den Erwartungs-wert einer schwankenden Größe.

Harmonisches Geschwindigkeitsmittel. Das harmonische Mittel der Geschwindig-keit ist definiert durch

VH(x, t) = 1⟨1vα

⟩ = ΔNα0+ΔN−1∑

α=α0

1vα

. (3.9)

Geschwindigkeitsvarianz. Die Geschwindigkeitsvarianz

Var(v) = σ 2v (x, t) = ⟨

(vα − 〈vα〉)2⟩ = ⟨

v2α

⟩− 〈vα〉2 (3.10)

dient als Maß für die „Streuung“ der Geschwindigkeiten innerhalb des Aggregie-rungsintervalls. Die Streuung ist durch die Standardabweichung σv , also die Qua-dratwurzel der Varianz, gegeben. Der dimensionslose Variationskoeffizient σv/Vgibt die relativen Schwankungen an (vgl. auch Abb. 9.7).

Diskutieren Sie den Vorteil von Mittelungen über feste Fahrzeugzahlen an-hand des Geschwindigkeitsmittels im Falle stark schwankender Verkehrs-ströme.

3.3 Schätzung räumlicher Größen aus Querschnittsdaten

Während die makroskopischen Größen Fluss Q, Belegungsgrad O und, im Fallevon Doppelinduktionsschleifen, das zeitliche Mittel V der Geschwindigkeit direktzu bestimmen sind, können weitere wichtige Größen nur unter bestimmten Annah-men geschätzt werden. Bei der Bestimmung der Verkehrsdichte besteht das Problemdarin, dass die Dichte – die Zahl der Fahrzeuge auf einem Streckenabschnitt – alsräumliches Mittel zu einer festen Zeit definiert ist, während Querschnittsdetektorennur zeitliche Mittel an einem festen Ort, eben dem Querschnitt, liefern. Im Gegen-satz zu Fluss und Dichte kann die makroskopische Geschwindigkeit sowohl alszeitliches als auch als räumliches Mittel aufgefasst werden. Im Allgemeinen sindbeide Definitionen selbst „im Mittel“ nicht gleichwertig.

Page 27: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

3.3 Schätzung räumlicher Größen aus Querschnittsdaten 17

3.3.1 Verkehrsdichte

Die Verkehrsdichte ρ(x, t) lässt sich mit Hilfe der „hydrodynamischen Formel“ ausdem Fluss Q und der Geschwindigkeit V abschätzen:

ρ(x, t) = Q(x, t)

V (x, t)= Verkehrsfluss

Geschwindigkeit. (3.11)

Problematisch bei der Anwendung ist jedoch, dass diese Formel gemäß der Dich-tedefinition (Abschn. 2.2) nur für räumliche Geschwindigkeitsmittel V korrekt ist,nicht aber für die am Querschnitt gemessenen zeitlichen Mittelwerte. Vielmehr führtdie Umrechnung von zeitlichen in räumliche Größen zu systematischen Fehlern,welche nun anhand Abb. 3.3 verdeutlicht werden. Durch die höhere „Begegnungs-frequenz“ der schnelleren Fahrzeuge mit einem stationären Messquerschnitt ist dasmessbare zeitliche Geschwindigkeitsmittel größer als das eigentlich erforderlicheräumliche Mittel. In Abb. 3.3 ist die Begegnungsrate (bzw. der Fluss) auf beidenFahrstreifen gleich, so dass sich ein zeitliches Mittel 〈vα〉 = 108 km/h ergibt. Dasräumliche Mittel ist jedoch offensichtlich

2

372 km/h + 1

3144 km/h = 96 km/h.

Damit wird hier die Dichte mit der hydrodynamischen Formel (3.11) um denFaktor 8/9 zu gering geschätzt.

Zur Ermittlung einer besseren Schätzung der Dichte aus Querschnittsdaten gehenwir von der eigentlichen Definition der Dichte, „Fahrzeuge pro Strecke“, aus. AlsFunktion mikroskopischer Größen formuliert, ergibt dies den Kehrwert des mittle-ren Bruttoabstandes der betrachteten Fahrzeuge,

ρ(x, t) = 1

〈dα〉 = ΔN∑α dα

. (3.12)

Induktionsschleifen−Detektor

144 km/h

72 km/h

60 m

Abb. 3.3 Doppelte Geschwindigkeit bei gleicher Brutto-Folgezeit auf dem linken Fahrstreifen

Page 28: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

18 3 Querschnittsdaten

Ferner drücken wir den Fluss („Fahrzeuge pro Zeiteinheit“) durch mikroskopischeGrößen aus, d.h. durch den Erwartungswert der Brutto-Folgezeiten. Bei gegebenemZeitintervall

Δt =α0+ΔN−1∑

α=α0

Δtα = ΔN 〈Δtα〉

gilt für den Fluss exakt

Q = ΔN

Δt= 1

〈Δtα〉 . (3.13)

Es gibt zwei Arten, die Dichte als Funktion der messbaren Größen Δtα und vα

auszudrücken. Diese werden im Folgenden diskutiert.

3.3.1.1 Herleitung aus dem Erwartungswert der Dichte

Wir gehen von der Definition des Erwartungswerts der Dichte (3.12) aus und setzenfür die rechte Seite der Gleichung die Abschätzung (3.4) ein:

1

ρ= 〈dα〉 = 〈vα−1Δtα〉≈ 〈vαΔtα〉= 〈vα〉〈Δtα〉 + Cov(vα,Δtα)

= V

Q+ Cov(vα,Δtα).

Die Umkehrung ergibt

ρ = Q

V

(1

1 + QV Cov(vα,Δtα)

). (3.14)

Hierbei wurde die Kovarianz eingeführt, welche für allgemeine Zufallsgrößen x undy durch

Cov(x, y) = 〈(x − 〈x〉)(y − 〈y〉)〉 = 〈xy〉 − 〈x〉〈y〉 (3.15)

definiert ist. Die Kovarianz ist positiv, wenn die beiden Größen „positiv korreliert“sind, also eine Zunahme von x tendenziell mit einer Zunahme von y einhergeht. DasMaß eines linearen Zusammenhangs wird dabei durch den Korrelationskoeffizienten

Page 29: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

3.3 Schätzung räumlicher Größen aus Querschnittsdaten 19

rx,y = Cov(x, y)

σxσy(3.16)

quantifiziert, der Werte von −1 (exakt entgegengesetzter Zusammenhang) über 0(kein linearer Zusammenhang) bis 1 (exakte Proportionalität) annehmen kann. Da-mit kann man Gl. (3.14) auch in der Wardrop-Formel ausdrücken1:

ρ = Q

V

⎝ 1

1 + σVV

QσQ

rvα,Δtα

⎠ . (3.17)

Die reale Dichte ist also gleich der üblicherweise verwendeten Näherung „Flussgeteilt durch arithmetisches Geschwindigkeitsmittel“, multipliziert mit einem Fak-tor, der sowohl die Korrelation rv,Δt zwischen den Brutto-Zeitlücken und der Ge-schwindigkeit als auch die Variationskoeffizienten (relativen Schwankungen) σV /Vund σQ/Q enthält. Im freien Verkehr ist diese Korrelation offensichtlich nahe Null,da jeder Fahrer unabhängig von den anderen seine eigene Geschwindigkeit wäh-len kann. In gebundenem Verkehr nimmt die Bruttozeitlücke Δtα hingegen in derRegel mit sinkender Geschwindigkeit zu und wird für stehende Fahrzeuge unend-lich. Damit ist die Korrelation negativ und der Nenner in Gl. (3.17) kleiner als 1.Bei gebundenem Verkehr wird also die wahre Dichte durch die Abschätzung Q/Vsystematisch unterschätzt (siehe auch Abb. 4.10).

3.3.1.2 Herleitung aus dem Erwartungswert des Flusses

Eine weitere Möglichkeit, die Dichte durch direkt messbare Größen auszudrücken,geht von der in diesem Abschnitt hergeleiteten Erwartungswert-Definition (3.13) fürden Fluss aus. Wieder wird für die rechte Seite die entsprechende Abschätzung (3.4)eingesetzt:

1

Q= 〈Δtα〉 =

⟨dα

vα−1

⟩(3.18)

≈⟨

⟩= 〈dα〉

⟨1vα

⟩+ Cov

(dα,

1

)(3.19)

= 1

ρVH+ Cov

(dα,

1

). (3.20)

Nach Umstellung ergibt sich für die Dichte

ρ = Q

VH

(1

1 − Q Cov (dα, 1/vα)

)(3.21)

1 Nicht zu verwechseln mit dem Wardrop-Gleichgewicht der Verkehrsplanung, welches einemNutzer-Gleichgewicht bei der Routenwahl entspricht.

Page 30: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

20 3 Querschnittsdaten

mit dem harmonischen Geschwindigkeitsmittel VH, definiert in Gl. (3.9), das diekleinen Geschwindigkeiten stärker gewichtet. Da der Abstand dα in der Regel mitvα steigt und daher mit 1/vα sinkt, ist die Kovarianz Cov(dα, 1/vα) negativ und derKorrekturfaktor in Gl. (3.21) kleiner als 1. Damit überschätzt der Ausdruck Q

VHim

Allgemeinen die „wahre“ Dichte.

3.3.1.3 Diskussion der Näherungen für die Dichte

In der Praxis setzt man die Kovarianzen in den Ausdrücken (3.17) und (3.21) nähe-rungsweise gleich Null und verwendet die auch für mehrere Fahrstreifen anwend-baren Ausdrücke

ρ(1) = Q

Voder ρ(2) = Q

VH. (3.22)

Warum ist bei völlig stehendem Verkehr die Bestimmung der Dichte mit sta-tionären Detektoren mit keinem Verfahren möglich?

Für die Fehler dieser beiden Schätzer gelten folgende Aussagen:

1. Im Fall identischer Fahrzeuggeschwindigkeiten vα ist V = VH und dementspre-chend ρ = ρ(1) = ρ(2).

2. Falls die Brutto-Folgezeiten Δtα aller Fahrzeuge gleich sind, ist für beliebigeGeschwindigkeiten und Abstände Cov(vα,Δtα) = 0. Damit gilt ρ = ρ(1) =Q/V exakt (vgl. Abb. 3.3). Im Allgemeinen unterschätzt die Formel ρ(1) =Q/V die tatsächliche Dichte ρ, da Cov(vα,Δtα) in der Regel negativ ist.

3. Falls aber die räumlichen Abstände dα aller Fahrzeuge gleich sind, gilt für be-liebige Geschwindigkeiten und Folgezeiten Cov(dα, 1

vα) = 0 und somit ρ =

ρ(2) = Q/VH exakt (vgl. Abb. 3.3). Im Allgemeinen überschätzt die Formelρ(2) = Q/VH die tatsächliche Dichte, da Cov(dα, 1

vα) in der Regel ebenfalls

negativ ist.

3.3.2 Räumliches Geschwindigkeitsmittel

Das räumliche bzw. momentane Geschwindigkeitsmittel 〈V (t)〉 ist das arithmeti-sche Mittel der Geschwindigkeiten aller Fahrzeuge, welche sich zur Zeit t in demStreckenabschnitt befinden, auf welchen sich die Mittelung bezieht (in Abb. 3.4 derAbschnitt der Länge L um den Detektor):

〈V (t)〉 = 1

n(t)

n(t)∑

α=1

vα(t). (3.23)

Page 31: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

3.3 Schätzung räumlicher Größen aus Querschnittsdaten 21

L

Induktionsschleifen−Detektoren

Abb. 3.4 Zur Herleitung der Formel (3.24) für das räumliche bzw. momentane Geschwindigkeits-mittel

Im allgemeinen Fall (mehrere Fahrstreifen und beliebige Geschwindigkeiten undBeschleunigungen) ist das räumliche (momentane) Mittel nicht sinnvoll aus De-tektordaten zu bestimmen, da sich während des Aggregierungsintervalls von z.B.Δt = 1 min die Identität und Zahl der zur Mittelung nach Gl. (3.23) herangezogenenFahrzeuge ändert. Insbesondere kann diese Zahl auch n(t) = 0 sein.

Eine geeignete Definition erhält man, wenn das momentane Mittel zusätz-lich zeitlich über das Aggregierungsintervall Δt gemittelt wird und außerdemder relevante Streckenabschnitt so klein gemacht wird, dass sich die Fahrzeug-Geschwindigkeit während der Überfahrtzeit τα ≈ L/vα kaum ändert und sich wei-terhin zu den Zeitpunkten t und t + Δt keine Fahrzeuge auf dem Streckenabschnittbefinden. Dann erhält man durch Mittelung von Gl. (3.23) folgenden Ausdruck2:

〈V 〉 =

t+Δt∫t

n(t ′)⟨V (t ′)

⟩dt ′

t+Δt∫t

n(t ′) dt ′=∑α

tα+τα∫tα

vα(t ′) dt ′

∑α

τα

≈∑α

ταvα

∑α

τα

≈ n L∑α

L/vα

= nn∑

α=1

1vα

,

wobei n die Gesamtzahl der innerhalb Δt über den Detektor gefahrenen Fahrzeugebezeichnet (nicht zu verwechseln mit der momentanen Fahrzeugzahl n(t) im Be-zugsabschnitt) und vα die jeweils dort gemessene Geschwindigkeit ist.

2 Man beachte, dass der Nenner dieser Gleichungen gleich der Gesamtreisezeit (Fz-Minuten) derFahrzeuge im betrachteten raumzeitlichen Intervall ist.

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22 3 Querschnittsdaten

Die zeitlich über ein Aggregierungsintervall und räumlich über einen Strecken-abschnitt gemittelte Geschwindigkeit ist also durch das harmonische Mittel gege-ben:

〈V 〉 = VH . (3.24)

Häufig wird das harmonische Geschwindigkeitsmittel VH auch, etwas weniger ex-akt, direkt mit dem momentanen Mittel gleichgesetzt.

3.4 Geschwindigkeit aus Einfach-Schleifendetektoren

Mit Hilfe von Einfach-Induktionsschleifen lassen sich für jedes Fahrzeug nur dieZeiten t0

α und t1α zu Beginn und Ende der Belegung (Überfahrt über den Detektor)

direkt messen. Bei Kenntnis der Fahrzeuglängen lα wäre die Geschwindigkeit ausvα = lα/(t1

α − t0α) zu bestimmen. Diese kann aber mit Einfachschleifen nicht ermit-

telt werden. Unter Annahme einer mittleren Fahrzeuglänge 〈lα〉 kann man aus derDefinition der Belegung (3.7) dennoch eine Näherung für die mittlere Fahrzeugge-schwindigkeit herleiten:

O = 1

Δt

α

(t1α − t0

α)

= 1

Δt

α

lαvα

= n

Δt

[〈lα〉

⟨1vα

⟩+ Cov

(lα,

1

)]

= Q

[〈lα〉

⟨1vα

⟩+ Cov

(lα,

1

)].

Nach Umstellung ergibt sich für VH = 1/〈1/vα〉:

VH = Q〈lα〉O[1 − Q

O Cov(lα, 1/vα)] . (3.25)

Da im Stau alle Fahrzeuge eine annähernd gleiche Geschwindigkeit haben, ist fürhohe Verkehrsdichten die Kovarianz zwischen Fahrzeuglängen und inversen Ge-schwindigkeiten nahezu Null und man erhält mit dem Quotienten Q〈lα〉/O direkteine Abschätzung der harmonischen Geschwindigkeit VH . In Situationen freienVerkehrs hingegen fahren längere Fahrzeuge (LKW) meist langsamer als kürzere(PKW), so dass die Korrelation rlα,1/vα positiv ist und die Näherung Q〈lα〉/O dasharmonische Geschwindigkeitsmittel systematisch unterschätzt. Da das harmoni-sche Mittel aber immer höher als das arithmetische Mittel ist, gibt Q〈lα〉/O mög-

Page 33: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

3.4 Geschwindigkeit aus Einfach-Schleifendetektoren 23

licherweise für freien Verkehr eine gute Näherung für das arithmetische Mittel an.Für feste Fahrzeuglängen und beliebige Geschwindigkeiten ist diese einfache Be-ziehung zwischen Belegung und harmonischem Geschwindigkeitsmittel ebenfallsexakt. Für all diese Fälle kann man auch die Verkehrsdichte aus der Belegung ein-fach schätzen und es gilt

VH = Q

ρmit ρ = O

〈lα〉 . (3.26)

Zur Anwendung dieser Formeln muss nur unabhängig die mittlere Fahrzeuglänge〈lα〉 bekannt sein.

Übungsaufgaben

3.1 Daten-Aggregierung an einem QuerschnittGegeben ist ein 30 s langer Abschnitt von Einzelfahrzeugdaten eines Detektorquer-schnitts gemäß folgender Tabelle:

Geschwindigkeit Fahrstreifen FahrzeuglängeZeit (in s) (in m/s) (1=rechts, 2=links) (in m)

2 26 1 57 24 1 127 32 2 4

10 32 2 512 29 1 418 28 1 420 34 2 521 22 1 1525 26 1 329 38 2 5

1. Berechnen Sie durch Aggregierung den für dieses Intervall gültigen makrosko-pischen Verkehrsfluss und die makroskopische Geschwindigkeit (arithmetischesMittel) getrennt für beide Fahrstreifen.

2. Bestimmen Sie für jeden Fahrstreifen die Dichte unter der (für freien Verkehrrealistischen) Annahme, dass es keine Korrelation zwischen den Geschwindig-keiten und zeitlichen Abständen zweier aufeinanderfolgender Fahrzeuge gibt.

3. Bestimmen Sie nun Fluss, Geschwindigkeit und Dichte der gesamten Richtungs-fahrbahn auf Höhe des Querschnitts.

4. Wie hoch ist der LKW-Anteil auf dem rechten Fahrstreifen und insgesamt?

3.2 Bestimmung makroskopischer Größen aus Einzelfahrzeug-DatenAuf einer zweistreifigen Autobahn fahren die Fahrzeuge auf beiden Fahrstreifen imBruttoabstand von 60 m, links mit einer Geschwindigkeit von 144 km/h und rechts

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24 3 Querschnittsdaten

mit 72 km/h. Sie werden von einem stationären Detektor erfasst (vgl. Abb. 3.3). AlsAggregierungsintervall wird Δt = 60 s verwendet.

1. Welche Brutto-Zeitlücken Δtα haben die Fahrzeuge auf beiden Fahrstreifen?Wie groß sind jeweils die Netto-Zeitlücken, wenn alle Fahrzeuge 5 m lang sind?

2. Ermitteln Sie den Verkehrsfluss, den Belegungsgrad, das arithmetische und dasharmonische Mittel der Geschwindigkeiten (i) für eine fahrstreifenaufgelösteDetektion und (ii) für den Fall, dass ein Detektor beide Fahrstreifen erfasst. Fürwelches der Geschwindigkeitsmittel gilt, dass die Geschwindigkeit über beideFahrstreifen das arithmetische Mittel der fahrstreifenaufgelösten Geschwindig-keiten ist?

3. Berechnen Sie die Geschwindigkeitsvarianz.4. Zeigen Sie, dass für die auf die gesamte Richtungsfahrbahn bezogene Geschwin-

digkeitsvarianz σ 2V

σ 2V = p1

(σ 2

V 1 + (V1 − V )2)

+ (1 − p1)(σ 2

V 2 + (V2 − V )2)

gilt, wobei p1 = Δn1/(Δn1 + Δn2) den Anteil der im Zeitintervall Δt aufdem rechten Fahrstreifen detektierten Fahrzeuge, σ 2

V 1 bzw. σ 2V 2 die Einzelvari-

anzen der Geschwindigkeiten des rechten bzw. linken Fahrstreifens, V1 und V2die entsprechenden arithmetischen Mittel und V = p1V1 + (−p1)V2 das Mittelüber beide Fahrstreifen bezeichnet. Wie vereinfacht sich dieser Ausdruck fürp1 = 1/2?

Literaturhinweise

Leutzbach, W.: Introduction to the Theory of Traffic Flow. Springer, Berlin (1988)Helbing, D.: Traffic and related self-driven many-particle systems. Rev. Modern Phys. 73,

1067–1141 (2001)Cassidy, M.J.: Traffic flow and capacity. International series in operations research & management

science. In: Handbook of Transportation Science, 155–191. Springer, New York , NY (2003)

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Kapitel 4Darstellung von Querschnittsdaten

Das wunderbare am Verkehrsfluss ist, dass er sich ohneAufwand überall und jederzeit aufstauen lässt.

Siegfried Wache

4.1 Zeitreihen makroskopischer Größen

Trägt man die an einem Querschnitt gemessenen und aggregierten Größen über derZeit auf, erhält man Zeitreihen. Zeitreihen von Fluss, Geschwindigkeit und Dichteüber ein Zeitintervall von wenigen Stunden geben Aufschluss über Verkehrszusam-menbrüche, Art des Staus (Stillstand oder zähfließender Verkehr) und den Fluss-abfall nach einem Verkehrszusammenbruch (engl. capacity drop), vgl. Abb. 4.1.Zeitreihen des Verkehrsflusses über einen Tag, auch Tagesganglinien genannt, ge-ben Aufschluss über die Verkehrsnachfrage, vgl. Abb. 4.2. Man beachte, dass ver-schiedene Wochentage charakteristische Tagesganglinien aufweisen. Typischerwei-se kann man zwischen Montag, Dienstag-Donnerstag, Freitag sowie Samstag undSonntag unterscheiden. Ferien- und Feiertage sowie „Brückentage“ gelten als Son-derfälle. Tagesganglinien gehören allerdings in den Bereich der Verkehrsplanungund werden hier nicht weiter betrachtet.

Bei der Interpretation der Staudynamik anhand von einzelnen Zeitreihen sollteman sich aber vor Fehlinterpretationen hüten, wie die folgende Aufgabe verdeutli-chen soll:

Warum kann man von der in Abb. 4.1 gezeigten Zeitreihe nicht schließen, dassder Zusammenbruchszeitpunkt des Verkehrs etwa um 7:00 Uhr liegt? Kannman aus der Abbildung wenigstens folgern, dass die Fahrzeuge im Bereichder Detektorposition im Zeitbereich um 7:00 Uhr abbremsen oder dass dieFahrzeuge um etwa 8:30 Uhr an der Detektorposition wieder beschleunigen?Wenn nicht, was könnten für alternative Situationen vorliegen?

Lösung. Mit nur einer Geschwindigkeits-Zeitreihe, also Informationen von le-diglich einem Querschnitt, ist keine eindeutige Aussage über den Zeitpunkt desVerkehrszusammenbruchs oder über die Art des Staus möglich. Die zwei mögli-chen raumzeitlichen Verkehrssituationen sind in der Abb. 4.3 skizziert (vgl. auch

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_4, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

25

Page 36: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

26 4 Darstellung von Querschnittsdaten

0 20 40 60 80

100 120

6 7 8 9

V (

km/h

)

Zeit (h)

6 7 8 9Zeit (h)

6 7 8 9Zeit (h)

MQ 2

0 500

1000

1500

2000

2500

Q (

Fz/

h/S

pur) MQ 2

0

20

40

60

80

100

ρ (F

z/km

/Spu

r) MQ 2

Abb. 4.1 Zeitreihen der arithmetisch gemittelten Geschwindigkeit V , des Flusses Q und der ge-schätzten Dichte ρ = Q/V (siehe Abschn. 3.3.1) von 1-Minuten-Daten

0 500

1000 1500 2000 2500

0 6 12 18 24

Q (

Fz/

h/S

pur)

Zeit (h)

MQ 2

Abb. 4.2 Typische Tagesganglinie des Verkehrsflusses bzw. der Verkehrsnachfrage an einemWerktag (Mittwoch)

Kap. 17): Entweder handelt es sich um einen Stau an einer permanenten Engstelle(z.B. einer Auffahrt), bei der die stromabwärtige Staufront stationär bleibt, oderdie Engstelle ist temporär (z.B. verursacht durch einen Unfall), so dass sich nachAuflösung der Engstelle die stromabwärtige Staufront entgegen der Fahrtrichtungder Fahrzeuge bewegt.1 In beiden Fällen bricht der Verkehr deutlich vor 7:00 Uhr(an einem Ort weiter stromabwärts) zusammen.

1 Als stromaufwärtige Staufront bezeichnen wir den Übergang vom freien Verkehr in den Stau, d.h.aus Sicht eines Autofahrers die Einfahrt in den Stau. Der Übergangsbereich vom Stau in den freien

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4.1 Zeitreihen makroskopischer Größen 27

t t

xx

V V

t t

Unfall (temporär)

strom−abwärtigeStaufront

stromaufwärtigeStaufront

stromaufwärtigeStaufro

nt

stromabwärtige Staufront

Autobahnkreuz (permanent)

Abb. 4.3 Schematische Zeitreihen der Geschwindigkeit an einem Querschnitt und welche Ver-kehrssituationen damit verbunden sein können

Nach Abb. 4.3 handelt es sich beim Geschwindigkeitsabfall kurz vor 7:00 Uhr umeine stromaufwärtige Staufront, die sich entgegen der Fahrtrichtung der Fahrzeugebewegt (der Stau wächst in stromaufwärtiger Richtung). Alternativ wäre eine inFahrtrichtung wandernde stromabwärtige Staufront denkbar (z.B. verursacht durcheinen Schwerlasttransporter bzw. moving bottleneck). Diese ist jedoch aus Gründender Verkehrsdynamik unwahrscheinlich. Daher nehmen wir hier an, dass die Fahr-zeuge bremsen.

Beim Anstieg der Geschwindigkeit gegen 8:30 Uhr sind folgende zwei Situatio-nen möglich: (i) Es handelt sich um eine stromabwärts wandernde stromaufwärtigeStaufront, d.h. die Ausdehnung des Staus verringert sich. Dies bedeutet, dass dieFahrzeuge kurz nach dem Passieren des Querschnitts bremsen, während die Detek-torzeitreihe einen Anstieg registriert. (ii) Als Alternative kommt auch eine strom-aufwärts wandernde stromabwärtige Staufront in Betracht. Eine solche Situationentsteht beispielsweise, wenn eine temporäre stauverursachende Engstelle (unfall-bedingte Fahrstreifensperrung) aufgehoben wird oder wenn eine Ampel grün wirdund sich die Warteschlange dahinter in Bewegung setzt. In diesem Fall beschleuni-gen die Fahrzeuge. In beiden Situationen kann die Geschwindigkeit dieser Staufrontdirekt aus dem Fundamentaldiagramm hergeleitet werden (vgl. Abschn. 4.4 sowieTeil II).

Verkehr (d.h. aus Fahrersicht die Ausfahrt aus dem Stau) wird als stromabwärtige Staufront be-zeichnet. Dagegen sind die Begriffe „Stauanfang“ und „Stauende“ nicht eindeutig.

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28 4 Darstellung von Querschnittsdaten

4.2 Geschwindigkeits-Dichte-Relation

Werden die aggregierten Geschwindigkeitswerte über der Verkehrsdichte aufgetra-gen, ergibt sich ein Geschwindigkeits-Dichte-Diagramm (vgl. Abb. 4.4). Mit wach-sender Dichte nimmt die mittlere Geschwindigkeit ab. Weiterhin bekommt maneinen Überblick über das mittlere Fahrverhalten eines Fahrer-Fahrzeug-Kollektivsbei verschiedenen Verkehrsdichten und unter externen Einflüssen wie Tempolimits,Wetterbedingungen etc.

Bei sehr geringen Verkehrsdichten werden die Fahrer in der Regel von anderenVerkehrsteilnehmern nicht beeinflusst. Eine durch die Datenpunkte gelegte Fitkur-ve gibt daher für die Extrapolation ρ → 0 die mittlere freie Geschwindigkeit V0des Fahrerkollektivs an (vgl. Abb. 4.5). Diese Geschwindigkeit ist das Minimumaus (i) der tatsächlich gewünschten Geschwindigkeit der Fahrer, (ii) der durch dieMotorisierung möglichen Geschwindigkeit der Fahrzeuge (v.a. bei LKW am Bergrelevant) und ggf. (iii) einer von einem Tempolimit extern vorgegebenen Geschwin-digkeit (zuzüglich einer mittleren Überschreitung). Häufig wird V0 auch direkt alsWunschgeschwindigkeit bezeichnet.

ρ (Fz/km/Spur)

ρ (Fz/km/Spur)

0

20

40

60

80

100

120

140

160

180

0 20 40 60 80 100

V (

km/h

)

0

20

40

60

80

100

120

0 20 40 60 80 100

V (

km/h

)

M26, Links

Links, 06–19hRechts,06–19h

M26, Rechts

0

20

40

60

80

100

120

140

160

0 20 40 60 80

V (

km/h

)

ρ (Fz/km/Spur)

A9-Sued, M26, Spurmittel

0

20

40

60

80

100

120

140

160

180

0 20 40

V (

km/h

)

ρ (Fz/km/Spur)

Rechts,00-06hRechts,19-24hLinks, 00-06hLinks, 19-24h

Abb. 4.4 Geschwindigkeits-Dichte-Relationen aus 1-Minuten-Daten von der A9 Nürnberg-München. Links oben: Mittel über alle Fahrstreifen; rechts oben: fahrstreifenaufgelöst; links unten:19:00 bis 6:00 Uhr; rechts unten: 6:00 bis 19:00 Uhr

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4.2 Geschwindigkeits-Dichte-Relation 29

0

20

40

60

80

100

120

140

160

0 20 40 60 80 100 120

V (

km/h

)

ρ (Fz/km/Spur)

A8-OstA9-Amsterdam

Abb. 4.5 Fahrstreifengemittelte Geschwindigkeits-Dichte-Diagramme für Abschnitte der hollän-dischen A9 von Haarlem nach Amsterdam und der deutschen A8-Ost im Bereich des Irschenbergs

Um aus empirischen Daten eine untere Schranke für die Verteilung der Wunsch-geschwindigkeiten eines Fahrerkollektivs zu erhalten, kann man die Geschwindig-keitsverteilungen von Einzelfahrzeugdaten (vgl. Abschn. 3.1) bei geringen Dichtenheranziehen (siehe Abb. 4.6). Die Verteilung der Geschwindigkeiten auf dem lin-ken und mittleren Fahrstreifen ist symmetrisch und annähernd gaußförmig, wäh-

0

0.01

0.02

0.03

ρ = 0−5 %ρ = 5−10 %

0

0.01

0.02

80 100 120 140 160 180 200v [km/h]

0

0.02

0.04

0.06

0.08

P(v)

left

middle

right

Abb. 4.6 Wahrscheinlichkeitsverteilung der Geschwindigkeiten P(v) bei sehr geringen Dichtenauf der Autobahn A3 (drei Fahrstreifen pro Richtung) (Quelle: Knospe et al., 2002)

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30 4 Darstellung von Querschnittsdaten

−20−10

0 10 20 30 40 50 60 70 80

0 20 40 60 80

ΔV (

km/h

)

ρ (Fz/km/Spur)

M26, Links−RechtsM26, Mitte−Rechts

Synchronisierung

Abb. 4.7 Geschwindigkeitsdifferenz zwischen benachbarten Fahrstreifen (A9-Süd bei München)

rend auf dem rechten Fahrstreifen die Verteilung bimodal (doppelgipflig) ist. Dieslässt sich durch die Überlagerung der Geschwindigkeitsverteilungen von PKW undLKW erklären. In der Abb. 4.7 sind die Geschwindigkeitsunterschiede zwischenverschiedenen Fahrstreifen aufgetragen. Für höhere Verkehrsdichten gleichen sichdie Geschwindigkeitsunterschiede bezüglich der Fahrstreifen an, so dass man vonGeschwindigkeits-Synchronisierung spricht.

Bei der Interpretation der Geschwindigkeits-Dichte-Diagramme ist zu beachten,dass durch die Elimination der Zeit möglicherweise heterogene Fahrerkollektive so-wie unterschiedliche äußere Verhältnisse betrachtet werden. Beispiele hierfür sindunterschiedliche LKW-Anteile zu unterschiedlichen Tageszeiten, verschiedene Wit-terungsbedingungen (hell-dunkel, trocken-nass) und zeitabhängige Tempolimits,die auf Abschnitten mit Verkehrsbeeinflussungsanlagen aktiviert werden können.Dies gilt ebenso für die im Abschn. 4.4 zu diskutierenden Fluss-Dichte-Diagramme.

(1) Im linken oberen Plot des (V, ρ)-Diagramms in Abb. 4.4 nimmt die mittle-re Geschwindigkeit für sehr kleine Dichten wieder ab. Bedeutet dies, dass dieFahrer „Angst vor der freien Autobahn“ haben? Erklären Sie den Sachverhaltmit statistischen Argumenten.(2) Im rechten oberen Plot der Abb. 4.4 gibt es bei Dichten von etwa 10 Fz/kmfür den linken Fahrstreifen (rote, offene Symbole) eine Anhäufung bei etwa100 km/h und eine bei etwa 125 km/h. Können Sie eine mögliche Ursache die-ser Bimodalität nennen? Vergleichen Sie hierzu auch das Diagramm links un-ten und berücksichtigen Sie, dass es auf dem betrachteten Autobahnabschnitteine Verkehrsbeeinflussungsanlage gibt.

4.3 Zeitlückenverteilung

Aus Einzelfahrzeugdaten kann man auch Verteilungen der Zeitlücken erhalten. Ab-bildung 4.8 zeigt Verteilungen von Netto-Zeitlücken (siehe Gl. (3.3)) für zwei Ge-

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4.3 Zeitlückenverteilung 31

0

0.02

0.04

0.06

0.08

0.1

0 1 2 3 4 5 6

Rel

ativ

e H

äufig

keit

Netto−Zeitlücke (s)

V ≥ 60 km/hV < 60 km/h

T

Abb. 4.8 Verteilung der Netto-Zeitlücken für zwei Geschwindigkeitsbereiche (freier und gestauterVerkehr) auf der holländischen A9

schwindigkeitsintervalle. Hier sorgte ein zusätzlicher Fluss-Filter dafür, dass ledig-lich gebundener Verkehr (oberhalb eines Mindestflusses Qc) aufgetragen wurde.Die Zeitlückenverteilungen weisen folgende Merkmale auf:

1. Die Zeitlücken streuen stark. Häufig ist die Standardabweichung größer als dasarithmetische Mittel 〈T 〉 und damit der Variationskoeffizient größer als 1.

2. Die Verteilungen sind stark asymmetrisch. Sowohl im freien als auch im gestau-ten Verkehr kommen Zeitlücken oberhalb von 10 s vor.

3. Im freien Verkehr, charakterisiert durch Geschwindigkeiten oberhalb einerGrenzgeschwindigkeit Vc, ist die wahrscheinlichste Folgezeit (Modalwert) Tdeutlich kleiner als im gestauten Verkehr.

4. In beiden Geschwindigkeitsbereichen ist T wesentlich kleiner als die „Fahr-schulregel“ Abstand gleich halber Tacho, die einer Netto-Zeitlücke von 1.8 sentspricht.

5. Auch das arithmetische Mittel der Folgezeiten ist im dichten, aber noch freienVerkehr deutlich kleiner als im gestauten Verkehr.

Der mittlere Verkehrsfluss ergibt sich aus dem Kehrwert des arithmetischen Mit-tels (allerdings) der Bruttofolgezeiten. Daher kann man aus den Folgezeitverteilun-gen in Abb. 4.8 auch den Flussabfall nach einem Verkehrszusammenbruch ablesen.Dieser capacity drop bewirkt, dass sich ein einmal entstandener Stau in der Regelnicht so schnell wieder auflöst.

Die beobachteten Zeitlückenverteilungen sind im Allgemeinen nicht identischzur Verteilung der gewünschten Folgezeiten der Fahrer, sondern stellen lediglicheine obere Schranke dar. Dass die tatsächliche Folgezeit größer als die gewünsch-te Zeitlücke ist, liegt im freien Verkehr an der Tatsache, dass viele Fahrzeuge garkeinem Vorderfahrzeug folgen. Bei einem Fluss von z.B. 360 Fz/h pro Fahrstreifen,welcher einem arithmetischen Mittel der Bruttofolgezeit von 10 s entspricht, liegtder wahrscheinlichste Wert der Nettozeitlücke immer noch unter 1 s. Es gibt aberauch dynamische Ursachen, da aufgrund mangelnder Beschleunigungsfähigkeit und-willigkeit das Vorderfahrzeug „davonfahren“ kann. Diese Effekte erklären, zumin-dest teilweise, die starke Asymmetrie der Verteilungen.

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32 4 Darstellung von Querschnittsdaten

4.4 Fluss-Dichte-Diagramm

Im Fluss-Dichte-Diagramm wird der Verkehrsfluss über der Verkehrsdichte aufge-tragen. Anhand dieser Darstellung sind viele Aussagen über das makroskopische(d.h. mittlere) Verhalten eines Fahrer-Fahrzeug-Kollektivs möglich, so dass seineIdealisierung auch als Fundamentaldiagramm bezeichnet wird. Für eine konsistenteDarstellung sollte man aber sorgfältig zwischen Fluss-Dichte-Daten und Fundamen-taldiagramm unterscheiden.

Das Fundamentaldiagramm ist die theoretische Beziehung zwischen Dich-te und Fluss, wenn sich homogener und stationärer, aus identischen Fah-rern/Fahrzeugen bestehender Verkehr im Gleichgewicht befindet. Das Fluss-Dichte-Diagramm ist eine Darstellung aggregierter gemessener Daten von imAllgemeinen instationärem inhomogenem Verkehr außerhalb des Gleichge-wichts.

Es gibt also mehrere Gründe, warum Fluss-Dichte-Daten im Allgemeinen nichtauf dem Fundamentaldiagramm liegen, unter anderem, dass

• sich der Einfluss der Messung mit den in Abschn. 3.3 beschriebenen systemati-schen Messfehlern auswirkt,

• der Verkehrsfluss nicht im Gleichgewicht ist,• der Verkehrsfluss räumlich nicht homogen ist oder nicht aus identischen Fahr-

zeugen besteht.

Die im Folgenden beschriebenen bzw. hergeleiteten Aussagen zu Stauausbrei-tung und Fahrverhaltens-Eigenschaften gelten exakt nur für das Fundamentaldia-gramm. Da aber jeder einzelne der obigen Faktoren zu starken Abweichungen dermit Gl. (3.11) bestimmten Dichtewerten gegenüber dem Fundamentaldiagramm(teils um den Faktor zwei) führen kann, können aus Fluss-Dichte-Daten hergeleiteteAussagen stark fehlerbehaftet sein. So ist die aus Fluss-Dichte-Daten extrapoliertemaximale Dichte der folgenden Beispiele unrealistisch klein. Die aus der Steigungder Fluss-Dichte-Punkte im gestauten Verkehr hergeleiteten Ausbreitungsgeschwin-digkeiten (wenn es überhaupt sinnvoll ist, eine Steigung zu definieren) sind hinge-gen betragsmäßig zu groß. Abbildung 4.10 demonstriert diese Aggregierungsfehleranhand einer Simulation, bei der die Aggregierung und Interpretation der Datenmittels „virtueller“ Querschnittsdetektoren mitsimuliert wurden. Rein auf der Mes-sung des Flusses basierende Eigenschaften wie die Bestimmung von Kapazitätenaus Fluss-Dichte-Daten sind hingegen weniger fehlerbehaftet.

Die Abb. 4.9, 4.11 und 4.12 links oben zeigen Beispiele empirischer Fluss-Dichte-Relationen. Daraus lassen sich folgende Größen bestimmen:

1. Die Wunschgeschwindigkeit ist gleich der asymptotischen Steigung Q′(0)

der Fitkurve Q(ρ) bei ρ = 0. Diese Größe lässt sich genauer aus demGeschwindigkeits-Dichte-Diagramm bestimmen (vgl. Abschn. 4.2).

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4.4 Fluss-Dichte-Diagramm 33

0

500

1000

1500

2000

2500

3000

0 20 40 60 80 100 120

Flu

ss Q

(F

z/h/

Spu

r)

ρ (Fz/km/Spur)

A8-OstA9-Amsterdam

Abb. 4.9 Fahrstreifengemittelte Fluss-Dichte-Diagramme für Abschnitte der holländischen A9von Haarlem nach Amsterdam und der A8-Ost im Bereich des Irschenbergs

2. Die tatsächliche mittlere Geschwindigkeit bei gegebener Dichte ist durch dieSteigung der Sekante Q(ρ)/ρ gegeben.

3. Der maximale Wert von Q(ρ) gibt die Kapazität der Richtungsfahrbahn proFahrstreifen an.

4. Der Kehrwert des von Null verschiedenen kleinsten Dichtewertes ρmax, bei demQ(ρmax) = 0 gilt, entspricht der mittleren Fahrzeuglänge zuzüglich des mittle-ren Abstands, der bei Stillstand eingehalten wird.

5. Aus der negativen Steigung von Q(ρ) bei hohen Dichten lässt sich die mittlereNetto-Folgezeit T der Fahrer bestimmen (siehe Kap. 8).

6. Aus dem Fluss-Dichte-Diagramm lassen sich die Fortpflanzungsgeschwindig-keiten von Staufronten sowie von kleinen Schwankungen makroskopischer Grö-ßen ablesen (siehe ebenfalls Kap. 8).

Zur Abschätzung der Auswirkung der eingangs erwähnten Fehlerquellen bei derInterpretation von Fluss-Dichte-Daten können Simulationen dienen, bei denen derMessprozess durch virtuelle Querschnitte mitsimuliert wird. Abbildung 4.10 zeigt,dass das Fluss-Dichte-Diagramm bei hohen Dichten stark von der verwendeten Mit-telungsmethode für die Geschwindigkeit abhängt. Insbesondere unterscheiden sichbei allen Mittelungsmethoden die Dichteschätzungen stark von der realen, in derSimulation natürlich verfügbaren Dichte.

Bisweilen wird beim Verkehrszusammenbruch eine abrupte Abnahme der Kapa-zität, also des maximal möglichen Verkehrsflusses, beobachtet (capacity drop), vgl.Abb. 4.11 und 4.12. In diesem Fall ist die Verkehrsdynamik hysteretisch, d.h. dasVerhalten hängt bei gleicher Nachfrage von der Vorgeschichte ab. Bricht der Ver-kehr zusammen, geht der Verkehrszustand im Fluss-Dichte-Diagramm vom „frei-en Zweig“ in den „gestauten Zweig“ über und der maximal mögliche Durchflusswird geringer. Dies hat zur Folge, dass ein einmal entstandener Stau sich erst beisehr viel geringerer Verkehrsnachfrage wieder auflösen kann. Dieses Phänomen

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34 4 Darstellung von Querschnittsdaten

6 8 10

12 14

16 18

20

x (km)

30 40 50 60 70 80 90

t (min)

0 50

100 150

Dichte ρ (veh/km)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60 80 100

Q (

Fz/

h)

Dichte ρ (Fz/km)

Arithmetisches V-Mittel

14000mGleichgewicht

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60 80 100 120 140

Q (

Fz/

h)

Dichte ρ (Fz/km)

Reale Dichte

14000mGleichgewicht

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60 80 100

Q (

Fz/

h)

Dichte ρ (Fz/km)

Harmonisches V-Mittel

14000mGleichgewicht

Abb. 4.10 Mikrosimulation eines Verkehrszusammenbruchs mit Stauwellen einschließlich Simu-lation der Datenerfassung durch „virtuelle Detektoren“. Die Lage der Fluss-Dichte-Punkte hängtbei hohen Dichten stark vom verwendeten Geschwindigkeitsmittel für die Dichteschätzung ab undweicht in jedem Fall stark von der realen räumlichen Dichte ab. Da identische Fahrzeuge simuliertwurden, sind die Streuungen der Fluss-Dichte-Punkte allein auf das Nichtgleichgewicht zurückzu-führen

wird aufgrund des Aussehens auch als „gespiegeltes“ griechisches λ (inverse-λ) desFluss-Dichte-Diagramms 4.11 bezeichnet.

Die starke Variation der Zeitlücken (vgl. Abschn. 4.3) erklärt teilweise die star-ke Streuung der Fluss-Dichte-Daten im behinderten bzw. gebundenen Verkehr. Imfreien Verkehr führt eine Variation von Dichte und Zeitlücken zu Variationen derFluss-Dichte-Daten entlang einer eindimensionalen Kurve (≈ ρV0). Im gebundenenVerkehr führt eine Variation der Dichte jedoch zu Änderungen der Fluss-Dichte-Daten, die senkrecht zu den durch Variation der Zeitlücken bedingten Änderungenverlaufen. Insgesamt ergibt sich daraus im gebundenen Verkehr ein erratischer Ver-lauf der Fluss-Dichte-Daten (vgl. Abb. 4.12).

Schließlich ist zu bemerken, dass unterschiedliche Zeitlücken nicht nur durchheterogenen Verkehr, d.h. unterschiedliche Wunschzeitlücken der einzelnen Fahrer,zustande kommen, sondern auch durch Nichtgleichgewichte in der Verkehrsdynamik(der tatsächliche Abstand entspricht nicht dem gewünschten Abstand) sowie durchdie bereits diskutierten systematischen Aggregierungsfehler (Abb. 4.10).

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4.4 Fluss-Dichte-Diagramm 35

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60 80 100 120

Flu

ss Q

(F

z/h/

Spu

r)

ρ (Fz/km/Spur)

MQ 2Q = v0 ρ

Q = 1/T(1-ρ/ρmax)

Abb. 4.11 Fluss-Dichte-Diagramm bei hysteretischer Verkehrsdynamik. Zeitreihen dieser Datensind in Abb. 4.1 dargestellt

0

500

1000

1500

2000

2500

0 10 20 30 40 50 60

Q (

Fz/

h)

ρ (Fz/km)

Variation von ρ

Var

iatio

n v

on T

0

20

40

60

80

100

120

140

0 10 20 30 40 50 60

V (

km/h

)

ρ (Fz/km)

0

20

40

60

80

100

120

140

0 500 1000 1500 2000 2500

V (

km/h

)

Q (Fz/h)

Abb. 4.12 Darstellung derselben 1-Minuten-Daten der Autobahn A5-Nord bei Frankfurt alsGeschwindigkeits-Dichte-, Fluss-Dichte- und Geschwindigkeits-Fluss-Diagramm unter Zugrun-delegung des harmonischen Geschwindigkeitsmittels. Die durchgezogenen Linien stellen einenFit der Punkte-Wolke mit einem Traffic-Stream-Modell (siehe Abschn. 6.2.2) dar

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36 4 Darstellung von Querschnittsdaten

4.5 Geschwindigkeits-Fluss-Diagramm

Eine Auftragung der Geschwindigkeit über dem Fluss ist ebenfalls möglich. Die-se Darstellung ist nicht so grundlegend für die Modellierung wie das Fluss-Dichte-Diagramm und auch nicht so anschaulich wie Geschwindigkeits-Dichte-Diagramme. Sie hat den Vorteil, dass nur direkt messbare Größen dargestelltwerden, aber auch hier wirken die systematischen Fehler der Geschwindigkeits-Aggregierung. Mittels der hydrodynamischen Relation Q = ρV sind alle drei Dar-stellungen äquivalent, vgl. Abb. 4.12.

Übungsaufgaben

4.1 Analytisches FundamentaldiagrammBestimmen und zeichnen Sie das Geschwindigkeits-Dichte-Diagramm sowie dasFundamentaldiagramm unter folgenden idealisierten Annahmen: (i) Alle Fahrzeugehaben die Länge l = 5 m. (ii) Im freien Verkehr (Geschwindigkeit ist nicht durchandere Fahrzeuge beeinflusst) fahren alle Fahrzeuge mit der WunschgeschwindigkeitV0 = 120 km/h. (iii) Im gebundenen Verkehr (Fahrzeug hat die gleiche Geschwin-digkeit wie das Vorderfahrzeug) wird der Nettoabstand s(v) = s0 + vT eingehal-ten, wobei s0 einem Mindestabstand von z.B. 2 m und T einer Netto-Folgezeit vonz.B. 1.6 s entspricht.

4.2 Fluss-Dichte-Diagramme aus empirischen DatenEs sind die Geschwindigkeits-Dichte-Diagramme (Abb. 4.5) sowie Fluss-Dichte-Diagramme (Abb. 4.9) der deutschen Autobahn A8-Ost (bei München) und der hol-ländischen A9 (in der Nähe von Amsterdam) gegeben. Bestimmen Sie aus den Dia-grammen für beide Autobahnen die Wunschgeschwindigkeit V0, die Netto-FolgezeitT und die maximale Dichte ρmax sowie den capacity drop anhand der eingezeichne-ten Fitgeraden. Welche Aussagen lassen sich damit über das Verhalten der deutschenund holländischen Fahrer (auf den betrachteten Autobahnen, zur jeweiligen Zeitetc.) treffen?

Literaturhinweise

Helbing, D.: Verkehrsdynamik. Springer, Berlin (1997)Hall, F.: Traffic stream characteristics. Traffic Flow Theory. US Federal Highway Administration,

Washington, DC (1996)Daganzo, C.: Fundamentals of Transportation and Traffic Operations. Pergamon-Elsevier, Oxford,

UK (1997)Knospe, W., Santen, L., Schadschneider, A., Schreckenberg, M.: Single-vehicle data of highway

traffic: microscopic description of traffic phases. Phys. Rev. E 65, 056133 (2002)

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Kapitel 5Raumzeitliche Rekonstruktion der Verkehrslage

Das Staunen ist der Anfang der Erkenntnis.Platon

5.1 Raumzeitliche Interpolation

Allgemein besteht die Aufgabe eines zweidimensionalen, raumzeitlichen Interpola-tionsalgorithmus darin, aus den an bestimmten Orten xi zu bestimmten Zeitpunktenti vorliegenden diskreten Geschwindigkeitspunkten vi = v(xi , ti ) eine kontinu-ierliche, mittlere Geschwindigkeit V (x, t) als Funktion des Ortes und der Zeit zuschätzen (Abb. 5.1 und 5.2). Als Eingangsgrößen dienen Geschwindigkeits- oderFlusswerte, die zu festen Zeiten an definierten Orten gemessen wurden. Dies kön-nen Minutenwerte von stationären Detektoren, aber auch Floating-Car-Daten sein.Als Output erhält man eine kontinuierliche Geschwindigkeitsschätzung als Funktionvon Ort und Zeit.

Dieses Problem entspricht einer diskreten Faltung mit einem Glättungskern φ0über alle zu berücksichtigenden Datenpunkte i :

V (x, t) = 1

N (x, t)

i

φ0 (x − xi , t − ti ) vi . (5.1)

Als Wichtungskern ist jede lokalisierte Funktion geeignet, welche für große Wer-te |x − xi | bzw. |t − ti | hinreichend schnell auf Null abfällt. In der vorliegendenAnwendung hat sich die symmetrische Exponentialfunktion

φ0(x − xi , t − ti ) = exp

[−( |x − xi |

σ+ |t − ti |

τ

)](5.2)

bewährt, wobei σ und τ die Glättungsbreiten in der räumlichen bzw. zeitlichen Ko-ordinate festlegen.1 Der Nenner N bezeichnet die Normierung der Wichtungsfunk-tion, welche sich durch die Summation der Einzelbeiträge ergibt:

1 Eine bivariate Normalverteilung ist ebenfalls möglich.

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_5, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

37

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38 5 Raumzeitliche Rekonstruktion der Verkehrslage

0

20

40

60

80

100

120

140

V[km/h]

07:00 08:00 09:00 10:00 11:00 12:00Uhrzeit

466

468

470

472

474

476

478

480

482

484

Str

ecke

nkilo

met

er

0

20

40

60

80

100

120

140

V[km/h]

07:00 08:00 09:00 10:00 11:00 12:00Uhrzeit

466

468

470

472

474

476

478

480

482

484

Str

ecke

nkilo

met

er

Abb. 5.1 Farbcodierte Geschwindigkeitsdarstellung von stationären Detektoren und daraus rekon-struiertes Geschwindigkeitsprofil für einen Streckenabschnitt der Autobahn A5 bei Frankfurt/Mainin Fahrtrichtung Süd am 28.05.2001. Die stauverursachenden Engstellen sind die Zufahrten derbeiden Autobahnkreuze sowie eine unfallbedingte Behinderung bei Kilometer 478 zwischen 10:00und 11:30 Uhr. Das raumzeitliche Interpolationsverfahren wird in Abschn. 5.2 vorgestellt

x2

x1D1

D2σ

Ort

Zeitτ

(x,t)

Abb. 5.2 Raumzeitliche Interpolation zur Rekonstruktion des Verkehrszustands am Ort x zur Zeitt (blaue Punkte) mit der isotropen Gewichtung (5.2)

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5.1 Raumzeitliche Interpolation 39

N (x, t) =∑

i

φ0(x − xi , t − ti ) . (5.3)

Die Exponentialfunktion wirkt als Tiefpass-Filter, so dass zeitliche Schwankungen(mit Frequenzen größer als 1/τ ) und räumliche Fluktuationen (auf der Skala kleinerals σ ) geglättet werden. Für die Interpolation von über 1 min aggregierten Detek-torwerten eignen sich Werte für τ im Bereich von 30 bis 60 s. Für die Glättung imRaum sollte der Parameter σ Werte annehmen, die in der Größenordnung des halbenmittleren Detektorabstands liegen.

Ist der Abstand zwischen zwei Detektorquerschnitten größer als der halbe räum-liche Abstand zwischen zwei Stop-and-Go-Wellen, bekommt man mit der isotropenMittelung (5.2) allerdings Artefakte wie das „Eierkarton-Muster“ in Abb. 5.3, wel-che die Interpretation von Stauwellen zweideutig werden lässt (Abb. 5.4).

Zeit (h)

Zeit (h)

502

504

506

508

510

512

514

516

502

504

506

508

510

512

514

516

7.5 8 8.5 9 9.5 10 10.5

7.5 8 8.5 9 9.5 10 10.5

D 12

D 14

D 16

D 20

D 18

AK

Neu

fahr

n

D 12

D 14

D 16

D 20

D 18

AK

Neu

fahr

n

Staukritische DichteFreier Verkehr

Staukritische DichteFreier Verkehr

Abb. 5.3 Kontour-Darstellungen der raumzeitlich interpolierten Geschwindigkeitswerte von sta-tionären Detektoren auf einem Streckenabschnitt der A9-Süd nördlich von München. Die Stop-and-Go-Wellen werden durch eine isotrope Mittelung (oberes Diagramm) verzerrt dargestellt,während eine verkehrsadaptive Glättung (unteres Diagramm) die Situation detailliert rekonstruiert

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40 5 Raumzeitliche Rekonstruktion der Verkehrslage

D1 D4D3D2

mögliche Interpretationder Detektordaten

Δ xD

Δ t

x

t

tatsächlicher Stau

Abb. 5.4 Zweideutigkeit der Interpretation von Stop-and-Go-Wellen aus Querschnittsdaten. Ne-ben den „wahren“ Stop-and-Go-Wellen (ausgefüllt) ist auch die punktiert gezeichnete Interpreta-tion denkbar. Die immer stromaufwärts gerichtete Ausbreitungsbewegung der Stauwellen schließtallerdings die letztere Interpretation aus

Warum erhält man bei der isotropen Rekonstruktion von Stop-and-Go-Verkehr Artefakte wie mit falscher Geschwindigkeit oder sogar in die falscheRichtung laufende Stop-and-Go-Wellen, wenn die Detektorabstände die halbeWellenlänge überschreiten? Verdeutlichen Sie die Situation, indem Sie idea-lisierte, regelmäßige Stop-and-Go-Wellen der Wellenlänge λ sowie die Posi-tionen mehrerer Messquerschnitte mit gleichem Abstand Δx voneinander inein Raum-Zeit-Diagramm zeichnen (vgl. Abb. 5.4).

5.2 Verkehrsadaptives Glättungsverfahren

Da Wellenlängen von Stop-and-Go-Wellen oft im Bereich von 2 km liegen, ist diedurch den Kern (5.2) beschriebene isotrope Glättung für die Anwendung auf Ver-kehrsdaten bei den in der Praxis meist vorliegenden Detektorabständen oberhalbetwa 1 km nicht geeignet. Im Folgenden wird ein verkehrsadaptives Interpolati-onsverfahren zur Rekonstruktion der raumzeitlichen Verkehrslage vorgestellt. Mitdieser sogenannten Adaptive Smoothing Method können die raumzeitlichen „Struk-turen“ anhand der Daten detaillierter und plausibler rekonstruiert werden als mitdem Glättungskern (5.2) (siehe Abb. 5.3).

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5.2 Verkehrsadaptives Glättungsverfahren 41

Der Algorithmus basiert auf einer zweidimensionalen Interpolation in Raum undZeit (siehe Abschn. 5.1). Im Gegensatz zur isotropen Glättung (5.2) berücksichtigtdas Verfahren aber die zwei typischen Geschwindigkeiten, mit denen sich Informa-tionen im freien und gestauten Verkehr ausbreiten.

Zunächst werden daher die raumzeitlich gemittelten Geschwindigkeiten (undweitere makroskopische Größen) mit zwei verschiedenen Wichtungskernen („Fil-tern“) bestimmt, welche die Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Störungen im frei-en bzw. gestauten Verkehr berücksichtigen (siehe Abschnitt 5.2.1). Anschließendwird anhand der beiden Filter bestimmt, ob am betrachteten Punkt (x, t) eher Stauoder eher freier Verkehr vorliegt. Dazu wird ein „Stauungsgrad“ w mit Werten zwi-schen 0 und 1 berechnet. Das Ergebnis für die Geschwindigkeit (oder eine andereGröße) ergibt sich unter Berücksichtigung von w aus der Summe der Filter für freienund gestauten Verkehr (siehe Abschn. 5.2.2). Zur Validierung der Methode dienteine Verkehrslageschätzung mit reduzierter Information (weggelassene Messquer-schnitte), die mit der vollen Information verglichen wird (siehe Abschn. 5.2.3).

5.2.1 Charakteristische Ausbreitungsgeschwindigkeiten

Die Adaptive Smoothing Method berücksichtigt, dass alle Störungen im Verkehrs-fluss, also „Strukturen“ in der raumzeitlichen Geschwindigkeitsdarstellung, entwe-der stationär sind oder sich mit einer von zwei bemerkenswert reproduzierbarenGeschwindigkeiten ausbreiten: (i) Im freiem Verkehr breiten sich Störungen ge-mäß empirischer Beobachtungen im Wesentlichen mit dem Verkehrsfluss aus. Diedamit verbundene charakteristische Geschwindigkeit ergibt sich aus der mittlerenGeschwindigkeit der Fahrzeuge. (ii) Bei gestautem Verkehr breiten sich Störungenim Verkehrsfluss (bedingt durch Reaktionen der Fahrer auf das jeweilige Vorder-fahrzeug) entgegen der Fahrtrichtung aus. Aus empirischen Daten ist bekannt, dassdie Geschwindigkeit mit etwa −15 km/h als erstaunlich konstant angesehen werdenkann. Insbesondere breiten sich die stromabwärtigen Fronten von einzelnen Stau-wellen mit dieser charakteristischen Geschwindigkeit aus (vgl. Kap. 17).

Um diese wesentlichen Eigenschaften der Verkehrsdynamik zu berücksichtigen,werden nun zwei geglättete Geschwindigkeitsfelder mit unterschiedlichen Ausbrei-tungsgeschwindigkeiten in freiem und gestautem Verkehr, cfree und ccong, betrach-tet2 (vgl. Abb. 5.5):

Vfree(x, t) = 1

Nfree(x, t)

i

φ0

(x − xi , t − ti − x − xi

cfree

)vi , (5.4)

Vcong(x, t) = 1

Ncong(x, t)

i

φ0

(x − xi , t − ti − x − xi

ccong

)vi . (5.5)

2 Das Subskript „cong“ kommt vom englischen Ausdruck congested für „verstaut“. Ferner werdensystematisch Ausbreitungsgeschwindigkeiten mit c und Fahrzeuggeschwindigkeiten mit V (ma-kroskopisch) bzw. v (mikroskopisch) bezeichnet.

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42 5 Raumzeitliche Rekonstruktion der Verkehrslage

xi

ccong

τ

t

φ0 (gestaut)

τ

xi + 1

t0

x0σ

Detector

Detector0

φ (frei)

tcong = t− = const.xx

’ cfreetfree = t− = const.x’

Abb. 5.5 Geschwindigkeitsfilter der Adaptive Smoothing Method für freien und gestauten Verkehrzur Rekonstruktion des Verkehrszustands am betrachteten Ort x0 zur Zeit t0. Die Rauten gebenden raumzeitlichen Bereich an, in dem die Wichtungsfunktion φ0 jeweils Werte wesentlich un-gleich Null annimmt. Die Lage der Rauten wird durch die Ausbreitungsgeschwindigkeiten vonStörungen in freiem und in gestautem Verkehr bestimmt. Die Symbole auf den Raum-Zeit-Liniender Detektoren geben die Minutendaten der jeweiligen Detektoren an, die bei der Interpolationhauptsächlich berücksichtigt werden

Hierbei werden Nfree und Ncong in Analogie zu Gl. (5.3) gebildet. Während diecharakteristische Geschwindigkeit im freien Verkehr positiv ist und etwas niedrigerals die mittlere Fahrzeuggeschwindigkeit anzusetzen ist (z.B. cfree = 70 km/h fürAutobahnen), berücksichtigt der Parameter ccong = −15 km/h die Ausbreitung vonStörungen im gestauten Verkehr entgegen der Fahrtrichtung. Diese Transformationder Zeitkoordinate entspricht einer Scherung des Glättungskerns φ0(x − xi , t − ti )mit den Raten 1/cfree bzw. 1/ccong. Im Grenzfall cfree = ccong → ∞ geht dieverkehrsadaptive Interpolation in die isotrope Interpolation (5.2) über.

5.2.2 Adaptiver Geschwindigkeitsfilter

Durch die unterschiedlichen Glättungsrichtungen in freiem und gestautem Verkehrwird die mittlere Geschwindigkeit nun als Überlagerung der beiden Geschwindig-keitsfelder Vcong und Vfree aufgefasst:

V (x, t) = w(x, t) Vcong(x, t) + [1 − w(x, t)] Vfree(x, t) . (5.6)

Der Gewichtungsfaktor w(x, t) hängt von den beiden mittleren GeschwindigkeitenVfree und Vcong ab.

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5.2 Verkehrsadaptives Glättungsverfahren 43

Offensichtlich soll bei niedrigen Geschwindigkeiten w ungefähr 1 gelten, wäh-rend bei hohen Geschwindigkeiten w = 0 zu fordern ist. Der unscharfe Übergangzwischen diesen beiden Grenzfällen ist durch folgende s-förmige nichtlineare Funk-tion charakterisiert:

w(x, t) = 1

2

[1 + tanh

(Vc − V ∗

ΔV

)]. (5.7)

Der Prädiktor V ∗(x, t) = min[Vfree, Vcong

]wurde dabei durch die Minimums-

Funktion so definiert, dass gestaute Verkehrszustände durch den resultierendennichtlinearen Filter besser geglättet werden als freie. Der Übergang dieser s-förmigen Funktion wird durch die Breite ΔV charakterisiert, während der Schwell-wert zwischen gestautem und freiem Verkehr durch Vc festgelegt ist. GeeigneteWerte sind z.B. Vc = 60 km/h und ΔV = 20 km/h.

5.2.3 Parameter und Validierung des Verfahrens

Die sechs Parameter des verkehrsadaptiven Interpolationsverfahrens sind in derTabelle 5.1 zusammengefasst. Eine Kalibrierung im engeren Sinne ist bei diesemdatenbasierten Verfahren zur Rekonstruktion und Interpretation der Verkehrslagenicht möglich, aber auch nicht zwingend erforderlich. Die Glättungsparameter τ

und σ sind weiterhin für die Darstellung verantwortlich und daher hinsichtlich derAnwendung frei wählbar.

Eine Möglichkeit zur Validierung der vorgestellten Interpolationsmethode be-steht darin, dass man sie auf unvollständige Detektordaten anwendet und das Er-gebnis mit der auf Basis der vollständigen Information rekonstruierten Verkehrs-lage vergleicht. Hierfür betrachten wir einen Abschnitt der A9 bei München, fürden Minutenwerte von neun stationären Detektoren zur Verfügung stehen. Wäh-rend der morgendlichen Belastungsspitze kommt es in Richtung München zu einemStau mit ausgeprägtem Stop-and-Go-Verkehr. Die rekonstruierte Verkehrslage aufder Basis der neun Querschnitte ist in den Abb. 5.6a, b für die verkehrsadaptiveund naive isotrope Glättung dargestellt. Die berücksichtigten Messquerschnitte sind

Tabelle 5.1 Parameter des verkehrsadaptiven Interpolations- und Glättungsverfahrens (AdaptiveSmoothing Method) mit typischen Werten

Parameter Wert

Glättungsbreite im Ort σ Δx/2 , z.B. 600 mGlättungsbreite in der Zeit τ Δt/2 , z.B. 30 sAusbreitungsgeschwindigkeit von Störungen im freien Verkehr cfree 70 km/hAusbreitungsgeschwindigkeit von Störungen im gestauten Verkehr ccong −15 km/hÜbergangsschwelle vom freien in gestauten Verkehr Vc 60 km/hÜbergangsbreite vom freien in gestauten Verkehr ΔV 20 km/h

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44 5 Raumzeitliche Rekonstruktion der Verkehrslage

(a) Anisotrope Interpolation (9 Detektoren) V[km/h]

07:00 08:00 09:00 10:00 11:00

Uhrzeit

498

500

502

504

506

508

510

512

Str

ecke

n−K

ilom

eter

0

20

40

60

80

100

120

(b) Isotrope Interpolation (9 Detektoren) V[km/h]

07:00 08:00 09:00 10:00 11:00

Uhrzeit

498

500

502

504

506

508

510

512

Str

ecke

n−K

ilom

eter

0

20

40

60

80

100

120

V[km/h](c) Anisotrope Interpolation (6 Detektoren)

07:00 08:00 09:00 10:00 11:00

Uhrzeit

498

500

502

504

506

508

510

512

Str

ecke

n−K

ilom

eter

0

20

40

60

80

100

120

(d) Isotrope Interpolation (6 Detektoren) V[km/h]

07:00 08:00 09:00 10:00 11:00

Uhrzeit

498

500

502

504

506

508

510

512

Str

ecke

n−K

ilom

eter

0

20

40

60

80

100

120

07:00 08:00 09:00 10:00 11:00 07:00 08:00 09:00 10:00 11:00

Uhrzeit Uhrzeit

498

500

502

504

506

508

510

512

498

500

502

504

506

508

510

512

Str

ecke

n−K

ilom

eter

Str

ecke

n−K

ilom

eter

0

20

40

60

80

100

120

0

20

40

60

80

100

120V[km/h] (f) Modifizierter Geschwindigkeitsfilter V[km/h](e) Geänderte Ausbreitungsgeschw.

Abb. 5.6 Validierung des verkehrsadaptiven Interpolationsverfahrens (Adaptive Smoothing Me-thod) und Vergleich mit isotroper Interpolation am Beispiel von Detektordaten auf der A9 beiMünchen in Fahrtrichtung Süd

durch horizontale Linien gekennzeichnet. Die verwendeten Parameterwerte sind inder Tabelle 5.1 zusammengefasst.

Die rekonstruierte Verkehrslage unter Verwendung von lediglich 6 der 9 De-tektoren ist in den Abb. 5.6c und d dargestellt. Zum einen wird deutlich, in wel-cher Weise die Informationen benachbarter Messquerschnitte bei der Interpolati-on berücksichtigt werden. Zum anderen wird gezeigt, dass das verkehrsadaptiveGlättungsverfahren die Information über die Verkehrslage plausibel rekonstruieren

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5.3 Datenfusion 45

kann. Das isotrope Verfahren führt dagegen z.B. zu einer fehlerhaften Zuordnungder Geschwindigkeitseinbrüche bei Streckenkilometer 500.

Durch eine Variation der Referenzwerte aus Tabelle 5.1 kann man überprüfen,wie „robust“ die Verkehrslageschätzung ist bzw. wie sensitiv das Ergebnis von denverwendeten Parameterwerten abhängt. Im Diagramm 5.6e sind die Ausbreitungs-geschwindigkeiten gegenüber den Referenzwerten in Tabelle 5.1 variiert wordenzu cfree = 200 km/h und ccong = −12 km/h. Schließlich ist im Diagramm (f)der nichtlineare Filter deutlich sensitiver eingestellt (ΔV = 5 km/h) und derSchwellwert (Vc = 45 km/h) verschoben worden. Die resultierende mittlere Ge-schwindigkeit, insbesondere die Unterscheidung von freiem und gestautem Verkehr,hängt in beiden Fällen nur schwach von den verwendeten Parameterwerten ab. Derwichtigste Einfluss ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Störungen im gestau-ten Verkehr. Ein zu hoher Wert (mit dem Grenzfall der isotropen Interpolation) wieauch ein zu niedriger Wert (kleiner als 12 km/h) führen zu artifiziellen, diskretenStufen.

5.3 Datenfusion

Mit dem Begriff Datenfusion bezeichnet man die gemeinsame Berücksichtigungverschiedenartiger Daten aus heterogenen Datenquellen wie z.B. Querschnittsda-ten, Floating-Car-Daten, sogenannte „Floating-Phone-Daten“, Meldungen der Po-lizei etc. Jede dieser Datenkategorien beschreibt im Allgemeinen andere Aspektedes Verkehrszustands und unter Umständen können sich die verschiedenen Daten-quellen sogar widersprechen. Das Ziel der Datenfusion ist daher, den maximalenNutzen aus den verfügbaren Information zu ziehen, vgl. die Abb. 5.7 und 5.8. Einebesondere Herausforderung stellen Realtime-Anwendungen der Verkehrslageschät-zung (z.B. für aktuelle Stauinformationen) dar, da dann natürlich Datenpunkte zuzukünftigen Zeitpunkten nicht verwendet werden können.

Floating Car 1

Stationärer Detektor

Floa

ting

Car 2

V mittelV hoch

Stau

t

x

Abb. 5.7 Beispiel heterogener Datenquellen: Querschnittsdaten und Floating-Car-Daten

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46 5 Raumzeitliche Rekonstruktion der Verkehrslage

Wodurch können Inkonsistenzen bei heterogenen Datenquellen entstehen?Wo treten sie in Abb. 5.7 auf?

(Brücke)datenTrajektorien−

x3

x2

x1

Polizeihubschrauber

Floa

ting

Car

FC

1Fl

oatin

g C

ar F

C2

Stationärer Detektor D1

Anruf 2

Ausfall

Floa

ting

Car

FC

3Anruf 1 Anruf 3

200

m

1 minx

t

Stationärer Detektor D2

Abb. 5.8 Beispiel für die Vielfalt möglicher Datenquellen im Raumzeit-Diagramm zur Rekon-struktion der Verkehrssituation. Die waagerechten gepunkteten Linien stellen zwei stationäre De-tektoren an den Positionen x1 und x2 dar, die minütlich Daten senden (grüne Kreise=freier Verkehr,gelb=dichter Verkehr, rot=Stau). Drei Floating Cars durchqueren das raumzeitliche Gebiet und sen-den ebenfalls Daten, aber nicht in festen Abständen, sondern ereignisorientiert. Auf einer Brückebei x = x3 ist eine Kamera samt Videoauswertung installiert, die in einem begrenzten BereichTrajektoriendaten liefert (schwarze Kurvenstücke). Per Mobiltelefon wurde ein Unfall gemeldet(Anruf 1), der Anrufer konnte den Unfallort jedoch nur innerhalb des gestrichelten Bereichs lo-kalisieren. Anrufer 2 beobachtete von einer Brücke aus während eines Zeitraums freien Verkehrund Anrufer 3 sagte, dass er um 14:55 bei km 435.5 im Stau sitzt. Schließlich beobachtete ein (innegative x-Richtung) darüberfliegender Hubschrauber freien Verkehr

Das im Abschn. 5.2 vorgestellte Glättungsverfahren kann auch als ein Algorith-mus zur Datenfusion aufgefasst werden, weil die Summation über alle Datenkatego-rien mit einer raumzeitlichen Geschwindigkeitsinformation vi = v(xi , ti ) erfolgenkann. Bei der Betrachtung verschiedener Datenquellen spielt aber deren Gewich-tung eine wichtige Rolle. In den „Datenfusionsformeln“ (5.4) und (5.5) hängen dieWichtungen

wi (x, t) = φ0(x − xi , t − ti )∑j

φ0(x − x j , t − t j )(5.8)

nur vom Abstand des betrachteten (Gitter-)Punktes (x, t) zu den Datenpunkten(xi , ti ) ab. Es werden also alle Datenpunkte als gleich wichtig betrachtet. Daherist es sinnvoll, neben dieser raumzeitlichen Wichtung auch eine Wichtung nach derDaten-Zuverlässigkeit durchzuführen, also zuverlässigere Datenquellen gegenüber

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5.3 Datenfusion 47

weniger zuverlässigen Daten stärker zu gewichten. Ansonsten kann in ungünstigenFällen eine Fusion sogar zu einer Verschlechterung des Ergebnisses führen.

Die Bestimmung entsprechender Wichtungskoeffizienten αm für verschiede-ne Datenkategorien wie z.B. Induktionsschleifen-Detektoren, Infrarot-Detektoren,Floating-Cars etc. ist im Allgemeinen schwierig. Einen Anhaltspunkt kann das nunherzuleitende analytische Ergebnis liefern. Dazu werden folgende idealisierte An-nahmen gemacht: (i) Die verschiedenen Datenkategorien m weisen keine systema-tischen Fehler auf, (ii) die Varianz θm der zufälligen Fehler ist bekannt und (iii) dieFehler der verschiedenen Datenkategorien sind nicht korreliert.

Entkoppelt man die Wichtung nach Zuverlässigkeit von der räumlichen Wich-tung (5.8) durch Produktbildung, d.h. wi (x, t)αm(i), lautet das restringierte Optimie-rungsproblem für die Wahl der Wichtungskoeffizienten αm : Minimiere die Varianzder Fehler der Datenfusion,

θ({αm}) =∑

m

α2mθm, (5.9)

unter der Nebenbedingung

m

αm = 1 . (5.10)

Hierbei folgt die Fehlervarianz (5.9) direkt aus der Varianz einer Linearkombinationunabhängiger Zufallsgrößen, während durch die Nebenbedingung gefordert wird,dass sich die Gewichte zu 1 summieren.

Solche restringierten Extremalwertprobleme können mit dem Verfahren derLagrange-Multiplikatoren gelöst werden. Hierfür wird jede Nebenbedingung in derForm Bn = 0 formuliert und bekommt einen Lagrange-Multiplikator λn . Die Funk-tion L = θ −∑

n λn Bn wird nach den unabhängigen Variablen (d.h. den {αm}) mi-nimiert und anschließend werden die bisher unbekannten Multiplikatoren λn durchdirektes Einsetzen der Nebenbedingungen bestimmt.

In unserem Fall liegt nur eine Nebenbedingung vor und die zu minimierendeFunktion ist gegeben durch L = θ − λ

(∑m αm − 1

). Die Minimierung ergibt

∂L

∂αm= 2αmθm − λ

!= 0 ⇒ αm = λ

2θm.

Bestimmt man nun λ durch die Nebenbedingung (5.10), erhält man als Ergebnis

αm =1θm∑

m′1θ ′

m

. (5.11)

Die Wichtung ist also proportional zum Kehrwert der Fehlervarianz.

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48 5 Raumzeitliche Rekonstruktion der Verkehrslage

Übungsaufgaben

5.1 Rekonstruktion der Verkehrslage mit einem UnfallFür einen 10 km langen Autobahn-Abschnitt mit den Koordinaten 0 ≤ x ≤ 10 kmtreffen Informationen aus verschiedenen Quellen ein, die Indizien für einen Unfallmit Streckensperrung liefern: (i) Um 16:00 Uhr fährt ein Floating-Car in das Gebietein und durchfährt es mit 120 km/h. (ii) Ein weiteres gleich schnelles Floating Cartrifft um 16:19 Uhr bei x = 5 km auf stehenden Verkehr. (iii) Bei den Streckenki-lometern 4 und 8 gibt es stationäre Detektoren, welche nur den Verkehrsfluss (nichtaber die Geschwindigkeit) bestimmen. Der Detektor bei x = 4 km registriert ver-schwindenden Verkehrsfluss von 16:25 bis 16:58 Uhr, der Detektor bei x = 8 kmvon 16:14 bis 16:51 Uhr. (iv) Ein Mobilfunker meldet um 16:40 Uhr, dass er beix = 5 km seit einigen Minuten im Stau steckt. (v) Ein weiterer Mobilfunker in derGegenrichtung meldet um 16:30 Uhr eine leere Strecke bei x = 7 km.

1. Zeichnen Sie die verschiedenen Informationen in ein Raum-Zeit-Diagramm.Kennzeichnen Sie jeweils, ob es sich um die Information „freier Verkehr“ oder„Stau“ handelt.

2. An welchem Ort und zu welcher Zeit findet der Unfall statt? Gehen Sie davonaus, dass ein Unfall vorliegt, der zur sofortigen Streckensperrung führt, und dasssich der Stau mit konstanter Geschwindigkeit stromaufwärts ausbreitet. GebenSie die Ausbreitungsgeschwindigkeit an.

3. Wann wird die Streckensperrung aufgehoben? Berücksichtigen Sie dabei die uni-verselle Ausbreitungsgeschwindigkeit stromabwärtiger Staufronten, welche hier−15 km/h beträgt.

5.2 Behandlung inkonsistenter InformationenWenn ein Floating Car die Position xD eines stationären Detektorquerschnitts(zur Zeit tD) passiert, gibt es für den raumzeitlichen Punkt (xD, tD) zwei imAllgemeinen sich widersprechende Informationen. Es ist nun bekannt, dass dieFC-Geschwindigkeitsdaten V2 eine doppelt so hohe Ungenauigkeit (Standardab-weichung) σ2 aufweisen wie die stationären Detektoren (Geschwindigkeit V1, Stan-dardabweichung σ1 = 1

2σ2). Ferner sind die Fehler unabhängig voneinander und esgibt keine systematischen Fehler. Wie verbessert bzw. verschlechtert sich der Fehler,wenn man die beiden Datentypen (i) gleich, (ii) optimal nach Gl. (5.11) gewichtet?

Literaturhinweise

Treiber, M., Helbing, D.: Reconstructing the spatio-temporal traffic dynamics from stationarydetector data. Coop. Transp. Dyn. 1, 3.1–3.24 (2002) (Internet Journal, www.TrafficForum.org/journal).

Kesting, A., Treiber, M.: Datengestützte Analyse der Stauentstehung und -ausbreitung auf Auto-bahnen. Straßenverkehrstechnik 1, 5–11 (2010)

van Lint, J., Hoogendoorn, S.P.: A robust and efficient method for fusing hetergeneous data fromtraffic sensors on freeways. Comput. Aided Civil Infrastruct. Eng. 24, 1–17 (2009)

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Teil IIModellierung der Verkehrsflussdynamik

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Kapitel 6Allgemeines zur Verkehrsflussmodellierung

Gleichungen sind wichtiger für mich, weil die Politik für dieGegenwart ist, aber eine Gleichung etwas für die Ewigkeit.

Albert Einstein

6.1 Historie und Abgrenzung von verwandten Gebieten

Die Modellierung der Verkehrsflussdynamik begann bereits in den 1930er Jahrendes letzten Jahrhunderts; der erste Pionier war wohl der Amerikaner Bruce D.Greenshields (Abb. 6.1). Erst in den 1930er Jahren führten die steigende Verkehrs-belastung, die bessere Datenlage und der zunehmend einfachere Zugriff auf hoheRechenleistung zu verstärkten Aktivitäten.

Neben der Verkehrsflussmodellierung gehört die Verkehrsplanung zu den Me-thoden der Verkehrsmodellierung. Sowohl die Verkehrsflussdynamik als auch dieVerkehrsplanung umfassen zeitlich veränderliche Verkehrsphänomene. Die Gebieteunterscheiden sich jedoch in folgenden Aspekten:

• Zeitlicher Aspekt: In der Verkehrsflussdynamik werden meist wenige Stundenbetrachtet, während es bei der Verkehrsplanung um Tage bis Jahre geht (vgl.Kap. 1).

Abb. 6.1 Verkehrstheorie in den 1930er Jahren: Historisches Geschwindigkeits-Dichte-Diagrammund dazugehörige Messung von Bruce D. Greenshields (Quelle: Greenshields, 1935)

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_6, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

51

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52 6 Allgemeines zur Verkehrsflussmodellierung

• Objektiver Aspekt: Die Verkehrsflussdynamik setzt eine extern gegebene Ver-kehrsnachfrage sowie eine feste Infrastruktur voraus, während die Verkehrspla-nung die Dynamik der Nachfrage selbst sowie Auswirkungen einer Veränderungder Infrastruktur modelliert.

• Subjektiver Aspekt: In der Verkehrsflussdynamik wird das menschliche Fahr-verhalten (Beschleunigen, Bremsen, Fahrstreifenwechseln, Abbiegen etc.)untersucht, während die übergeordneten Aktionen wie Anzahl und Art der zu-rückgelegten Wege einschließlich Zielwahl (Entfernung), Verkehrsmittelwahlund Routenwahl in das Gebiet der Verkehrsplanung fallen.

Man beachte, dass „Dynamik“ allein kein Unterscheidungsmerkmal ist, daauch in der Verkehrsplanung zunehmend eine dynamische Verkehrsumlegung (d.h.verkehrs- und zeitabhängige Routenwahl) modelliert wird. Ferner sind auf denin der Verkehrsplanung betrachteten Zeitskalen auch Angebot (Infrastruktur) undNachfrage selbst „dynamisch“. Der Begriff Verkehrsdynamik umfasst beide Ansät-ze, so dass man spezifischer von Verkehrsflussdynamik spricht, wenn die Modellie-rung von Beschleunigungen, Verzögerungen, Fahrstreifenwechseln und Richtungs-änderungen gemeint ist.

Die Unterschiede zwischen den Ansätzen spiegeln sich in typischen Anwen-dungsbereichen wider. Beispielsweise kann die Wahrscheinlichkeit von Staus ent-weder durch Verkehrsbeeinflussungen wie Tempolimits, Zuflusskontrollen, LKW-Überholverbote und Wechselwegweisungen verringert werden oder indem die Au-tofahrer zum Umsteigen auf andere Verkehrsmittel bewegt werden, die Spitzenstun-den entzerrt oder die Verkehrsnachfrage (z.B. mit politischen Maßnahmen) insge-samt verringert wird. Während in den ersten Fällen mit Modellen der Verkehrs-dynamik simuliert wird, werden im letzteren Fall Methoden der Verkehrsplanungangewandt.

6.2 Modellkategorien

Verkehrsflussmodelle können nach verschiedenen Ordnungsprinzipien eingeteiltwerden: inhaltlich, mathematisch oder konzeptionell. Im Folgenden werden diewichtigsten Modellierungsklassen vorgestellt.

6.2.1 Inhaltliche Einteilung

Das reale Verkehrsgeschehen kann auf verschiedene Arten inhaltlich abstrahiert unddamit modelliert werden (Abb. 6.2):

Makroskopische Modelle betrachten den Verkehrsfluss in Analogie zu einer strö-menden Flüssigkeit oder einem Gas. Deshalb werden sie gelegentlich als hydro-dynamische Modelle bezeichnet. Die dynamischen Größen sind lokal aggregierteGrößen wie Verkehrsdichte ρ(x, t), Fluss Q(x, t), mittlere Geschwindigkeit V (x, t)oder Geschwindigkeitsvarianz σ 2

v (x, t). Da die Aggregierung nur lokal erfolgt, sind

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6.2 Modellkategorien 53

diese Größen räumlich und zeitlich veränderlich. Daher können Staus und Aus-breitungsgeschwindigkeiten von Störungen im Verkehrsfluss mit Makromodellenbeschrieben werden. Weiterhin sind Makromodelle geeignet,

• wenn Effekte, die sich nur schwer mikroskopisch beschreiben lassen (z.B. Fahr-streifenwechsel, verschiedene Fahrer-Fahrzeug-Typen), keine Rolle spielen,

• wenn man ohnehin nur an makroskopischen Größen interessiert ist,• wenn die Simulationsgeschwindigkeit kritisch ist, wie z.B. in Realtime-

Anwendungen (spielt mit wachsender Rechnerleistung eine immer geringereRolle),

• wenn die zur Verfügung stehenden Eingangsgrößen aus heterogenen Datenquel-len kommen und/oder inkonsistent sind.

Eine Realtime-Fähigkeit und die Fähigkeit zur Auswertung heterogener Da-tenquellen sind insbesondere beim Anwendungsbereich Verkehrslageschätzungnotwendig. Dabei werden die Daten zu Informationen aufbereitet, welche über Ver-kehrsfunk weitergegeben werden können oder als Basis für verkehrsadaptive Navi-gationssysteme dienen.1

Mikroskopische Modelle oder Fahrzeugfolgemodelle gehen von den einzelnen„Fahrer-Fahrzeug-Teilchen“ α aus, die als Kollektiv den Verkehrsstrom ausmachen.Sie beschreiben die Reaktion eines jeden Fahrers (beschleunigen, bremsen, Spurwechseln) in Abhängigkeit von seinen Nachbarn. Die entsprechenden Größen sinddie Positionen xα(t), Geschwindigkeiten vα(t) und Beschleunigungen vα(t).

Mikromodelle sind die „Modellklasse der Wahl“ bei folgenden Anwendungsge-bieten:

ρ (x,t)

vα (t)

(vxα (t), vyα (t))

Makromodell

Mikromodell

CA−Modell

Fußgängermodell

n = 1n = 0

Abb. 6.2 Vergleich der verschiedenen Kategorien von Verkehrsmodellen mit jeweils einer reprä-sentativen Modellgleichung

1 In diesem Anwendungsbereich sind Verkehrsflussmodellierung und die zur Verkehrsplanung ge-hörende dynamische Routenwahl miteinander verzahnt: Die Verkehrsflussmodellierung bietet eineEntscheidungsgrundlage für die Routenwahl.

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54 6 Allgemeines zur Verkehrsflussmodellierung

• Modellierung des Einflusses einzelner Fahrzeuge auf den Verkehr. Dies wird beieinigen Fahrerassistenzsystemen wie adaptiven Beschleunigungsreglers (Adapti-ve Cruise Control, ACC) mit ihrer wachsenden Verbreitung zunehmend bedeut-sam.

• Aufgabenstellungen, bei denen die Heterogenität des Verkehrs eine wichtige Rol-le spielt wie bei der Simulation der Auswirkung von Tempolimits, LKW-Über-holverboten etc. Wie in Kap. 20 noch gezeigt wird, ist dies bei der Simulationaller Maßnahmen zur Verkehrsbeeinflussung der Fall: Grundprinzip ist dabeinämlich immer die Homogenisierung des Verkehrs.

• Beschreibung des menschlichen Fahrverhaltens (einschließlich Schätzfehler, Re-aktionszeiten, Zeiten der Unaufmerksamkeit sowie Antizipation). Damit kannman Aussagen darüber bekommen, wie sich verschiedene Fahrstile auf die Ver-kehrsleistungsfähigkeit und -stabilität auswirken.

• Darstellung der Interaktion verschiedener Verkehrsteilnehmer, wie PKW, LKW,Busse, Radfahrer und Fußgänger.

Mesoskopische Modelle verknüpfen mikroskopische und makroskopische An-sätze, z.B. indem (i) die Parameter des Mikromodells von makroskopischenGrößen wie der Verkehrsdichte abhängen, (ii) makroskopische Größen wie Staube-ginn und Stauende durch mikroskopische Ratengleichungen (sogenannte „Master-Gleichungen“) für die ein- und ausfahrenden Fahrzeuge beschrieben werden, und(iii) in gaskinetischen Verkehrsmodellen die Änderungen von Wahrscheinlichkeits-verteilungen des Verkehrsflusses durch idealisierte „Stoß-Wechselwirkungen“ be-schrieben werden. Ansonsten stellen die mesoskopischen Modelle eine bunte Viel-falt ohne weitere Gemeinsamkeiten dar. Sie werden hier nicht näher betrachtet.

Aggregierung und Disaggregierung. Bei der Auswahl der Modellklasse sollteman beachten, dass man aus Mikromodellen durch lokale Aggregierung häu-fig makroskopische Größen, also die Dynamik von Dichte, Fluss oder mittlererGeschwindigkeit, gewinnen kann (vgl. Abb. 6.3). Voraussetzung ist, dass sich in dermikroskopischen Verkehrsdynamik räumliche Bereiche definieren lassen, die einer-seits mikroskopisch groß sind, also mehrere Fahrzeuge enthalten, über die gemitteltwerden kann. Einige makroskopische Größen wie Dichte oder Geschwindigkeits-varianz sind prinzipiell nur für mehrere Fahrzeuge definiert. Andererseits müssendie Bereiche aber auch makroskopisch klein sein, d.h. kleiner als die typischen Aus-dehnungen der Strukturen (Staus, Stop-and-Go-Wellen, Unterschiede im Verkehrs-fluss etc.), die man beschreiben möchte. Eine besondere Form der Aggregierungstellt eine simulative Nachbildung der empirischen Verkehrsmessung durch virtuel-le Detektoren dar, deren Messungen man mit den in den Kap. 3 und 4 vorgestelltenMethoden weiter analysieren kann.

MakromodellMikromodell

Disaggregierung

Aggregierung

Abb. 6.3 Aggregierung und Disaggregierung bei Modellen

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6.2 Modellkategorien 55

Die umgekehrte Richtung, d.h. die Gewinnung von Einzelfahrzeuginformationenaus makroskopischen Verkehrsgrößen durch die sogenannte Disaggregierung, istproblematischer und nur mit sehr einschränkenden Annahmen möglich.

Eine Anwendung der Aggregierung und Disaggregierung stellt auch die si-multane Verwendung von Mikro- und Makromodellen dar, bei der man z.B. kriti-sche Streckenabschnitte wie Streckeninhomogenitäten mikroskopisch und den Restder Strecke makroskopisch modelliert. Dazu benötigt man einen korrespondieren-den Satz aus einem Mikro- und einem Makromodell, wobei beide Modelle die-selben Modellparameter besitzen und die aggregierten Ergebnisse des Mikromo-dells möglichst gut denen des Makromodells entsprechen sollten. Weiterhin werdenein Mikro-Makro-Link für die Übergänge vom Mikro- zum Makromodell an einerortsfesten Stelle (Aggregierung) und ein Makro-Mikro-Link für die entsprechendeDisaggregierung benötigt. Ein Beispiel für die Herleitung eines Makromodells auseinem Fahrzeugfolgemodell wird in Abschn. 9.4.1 vorgestellt.

6.2.2 Mathematische Einteilung

Verkehrsflussmodelle können auch nach ihrer mathematischen Form unterschiedenwerden.

Partielle Differentialgleichungen. Bei dieser Modellklasse sind sowohl Ort x alsauch Zeit t kontinuierlich und dienen als unabhängige Variable von kontinuierli-chen Zustandsfunktionen wie Geschwindigkeit V (x, t) oder Verkehrsdichte ρ(x, t).Die Modellgleichungen enthalten neben den Zustandsfunktionen auch Ableitungennach beiden unabhängigen Variablen, was das definierende Merkmal von partiellenDifferentialgleichungen ist. Sie sind geeignet zur Formulierung makroskopischerModelle. Trotz ihrer komplizierteren Form erlaubt diese Modellklasse die einfachsteDarstellung vieler Sachverhalte wie das Fundamentaldiagramm oder die Ausbrei-tung von Stauwellen sowie eine schnelle numerische Lösung.

Gekoppelte gewöhnliche Differentialgleichungen. Hier hängen die kontinuierlichenZustandsgrößen (z.B. Ort xα(t) oder Geschwindigkeit vα(t) des Fahrzeugs α) nurvon einer Variablen, nämlich der Zeit t , ab. Die Modellgleichungen enthalten nebenden Zustandsgrößen auch deren Zeitableitungen (Kennzeichen einer gewöhnlichenDifferentialgleichung) und sind an die Gleichungen des Nachbarfahrzeugs gekop-pelt. Diese mathematische Form ist zur Beschreibung zeitkontinuierlicher Mikro-modelle, sogenannter Fahrzeugfolgemodelle geeignet.

Gekoppelte iterierte Abbildungen. Ist das Modell nicht in kontinuierlicher Zeit,sondern mit diskreten Zeitschritten �t formuliert, während die Zustandsvariablenaber nach wie vor kontinuierlich sind, so gehen die Differentialgleichungen initerierte Abbildungen (iterated maps oder coupled maps) über. Konkret sind dieZustandsgrößen des neuen Zeitschritts als Funktion dieser Größen im alten Zeit-schritt und eventuell weiterer vergangener Zeitschritte gegeben.

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56 6 Allgemeines zur Verkehrsflussmodellierung

Iterierte Abbildungen werden für Mikro- und für Makromodelle eingesetzt. ImFalle von Makromodellen ist der Ort diskret und in Zellen eingeteilt, während er beiMikromodellen zusammen mit der Geschwindigkeit eine kontinuierliche Zustands-variable (die Fahrzeugposition) darstellt. Formal sind iterierte Abbildungen iden-tisch zu den Differentialgleichungen in Verbindung mit einem expliziten numeri-schen Lösungsverfahren für die Zeitintegration. Konzeptionell hingegen besteht einUnterschied: In iterierten Abbildungen ist die Zeitschrittweite �t ein Modellpara-meter und die Genauigkeit der numerischen Lösung wird nur durch die numerischenRundungsfehler beschränkt. Bei der numerischen Integration von Differentialglei-chungen hingegen stellt der Zeitschritt keinen Bestandteil des Modells, sondern eineHilfsgröße des Lösungsverfahrens dar. Die mathematische Lösung wird für �t → 0erreicht (zumindest, wenn das Integrationsverfahren konsistent ist), während diereale Lösung für �t > 0 mehr oder weniger große Fehler aufweist.

Zelluläre Automaten. In dieser Modellklasse liegen alle Größen diskretisiert vor.Der Ort ist in feste Zellen untergliedert, die Zeit wird in festen Zeitschritten ak-tualisiert, und der Zustand jeder Zelle ist entweder 0 (kein Fahrzeug) oder 1 (Zelleenthält ein Fahrzeug oder einen Teil eines Fahrzeugs). In jedem Zeitschritt wirddie Besetzung der Zellen aus den bisherigen Besetzungen neu bestimmt. ZelluläreAutomaten (engl. cellular automata, CA) werden hauptsächlich für mikroskopischeModelle eingesetzt, prinzipiell lassen sich aber auch makroskopische Modelle sobeschreiben.

Diskrete Zustände, kontinuierliche Zeit. Dies ist die mathematische Form derweitaus meisten Spurwechsel-Submodelle, auch bei zeitkontinuierlichen Mikromo-dellen: Es wird nur ein ganzzahliger Fahrstreifenindex unterschieden, so dass derWechsel der Fahrstreifen (unrealistisch) als instantaner Wechsel dargestellt wird.2

Auch die mittels Master-Gleichungen formulierten mesoskopischen Modelle gehö-ren zu dieser Kategorie.

Statische Modelle. Diese Modellklasse, englisch auch als Traffic Stream Models be-zeichnet, beschreibt eine paarweise Beziehung zwischen den Größen Dichte, Fluss,Geschwindigkeit oder Belegung. Beispiele sind die bereits in Teil I behandelteGeschwindigkeits-Dichte-Beziehung V (ρ) oder das Fundamentaldiagramm Q(ρ).Im Rahmen der Verkehrsflussmodellierung sind statische Modelle meist Bestandtei-le makroskopischer Modelle, um die Geschwindigkeit oder den Fluss als Funktionder Dichte auszudrücken und so die Komplexität zu reduzieren. Im Rahmen derVerkehrsplanung kommt beispielsweise bei der Routenwahl eine Geschwindigkeits-Fluss-Beziehung zum Einsatz. Diese sogenannte Kapazitätsbeschränkungsfunktion(capacity restraint, CR-Funktion) modelliert die bei zunehmender Verkehrsbela-stung ansteigende Reisezeit.

2 Bei Mikromodellen, die als iterierte Abbildungen formuliert sind, hat das Spurwechsel-Submodell die mathematische Form eines zellulären Automaten.

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6.2 Modellkategorien 57

6.2.3 Einteilung bezüglich weiterer Kriterien

Je nach Problemstellung können Verkehrsmodelle auch gemäß weiterer Kriterienunterschieden werden.

Konzeptionelle Grundlage. Man unterscheidet heuristische Modelle von First-Principles-Modellen.3 Heuristische Modelle bestehen aus einfachen mathemati-schen Ansätzen (z.B. multivariat-linear oder polynomial in den unabhängigen Va-riablen), deren Koeffizienten die Rolle von Modellparametern spielen. Sie werdenz.B. durch Regression an die Daten angepasst und haben im Allgemeinen keineanschauliche Bedeutung. First-Principles-Modelle hingegen werden aus bestimm-ten geforderten Eigenschaften abgeleitet. Bei Fahrzeugfolgemodellen kann dies einFahrverhalten sein, welches durch Zielwerte (Wunschwerte) für Geschwindigkeit,Beschleunigung, Verzögerung, Folgezeit sowie Mindestabstand bestimmt ist. Idea-lerweise ist jeder dieser Forderungen ein Modellparameter zugeordnet, dessen Wertdadurch, im Gegensatz zu den heuristischen Modellen, anschaulich ist. Auch dieseModelle werden natürlich an die Daten angepasst. Bei „guten“ First-Principles-Modellen ergeben sich kalibrierte Werte im erwarteten Bereich, also z.B. 1 s bis2 s bei der Folgezeit oder 0.8 m/s2 bis 2.5 m/s2 bei den Beschleunigungen.

Einfluss des Zufalls. Zufallsterme sind eine Möglichkeit, Aspekte des Verkehrs-flusses zu beschreiben, welche nicht bekannt, nicht modellierbar, nicht messbar oder„echt“ zufällig sind. Bei der Implementierung der Modelle in Computern werden diestochastischen Terme durch den Einsatz von (Pseudo-)Zufallsgeneratoren realisiert.Man unterscheidet deterministische Modelle ohne jede Zufallskomponente von sto-chastischen Modellen mit Zufallsanteilen, welche auch Rauschterme oder stochasti-sche Terme genannt werden. Der Zufall kann dabei an verschiedenen Stellen in dasModell eingreifen:

• Mit Beschleunigungsrauschen kann man phänomenologisch eine gewisse Un-vorhersehbarkeit bzw. Irrationalität des Fahrverhaltens abbilden („der Menschist ja keine Maschine“). Die meisten zellulären Automaten benötigen derartigeRauschanteile, um sinnvolle Ergebnisse zu liefern.

• Durch ein Verrauschen des Inputs kann man die Beschreibung menschlicher Un-vollkommenheiten wie Wahrnehmungs- und Schätzfehler eine Stufe tiefer anset-zen: Während beim Beschleunigungsrauschen die Beschleunigung nachträglichverrauscht wird, hängen hier die die Eingangsgrößen der dann deterministischenBeschleunigungsfunktion zufällig von der Zeit ab.

• Schließlich können auch die Randbedingungen (Zuflüsse und Abflüsse), die In-frastruktur (Streckenkapazitäten) sowie die Zusammensetzung der Fahrzeugflottestochastische Anteile enthalten.

3 Da es sich bei Verkehrsmodellen immer auch um Verhaltensmodelle handelt, sind die hier ge-meinten first principles allerdings nicht so universell und unveränderlich wie z.B. first principlesin der Physik.

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58 6 Allgemeines zur Verkehrsflussmodellierung

Eigenschaften der Fahrzeugflotte. Man unterscheidet Modelle mit identischenFahrer-Fahrzeug-Einheiten von Modellen, welche heterogenen Verkehr beschrei-ben, bei denen also mehrere Fahrzeugtypen (wie Krafträder, PKW, LKW) und even-tuell für jeden Fahrzeugtyp mehrere Parametrisierungen (vorsichtige/agile PKW-Fahrer oder voll beladene/leere LKW) simuliert werden (inter-driver variability).

Dynamische Fahrverhaltensparameter. Die gewählten, üblicherweise konstantenParameter bestimmen das Fahrverhalten eines Fahrer-Fahrzeug-Typs. Für die Be-schreibung eines sich ändernden Fahrverhaltens können einzelne Parameter auchals zeitabhängige, d.h. dynamische, Größen aufgefasst werden (intra-driver varia-bility). Damit lassen sich z.B. Fahrverhaltensänderungen („Resignationseffekte“)modellieren, die durch ein längeres Fahren im Stau hervorgerufen werden.

Berücksichtigung der Spurwechsel. Werden mehrere Fahrstreifen und entspre-chende Wechsel zwischen ihnen berücksichtigt, besteht das Verkehrsflussmodellaus den Subkomponenten Längsdynamik (Beschleunigungsmodell) und Querdyna-mik (Spurwechselmodell). Bei manchen Modellen ist die Querdynamik integriert,während reine Längsdynamikmodelle mit einer Auswahl an geeigneten Fahrstrei-fenwechselmodellen erweitert werden können. In Kap. 14 wird ein solches Modellvorgestellt.

Welche Kategorien von Modellen sind für folgende Aufgabenstellungen amgeeignetsten?

1. Modellgestützte Verkehrslageschätzung für Stauwarnungen oderRouting-Anwendungen,

2. Modellierung von menschlichen Fahrern, einschließlich verschiedenerFahrstile,

3. Entwicklung eines adaptiven Beschleunigungsreglers (Adaptive CruiseControl, ACC),

4. Modellierung der „verkehrlichen Auswirkungen“ von ACC und anderenFahrerassistenzsystemen,

5. Modellierung sehr großer Netze wie z.B. das gesamte deutsche Auto-bahnnetz,

6. Modellierung komplizierter Stadtverkehrsnetze,7. Modellierung der Auswirkungen von Verkehrsbeeinflussungsmaßnah-

men wie Tempolimits oder Gebote, bestimmte Fahrstreifen zu nutzen,8. Modellierung von Baustellen und anderer Engstellen.

6.3 Nichtmotorisierter Verkehr

Neben der Verkehrsdynamik von motorisiertem Straßenverkehr wird auch dieDynamik von Fußgängerströmen mit meist mikroskopischen Fußgängermodel-len abgebildet. Wie beim Straßenverkehr unterscheidet man dabei Modelle

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Literaturhinweise 59

mit kontinuierlichen Größen, sogenannte soziale Kräftemodelle, von diskretenzellulären Automaten. Im Gegensatz zu Kfz-Verkehr können sich Fußgänger freiin zwei Raumdimensionen bewegen. Es gibt also zwei gleichwertige Ortskoordina-ten x und y und z.B. neben der Wunschgeschwindigkeit auch eine Wunsch(ziel)richtung.

Fußgängermodelle werden beispielsweise bei dem Design und der Dimensio-nierung von Flughäfen, großen Plätzen, Einkaufszentren und der Infrastrukturfür Massenveranstaltungen angewendet. Weiterhin werden sie auch genutzt, umEvakuierungs-Szenarien (aus Gebäuden, Fußballstadien, Schiffen etc.) zu simulie-ren. Ein bekanntes Beispiel einer Verkehrsflussmodellierung von Fußgängern sinddie Pilgerströme bei der jährlichen Hadsch von Mekka in Saudi-Arabien mit demZiel, den Verkehrsfluss durch eine geeignete Routenführung der Pilger zu verbessernund Gedränge bzw. Staus zu vermeiden.

Für die Verkehrsflussmodellierung weiterer Verkehrsarten wie Radfahrer, Läuferoder Inline-Skater existieren im Gegensatz zur Verkehrsplanung nahezu keine Ver-kehrsflussmodelle, obwohl dafür durchaus Bedarf besteht. Als Beispiele seien dieModellierung von Radverkehr und motorisiertem Zweirad- und Dreiradverkehr inSchwellenländern oder Flussmodelle für Läufer und Inlineskater als Planungs- undOrganisationstool für Großveranstaltungen wie Stadtmarathons, Skatingveranstal-tungen oder Skilanglauf-Massenveranstaltungen wie dem Wasa-Lauf in Schwedengenannt. Die Modelle könnten zur Bewertung der Streckenführung, Erkennung vonEngstellen und ggf. Festlegung einer Teilnehmerbegrenzung dienen.

Übungsaufgaben

6.1 Tempolimit auf Autobahnen?Es wird immer wieder für eine Einführung von Tempo 130 auf deutschen Auto-bahnen argumentiert. Dabei werden vor allem folgende Gesichtspunkte betrachtet:(i) Bei Tempo 130 geht die Zahl der Unfälle zurück (Sicherheitswirkung). (ii) Beigleicher Verkehrsnachfrage wird durch Tempo 130 die dynamische Streckenkapa-zität erhöht bzw. die Verkehrsstaus reduziert (Verkehrsauswirkung). (iii) Tempo 130reduziert den Treibstoffverbrauch, die CO2-Emissionen, den Lärm usw. (Umwelt-auswirkung). (iv) Die volkswirtschaftlichen internen und externen Kosten (Zeitver-brauch, Treibstoffverbrauch, Kosten durch Unfälle usw.) gehen zurück (Makroöko-nomische Auswirkung).

Über welche dieser Aspekte kann man mit Verkehrsflussmodellen quantitativeAussagen machen? Welche Modellkategorie ist dafür geeignet?

Literaturhinweise

Greenshields, B.D.: A study of traffic capacity. In: Proceedings of the Highway Research Board,Vol. 14. Highway Research Board, Washington, DC 1935 448–477

Page 69: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

60 6 Allgemeines zur Verkehrsflussmodellierung

Helbing, D.: Traffic and related self-driven many-particle systems. Rev. Modern Phys. 73, 1067–1141 (2001)

Hoogendoorn, S., Bovy, P.: State-of-the-art of vehicular traffic flow modelling. Proc. Inst. Mech.Eng. I J. Syst. Control Eng. 215, 283–303 (2001)

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Kapitel 7Kontinuitätsgleichung

Die ganze Natur überhaupt ist eigentlich nichts anderes, alsein Zusammenhang von Erscheinungen nach Regeln; und esgibt überall keine Regellosigkeit.

Immanuel Kant

7.1 Verkehrsdichte und hydrodynamische Fluss-Dichte-Relation

Die Verkehrsdichte wird durch die Zahl der Fahrzeuge pro Streckeneinheit definiert(vgl. Abschn. 3.3.1). Für die Beschreibung des Verkehrsflusses auf Richtungsfahr-bahnen mit I > 1 Fahrstreifen sind folgende Verkehrsdichten wichtig:

• Die Einzeldichte ρi (x, t) auf dem Fahrstreifen i ,• die Gesamtdichte ρtot(x, t) der Richtungsfahrbahn,• und die über alle Fahrstreifen i = 1, . . . , I gemittelte Dichte ρ(x, t).

Diese Dichten hängen über die Beziehung

ρtot(x, t) =I∑

i=1

ρi (x, t) = Iρ(x, t) (7.1)

zusammen. Die mittlere Dichte ist also durch das ungewichtete arithmetische Mitteldefiniert. Je nach Aufgabenstellung ist mal die eine, mal die andere Dichtedefinitiongünstiger: Die Kontinuitätsgleichung ist für die Gesamtdichte ρtot besonders einfachformulierbar, da die Fahrzeugbilanz nur für die gesamte Richtungsfahrbahn undnicht für die einzelnen Fahrstreifen gilt. Hingegen lassen sich Eigenschaften vonMakromodellen am einheitlichsten mit über alle Fahrstreifen gemittelten Größenformulieren, da die Eigenschaften und die Dynamik der gemittelten Größen wie dasFundamentaldiagramm oder die Kapazität nur schwach von der Fahrstreifenzahlabhängen.1

1 Beispielsweise ist infolge der anteilig geringeren Störeinflüsse langsamer Fahrzeuge (LKW) dieKapazität einer Richtungsfahrbahn mit drei Fahrstreifen etwas mehr als das 1.5-fache der Kapazitätbei zwei Fahrstreifen.

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_7, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

61

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62 7 Kontinuitätsgleichung

Da es sich bei allen in Makromodellen vorkommenden Dichte-Variablen um ech-te räumliche Dichtewerte handelt, gelten für jeden Fahrstreifen getrennt exakt die inAbb. 7.1 veranschaulichten „hydrodynamischen“ Fluss-Dichte-Beziehungen2

Qi (x, t) = ρi (x, t)Vi (x, t) , (7.2)

wobei Qi (x, t) die Flüsse auf Fahrstreifen i an der Stelle x zur Zeit t sowie Vi (x, t)die entsprechenden, über einen gewissen räumlichen Bereich Δx um x lokalgemittelten Fahrzeuggeschwindigkeiten darstellen.

Definiert man die über die Fahrstreifen gemittelte Geschwindigkeit V (x, t) durchein mit den Dichten gewichtetes arithmetisches Mittel

V (x, t) =I∑

i=1

wi Vi (x, t), wi = ρi (x, t)

ρtot(x, t)(7.3)

und den mittleren Fluss durch das einfache arithmetische Mittel3

Q(x, t) = 1

I

I∑

i=1

Qi (x, t) = Qtot

I, (7.4)

so gelten formal die gleichen hydrodynamischen Relationen auch für die Mittelwer-te und die Gesamtgrößen:

Q(x, t) = ρ(x, t)V (x, t) Hydrodynamische Flussbeziehung (7.5)

bzw.

Qtot(x, t) = ρtot(x, t)V (x, t). (7.6)

Δx

Δx

x0

t = t0

t = t0 + ΔtV

V

Abb. 7.1 Veranschaulichung der hydrodynamischen Relation Q = ρV . Im schattierten Bereichsind Δn = ρΔx Fahrzeuge. Innerhalb der Zeit Δt = Δx/V bewegt sich dieser Bereich komplettüber einen festen Punkt x0, so dass an diesem Punkt der Fluss Q = Δn/Δt = ρΔx/Δt = ρVherrscht

2 Wenn man Diffusion außer Acht lässt, vgl. Abschn. 8.5.3 Fluss und Dichte sind extensive Größen, die sich mit der Größe des betrachteten Systems (hier:der Fahrstreifenzahl) ändern und bei denen eine Summenbildung sinnvoll ist. Für intensive Größenwie der Geschwindigkeit gilt dies nicht. Allgemein ergeben sich sinnvolle Mittelwerte extensiverGrößen durch einfache arithmetische Mittel und Mittelwerte intensiver Größen durch gewichteteMittel.

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7.2 Formulierung der Kontinuitätsgleichung 63

7.2 Formulierung der Kontinuitätsgleichung

Die Form der Kontinuitätsgleichung hängt nicht vom konkret verwendeten makro-skopischen Modell, wohl aber von der Geometrie der Infrastruktur ab. In der Rei-henfolge steigender Komplexität werden folgende Fälle betrachtet: (i) homogeneStrecke, (ii) Bereich von Zu- oder Abfahrten, (iii) Bereiche mit Änderungen derFahrstreifenzahl.

7.2.1 Homogene Strecke

Wir betrachten einen Streckenabschnitt der Länge Δx (Abb. 7.2 oben) ohne Zu-fahrten, Abfahrten oder andere geometrische Inhomogenitäten, wie z.B. eine Än-derung der Fahrstreifenzahl.4 Dabei soll die Länge Δx einerseits mikroskopischgroß sein, so dass genügend Fahrzeuge zur Gewinnung makroskopischer Größenenthalten sind. Andererseits sei Δx aber auch makroskopisch klein, so dass Dichtenund Flussgradienten in diesem Bereich angenähert konstant sind.5 Dann gilt für dieFahrzeugzahl n(t) zur Zeit t im betrachteten Bereich:

n(t) =x+Δx∫

x

ρtot(x ′, t)dx ′ ≈ ρtot(x, t)Δx . (7.7)

n = ρtot ΔxQin

Qrmp

L L

−Qrmp

Qin

Qin Qout Qout

Qout

Qin

Qout

Δx

L

I = 3 2<I<3 I = 2

Abb. 7.2 Zur Herleitung der Kontinuitätsgleichungen (7.8), (7.11) und (7.15) in den drei Fällen(i) homogene Strecke, (ii) Zu- oder Abfahrten, (iii) Änderung der Fahrstreifenzahl. In Fall (iii)bezieht sich Gl. (7.15) auf Mittelwerte über die I = 2 durchgängigen Fahrstreifen

4 Änderungen des Fahrverhaltens, beispielsweise hervorgerufen durch eine Steigung, ein Tempo-limit oder eine Fahrstreifenverengung ohne Änderung der Fahrstreifenzahl, sind aber zugelassen.5 Diese Annahmen sind typischerweise für Abschnitte der Länge Δx ≈ 100 m erfüllt.

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64 7 Kontinuitätsgleichung

Da im Falle homogener Abschnitte eine Änderung der Fahrzeugzahl nur durchZuflüsse Qin und Abflüsse Qout an den Abschnittsgrenzen erfolgen kann (vgl.Abb. 7.2 oben) und diese durch die raumzeitlichen Flüsse Qtot(x, t) bzw. Qtot(x +Δx, t) an den jeweiligen Querschnitten gegeben sind, ergibt sich folgende Fahr-zeugbilanzgleichung:

dn

dt= Qin(t) − Qout(t) = Qtot(x, t) − Qtot(x + Δx, t) .

Kombiniert man diese Gleichung mit der nach der Zeit abgeleiteten Gl. (7.7), dndt ≈

∂∂t (ρtotΔx) = Δx ∂ρtot

∂t , erhält man

∂ρtot(x, t)

∂t= 1

Δx

dn

dt= − Qtot(x + Δx, t) − Qtot(x, t)

Δx≈ −∂ Qtot(x, t)

∂x,

oder mit der hydrodynamischen Fluss-Geschwindigkeits-Beziehung Qtot = ρtotVund Weglassen der expliziten Kennzeichnung der Orts- und Zeitabhängigkeiten

∂ρtot

∂t+ ∂(ρtotV )

∂x= 0 bzw.

∂ρ

∂t+ ∂(ρV )

∂x= 0 . (7.8)

Da im Fall einer homogenen Strecke ρ = ρtot/I und I konstant sind, sieht dieGleichung für ρ wie die für ρtot aus.

Ist das makroskopische Modell als gekoppelte iterierte Abbildung formuliert, sowird der Streckenabschnitt in mehrere Zellen k der Länge Lk aufgeteilt und diediskrete Version der Kontinuitätsgleichung (7.8) genutzt. Sie lautet

ρk(t + Δt) = ρk(t) + 1

Lk

(Qup

k − Qdownk

)Δt. (7.9)

Hierbei werden die Zu- und Abflüsse Qupk bzw. Qdown

k in Abhängigkeit der Nach-barzellen gemäß der in Abschn. 8.4.4 vorgestellten Supply-Demand-Methode be-rechnet.

7.2.2 Bereiche von Zu- oder Abfahrten

Hier kommen zur Flussbilanz neben den Zu- und Abflüssen auf und von den Haupt-fahrstreifen noch der Zufluss bzw. Abfluss Qrmp(t) von bzw. zu den Rampen hinzu(vgl. Abb. 7.2 Mitte). Die Flussbilanz lautet nun

dn

dt= Qin(t) − Qout(t) + Qrmp(t).

Der Rampenfluss Qrmp ist positiv für eine Zufahrt und negativ für eine Abfahrt.Bei Zu- oder Abfahrten mit mehreren Fahrstreifen ist Qrmp gleich der Summe

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7.2 Formulierung der Kontinuitätsgleichung 65

der Flüsse über alle Fahrstreifen der Rampen. Nimmt man an, dass sich die Zu-bzw. Abflüsse gleichmäßig auf die gesamte Länge Δx = L rmp der Rampe vertei-len, erhält man innerhalb des Rampenbereichs einen zusätzlichen FlussgradientendQrmp/dx = Qrmp/L rmp. Die Kontinuitätsgleichung lautet damit

∂ρtot

∂t+ ∂(ρtotV )

∂x= Qrmp

L rmp= Iνrmp(x, t) (7.10)

und für die fahrstreifengemittelte Dichte

∂ρ

∂t+ ∂(ρV )

∂x= νrmp(x, t) (7.11)

mit

νrmp(x, t) ={

Qrmp(t)I Lrmp

falls x auf Höhe einer Rampe,

0 sonst.(7.12)

Im Fall einer Formulierung als gekoppelte iterierte Abbildung modelliert man denRampenbereich am besten als eine Zelle k, deren Länge Lk gleich der Länge derBeschleunigungs- bzw. Verzögerungsstreifen ist und erweitert die Fahrzeugbilanzvon Gl. (7.9) entsprechend:

ρk(t + Δt) = ρk(t) + 1

Lk

(Qup

k − Qdownk + Qrmp

I

)Δt. (7.13)

Häufig wechseln die Autofahrer bereits am Anfang einer Auffahrt auf dieHauptstrecke, vor allem bei freiem Verkehr. Wie würde man das modellieren?

Bei Auffahrten mit kurzen Beschleunigungsrampen müssen Fahrzeuge häu-fig mit vergleichsweise niedriger Geschwindigkeit auf die Hauptfahrbahnenwechseln. Kann man die dadurch verursachten Störungen im Rahmen derKontinuitätsgleichung modellieren?

7.2.3 Änderung der Fahrstreifenzahl

Bei einer Fahrstreifenreduktion wechseln die Fahrer bereits im Vorfeld auf diedurchgehenden Fahrstreifen.6 Auf Autobahnen wird bereits typischerweise 200bis 1000 mvor der Position der Sperrung die Spur gewechselt, in der Stadt später.

6 Nach der StVO sollte man erst unmittelbar davor wechseln, den Fahrstreifen also „ausnutzen“.

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66 7 Kontinuitätsgleichung

Steht ein neuer Fahrstreifen zur Verfügung, wird dieser innerhalb weniger 100 mnach der Erweiterung belegt wie ein durchgehender Fahrstreifen.

Würde man bei der makroskopischen Modellierung für jeden Fahrstreifen eineseparate Gleichung der Dichte aufstellen, so erhielte man Quellterme analog zudenen in Gl. (7.10), welche die Gleichungen der verschiedenen Fahrstreifen mit-einander koppeln. Insbesondere wirkt eine Reduktion der Fahrstreifenzahl auf denbenachbarten Fahrstreifen wie eine Zufahrt und eine Erhöhung wie eine Ausfahrt.

Wie bisher betrachten wir bei der makroskopischen Modellierung jedoch nur dieDynamik der Gesamtdichte bzw. der mittleren Dichte, also sogenannte effektive Mo-delle. Hierbei werden die Fahrstreifenwechsel unmittelbar vor einer Sperrung bzw.nach einer Erweiterung durch eine nicht ganzzahlige und mit dem Ort veränderlicheFahrstreifenzahl I (x) modelliert (vgl. Abb. 7.2). Alle Mittelwerte extensiver (addi-tiver) Variablen, also Fluss und Dichte, werden auf diese variable Fahrstreifenzahlbezogen:

Q(x, t) = Qtot(x, t)

I (x), ρ(x, t) = ρtot(x, t)

I (x). (7.14)

Die über die Fahrstreifen gemittelte Geschwindigkeit V (x, t) ist hingegen unverän-dert durch Gl. (7.3) gegeben und auch die hydrodynamische Beziehung (7.5), d.h.Q = ρV , bleibt gültig.

Ein Wert I = 2.2 gibt beispielsweise an, dass der dritte Fahrstreifen kaum noch(oder noch kaum) benutzt wird, da der Fluss auf diesem Fahrstreifen nur das 0.2-fache des Flusses der anderen Fahrstreifen beträgt. Damit ist auch klar, dass dasGeschwindigkeitsmittel (7.3) konsistent ist, da es in diesem Beispiel die Geschwin-digkeit des dritten Fahrstreifens nur mit dem Faktor 0.2 gewichtet. Die Länge desBereichs mit nichtganzzahliger Fahrstreifenzahl sollte ebenso lang sein wie die ty-pische „Wechselzone“ von bzw. auf den nicht durchgehenden Fahrstreifen.

Die Kontinuitätsgleichung für die Gesamtdichte ρtot ist dieselbe wie Gl. (7.8)bzw. im Falle von zusätzlichen Rampen Gl. (7.10). Da die Fahrdynamik jedochmit fahrstreifenbezogenen Flüssen und Dichten formuliert wird, muss man die Kon-tinuitätsgleichung für die Fahrstreifen-Mittelwerte ρ = ρtot/I (x) und Qtot/I (x)

formulieren. Setzt man ρtot = I (x)ρ und Qtot = I (x)Q in Gl. (7.10) ein (und lässtman die expliziten Orts- und Zeitabhängigkeiten der makroskopischen Größen zurbesseren Übersicht wieder weg), so erhält man folgende Version der Kontinuitäts-gleichung:

∂(Iρ)

∂t+ ∂(I Q)

∂x= Iνrmp

I∂ρ

∂t+ Q

∂ I

∂x+ I

∂ Q

∂x= Iνrmp

∂ρ

∂t+ ∂ Q

∂x= − Q

I

∂ I

∂x+ νrmp

und mit Q = ρV schließlich

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7.2 Formulierung der Kontinuitätsgleichung 67

∂ρ

∂t+ ∂(ρV )

∂x= −ρV

I

∂ I

∂x+ νrmp(x) Kontinuitätsgleichung. (7.15)

Die Kontinuitätsgleichung (7.15) beschreibt den allgemeinsten Fall. GegenüberGl. (7.10) sieht man, dass zum Rampen-Quellterm νrmp ein zusätzlicher QuelltermνI = − Q

I∂ I∂x hinzugekommen ist, welcher die Nettoflüsse von den zu sperrenden

Fahrstreifen und auf die neuen Fahrstreifen beschreibt. Natürlich sind die Termeauf der rechten Gleichungsseite nur im Bereich der Wechselzone vor und nachFahrstreifensperrungen bzw. -erweiterungen und auf Höhe von Zu- oder Abfahrtenwirksam.

Im Fall einer Formulierung als gekoppelte iterierte Abbildung modelliert mandie Wechselzone am besten wieder als eine Zelle k der Länge Lk und erhält mit denFahrstreifenzahlen Iup und Idown am Anfang bzw. Ende der Zelle

ρk(t +Δt) = ρk(t)+ 1

Lk

(Qup

k − Qdownk + Qrmp

Idown+ Iup − Idown

IdownQup

k

)Δt. (7.16)

Das gewichtete Geschwindigkeitsmittel (7.3) über alle Fahrstreifen bleibt un-verändert gültig, wenn man im Falle nichtganzzahliger Fahrstreifenzahlen dieSummenobergrenze als die bezüglich I nächsthöhere ganze Zahl definiert.Machen Sie sich für den Fall einer Reduktion der Fahrstreifenzahl von 3 auf 2klar, dass sich trotz des unstetigen Sprungs des maximalen Summationsindex(z.B. 3 bei I = 2.01, aber 2 bei I = 2) das Geschwindigkeitsmittel (7.3) stetigverhält.

7.2.4 Diskussion

Zunächst gilt folgende wichtige Bemerkung:

Aufgrund ihrer Herleitung allein aus der Fahrzeugerhaltung ist die Kontinui-tätsgleichung Bestandteil aller makroskopischen Modelle! Ihre Form hängtnur von der Infrastruktur und vom mathematischen Modellierungsansatz (par-tielle Differentialgleichung oder gekoppelte iterierte Abbildung) ab.

Quellfreie Kontinuitätsgleichung. Ohne Zu- oder Abfahrten gilt ∂ρtot/∂t =−∂ Qtot/∂x : Die Fahrzeugzahl kann sich nur durch Zu- und Abflüsse anden Streckengrenzen ändern. Fließen mehr Fahrzeuge heraus als hinein, also∂ Qtot/∂x > 0, so ist die Dichteänderung negativ. Ist (beispielsweise wegen einerplötzlichen Störung) der Abfluss über eine längere Zeit kleiner als der Zufluss, dannführt die daraus resultierende beständig positive Änderungsrate der Dichte früheroder später zum Stau. Bei konstanter Fahrstreifenzahl und ohne Zu- oder Abfahrten

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68 7 Kontinuitätsgleichung

gilt die quellfreie Kontinuitätsgleichung auch für die über die Richtungsfahrbahngemittelten Größen ρ bzw. Q, also ∂ρ/∂t = −∂ Q/∂x .

Fahrstreifenreduktion. Verringert sich die Fahrstreifenzahl und betrachtet manDichte und Fluss als Mittel über die durchgängigen Fahrstreifen, so bewirken dieWechsel von den zu sperrenden auf die betrachteten Fahrstreifen, denen keine ent-gegengesetzten Wechsel gegenüberstehen, einen Netto-Zufluss. Dieser bewirkt überden dann positiven Term − Q

I∂ I∂x einen Dichteanstieg. Betrachtet man die Gesamt-

dichten und -flüsse, gibt es hingegen keine „Quellterme“.Auf- und Abfahrten. Neben den Flussgradienten bewirken auch die Zu- und Ab-

flüsse der Zu- und Abfahrten auf der Hauptstrecke eine Dichteänderung, die al-lerdings nur im Bereich der Rampen wirksam ist. Die Quellterme sind proportio-nal zu den Rampenflüssen. Der skalierte Rampenfluss νrmp(x) steigt mit sinkenderRampenlänge (da dann auf jedem Abschnitt fester Länge mehr Fahrzeuge wechselnmüssen) und sinkt mit steigender Fahrstreifenzahl (da sich dann der Rampenflussauf mehrere Fahrstreifen aufteilen kann).

7.3 Kontinuitätsgleichung aus Sicht des Autofahrers

In der Regel wird die Kontinuitätsgleichung aus Sicht eines ortsfesten Be-trachters dargestellt, also in Form von partiellen Zeitableitungen der Dichte beifestgehaltenem Ort. Diese, auch Eulersche Darstellung genannte Formulierungbeschreibt Dichteänderungen, wie sie ein ortsfester Detektor messen würde. AusSicht eines im Verkehrsfluss „mitschwimmenden“ Autofahrers hingegen besteht diewahrgenommene Dichteänderung nicht nur aus der Änderung an einem festen Ort,sondern hat wegen der Fahrzeuggeschwindigkeit auch einen Anteil proportional zuden räumlichen Dichteänderungen. Diese Sicht wird auch Lagrangesche Darstel-lung genannt und lautet (vgl. Abb. 7.3)

x(t1) x(t2)

ρ (x, t2)

ρ (x, t1)

ρ (x, t)

ΔρΔρ2

Δρ1

Abb. 7.3 Die Dichteänderung Δρ = dρdt Δt aus Fahrersicht setzt sich aus der Änderung Δρ1 ≈

∂ρ∂t (x1)Δt am Ausgangsort x1 = x(t1) und aus dem durch die Ortsveränderung verursachten Bei-

trag Δρ2 = ρ(x2, t2) − ρ(x1, t2) ≈ ∂ρ∂x Δx ≈ V ∂ρ

∂x Δt zusammen

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7.3 Kontinuitätsgleichung aus Sicht des Autofahrers 69

Δρ ≈(

∂ρ

∂t+ V

∂ρ

∂x

)Δt.

Bei stetig differenzierbarer Dichtefunktion ρ(x, t) ist im Limes Δt → 0 undΔx = V Δt → 0 die Rate der Dichteänderung aus Fahrersicht gegeben durch

dt≡ ∂ρ

∂t+ V (x, t)

∂ρ

∂x. (7.17)

Mit ∂∂x (ρV ) = ρ ∂V

∂x +V ∂ρ∂x kann man die Kontinuitätsgleichung (7.8) für homogene

Streckenabschnitte in Lagrangescher Darstellung (Fahrersicht) auch schreiben als

dt= ∂ρ

∂t+ V

∂ρ

∂x= −ρ

∂V

∂x. (7.18)

Gleichung (7.18) besagt, dass sich die Dichte erhöht, wenn der Geschwindigkeits-gradient ∂V/∂x negativ ist, im mikroskopischen Bild das Vorderfahrzeug also lang-samer fährt. Dadurch verringert sich der Abstand (die mikroskopische Entsprechungeiner erhöhten Dichte). Außerdem kann die Dichte nicht negativ werden, dennρ(x, t) = 0 impliziert dρ/dt = 0. Negative Autos wären aber auch eine absurdeVorstellung. Die unterschiedlichen Sichtweisen der Eulerschen und LagrangeschenDarstellung werden auch in Abb. 7.4 verdeutlicht. Dargestellt ist eine ortsfeste,stromabwärtige Staufront, bei der sich die Dichte (in der linken Grafik der Abbil-dung schattiert dargestellt) und die Geschwindigkeit (symbolisiert durch die Stei-gung der Trajektorien) an gegebener Position x nicht ändern, d.h. ∂ρ(x, t)/∂t = 0

ρ (x1,t)

ρ (x2,t)

x

t

t

t

t

x2

x1

ρB(t) xB = x2

xB = x1

Abb. 7.4 Dichteänderung dρBdt = dρ(x,t)

dt = ∂ρ∂t + V dρ

dx bei Ausfahrt aus dem Stau aus der Sicht ei-nes ausfahrenden Autofahrers B (mittlere Trajektorie). Da hier eine stehende Stauwelle dargestelltist, gilt ∂ρ(x,t)

∂t = 0

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70 7 Kontinuitätsgleichung

und ∂V (x, t)/∂t = 0 (vgl. die Zeitreihen im rechten Teil der Abbildung, welchez.B. von Detektorquerschnitten stammen könnten).

Die einzelnen Fahrer hingegen fahren aus dem Stau heraus, so dass sich aus ihrerSicht die Dichte sehr wohl ändert: dρ

dt = V ∂ρ∂x < 0 (vgl. die untere Zeitreihe der

Abb. 7.4). Mit der Kontinuitätsgleichung bei stationären Verhältnissen auf homoge-ner Strecke, ∂

∂x (ρV ) = 0, gilt natürlich auch dρdt = −ρ ∂V

∂x < 0.Der Zusammenhang zwischen den Zeitableitungen im ortsfesten und im mitbe-

wegten System gilt nicht nur für die Dichte, sondern für beliebige stetig differen-zierbare Felder F(x, t),

dF(x, t)

dt= ∂ F(x, t)

∂t+ V (x, t)

∂ F(x, t)

∂x. (7.19)

Insbesondere gilt die Beziehung für die Geschwindigkeit V (x, t) selbst, was bei derFormulierung von makroskopischen Modellen mit dynamischer Geschwindigkeits-gleichung im Kap. 9 genutzt werden wird.

Übungsaufgaben

7.1 Fluss-Dichte-GeschwindigkeitsbeziehungenZeigen Sie die Gültigkeit der hydrodynamischen Relationen (7.5) bzw. (7.6). ZeigenSie auch, dass diese bei ungewichteten oder flussgewichteten Geschwindigkeitender einzelnen Fahrstreifen nicht gelten.

7.2 FahrzeugerhaltungZeigen Sie mit Hilfe der Kontinuitätsgleichung, dass sich die Gesamt-Fahrzeugzahlauf einer Kreisstrecke mit variabler Fahrstreifenzahl I (x), aber ohne Zu- und Ab-fahrten, nicht ändert.

7.3 Kontinuitätsgleichung IGegeben ist eine Autobahn mit einer L = 300 m langen Zufahrt, die bei x = 0beginnt. Der Zufluss beträgt 600 Fahrzeuge pro Stunde. Formulieren Sie die Kon-tinuitätsgleichung für die Gesamtverkehrsdichte für 0 ≤ x ≤ L sowie für x > L .(i) Nehmen Sie an, dass sich der Zustrom der Zufahrt gleichmäßig über deren ganzeLänge verteilt. (ii) Häufig wechseln die Autofahrer (vor allem im freien Verkehr) be-reits am Anfang einer Auffahrt auf die Hauptstrecke bzw. am Anfang einer Abfahrtauf den Verzögerungs-Fahrstreifen. Wie würde man das modellieren?

7.4 Kontinuitätsgleichung II

1. Bestimmen Sie mit Hilfe der Kontinuitätsgleichung den Verkehrsfluss Q(x) fürstationäre Verhältnisse, d.h. ∂ρ/∂t = 0 und konstantes, spurgemitteltes Ver-kehrsaufkommen Q(x = 0, t) = Q0 am Zufluss bei x = 0. Betrachten Siefolgende zwei Fälle: (i) Die Strecke weist keine Zu- und Abfahrten, aber einevariable Spurzahl I (x) auf. (ii) Die Strecke weist konstant I Spuren auf sowie

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7.3 Kontinuitätsgleichung aus Sicht des Autofahrers 71

eine Abfahrt zwischen x = 300 m und 500 m mit konstantem Abfluss Qab undeine Auffahrt zwischen x = 700 m und 1000 m mit konstantem Zufluss Qzu.

2. Auf einer dreispurigen Autobahn mit konstantem Verkehrsaufkommen Qtot =3600 Fz/h gibt es aufgrund einer Baustelle eine Reduktion von 3 auf 2 Fahr-streifen. Die damit verbundenen Spurwechsel finden zwischen x = 0 undx = L = 500 m statt. Geben Sie die mittlere Dichte ρ und den mittleren FlussQ bezogen auf die beiden durchgängigen Spuren an. Setzen Sie eine dichteun-abhängige Geschwindigkeit von 108 km/h voraus.

3. Vergleichen Sie nun die im vorherigen Aufgabenteil untersuchte Auswirkungeiner Fahrstreifensperrung auf die verbleibenden zwei Fahrstreifen mit der einerZufahrt der Länge L = 500 m auf eine zweispurige Autobahn. Für welchenRampenfluss Qzu und für welchen, möglicherweise auch innerhalb des Ram-penbereichs 0 ≤ x ≤ 500 m variablen Rampenquellterm νrmp(x) ist die Konti-nuitätsgleichung identisch zu der aus Teilaufgabe 2?

7.5 Parabolisches FundamentaldiagrammGegeben ist die Geschwindigkeits-Dichte-Relation V (ρ) = V0(1−ρ/ρmax) mit derWunschgeschwindigkeit V0 und der maximalen Dichte ρmax.

1. Geben Sie die Gleichung für das Fundamentaldiagramm Q(ρ) an.2. Bei welcher Dichte wird der maximale Fluss erreicht und wie hoch ist er? Geben

Sie beides als Funktion von V0 und ρmax an.

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Kapitel 8Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

Nichts ist mächtiger als eine Idee zur richtigen Zeit.

Victor Hugo

8.1 Modellgleichung

Die für alle Makromodelle gültige Kontinuitätsgleichung ist eine partielle Differen-tialgleichung oder eine Differenzengleichung für die makroskopischen Größen ρ

(Dichte) und V (Geschwindigkeit) bzw. Q (Fluss). Für eine vollständige Beschrei-bung wird noch eine zusätzliche Gleichung für den Fluss oder die Geschwindigkeitbenötigt.

Da die Kontinuitätsgleichung durch die Streckengeometrie und die Art dermathematischen Formulierung vorgegeben ist, unterscheiden sich die ver-schiedenen Makromodelle nur in der Art, wie die Geschwindigkeit bzw. derFluss modelliert wird.

In den Jahren 1955 und 1956 schlossen Lighthill und Whitham sowie unabhängigvon ihnen Richards die als partielle Differentialgleichung formulierte Kontinuitäts-gleichung durch die statische Gleichgewichtsannahme (engl. equilibrium)

Q(x, t) = Qe(ρ(x, t)) bzw. V (x, t) = Ve(ρ(x, t)). (8.1)

Diese Gleichung besagt, dass der Verkehrsfluss Q(x, t) bzw. die GeschwindigkeitV (x, t) durch jeweils eine statische Beziehung an die Fahrzeugdichte ρ(x, t) ge-koppelt ist. Als Funktionen für die Geschwindigkeits-Dichte-Relation Ve(ρ) (vgl.Abb. 8.1) und das Fundamentaldiagramm Qe(ρ) = ρVe(ρ) dienen in der Regel Fit-funktionen, die an empirische Geschwindigkeits-Dichte- oder Fluss-Dichte-Datenangepasst werden (siehe beispielsweise Abb. 4.12).1

1 Geschwindigkeits-Dichte- und Fluss-Dichte-Diagramme sind eine der wichtigsten Darstellungs-formen aggregierter Verkehrsdaten und wurden bereits in den Abschn. 4.2 und 4.4 behandelt. Imengeren Sinne bezeichnet das Fundamentaldiagramm nur die theoretische Fitfunktion an die Daten,

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_8, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

73

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74 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

V0

ρ

Ve

ρmax

Abb. 8.1 Beispiel einer Gleichgewichtsrelation Ve = f (ρ) für die Geschwindigkeit im Lighthill-Whitham-Richards- (LWR-) Modell (vgl. auch die empirischen Daten in den Abb. 4.4 und 4.12)

Setzt man die Gleichgewichtsannahme (8.1) in die Kontinuitätsgleichung (7.8)für homogene Strecken ein, so erhält man unter Verwendung der Kettenregel ∂ Qe

∂x =dQe(ρ)

dρ∂ρ∂x das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

∂ρ

∂t+ dQe(ρ)

∂ρ

∂x= 0 LWR-Modell. (8.2)

Im Falle inhomogener Strecken wird die Gleichgewichtsannahme entsprechendin die Kontinuitätsgleichungen (7.11) oder (7.15) eingesetzt. Da die GleichungQe(ρ) für das Fundamentaldiagramm hier nicht festgelegt werden muss und vie-le (mehr oder weniger realistische) konkrete Beziehungen vorgeschlagen wurden,stellt Gl. (8.2) kein Modell im engeren Sinne, sondern eine ganze Modellklassedar. Deshalb spricht man auch von den LWR-Modellen in der Mehrzahl. In dieserModellklasse gibt es mit der Kontinuitätsgleichung nur eine dynamische Gleichung.Deshalb werden Modelle dieser Klasse auch als makroskopische Modelle ersterOrdnung (first-order models) bezeichnet. Im Gegensatz dazu haben die im Kap. 9behandelten Modelle zweiter Ordnung eine weitere dynamische Gleichung für dieGeschwindigkeit.

Die Gl. (8.2) für homogene Strecken kann auch in der Form

∂ρ

∂t+(

Ve + ρdVe

)∂ρ

∂x= 0 (8.3)

geschrieben werden. Zu- und Abfahrten sowie Änderungen der Zahl der Fahr-streifen kann man durch die zusätzlichen Terme der allgemeinen Kontinuitäts-gleichung (7.15) beschreiben, wobei auch in diesen Termen immer V (x, t) =Ve(ρ(x, t)) gilt.

die in einem Modell das mögliche Gleichgewicht des Verkehrsflusses darstellt. Oft werden aberbereits die (streuenden) Fluss-Dichte-Daten selbst als Fundamentaldiagramm bezeichnet.

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8.2 Ausbreitung kontinuierlicher Dichteschwankungen 75

8.2 Ausbreitung kontinuierlicher Dichteschwankungen

Die partiellen Differentialgleichungen (8.2) und (8.3) sind nichtlineare Wellenglei-chungen, welche die Ausbreitung sogenannter kinematischer Wellen beschreiben.Wir ermitteln nun die Ausbreitungsgeschwindigkeit c dieser Wellen bzw. allgemei-ner, kontinuierlicher Dichteschwankungen für das LWR-Modell. Dazu setzen wirden allgemeinen Wellen-Ansatz

ρ(x, t) = ρ0(x − ct)

in die Gleichung des LWR-Modells ein. In dieser Funktion bedeutet ρ0(x) =ρ(x, 0) die Anfangsverteilung der Dichte und die Gleichung selbst sagt aus, dasssich diese Anfangsverteilung gleichförmig mit der Geschwindigkeit c ausbreitet.Definieren wir mit ρ′

0(x) die Ableitung der (von einer Variablen) abhängendenFunktion ρ0 nach ihrem Argument (hier x), erhalten wir zunächst

∂ρ

∂t= −cρ′

0(x − ct) und∂ρ

∂x= ρ′

0(x − ct).

Setzt man dies in Gl. (8.2) ein, erhält man die Beziehung

−cρ′0(x − ct) + dQe

dρρ′

0(x − ct) = 0.

Diese Beziehung ist nur dann für alle Orte und Zeiten gültig, falls die Ausbreitungs-geschwindigkeit c von der Dichte abhängt und gegeben ist durch

c(ρ) = dQe

dρ= d(ρVe(ρ))

dρ. (8.4)

Bezeichnet man wieder die Ableitung nach dem (einzigen) Argument einer Funkti-on mit einem Hochkomma, f ′(x) = d f

dx , kann man dies auch schreiben als

c(ρ) = Q′e(ρ) = Ve(ρ) + ρV ′

e(ρ). (8.5)

Die Ausbreitungsgeschwindigkeit c(ρ) von Dichteschwankungen im festen Ko-ordinatensystem hängt also von der Dichte ab und ist proportional zur Steigungder Fluss-Dichte-Relation im Gleichgewicht (Fundamentaldiagramm). Insbesonde-re können sich Dichteschwankungen in Fahrtrichtung ausbreiten (freier Verkehr,linker Bereich des Fundamentaldiagramms, vgl. Abb. 8.2) oder gegen die Fahrtrich-tung (gestauter Verkehr, rechter Bereich des Fundamentaldiagramms).

Wie hängt die Ausbreitungsgeschwindigkeit mit der Fahrzeuggeschwindigkeitv zusammen? Dazu betrachten wir die auf die Fahrzeuggeschwindigkeit bezogenerelative Ausbreitungsgeschwindigkeit und setzen Gln. (8.4) und (8.5) ein:

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76 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

Fahrzeuggeschwindigkeit v

Ausbreitungs−geschwindigkeit c

Flus

sG

esch

win

digk

eit

Dichte

Dichte

vc

Abb. 8.2 Ausbreitungsgeschwindigkeit c = dQedρ

von Dichteschwankungen im LWR-Modell imVergleich mit der Fahrzeuggeschwindigkeit v. Im Fundamentaldiagramm (oben) ist c durch dieTangentensteigung und v durch die Steigung der Ursprungsgeraden gegeben

crel(ρ) = c(ρ) − V = c(ρ) − Ve(ρ) = ρV ′e(ρ).

Da V ′e(ρ) für alle realistischen Fälle negativ oder höchstens Null ist (vgl. Abb. 4.4

und 4.12), gilt crel ≤ 0. Aus Fahrersicht können sich Dichtestörungen also nur rück-wärts ausbreiten. Dies hat in vielen mikroskopischen Modellen seine Entsprechungdarin, dass die Fahrer nur auf das Vorderfahrzeug, nicht jedoch auf das Hinterfahr-zeug reagieren (siehe Kap. 10).

8.3 Schockwellen

Entstehung Gleichungen der Form (8.2) beschreiben Dichtewellen, deren Ampli-tuden sich nicht verändern, die sich aber lokal unterschiedlich schnell fortbewegen,und zwar umso schneller, je geringer die lokale Dichte ist. Zur Veranschaulichungkann man sich die über den Ort aufgetragene Verkehrsdichte als einen Stapel be-stehend aus vielen horizontalen Schichten vorstellen, wobei sich jede Schicht miteiner der jeweiligen Dichte entsprechenden Ausbreitungsgeschwindigkeit (8.4) un-abhängig von den anderen bewegt: Die höheren Schichten bewegen sich also lang-samer oder sogar rückwärts (vgl. Abb. 8.3 oben, siehe auch Abb. 8.4). Bei einer„Stop-and-Go-Welle“ bedeutet dies, dass die stromaufwärtige Wellenfront immersteiler und die stromabwärtige immer flacher wird (Abb. 8.3 Mitte). Aus Sicht desAutofahrers bedeutet dies, dass der Übergang freier Verkehr → Stau immer abrupterwird, während die Fahrzeuge bei Übergang Stau → freier Verkehr immer langsameraus dem Stau heraus beschleunigen.2

2 In der mathematischen Literatur wird diese Aufweichung der Wellenfront auch als dispersion fanbezeichnet.

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8.3 Schockwellen 77

c

x

x

x

Dic

hte

Dic

hte

Dic

hte

Abb. 8.3 Ausbildung von Schockfronten durch die Dichteabhängigkeit der Ausbreitungsge-schwindigkeiten im LWR-Modell

26 28 30 32 34 36 38 40 42

ρ (Fz/km)

4

6

8

10

12

x (km)

0 5

10 15

20t (h)

30 40

Abb. 8.4 Lösung des LWR-Modells mit einem Bereich gestauten Verkehrs (rot) mit freiem Ver-kehr (blau) davor und danach als Anfangsbedingung der Simulation (linker Rand). Man sieht, dasssich beim Übergang freier Verkehr → Stau eine Schockfront ausbildet, beim Übergang Stau → freiaber nicht. Die „Höhenlinien“ konstanter Dichte verlaufen gerade. Da außerdem Linien gleicherDichte stets parallel zueinander bleiben, entspricht die Dynamik einer gleichmäßigen Verschiebungder Schichten konstanter Dichte relativ zueinander

Auf der stromaufwärtigen Seite kommt irgendwann der Zeitpunkt, in dem dieSteigung ∂ρ/∂x unendlich wird und sich mathematisch die Wellen danach „über-schlagen“ (vgl. Abb. 8.3 unten). Da es an einem Ort zu einer gegebenen Zeit nureine definierte Dichte geben kann, ergeben „sich überschlagende“ Wellen keinen

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78 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

Sinn. Es bildet sich stattdessen ein unstetiger Übergang aus, der in Abb. 8.3 (unten)durch eine senkrechte Linie gekennzeichnet wurde. Solche unstetigen Übergängewerden auch in der Simulation beobachtet: In der Abb. 8.4 steilt sich der Über-gang von geringerer zu höherer Dichte auf, ehe sich, etwa zur Zeit t = 10 minbei x = 4 km, ein unstetiger Übergang ausbildet. Diese in allen LWR-Modellenentstehenden diskontinuierlichen Dichtesprünge werden auch als Schockwellen be-zeichnet. Sie entsprechen natürlich keinem realen Verkehrsgeschehen, so dass dasModell in dieser Hinsicht unrealistisch ist.

Herleitung der Ausbreitungsgeschwindigkeit Während die Details der Übergängefrei → gestaut und auch gestaut → frei in LWR-Modellen unrealistisch sind,3 be-schreibt diese Modellklasse die Ausbreitung der Übergangszonen als Ganzes sehrrealistisch, so dass diese Modelle für großräumige Betrachtungen nützlich sind.Insbesondere stellt die im Folgenden berechnete Ausbreitungsgeschwindigkeit vonSchockwellen auch eine gute Näherung für die Ausbreitung endlicher, realistischerÜbergänge dar.

Wir betrachten einen unstetigen Übergang vom Zustand 1 (freier Verkehr) in denZustand 2 (gebundener Verkehr), vgl. Abb. 8.5. Ohne Einschränkung der Allge-meinheit betrachten wir einen Fahrstreifen.4 Nimmt man einen hinreichend kleinenortsfesten Streckenabschnitt 0 ≤ x ≤ L um die Lage der Schockfront x12(t) an, sokann man die Flüsse und Dichten vor und nach der Front als konstant annehmen,also

ρ(x, t) ={

ρ1 für x ≤ x12(t),ρ2 für x > x12(t).

Die Lage x12(t) der Schockfront selbst hingegen ist von der Zeit abhängig. Umnun die Geschwindigkeit c12 = dx12

dt zu berechnen, wird die Änderung dndt der Fahr-

zeugzahl im Streckenabschnitt auf zweierlei Weise ausgedrückt. Aus der Fahrzeu-gerhaltung ergibt sich die Bilanzgleichung

x12(t)ρ1 ρ2

Q2Q1

x = 0 x = L

Abb. 8.5 Zur Herleitung der Ausbreitungsgeschwindigkeit von Schockwellen

3 Die persönliche Erfahrung sagt uns, dass es bei Lauf-, Inlineskate- und Skilanglauf-Massenveranstaltungen nach dem Startschuss eine teils drastische Aufweichung der stromabwärti-gen Front des vom Startfeld gebildeten „Riesenstaus“ gibt. Beim Kfz-Verkehr hingegen bleibt dieAufweichung eng begrenzt.4 Bei I > 1 Fahrstreifen würde man in den folgenden Gleichungen n durch n/I ersetzen, dasErgebnis bliebe aber dasselbe.

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8.3 Schockwellen 79

dn

dt= Q1 − Q2.

Und mit der Definition der Dichte kann man die Fahrzeugzahl auch ausdrückendurch

n = ρ1x12 + ρ2(L − x12).

Ableiten dieser Gleichung nach der Zeit ergibt

dn

dt= d

dt(ρ1x12 + ρ2(L − x12))

= (ρ1 − ρ2)dx12

dt= (ρ1 − ρ2)c12 .

Vergleicht man die beiden Ausdrücke für dndt , erhält man schließlich

c12 = Q2 − Q1

ρ2 − ρ1= Qe(ρ1) − Qe(ρ2)

ρ2 − ρ1Ausbreitung von Schockwellen. (8.6)

Das erste Gleichheitszeichen in Gl. (8.6) gilt nicht nur für die LWR-Gleichung, son-dern allgemein immer dann, wenn Übergänge zwischen zwei Verkehrszuständen 1und 2 hinreichend abrupt sind, so dass die Übergangszonen vernachlässigt werdenkönnen.

Fahrzeug- und Ausbreitungsgeschwindigkeiten Im Rahmen des LWR-Modells kön-nen alle relevanten Geschwindigkeiten aus dem Fundamentaldiagramm entnommenwerden (vgl. Abb. 8.6).

1. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Dichteschwankungen c(ρ),Gl. (8.4), ist durch die Tangentensteigung gegeben. Für freien Verkehr,also einer Dichte ρ unterhalb der Dichte ρK beim Flussmaximum (Zu-stand ① in Abb. 8.6) ist diese Geschwindigkeit positiv. Für gestautenVerkehr (ρ > ρK , Zustand ② in Abb. 8.6) ist die Ausbreitungsgeschwin-digkeit negativ.

2. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Schockfronten c12, Gl. (8.6),ist durch die Steigung der Sekante gegeben, welche die Zustände(ρ1, Qe(ρ1)) und (ρ2, Qe(ρ2)) vor und nach der Schockfront schneidet.

3. Die Fahrzeuggeschwindigkeit Qe(ρ)/ρ ist durch die Steigung der durchden Punkt (ρ, Qe(ρ)) gehenden Ursprungsgerade gegeben.

Die verschiedenen Geschwindigkeiten lassen sich durch die Steigungen derTangenten, Sekanten und Ursprungsgeraden an bzw. zwischen den in Abb. 8.7

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80 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

v2

v1

c12

Qe(ρ)c1~

ρ1 ρ2

Q2

Q1

c2~

ρ

Q

2

1

Abb. 8.6 Ablesen der Ausbreitungsgeschwindigkeiten c(ρ) = dQedρ

von Dichteschwankungen, derAusbreitungsgeschwindigkeiten c12 von Schockfronten (hier vom Zustand ① in den Zustand ②)und der Fahrzeuggeschwindigkeiten Ve = Qe/ρ aus dem Fundamentaldiagramm Q = Qe(ρ)

Q3tot

Q2tot

Q

ρ1

2

4

5

7

3

6

Abb. 8.7 Schematisches Fundamentaldiagramm. Die verschiedenen Punkte bzw. Zustände und dieeingetragenen Verkehrsflüsse entsprechen den in Abb. 8.8 skizzierten Verkehrszuständen

dargestellten, durch die Symbole ① bis ⑦ beschriebenen Verkehrszuständen ver-deutlichen. Eine mögliche, diesen Zuständen entsprechende Verkehrsdynamik istin Abb. 8.8 dargestellt. Anhand der beiden Abbildungen lassen sich unter anderemfolgende Fälle unterscheiden:

• Die temporäre Engstelle A reduziert den Fluss auf K A = Qtot2 . Da Qin > K A

ist, bricht der Verkehr zusammen. Stromabwärts resultiert daraus freier Verkehr(Zustand ②), während sich stromaufwärts ein Stau bildet (Zustand ⑥) mit dersich ausbreitenden stromaufwärtigen Front (Sekantensteigung c36 < 0) und eineran der Engstelle stationären, stromabwärtigen Front (Sekantensteigung c62 = 0).Die Geschwindigkeit V6 = Q6/ρ6 im Stau ist hingegen positiv. Weiterhin bildetsich im stromabwärtigen Verkehr (in der Abbildung ganz links oben) ein Über-

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8.3 Schockwellen 81

Qin = Q3

t

x

12

2

6

7 4 5

3

3

4

A B

C

totQin = Q2

tot

Abb. 8.8 Raumzeitliche Verkehrsdynamik eines LWR-Modells mit einem Fundamentaldiagrammgemäß Abb. 8.7. Der Zufluss Qin entspricht anfangs dem Punkt ③ dieses Fundamentaldiagramms,nimmt später ab und entspricht dann Punkt ②. Ferner gibt es drei temporäre Engstellen: EngstelleA (beispielsweise unfallbedingt) hat eine Kapazität K A = Qtot

2 , Engstelle B repräsentiert eine Voll-sperrung (z.B. während des Wegtransports der Unfallfahrzeuge) und die weniger starke EngstelleC hat eine Kapazität KC = Qtot

3 . Die Steigung der drei eingezeichneten Trajektorien kennzeichnetdie Fahrzeuggeschwindigkeit. Die Übergänge von höheren zu geringeren Dichten „weichen“ mitder Zeit etwas auf, die anderen bleiben „scharf“

gang von Zustand ② zu Zustand ③, dessen Geschwindigkeit c23 nur geringfügiglangsamer ist als die beiden Fahrzeuggeschwindigkeiten V2 und V3.

• Die Totalsperrung (Engstelle B) reduziert den Verkehrsfluss sowohl stromauf-wärts als auch stromabwärts auf Null, nur dass stromaufwärts die maximaleDichte (Zustand ⑦) vorherrscht, während die Fahrbahn stromabwärts leer ist(Zustand ①). Dies ergibt einige neue Übergänge mit Geschwindigkeiten c67 <

c37 < c36 < 0 und natürlich c71 = 0.• Die Aufhebung der Vollsperrung produziert einen mit der Geschwindigkeit c74 ≈

c67 < 0 sich ausbreitenden Übergang vom Stillstand zum Maximalflusszustand.Zu beachten ist, dass im Allgemeinen hier betrachteten Fall mit konkavem Fun-damentaldiagramm (die zweite Ableitung ist nie positiv) die Übergänge vongestauten zu freien Zuständen allmählich aufweichen, nicht jedoch die umge-kehrten Übergänge (vgl. auch Abb. 8.4). Das auch als Dispersion bezeichnetePhänomen der Aufweichung ist jedoch nicht immer realistisch.

• Schließlich erzeugt die schwächste temporäre Engstelle C stromaufwärts undstromabwärts Flüsse Qtot

3 = Qtot5 , also c53 = 0 und je nach Zufluss eine strom-

aufwärts wachsende Staufront (c45 < 0), einen stationären Übergang (c35 = 0)und eine in Fahrtrichtung schrumpfende Staufront (c25 > 0). Nach Aufhebungdieser Engstelle ergeben sich ähnliche Verhältnisse wie nach Aufhebung der Voll-sperrung, d.h. einen sich mit der Geschwindigkeit c54 ausbreitenden ÜbergangStau → Maximalflusszustand, der schließlich auf die stromaufwärtige Staufronttrifft und damit die Auflösung des Staus markiert.

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82 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm

Die einfachsten und am effizientesten zu simulierenden Modelle aus der Klasse derLighthill-Whitham-Richards- (LWR-) Modelle haben ein „dreieckiges“ Fundamen-taldiagramm folgender Form (vgl. Abb. 8.9):

Qe(ρ) ={

V0ρ ρ ≤ ρK = 1V0T +leff

(freier Verkehr),1T

[1 − ρ

ρmax

]ρK < ρ ≤ ρmax (gebundener Verkehr).

(8.7)

In der kontinuierlichen Version (8.2) wird es auch als Section-Based-Modell be-zeichnet. Dieser Name rührt daher, da es dank seiner speziellen Eigenschaften –nur zwei feste Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Störungen, eine für freien undeine für gestauten Verkehr – besonders schnell lösbar ist, wenn man geeignete „roadsections“ (Streckenabschnitte) definiert. Dann muss nämlich nicht die Kontinuitäts-gleichung bzw. die Modellgleichung (8.2) für alle Orte x gelöst werden, sondernfür jeden Streckenabschnitt nur eine Bewegungsgleichung für die Lage der einzigenStaufront, die es innerhalb eines jeden Streckenabschnitts maximal geben kann. DieEinteilung erfolgt so, dass jeder Streckenabschnitt stromabwärts durch Inhomoge-nitäten bzw. Engstellen begrenzt und stromaufwärts an andere Abschnitte oder anstromaufwärtige Randbedingungen angebunden ist.

Eine weitere Konsequenz der festen Ausbreitungsgeschwindigkeiten ist das Feh-len von Dispersion (Aufweichungen) bei Übergängen von höherer zu geringererDichte durch den in Abb. 8.3 dargestellten Mechanismus (siehe auch Abb. 8.8und 8.11). Zwar wird teilweise eine geringe Aufweichung in der Realität beobachtet;das Fehlen einer solchen Dispersion ist dennoch realistischer als die viel zu starkeDispersion, die durch die meisten anderen Fundamentaldiagramme hervorgerufenwird.

Wie die anderen LWR-Modelle kann man auch das Section-Based-Modell be-züglich des Ortes (Zellen) und der Zeit (Zeitschritte) gemäß Gl. (7.9) diskretisie-ren. Die resultierende, gekoppelte iterierte Abbildung wird als Cell-Transmission-Modell (CTM) bezeichnet. Das CTM findet wegen seiner numerischen Effizienz und

ρmax

Q = V0ρ

ρK

Q=1/T (1−ρ/ρmax)

ρ

Q

K

Abb. 8.9 Dreieckiges Fundamentaldiagramm, wie es beim Cell-Transmission-Modell und beimSection-Based-Modell verwendet wird

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 83

der Möglichkeit einer einfachen Erweiterung auf Netzwerke (vgl. Abschn. 8.4.4)breite Anwendung, vor allem bei der modellgestützten Verkehrslageschätzung.

8.4.1 Modellparameter und Eigenschaften

Die drei Modellparameter des Section-Based-Modells und des diskretisiertenCell-Transmission-Modells (CTM) sind zusammen mit typischen Werten in derTabelle 8.1 zusammengestellt. Da das CTM auch zur großräumigen Modellierungvon Fußgängerströmen eingesetzt wird (z.B. bei der Planung und Organisation derPilgerströme bei der Hadsch in Mekka), sind auch dafür Parameter angegeben.5

Wie bei allen makroskopischen Modellen sind die Parameter als Mittelwerte dereinzelnen Fahrzeuge oder Fußgänger zu verstehen. Die maximale Dichte entsprichtdem Kehrwert des minimalen Bruttoabstandes leff, welcher sich aus (Mittelwerten)der Fahrzeuglänge und des Minimalabstandes s0 im Stau zusammensetzt:

leff = s0 + l = 1

ρmax. (8.8)

8.4.1.1 Charakteristische Eigenschaften auf homogener Strecke

Die numerische Effizienz und Einfachheit des Section-Based-Modells und des CTMberuhen auf einer Reihe von Eigenschaften, die sie gegenüber anderen LWR-Modellen auszeichnen:

Umkehrfunktion des Fundamentaldiagramms. Die zentrale Eingangs- und Steu-ergröße bei realen, d.h. offenen Systemen ist der Verkehrsfluss, während sich dieVerkehrsdichte aus dem Fluss ergibt. Nun ist die Umkehrfunktion des Fundamen-taldiagramms Qe(ρ), also die Dichte-Fluss-Relation ρ(Q), nicht eindeutig, da zugegebenem Verkehrsfluss der Verkehr frei oder gebunden sein kann. Dementspre-chend gibt es zwei Dichtewerte, die als freier Zweig ρfree(Q) und gestauter Zweigρcong(Q) der Dichte-Fluss-Relation bezeichnet werden. Im Section-Based-Modell

Tabelle 8.1 Modellparameter des Section-Based-Modells und des diskretisierten Cell-Transmission-Modells (CTM) zusammen mit typischen Werten zur Beschreibung von Autobahn-,Stadt- und Fußgängerverkehr

Parameter Typ. WertAutobahn

Typ. WertStadtverkehr

Typ. WertFußgänger

Wunschgeschwindigkeit V0 110 km/h 50 km/h 1.3 m/sFolgezeit T 1.4 s 1.2 s 0.5 smMaximale Dichte ρmax 120 Fz/km 120 Fz/km 4 Fußg/m2

5 Die Anwendung dieses Modells funktioniert nur, wenn alle Fußgänger in eine Richtung gehen.Da Fußgängerströme zweidimensional sind, ändern sich die Einheiten von T und ρmax. Der Kehr-wert der Folgezeit ist hier als Fluss pro Meter Wegbreite zu verstehen.

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84 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

ergeben sich die Gleichgewichtsdichten zu

ρfree(Q) = Q

V0, (8.9)

ρcong(Q) = 1 − QT

leff= ρmax(1 − QT ). (8.10)

Kapazität. Das Flussmaximum Qmax, also die Kapazität K pro Fahrstreifen aufhomogener Strecke, ergibt sich aus dem gestauten und dem freien Zweig des Fun-damentaldiagramms so, dass keine Unstetigkeiten oder Hysterese-Effekte auftreten.Der Schnittpunkt der beiden Zweige ergibt den Ausdruck

K

I= Qmax = 1

T + leffV0

. (8.11)

Die Kapazität ist also immer kleiner als der kehrwert der mittleren Folgezeit bzw.Nettozeitlücke T .6 Sie steigt mit V0 und sinkt mit T und leff (vgl. Abb. 8.10). Au-ßerdem kann man zeigen, dass bei gegebener Folgezeit das Section-Based-Modellvon allen Modellen die größte Kapazität aufweist.7 Der dazugehörige Wert ρK derDichte bei maximalem Fluss ist

1000

1500

2000

2500

3000

1 1.5 2 2.5 3

Qm

ax (

Fz/

h pr

o F

ahrs

trei

fen)

Folgezeit (s)

Autobahn (V0 = 120 km/h)

Stadtverkehr (V0 = 50 km/h)

1/TTempo−30−Zone

Abb. 8.10 Fahrstreifenbezogene Kapazität Qmax des dreieckigen Fundamentaldiagramms für ei-ne effektive Fahrzeuglänge von 8 m (ρmax = 125 Fz/km). Der senkrechte Balken bei T = 1.8 sentspricht der Halben-Tacho-Abstandsregel

6 Der Parameter T hat nichts mit einer Reaktionszeit zu tun, vgl. den Unterabschnitt „Beziehungzu einem Fahrzeugfolgemodell“ auf S. 87.7 Insbesondere bei den später behandelten Modellen mit dynamischer Geschwindigkeit kann siedurch Instabilitäten effektiv auch niedriger sein.

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 85

ρK = 1

V0T + leff. (8.12)

Ausbreitungsgeschwindigkeiten im freien Verkehr. Die Fortpflanzungsgeschwindig-keiten von Fluss-, Dichte- und Geschwindigkeitsschwankungen im freien Verkehrsind gegeben durch die Steigung des freien Zweigs des Fundamentaldiagramms:

cfree = dQe

∣∣∣∣ρ<ρK

= V0. (8.13)

Die Schwankungen pflanzen sich also mit derselben Geschwindigkeit wie die Fahr-zeuge selbst fort und diese Geschwindigkeit ist außerdem gleich der Wunschge-schwindigkeit V0. Im Rahmen dieser Modellklasse findet im freien Verkehr keinerleiWechselwirkung statt. Andernfalls würden die Fahrer auf den Verkehr stromabwärtsreagieren, wodurch sich Störungen relativ zur Fahrzeuggeschwindigkeit nach hintenfortpflanzen. Dies gilt auch für größere Störungen und Sprünge ρ1 → ρ2, solan-ge die Dichten ρ1 und ρ2 unterhalb der Dichte ρK am Flussmaximum liegen (vgl.Gl. (8.12)).

Ausbreitungsgeschwindigkeiten im gebundenen Verkehr. Auf der „gestauten“ Sei-te des Fundamentaldiagramms sind die Geschwindigkeiten von Geschwindigkeits-,Fluss- und Dichteschwankungen konstant und durch

ccong = c = dQe

∣∣∣∣ρ>ρK

= − leff

T= − 1

ρmaxT(8.14)

gegeben. Dasselbe gilt für Sprünge, sofern sich auf beiden Seiten des Sprungs dieDichten im gestauten Bereich ρ > ρK des Fundamentaldiagramms befinden. Die-se konstante, gegen die Fahrtrichtung gerichtete Ausbreitungsgeschwindigkeit wirddurch empirische Beobachtungen bestätigt. Sie gilt nur für dreieckige Fundamen-taldiagramme (vgl. Abb. 8.11). Darüber hinaus gibt diese Gleichung die wesentli-chen Einflussfaktoren dieser Geschwindigkeit an: Der Betrag von c ist gleich einereffektiven Fahrzeuglänge, die innerhalb einer Folgezeit (Nettozeitlücke) zurückge-legt wird. Der Wert |c| beträgt in Europa etwa 14–16 km/h und in den USA eher18–20 km/h.

Diskutieren Sie die Beobachtung, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit cvon Dichteschwankungen in gebundenem Verkehr in den USA etwas größerist als in Europa. Betrachten Sie dabei bekannte Unterschiede in den Fahr-zeugflotten in diesen Regionen.

Ausbreitungsgeschwindigkeiten des Übergangs freier → gebundener Verkehr. Be-zeichnet man den stromaufwärtigen freien und den stromabwärtigen gebundenen

Page 94: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

86 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

ρ1 ρ1 ρ2ρ2

ρ1

ρ2

x

ρ

x

t = t1

t = t2

t = t1

t = t2

ρ

ρ1

ρ2

ρ

ρ

x

~c (ρ) = variabel ~c (ρ) = c = const

Q

ρ

(a) Allgemeines LWR−Modell

ρ

Q

(b) Section−Based−Modell

x

Abb. 8.11 Ausbreitung von Störungen in allgemeinen LWR-Modellen (linke Spalte) und demSection-Based-Modell als Spezialfall (rechte Spalte). Gezeigt sind jeweils das Fundamentaldia-gramm (oben), eine Anfangsstörung innerhalb gebundenen Verkehrs zur Zeit t1 (Mitte) und dasAussehen der Störungen einige Zeit später, t2 > t1 (unten). Nur im Section-Based-Modell breitensich Störungen mit konstanter Geschwindigkeit aus

Verkehr mit den Indizes 1 und 2, so pflanzt sich die resultierende stromaufwärtigeStaufront mit der Geschwindigkeit

cup = c12 = Q2 − Q1

ρ2 − ρ1= Q2 − Q1

ρmax(1 − Q2T ) − Q1/V0(8.15)

fort. Diese Geschwindigkeit kann alle Werte zwischen c und V0 annehmen, sichinsbesondere also auch in beide Richtungen (wachsende bzw. schrumpfende Staus)bewegen.

Ausbreitungsgeschwindigkeiten des Übergangs gebundener Verkehr → Maximal-flusszustand. In allen LWR-Modellen ist der Ausfluss aus dem Stau durch den Ma-ximalflusszustand (ρK, Qmax) gegeben. Allerdings ist der Maximalflusszustand imFall einer Engstelle und der damit verbundenen stationären Staufront relativ zurEngstelle zu sehen (siehe den folgenden Abschn. 8.4.3). Allgemein ist der Übergangentweder stationär an eine Engstelle gebunden oder er breitet sich stromaufwärts(entgegen der Fahrtrichtung) aus. Auf homogenen Strecken gibt es nur die letztereMöglichkeit. Wie man anhand Abb. 8.9 sieht, ist bei dreieckigem Fundamental-diagramm die Geschwindigkeit identisch zu den Ausbreitungsgeschwindigkeiteninnerhalb von Staus durch c gegeben:

cdown = c = − 1

ρmaxT= − leff

T. (8.16)

Die Ausbreitungsgeschwindigkeiten des Section-Based-Modells kann man folgen-dermaßen zusammenfassen:

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 87

In LWR-Modellen mit dreieckigen Fundamentaldiagrammen kommen aufhomogenen Strecken ausschließlich die drei Ausbreitungsgeschwindigkeitencfree = V0 (freier Verkehr), ccong = cdown = c = −leff/T (gebundenerVerkehr und stromabwärtige Staufront) und cup nach Gl. (8.15) (stromauf-wärtige Staufront) vor. Auf inhomogenen Strecken gibt es zusätzlich nochstationäre Staufronten (cdown = 0). Dies gilt für beliebige kleine und großesowie kontinuierliche oder unstetige Änderungen der Größen ρ, V und Q.

Beziehung zu einem Fahrzeugfolgemodell. Bei gegebenen makroskopischenDichte- und Geschwindigkeitsfeldern können Fahrzeugtrajektorien xi (t) von Fahr-zeugen i direkt aus den Definitionen der Dichte (d.h. dem inversen Bruttoabstandzweier Fahrzeuge) und der Geschwindigkeit (d.h. der Tangentensteigung der durchden raumzeitlichen Punkt (x, t) verlaufenden Trajektorie) generiert werden (vgl.Abb. 8.12):

xi (t0) = x0,

xi (t0)∫

xi+1(t0)

ρ(x, t0) dx = 1,dxi

dt= V (xi , t). (8.17)

Durch Vorgabe eines einzigen Punktes (x0, t0), durch den eine Trajektorie verlaufensoll, sind für beliebige zeitkontinuierliche makroskopische Modelle im gesamten

1/Qmax

LSA

leere Strecke

Ausflu

ss au

s dem

Stau

t

c

Warte−schlange

T

x

V0

l eff

leff

V0

1/ρ K

Abb. 8.12 Trajektorien dreier Fahrzeuge, welche mit Gl. (8.17) aus makroskopischen Dichte- undGeschwindigkeitsfeldern erzeugt wurden. Der in Graustufen hinterlegte Dichteverlauf (je dunkler,desto höher die Dichte) entspricht der Lösung des Section-Based-Modells für eine Situation, in dereine Lichtsignalanlage (LSA) von rot auf grün springt und sich die Warteschlange auflöst

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88 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

raumzeitlichen Gebiet, in dem die makroskopischen Größen vorliegen, alle Trajek-torien zu allen Zeiten definiert.

Für das Section-Based-Modell (und nur für dieses) entsprechen die derart er-zeugten Trajektorien für beliebige, gebundene Verkehrszustände (ρ(x, t) > ρK )folgendem, Newell-Modell genannten Fahrzeugfolgemodell (vgl. Kap. 10.7):

vi (t + T ) = vi−1(t).

Dies bedeutet, dass nach einer Zeit T der Fahrer des Fahrzeugs i seine Geschwin-digkeit auf einen Schlag gleich der Geschwindigkeit des vor ihm fahrenden Fahr-zeugs i − 1 setzt (vgl. Abb. 8.12).

Für das Section-Based-Modell kann man also in diesem Fall die Folgezeit T(Nettozeitlücke) gleich der Reaktionszeit setzen. Dies gilt aber nur für Übergängeinnerhalb gebundenen Verkehrs einschließlich des Maximalfluss-Zustandes. Bei-spielsweise fährt in Abb. 8.12 das erste Fahrzeug hinter der LSA mit ReaktionszeitNull an (indem es instantan auf die Wunschgeschwindigkeit beschleunigt).

8.4.1.2 Formulierung des Modells mit messbaren Größen

Das dreieckige Fundamentaldiagramm wurde in Gl. (8.7) mit Hilfe von Parameternformuliert, welche direkt den Bezug zu einzelnen Fahrzeugen und dem Fahrverhal-ten herstellen: Ein Parameter für das Verhalten im freien Verkehr (Wunschgeschwin-digkeit V0), einer für gebundenen Verkehr (Folgezeit T ) und einer für das Fahrzeug(effektive Länge leff = 1/ρmax). Abgesehen von der Wunschgeschwindigkeit lassensich diese Parameter jedoch nicht mit den meist vorliegenden aggregierten Quer-schnittsdaten messen. Für die Messung der Folgezeit benötigt man Einzelfahrzeug-daten, während die Dichtebestimmung mit großen systematischen Fehlern behaftetist (vgl. Abschn. 3.3.1). Insbesondere lässt sich die maximale Dichte prinzipiellnicht aus Querschnittsdaten bestimmen.

Mit Hilfe der Beziehungen (8.14) und (8.11) lassen sich jedoch T und leff durchdie leichter messbaren makroskopischen Größen Kapazität Qmax pro Fahrstreifenund Ausbreitungsgeschwindigkeit c ausdrücken:

1

leff= ρmax = Qmax

(1

V0− 1

c

), T = 1

Qmax

(1 − c

V0

) . (8.18)

Die Kapazität ist annähernd durch den Ausfluss nach einem Verkehrszusammen-bruch gegeben, oder alternativ durch den maximalen Fluss, der über einen hinrei-chend langen Zeitraum (z.B. einer halben Stunde) ohne Zusammenbruch möglichist.8 Die Ausbreitungsgeschwindigkeit wird durch die Zeitdifferenz berechnet, in-

8 Da ein Verkehrszusammenbruch 10 min und länger von der Entstehung bis zur sichtbaren Aus-prägung benötigt, sind über kürzere Zeiträume wesentlich höhere Flüsse möglich. Diese sind je-doch für LWR-Modelle, die prinzipiell keine Instabilitäten modellieren können, nicht relevant.

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 89

nerhalb der Stauwellen von aufeinanderfolgenden Detektoren registriert werden.Unter Verwendung dieser Variablen lässt sich das „dreieckige“ Fundamentaldia-gramm ausdrücken durch

Qe(ρ) ={

V0ρ falls ρ ≤ QmaxV0

(freier Zweig),

Qmax

[1 − c

V0

]+ cρ sonst (gestauter Zweig).

(8.19)

Zur modellgestützen Verkehrslagebestimmung wird das Section-Based-Modell oderdas diskrete Cell-Transmission-Modell vorwiegend in dieser Form formuliert.Insbesondere lassen sich so die Modelle direkt anhand der Daten kalibrieren, dieModellparameter also anhand der gemessenen Werte festlegen.

8.4.2 Wahl der Streckenabschnitte

Sowohl im Section-Based-Modell als auch im Cell-Transmission-Modell (CTM)wird eine Richtungsfahrbahn in mehrere Abschnitte (Zellen) k aufgeteilt. Der Indexk wird dabei in stromabwärtiger Richtung als steigend definert.

8.4.2.1 Aufteilung im Section-Based-Modell

Bei der Wahl der Streckenabschnitte im Section-Based-Modell nutzt man aus,dass, abgesehen von der Fortplanzungsgeschwindigkeit cup der stromaufwärtigenStaufront, alle Ausbreitungsgeschwindigkeiten konstant sind (mit einem der dreiWerte c, 0 oder V0). Dadurch reduziert sich die gesamte raumzeitliche Dynamikauf Bewegungsgleichungen für die variable Geschwindigkeit und der sich damitergebenden Position der stromaufwärtigen Staufront. Die Streckenabschnitte desSection-Based-Modells werden nun so definiert, dass es in jedem Abschnitt nur eineeinzige derartige Staufront geben kann:

Eine road section k des Section-Based-Modells ist ein homogener Strecken-abschnitt der Länge L (k) und Kapazität K (k), welcher stromabwärts durch eineStreckeninhomogenität oder Engstelle (Bottleneck) der Kapazität K (k)

B (t) be-grenzt ist. Eine Engstelle ist ein Abschnitt mit lokal reduzierter Kapazität.

8.4.2.2 Aufteilung im Cell-Transmission-Modell

Simuliert man mit dem von vornherein diskreten CTM, so verwendet man in derRegel Streckenabschnitte (Zellen, engl. cells) einheitlicher Länge, die im Gegen-satz zum Section-Based-Modell deutlich kürzer sind (100–500 m gegenüber 5 kmund mehr) und keine innere Struktur aufweisen. Innerhalb der CTM-Zelle herrscht

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90 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

daher eine einheitliche Dichte. Da keine der Fahrzeuggeschwindigkeiten und Aus-breitungsgeschwindigkeiten innerhalb eines Aktualisierungs-Zeitintervalls Δt zuDistanzen größer als einer Zellenlänge führen dürfen, gilt für die Zeit-SchrittweiteΔt < L/V0.9 Daher steigt bei gegebenem Straßennetz die Rechengeschwindigkeitumgekehrt proportional zum Quadrat der Zellenlänge. Mit der Zellenlänge steigenaber auch die Diskretisierungsfehler, vor allem die in Abschn. 9.5 besprochene nu-merische Diffusion.

8.4.3 Modellierung von Engstellen

Die wichtigsten Engstellen bzw. Streckeninhomogenitäten sind in Abb. 8.13 darge-stellt. Die Engstellen k = 1, 2, 5 und 6 sind sogenannte flusserhaltende Engstellen,während die Ausfahrt (k = 3) und Einfahrt (k = 4) zusätzliche Rampenflüsseenthalten.

• Bei flusserhaltenden Engstellen (flow-conserving bottleneck) gehen alle Fahr-zeuge des Abschnitts k in den stromabwärtigen Abschnitt k + 1 über und Ab-schnitt k + 1 erhält keine Fahrzeuge aus anderen Quellen.

• Bei nicht flusserhaltenden Engstellen gibt es Quellen und Senken in Form vonZufahrten, Abfahrten oder Kreuzungen. In der Sprache des Wirtschaftlers ändertsich in diesem Fall an der Engstelle nicht das „Angebot“ (Kapazität), sondern die„Nachfrage“.

Ferner können die Engstellen permanent (in der Abbildung die Engstellen 1–4sowie Engstelle 5 in der Ausprägung „Baustelle“) oder temporär sein (Engstelle 5 inder Ausprägung „Unfall“ sowie die nur in den Rotphasen aktive Ampel-Engstelle 6).

Eine zentrale Rolle bei der Modellierung spielt, unabhängig von der Ausprä-gung und Art der Engstelle, ein einziges Merkmal, die „Engstellenstärke“ (vgl. auchKap. 17):

xdown(2)

xup(3)

=

(2)Qout

(3)Qin

Baustelle/Unfall

4L

Ausfahrt EinfahrtLSA

Verengung

k = 1 Abschnitt k = 2 k = 3 k = 4 k = 5 k = 6

Abb. 8.13 Definitionen der Abschnitte (sections) bei LWR-Modellen mit dreieckigem Fundamen-taldiagramm mit den hier besprochenen Typen von Engstellen. Jeder Abschnitt besteht aus einerhomogenen Strecke mit einer Engstelle bzw. Inhomogenität am stromabwärtigen Rand

9 Ansonsten kann die Simulation instabil werden und zu negativen Dichten führen; siehe auch dieDiskussion der numerischen Stabilität in Absch. 9.5 und insbesondere Gl. (9.33).

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 91

Im Rahmen von LWR-Modellen werden die Auswirkungen einer Engstelleauf die Verkehrsdynamik allein durch die mit der Engstelle einhergehendeReduktion der Kapazität, also der Engstellenstärke ΔK > 0, bestimmt.

Im Folgenden wird die Modellierung verschiedener Engstellen beschrieben undinsbesondere ΔK bestimmt.

8.4.3.1 „Klassische“ Engstellen

„Klassische“ Engstellen werden verursacht durch lokale Änderungen von Strecke-neigenschaften (Inhomogenitäten) wie Steigungen, Gefälle, Kurven, Tempolimitsund Fahrbahnverschwenkungen oder -verengungen. Eine Kombination dieser Eng-stellen ist oft bei Baustellen anzutreffen. Das gemeinsame Merkmal dieser Eng-stellen ist eine lokale, fahrstreifenbezogene Reduktion der Kapazität, ohne dassFahrstreifensperrungen, Zu- oder Abfahrten vorliegen.10 Die daraus resultierendeKapazitätsreduktion ΔK wird durch lokal geänderte Parameter modelliert.11 ImFall des dreieckigen Fundamentaldiagramms kann ΔK durch eine lokal vergrößerteFolgezeit T und ggf. zusätzlich durch eine lokal reduzierte WunschgeschwindigkeitV0 erreicht werden. Beschreibt man mit den Indizes 1 und 2 die Situation vor undnach der Engstelle, gilt

ΔKcl = I

(V01

V01T1 + leff− V02

V02T2 + leff

). (8.20)

Die Streckenabschnitte werden dabei so gewählt, dass ΔK immer positiv ist, einAbschnitt also wirklich mit einer Kapazitätsreduktion endet. Die danach eventuellfolgende Kapazitätserweiterung liegt im nächsten stromabwärtigen Abschnitt.12

Abbildung 8.14 zeigt die Verhältnisse für eine gleichzeitige Änderung der Para-meter T und V0. Die dünnen, grauen Linien zeigen das Fundamentaldiagramm vorund nach (bzw. innerhalb) der Engstelle. Die dicken Linien zeigen mögliche statio-näre Zustände freien Verkehrs innerhalb und außerhalb der Engstelle. Die Punktezeigen die Verhältnisse nach einem Zusammenbruch: (i) freier Verkehr stromab-

10 Neben „klassischen“, d.h. baulichen „Verengungen“ gibt es auch Engstellen, die allein durchdas Fahrverhalten induziert werden („verhaltensinduzierte Engstelle“). So ist denkbar, dass einStau bzw. Unfall in der Gegenrichtung zu einem geänderten Fahrverhalten (und damit zu einerKapazitätsreduktion) auf einer ansonsten homogenen Strecke führt.11 Man beachte, dass die Ursache einer „klassischen“ Engstelle in einer (baulichen) Streckenin-homogenität liegt. Das veränderte Verhalten der Fahrer wird durch die Inhomogenität bewirkt, istalso lediglich eine Folge. Für eine Modellierung der Engstelle, d.h. der Kapazitätsreduktion, sindlokal veränderte Parameter aber sehr effektiv.12 Eine Kapazitätserweiterung führt aber im Rahmen der LWR-Modelle nicht zu neuer Dynamik:An ihr können Staus weder entstehen noch sich auflösen.

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92 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

ΔK

ρtot

Qtot

V01ρV02ρ

ρmax

I/ T1[1−ρ/ρmax]

I/ T2[1−ρ/ρmax]

Abb. 8.14 Modellierung einer „klassischen“ Engstelle ohne Spurzahlreduktion oder Zuflüssedurch Änderung der Parameter T und V0. Die Punkte zeigen die stationären Verkehrsflüsse nacheinem Verkehrszusammenbruch an (siehe Haupttext)

wärts (linker Punkt), (ii) Maximalflusszustand im Bereich der Engstelle (mittlererPunkt) und (iii) Stau/gebundener Verkehr stromaufwärts (rechter Punkt). Zu beach-ten ist, dass zur Bestimmung der Verhältnisse nach einem Verkehrszusammenbruchim Allgemeinen immer das Fundamentaldiagramm der Gesamtgrößen Qtot(ρtot)

und nicht der gemittelten Größen Q und ρ relevant ist. Während dies hier keineRolle spielt (da sich die Fahrstreifenzahl nicht ändert), wird es für die folgendenEngstellentypen relevant werden.

8.4.3.2 Reduktion der Fahrstreifenzahl

Lässt man lokale Änderungen des Fahrverhaltens außer Betracht, wird durch eineSpurzahlreduktion I1 → I2 das Fundamentaldiagramm der Gesamtgrößen um denFaktor I2/I1 skaliert (vgl. Abb. 8.15).13 Die Kapazität reduziert sich damit um denBetrag

ΔKlanes = (I1 − I2)ρmax . (8.21)

Wieder ist der nach einem Verkehrszusammenbruch resultierende Stau durch dieKapazität der Engstelle charakterisiert. Zu beachten ist, dass der ggf. entstehendeVerkehrszusammenbruch nur von der Kapazitätsreduktion am Ort der Reduktionabhängt, so dass die verkehrlich relevante Engstelle genau dort (und nicht etwaweiter stromabwärts) liegt. Da an der Stelle von Spurzahlreduktionen meist auchTempolimits vorliegen und im Mittel vorsichtiger gefahren wird, wird man in derRegel die Spurzahlreduktion mit einer „klassischen“ Engstelle (Reduktion von V0,Erhöhung von T ) kombinieren.

13 Verkehrsingenieure verwenden für eine Fahrspur nahezu ausschließlich den Begriff „Fahrstrei-fen“. In unserem Kontext bedeuten beide Begriffe exakt dasselbe, aber „Fahrstreifen“ lässt sich inWortzusammensetzungen (Spurzahlreduktion, Spurwechselmodell, Mehrspurmodell, Spurwech-selassistent etc.) weniger elegant verwenden als der kürzere Begriff „Spur“. Wir verwenden des-halb beide Begriffe gleichermaßen.

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 93

I2ρmax I1ρmax

ΔK

ρtot

Qtot

V0ρ

I/ T1[I1−ρ/ρmax]

I/ T2[I2−ρ/ρmax]

Abb. 8.15 Änderung des Fundamentaldiagramms der Gesamtgrößen bei einer Spurzahlreduktionvon I1 nach I2. Die Punkte bezeichnen die nach einem Zusammenbruch resultierenden stationärenZustände stromabwärts (links) und stromaufwärts (rechts)

8.4.3.3 Ausfahrten

Bei Ausfahrten oder einer Erhöhung der Zahl der Fahrstreifen scheint es sich auf denersten Blick nicht um Engstellen zu handeln, denn schließlich wird hier die Nach-frage reduziert bzw. die Kapazität durch einen zusätzlichen Fahrstreifen erhöht. ImVorfeld der Abfahrt kommt es jedoch meist zu erhöhten Fahrstreifen-Wechselraten,die zur Unruhe im Verkehrsfluss sowie zur ineffektiveren Fahrstreifennutzung bei-tragen, so dass de facto die Kapazität lokal reduziert wird. Dies erklärt die Tatsache,dass auch Abfahrten als Ursache von Verkehrszusammenbrüchen vorkommen.14

Allerdings kann diese Ursache einer Kapazitätsreduktion im Rahmen von LWR-Modellen nicht ohne zusätzliche ad-hoc-Annahmen sinnvoll modelliert werden.

8.4.3.4 Zufahrten und Kreuzungen

Bei dieser Art der Streckeninhomogenität wird der Engpass nicht durch eine An-gebotsreduktion (Reduktion der Kapazität K ), sondern durch einen Anstieg derNachfrage durch die einfahrenden Fahrzeuge verursacht. Geht man davon aus, dasssowohl bei freiem Verkehr als auch nach einem Verkehrszusammenbruch alle ein-fahrenden Fahrzeuge auf die Hauptfahrbahn gelangen, ist der stabile Verkehrsflussstromaufwärts der Engstelle auf den Wert K − Qrmp begrenzt, die Engstellenstärke

ΔKrmp = Qrmp (8.22)

also durch den Verkehrsfluss Qrmp auf der Zufahrt gegeben und damit zeitlich ver-änderlich (vgl. Abb. 8.16).

Stromabwärts der Engstelle ist der Fluss nach Zusammenbruch wieder durchden Maximalflusszustand gegeben. Auch eine Zufahrts- (oder Abfahrts-) Engstellewird in der Regel mit einer fahrverhaltensinduzierten Engstelle, also einer lokalenErhöhung der Folgezeit oder Reduktion der Wunschgeschwindigkeit, kombiniert.

14 Teils wird ein Stau an einer Ausfahrt auch durch Überlastung derselben verursacht, so dass sichder ausfahrende Verkehr auf die Haupfahrbahn zurückstaut. In diesem Fall liegt eine (temporäre)Fahrstreifensperrung vor und die Stauursache ist offensichtlich.

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94 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

ΔK = Qrmp

ρtot

Qtot

Ι ρmax

I/T [1−ρ/ρmax]

nur stromabwärts

stromauf−und −abwärts

Abb. 8.16 Modellierung einer durch eine Zufahrt gebildeten Engstelle. Stromaufwärts ist stabiler,freier Verkehr nur für Flüsse unterhalb von K − Qrmp möglich

8.4.3.5 Lichtsignalanlagen

Im Rahmen von Makromodellen lassen sich Ampeln (Lichtsignalanlagen, LSA) innatürlicher Weise durch zeitlich veränderliche Engstellen modellieren: Während derRotphasen, zu denen man ggf. einen Teil der Gelbphasen hinzurechnet, ist die Ka-pazität gleich Null, ansonsten verschwindet die Engstelle.15 Folglich ergibt sich dieKapazitätsreduktion zu

ΔKLSA ={

K LSA ist rot,0 LSA ist grün.

(8.23)

8.4.4 Numerische Lösung des Cell-Transmission-Modells

Prinzipiell ist die Kontinuitätsgleichung (7.8) bzw. (7.10) für den Gesamtfluss zulösen. Im Falle des Cell-Transmission-Modells (CTM) wird die Dichte innerhalbder Zellen als homogen angenommen und man kann direkt die diskretisierte Konti-nuitätsgleichung (7.9) anwenden. Die Bestimmung der Randflüsse Qup und Qdownhängt jedoch davon ab, ob die eigene Zelle und/oder die Nachbarzellen „verstaut“sind, also Dichten oberhalb der Dichte ρK beim Kapazitätsmaximum aufweisen.Diese Abhängigkeiten werden am übersichtlichsten durch die Supply-Demand-Methode dargestellt, wobei anschaulich die jeweiligen Flüsse als Minimum aus demAngebot (supply D) und der Nachfrage (demand D) gegeben sind. Der konkreteUpdateschritt von Zeit t nach t + Δt sieht dann folgendermaßen aus (wobei dasZeitschritt-Argument t der Übersichtlichkeit halber weggelassen wird):

15 Verkehrsingenieure benutzen statt Rotphase den Begriff „Sperrzeit“, statt Gelbphase „Über-gangszeit“ und statt Grünphase „Freigabezeit“. Wir werden aber die intuitiveren BegriffeRot-, Gelb- und Grünphase beibehalten. Weiterhin verwenden wir Ampel und „Lichtsignalanlage(LSA)“ synonym, obwohl, streng genommen, eine Ampel als einzelnes Signal nur ein Elementeiner LSA ist.

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 95

Bestimmung von Angebot (Supply) und Nachfrage (Demand). Das Angebot (dermaximal mögliche Fluss an der Zellengrenze in Fahrtrichtung) ist in jedem Falldurch die modellierte Kapazität beider benachbarter Zellen beschränkt, kann aberdurch einen Rückstau eines stromabwärtigen Staus weiter reduziert werden (vgl.Abb 8.17). An der Zellengrenze k → k + 1 gilt daher die Angebotsfunktion16

Sk ={

min(Kk, Kk+1, Qtot

k+1

)falls Zelle k + 1 verstaut, ρk+1 > ρK ,

min (Kk, Kk+1) sonst .(8.24)

Die Nachfrage ist bei freiem Verkehr gleich dem tatsächlichen Fluss und beiStau gleich dem maximalen Fluss. Dies berücksichtigt die Eigenschaft der LWR-Modelle, dass beim Übergang Stau → freier Verkehr immer der Maximalflusszu-stand angenommen wird:

Dk ={

Qtotk falls Zelle k nichtverstaut, ρk ≤ ρK ,

Kk sonst .(8.25)

Bestimmung der Randflüsse. Es wird die jeweils stärkere Restriktion angewandt:17

Qupk = Qdown

k−1 = min (Sk−1, Dk−1) , (8.26)

Qdownk = Qup

k+1 = min (Sk, Dk) . (8.27)

Aktualisierung des Zelleninhalts. Der Updateschritt nach Gl. (7.9) lautet

ρtotk (t + Δt) = ρtot

k (t) + 1

Lk

(Qup

k − Qdownk

)Δt. (8.28)

ρk+1

Kk+1

ρk

Kk

Sk Dk

ρK ρK

Supply

Demand

Abb. 8.17 Supply- und Demandfunktionen in Abhängigkeit der Dichten der eigenen und derNachbarzelle

16 Die Kapazität Kk in der Minimumsfunktion ist nur bei punktuellen Engstellen relevant, die nichtdurch eine eigene Zelle modelliert werden wie bei einer LSA (Abschn. 8.4.6.1).17 Dies ist wie beim Handel: Ein Geschäft kommt nur dann zustande, wenn ein vorhandenes An-gebot auch nachgefragt wird.

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96 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

Indem man die Supply-Demand-Methode auf die totalen und nicht die fahrstreifen-gemittelten Größen anwendet, werden flusserhaltende Engstellen automatisch durchdie dann reduzierten Kapazitäten berücksichtigt.

Anwendung der Supply-Demand-Methode auf Knotenpunkte. Im Fall von Zufahr-ten erweitert man die Gln. (8.24), (8.25), (8.26), (8.27) und (8.28) in naheliegenderWeise, z.B. für die Geometrie in Abb. 8.18:

S12,3 ={

min(K1 + K2, K3, Qtot

3

)falls ρ3 > ρK ,

min (K1 + K2, K3) sonst,(8.29)

D12,3 ={

Q1 falls ρ1 ≤ ρK ,

K1 sonst,+{

Q2 falls ρ2 ≤ ρK ,

K2 sonst,(8.30)

Qup3 = min(S12,3, D12,3), (8.31)

ρtot3 (t + Δt) = ρtot

3 + 1

L3

(Qup

3 − Qdown3

)Δt. (8.32)

Der Randfluss Qdown3 wird dabei nach Gl. (8.26) bestimmt. Zu beachten ist, dass

durch die Bedingung (8.31) nur die Summe Q13 + Q23 = Qup3 festgelegt ist, so

dass die Zellen 1 und 2 nicht eindeutig aktualisierbar sind, zumindest wenn dieSupplyfunktion S12,3 begrenzend wirkt (Rückstau in die Verzweigung hinein). Indiesem Fall muss man zusätzliche Annahmen treffen, wie z.B. immer den Flussder Zufahrt vollständig zu berücksichtigen (die einfahrenden Fahrer drängen sichschon irgendwie auf die Hauptstrecke) oder den Nachfrageüberschuss D12,3 − S12,3anteilig zu begrenzen. Im Stadtverkehr kann man auch die Vorfahrtsregeln berück-sichtigen.

Im Falle von abfließendem Verkehr bzw. Abfahrten benötigt man als zusätz-liche Information die Abbiegewahrscheinlichkeiten. Falls stromabwärts an beidenStrecken freier Verkehr herrscht, wird der Zellenfluss anteilig auf die beiden Aus-flüsse aufgeteilt, ansonsten (bei Rückstau an den Abflüssen) benötigt man wiederzusätzliche Regeln zur Behandlung des Nachfrage-Überschusses.

Mit diesen zusätzlichen Regeln für Zusammenflüsse und Verzweigungen kannman mit dem CTM (und auch dem Section-Based-Modell) ganze Streckennetzemodellieren.

2

1

3 4

Abb. 8.18 Eine Beispielsgeometrie zur Erklärung der Gln. (8.29), (8.30), (8.31), und (8.32)

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 97

8.4.5 Lösung des Section-Based-Modells

Folgende spezielle Eigenschaften der Ausbreitung von Dichteschwankungen sinddie Grundlage für die numerische Effizienz bei der Simulation des Section-Based-Modells:

1. Innerhalb der Bereiche „freier Verkehr“ und „gebundener Verkehr“ bleiben be-liebige Dichteschwankungen in ihrer Form unverändert, während sie sich mit denAusbreitungsgeschwindigkeiten V0 (gleich der Wunschgeschwindigkeit) bzw. cfortpflanzen (vgl. Abb. 8.11). Da V0 > 0 und c < 0, wird damit der Bereich frei-en Verkehrs nur von den stromaufwärtigen Randbedingungen (d.h. dem Zufluss)kontrolliert. Der gestaute Bereich wird dagegen ausschließlich vom stromabwär-tigen Rand, also der Kapazität K B(t) der dort vorhandenen Engstelle, dominiert(Abb. 8.19).

2. Eine eventuell vorhandene Grenze freier Verkehrs → gebundener Verkehr istimmer unstetig und wird durch die Schockwellen-Ausbreitungsgeschwindigkeit(8.6) beschrieben. Diese kann Werte zwischen c und V0 annehmen, und damitsowohl stromaufwärts als auch stromabwärts wandern.

3. Der Übergangsbereich gestaut → frei ist entweder stationär und dann zwingendan einer Engstelle, also am stromabwärtigen Ende einer road section, fixiert oderer breitet sich mit der festen Geschwindigkeit c stromaufwärts aus. Der letztereFall kann nur auftreten, wenn der Engpass plötzlich verschwindet (grüne Ampeloder Räumung einer Unfallstelle). Da dann der Ausfluss identisch zum maxima-len Ausfluss ist, kann man den Ausflussbereich einer laufenden, stromabwärtigenStaufront sowohl dem freien als auch dem gebundenen Verkehr zuordnen (Spitzedes Fundamentaldiagramms).

v0

Qin Qingroß

KB(t) Qin (t − L/V0)

L/V0

x = 0

x = L

x

klein

1/Qin

t

Sperrung

zeitverzögerte NachfrageKapazität

Engstelle

Abb. 8.19 Verkehrsdynamik eines mit dem Section-Based-Modell modellierten Abschnitts derLänge L . Dargestellt sind die Bereiche freien bzw. gebundenen Verkehrs (blaue bzw. rote Flächen),einige Fahrzeugtrajektorien (blaue bzw. rote durchgezogene Linien), die Ausbreitung von Störun-gen im Stau (punktierte Linien) sowie die zeitlich veränderliche Kapazität Qout(t) und die zeitver-zögerte Nachfrage Qin(t) (rote bzw. blaue punktierte Linien im oberen Koordinatensystem). EinStau bildet sich, wenn die blaue die rote punktierte Linie von unten nach oben schneidet

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98 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

Damit ergibt sich folgende Schlussfolgerung:

Ordnet man den Maximalfluss-Zustand an der Spitze des Fundamentaldia-gramms dem gebundenen Verkehr zu, so kann es innerhalb jeder road sectionhöchstens einen Übergang frei → gestaut geben. Ein möglicher Überganggestaut → frei ist immer stationär und befindet sich am stromabwärtigen Endeeiner road section. Jede road section kann also genau einen der drei Zuständeannehmen: (i) komplett frei, (ii) teilgestaut mit freiem Verkehr stromaufwärtsvom gebundenen Verkehr, (iii) komplett gebundener Verkehr bzw. zugestaut.Andere Möglichkeiten (wie mehrere Staus oder Übergänge gestaut→ frei)gibt es im Road-Section-Modell nicht.

8.4.5.1 Dynamik innerhalb des Streckenabschnitts

Für die analytische Beschreibung bzw. numerische Simulation haben die Eigen-schaften des dreieckigen Fundamentaldiagramms (vgl. Abschn. 8.4.5) zur Fol-ge, dass man die raumzeitliche Dynamik in der gesamten Zelle direkt durch dieRandbedingungen und durch die Bewegungsgleichung maximal einer Staufront be-schreiben kann – die explizite Lösung der Kontinuitätsgleichung (also einer partiel-len Differentialgleichung) ist nicht nötig. Zur Formulierung der Lösung für die dreiZustände des Streckenabschnitts sei zunächst der Zufluss Qin(t) am stromaufwär-tigen Ende bei xup sowie der Ausfluss Qout(t) am stromabwärtigen Ende bei xdowndes Streckenabschnitts vorgegeben (vgl. Abb. 8.13). Der Zellenindex k wird hier derÜbersichtlichkeit halber weggelassen.

Zustand 1: Freier Verkehr auf der gesamten road section. Hier ist nur die strom-aufwärtige Randbedingung relevant und man erhält innerhalb des Abschnitts k zu-nächst den Fluss und mit Gl. (8.9) die Dichte:

Qfree(x, t) = 1I Qin(t ′), t ′ = t − x−xup

V0,

ρfree(x, t) = ρfree (Qfree(x, t)) .(8.33)

Zustand 2: Gestauter Verkehr auf der gesamten road section. Hier ist nur diestromabwärtige Randbedingung relevant und man erhält innerhalb des Abschnittszunächst den Fluss und mit Gl. (8.10) die Dichte:

Qcong(x, t) = 1I Qout(t ′) = 1

I K B(t ′), t ′ = t − xdown−x|c| ,

ρcong(x, t) = ρcong(Qcong(x, t)

).

(8.34)

Zustand 3: Freier und gestauter Verkehr. Hier sind beide Randbedingungen rele-vant und für die freien und gebundenen Anteile gelten die jeweiligen obigen Glei-chungen. Zusätzlich gilt für die Position x∗(t) des Übergangs frei → gestaut die

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 99

Schockwellenausbreitungsgeschwindigkeit (8.15), welche hier die Form einer ge-wöhnlichen Differentialgleichung für x∗ annimmt:

dx∗

dt= Q∗

2 − Q∗1

ρcong(Q∗2) − ρfree(Q∗

1)= Q∗

2 − Q∗1

ρmax(1 − Q∗2T ) − Q∗

1/V0. (8.35)

Die Bewegungsgleichung des Übergangs x∗(t) hängt nur von den Flüssen am Randdes Streckenabschnitts zu vergangenen Zeiten ab:

Q∗2 = Qcong(x∗, t) = 1

I K B

(t − xdown−x∗

|c|)

= 1I K B (t − ρmaxT (xdown − x∗)) ,

Q∗1 = Qfree(x∗, t) = 1

I Qin

(t − x∗−xup

V0

). (8.36)

Die Randbedingungen können beispielsweise von stationären Detektoren ge-messene Flüsse und errechnete Dichten sein, so dass man Gl. (8.35) zur Ver-kehrslageschätzung und Kurzzeitprognose verwenden kann. Warum ist es fürderartige Anwendungen besser, nur die Flüsse zu verwenden (rechte Seite derGl. (8.35)), auch wenn Geschwindigkeiten zur Schätzung der Verkehrsdichtenverfügbar sind und man sich damit das Kalibrieren der Parameter des Funda-mentaldiagramms ersparen könnte?

Abbildung 8.19 verdeutlicht die Situation mit xup = 0 und xdown = L undzeitlich veränderlicher Nachfrage bzw. Zufluss Qin(t) (Rush Hour) und einemAusfluss, welcher durch das variable Angebot in Form einer Engstellen-KapazitätKB = K − ΔK mit zusätzlicher temporärer Streckensperrung (Erhöhung derEngstellenstärke ΔK ) beschränkt ist. Sobald bei anfangs freiem Verkehr die zeit-versetzte Nachfrage Qin(t − L/V0) größer wird als die Kapazität KB(t), bildetsich ein Stau. Die Geschwindigkeit der entstehenden Staufront hängt nun gemäßGl. (8.35) von den zeitverzögerten Werten der Nachfrage und der Kapazität ab. Zu-nächst sinkt die Nachfrage bei konstanter Engstellenkapazität, so dass die sich an-fänglich entgegen der Fahrtrichtung bewegende Staufront schließlich ihre Richtungumkehrt, der Stau sich also aufzulösen beginnt. Die dann einsetzende Vollsperrung(KB(t) = 0) führt – entsprechend zeitverzögert – noch einmal zu einem Anwachsen,ehe die Aufhebung der Sperrung und die nun geringere Nachfrage nach einer derStaulänge entsprechenden Verzögerungszeit zu einer raschen Auflösung des Stausführen.

Abbildung 8.20 veranschaulicht die Geschwindigkeiten der Staufront mit echtenVerkehrsdaten (zur Gewinnung dieser raumzeitlichen Darstellung siehe Kap. 5.2).Anhand der parallelen Strukturen des raumzeitlichen Geschwindigkeitsverlaufssieht man zunächst, dass sich die Geschwindigkeitsänderungen im freien bzw. ge-stauten Verkehr mit nahezu gleicher Geschwindigkeit ausbreiten. Dies ist in Über-einstimmung mit der Modellierung mit einem dreieckigen Fundamentaldiagramm.In dieser Abbildung ist zu erkennen, wie sich die Geschwindigkeit der Staufront

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100 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

Abb. 8.20 Veranschaulichung der Schockwellendynamik der Abb. 8.19 mit realen Daten der deut-schen Autobahn A5 (weiße Linien) mit einer temporären Engstelle (Unfall, links oben) und perma-nenten Engstellen (rechts oben und unten). Als Randbedingungen der Gl. (8.35) dienen Flussdatenvon Detektoren, welche an den schwarzen Linien (stromaufwärtige Grenzen des Abschnitts) undgestrichelten Linien (stromabwärtige Grenzen) positioniert sind. Der dargestellte raumzeitlicheGeschwindigkeitsverlauf dient hier nur zur Veranschaulichung und zur Kalibrierung des dreiecki-gen Fundamentaldiagramms (V0 = 100 km/h, T = 2 s und ρmax = 100 Fz/h in den beiden oberenPlots, T = 1.5 s und ρmax = 80 Fz/h im unteren Plot), wurde aber nicht direkt zur Berechnung derStaufront verwendet

(dicke weiße Linien) in Abhängigkeit der Schwankungen der Nachfrage (Fluss ander punktiert gezeichneten Detektorposition) und des Angebots (gestrichelte De-tektorposition) ändert. Zudem beötigt man nur Informationen, die bis zu 40 min(entsprechend 10 km Stau im linken oberen Teilbild der Abb. 8.20) in der Vergan-genheit liegen. In den beiden oberen Teilbildern erkennt man, dass das durch dieGln. (8.35) und (8.36) beschriebene Verfahren automatisch auch beim Übergangvon freiem Verkehr zum Maximalflusszustand funktioniert: In Einklang mit denBeobachtungen (beispielsweise in der Darstellung links oben etwa um 21:00 Uhr)wandert dieser Übergang nahezu mit der Fahrzeuggeschwindigkeit stromabwärts.Diese Beobachtung rechtfertigt die formale Zuordnung des Maximalflusszustandeszu den Zuständen gebundenen Verkehrs.

8.4.5.2 Dynamik der Randbedingungen

Die Randbedingungen einer jeden road section vermitteln die Kopplungen dereinzelnen Abschnitte untereinander und führen zu den bei der Betrachtung derDynamik innerhalb einer road section als gegeben angenommenen Randbedingun-

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 101

gen Qin(t) und Qout(t). Ebenso wie im Cell-Transmission-Modell (CTM) gilt imSection-Based-Modell die Bedingung, dass der Ausfluss Q(k)

out aus Zelle k gleichdem Zufluss Q(k+1)

in der nächsten Zelle in Fahrtrichtung ist. Falls keine gemesse-nen Detektorflüsse oder externen Annahmen über den Fluss vorliegen (diese sindzumindest als Zufluss des stromaufwärtigsten Abschnitts und Abfluss des stromab-wärtigsten Abschnitts zwingend notwendig), werden die Randflüsse wie im CTMdurch die Supply-Demand-Methode, Gl. (8.26), bestimmt. Im Falle einer Zufahrtwird die dann relevante Gl. (8.31) durch die Bedingung ergänzt, dass im Falle einesStaus die Nachfrage der Zufahrt vollständig berücksichtigt wird, so dass sich nurauf der Hauptstrecke ein Stau bildet.

Im Gegensatz zum CTM haben aber die Abschnitte des Section-Based-Modellsinnere Zustände (frei, teilverstaut oder totalverstaut), die sich ggf. als Konsequenzder Supply-Demand-Methode ändern:

1. Falls Dk(t) > Sk(t) und Abschnitt k bisher vollständig frei war, ist dieser Ab-schnitt nun teilverstaut.

2. Falls Dk(t) < Sk(t) und Abschnitt k+1 bisher vollständig verstaut war, ist dieserAbschnitt nun nur noch teilverstaut.

3. Eine teilverstaute Zelle mit einer Staugrenze x∗ geht in den vollständig ver-stauten Zustand über, wenn die Staugrenze den stromaufwärtigen Zellenranderreicht. Erreicht x∗ hingegen den stromabwärtigen Zellenrand, ändert sich derZellenzustand in „frei“.

8.4.6 Beispiele

Die kompakte Darstellung der Lösungen (8.33), (8.34), und (8.35) des Section-Based-Modells erlaubt eine aufschlussreiche Einsicht in die Dynamik von Ver-kehrsstaus.

Die allgemeine Situation ist in Abb. 8.21 gezeigt. Die Engstelle dieser Abbil-dung führt lokal zu einer Kapazitätsreduktion von K auf KB = K − ΔK , einemsogenannten Kapazitätsloch. Falls Qin > KB (wie in der Abbildung dargestellt)gilt, führt dies zu einem wachsenden Stau stromaufwärts der Engstelle. Dementspre-chend ist im Fundamentaldiagramm die Sekantensteigung zwischen Zustand ① (Zu-fluss) und Zustand ② (Stau) negativ. Aus den Supply-Demand-Randbedingungenfolgt, dass innerhalb der Engstelle kein Stau mehr herrscht, sondern vielmehr derMaximalflusszustand ③. Erst stromabwärts der Engstelle herrscht freier Verkehr imeigentlichen Sinne (Zustand ④). Da die Flüsse der Zustände ②, ③ und ④ alle gleichhoch sind, sind die entsprechenden Übergänge nach der Schockwellen-Formel (8.6)ortsfest. Im Folgenden wird die Dynamik anhand von Beispielen steigender Kom-plexität erläutert.

8.4.6.1 Rückstau an einer Lichtsignalanlage

Gegeben ist eine Situation mit konstantem Zustrom Qin < K bei x = 0 und einerLichtsignalanlage (LSA) bei x = L , welche anfangs (t = 0) grün ist, zur Zeit

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102 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

1

1

3

42

2 3 4

Engstelle:"Kapazitätsloch"

K2

K1

c12

c12 < 0 c23 = 0 c34 = 0

KB = K2

K1

Fluss

K(x)Kapazität

Q

x

ρ

Stau Max. Fluss AusflussZufluss

Abb. 8.21 Stauausbreitung im Section-Based-Modell: Gezeigt ist der Fall einer flusserhaltendenEngstelle, bei der sich innerhalb der Engstelle das Fundamentaldiagramm ändert und sich insbe-sondere die Kapazität von K1 auf K2 reduziert. Fahrzeuge durchlaufen nacheinander die mit ① bis④ auf dem Streckenabschnitt und im Fundamentaldiagramm bezeichneten Zustände. Der Über-gang ① → ② bewegt sich stromaufwärts, während die anderen Übergänge stationär sind

t1 nach Rot und zum Zeitpunkt t2 wieder nach Grün schaltet. Anfänglich herrschtauf der Strecke mit einem Fahrstreifen (I = 1) freier Verkehr. Außerdem gibt eswährend der gesamten Zeit keinen Rückstau auf dem Abschnitt stromabwärts derLSA. Damit ist bei der Berechnung der Randbedingungen mit der Supply-Demand-Methode (8.26) das Angebot S stets durch die „Engstellen-Kapazität“ der LSA ge-geben (vgl. Abb. 8.22):

S(t) = K − ΔKLSA ={

0 falls t1 < t < t2 (LSA ist rot),K falls t ≥ t2 (LSA ist grün).

(8.37)

Phase 1: LSA ist grün, freier Verkehr. Der Abschnitt ist anfangs staufrei, also ist dieNachfrage (demand) durch D = Qin gegeben. Da D < S ist, bleibt dieser Zustandbis t = t1 unverändert bestehen.

Phase 2: LSA ist rot, Bildung einer Warteschlange. Für t1 < t ≤ t2 ist S = 0und damit D > S. Die road section geht in den Zustand „teilverstaut“ über und diestromabwärtige Randbedingung ist durch Qout = 0 gegeben. Gleichung (8.35) fürdie Staufront zwischen den Bereichen ① und ② (vgl. Abb. 8.22) wird mit Q∗

1(t) =Qin und Q∗

2(t) = 0 zu

dx∗

dt= c12 = −Qin

ρmax − QinV0

.

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 103

v0

ΔKLSA

Qin

x = 0

x = L

Supply S(t) Demand D(t)

grünrotx

t

tgrün

Q

(x3, t3)

t1 t2 t4

2 3

1

Abb. 8.22 Modellierung eines Rückstaus hinter einer Ampel bzw. Lichtsignalanlage (LSA). Un-terschieden werden die Bereiche freier Verkehr (Bereich ①, hellblau), gestauter Verkehr bzw. War-teschlange (Bereich ②, rot) und Ausfluss aus dem Stau (Bereich ③, violett). Das obere Koordinaten-system veranschaulicht die Berechnung der Randbedingungen mit dem Supply-Demand-Modell.Die Fahrzeugtrajektorien (schwarze Linien) dienen lediglich zur Veranschaulichung

Ohne Zufluss (Qin = 0) gilt c12 = 0, da sich dann natürlich auch bei roter Ampelkein Stau bildet. Bei maximalem Zufluss, also Qin = K = 1/(T + leff/V0), gilthingegen (unter Ausnutzung von ρmax = 1/ leff)

cmax. Zufluss12 = −leff

T= c.

Die Staufront-Geschwindigkeit bei maximalem Fluss ist demnach gleich der Aus-breitungsgeschwindigkeit von Störungen innerhalb gestauter Zustände. In jedemFall gilt c ≤ c12 ≤ 0.

Phase 3: LSA ist grün, Stauauflösung. Das Angebot (supply) ist für t ≥ t2 wiederdurch S(t) = K = Qmax gegeben. Wegen der Warteschlange ist die Nachfrageebenfalls durch D(t) = K = Qmax gegeben. Damit gilt die Randbedingung Qout =K und es bildet sich ein Übergang „stehender Verkehr“ → „maximaler Fluss“, dersich stromaufwärts ausbreitet. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit beträgt

c23 = Q3 − Q2

ρ3 − ρ2= Qmax − 0

ρcong − ρmax= − 1

ρmaxT= c.

Da der Maximalflusszustand dem gestauten Bereich zugeordnet werden kann,ist dies in Übereinstimmung mit der allgemeinen Regel, dass es innerhalb einesStreckenabschnitts keine Übergänge Stau → freier Verkehr geben kann und sichaußerdem alle Zustandsänderungen im Stau mit der Geschwindigkeit c ausbreiten.Es gibt also nun zwei Übergänge:

• Der Übergang ① → ② (frei → gestaut) am Ort x12(t) = L + c12(t − t1) breitetsich nach wie vor mit der Geschwindigkeit c12 aus.

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104 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

• Der Übergang ② → ③ (gestaut → maximaler Fluss) am Ort x23(t) = L+c(t−t2)breitet sich mit der Geschwindigkeit c aus.

Zur Zeit

t3 = c12t1 − ct2c12 − c

= t1 +( −c

c12 − c

)(t2 − t1)

treffen sich die beiden Staufronten und der Bereich stehenden Verkehrs. Folglichhat sich die Warteschlange am Ort

x3 = L + c(t3 − t2)

aufgelöst. Man beachte, dass c negativ ist, der Ort sich also wie erwartet stromauf-wärts der LSA befindet.

Phase 4: Auflösung des Maximalfluss-Zustandes. Zur Zeit t > t3 hat sich zwardie Warteschlange aufgelöst, es gibt aber für die Zeitspanne t3 < t ≤ t4 noch„Nachwirkungen“ der roten Ampelphase in Form des Maximalflusszustandes. Setztman Q2 = Qmax in Gl. (8.35) ein, erhält man für die Geschwindigkeit c13 desÜbergangs ① → ③ (Zuflussbereich → Bereich mit maximalem Fluss)

c13 = Qmax − Qin

ρcong(Qmax) − ρfree(Qin)= V0.

Dieser Übergang passiert die Haltelinie zur Zeit

t4 = t3 + x3

V0= t2 + (t2 − t1)

Qin

Qmax − Qin.

Bei mehreren Ampelzyklen und konstanter Nachfrage stellen sich stationäre Ver-hältnisse nur dann ein, wenn die nächste Rotphase zur Zeit t4 oder später beginnt.Ansonsten wachsen die Warteschlangen mit der Zeit immer mehr an.

Machen Sie sich anhand von beispielhaften Werten für Qin und K > Qin klar,dass an der Grenze der Stationarität, bei der die zweite Rotphase zur Zeit t4beginnt, genau die Verhältnisgleichung

Grünphase

Umlaufzeit= t4 − t2

t4 − t1= Qin

K

gilt. Was bedeuten diese Verhältnisse anschaulich?

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 105

8.4.6.2 Mehrere Lichtsignalanlagen hintereinander: Grüne Welle

Im einfachsten und hier betrachteten Fall lässt man zunächst die Nebenstreckenaußer Acht und nimmt, abgesehen von den Ampeln selbst, eine homogene Haupt-strecke an, auf der insbesondere die Kapazität überall dieselbe ist. Alle Lichtsignal-anlagen (LSA) haben dann einen einfachen Rot-Grün-Zyklus mit den Zeitdauernτr bzw. τg . Ferner wird eine einheitliche Umlaufzeit τuml = τr + τg angenom-men. Selbst in diesem einfachen Fall kann man nicht nur eine Grüne Welle durchAnpassung der relativen Phasen optimieren (also der Zeitpunkte t (k)

r , zu denendie Rotphasen bei der LSA k beginnen). Zusätzlich kann man simulieren, (i) wiestabil die entstehende Grüne Welle gegenüber Schwankungen der Nachfrage ist,(ii) wie bereits eine einzelne, nicht eingetaktete Fußgängerampel die Welle zerstört,(iii) wann die Welle zusammenbricht (z.B. durch Rückstaus und dadurch hervor-gerufene Ineffizienzen) und (iv) wie schnell sich bei Reduktion der Nachfrage auseinem Verkehrszusammenbruch heraus wieder eine Grüne Welle einstellt.

In Abb. 8.23 ist ein Beispiel mit zwei aufeinanderfolgenden Ampeln gleicherRot- und Grünphasendauer gezeigt. Da hier die Warteschlange der stromaufwärti-gen LSA während der Grünphase komplett abfließt, ist prinzipiell bei allen folgen-den LSA eine Grüne Welle ohne weitere Warteschlangen möglich, zumindest wenndie Rot- und Grünzeiten identisch sind. Im Beispiel ist jedoch die Versatzzeit (relati-ve Verschiebung der Rot- und Grünphasen) von −10 s nicht optimal eingestellt. Deroptimale Wert beträgt hier vielmehr (x2 − x1)/V0 = 20 s. Anhand dieses Beispielslassen sich die Prinzipien verstehen. Eine Erweiterung auf weniger idealisierte Si-tuationen ist im Rahmen von Simulationen problemlos möglich.

11

0 50

100 150 200 250 300 350 400 450 500 550 600 650 700

0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200

x(m

)

t (s)

LSA

LSA

c12

c12 c12

c23

23c

c24c24

c42 c42

c13

c34

c12

c23

c232 2

2

4 43 3

2

34 34

Abb. 8.23 Modellierung des Verkehrs über zwei aufeinanderfolgenden, mit Lichtsignalanlagen(LSA) ausgestatteten Kreuzungen mit dem Section-Based-Modell. Die LSA haben jeweils 40 sRot- und 70 s Grünphasen und die Phasen sind um 10 s gegeneinander versetzt. Der Einfachheithalber ist angenommen, dass während der Rot-Phasen kein Verkehr von den Nebenstrecken aufdie Hauptstrecke einfährt. Die raumzeitlichen Bereiche kennzeichnen (den als konstant angenom-menen) Zufluss ①, die Warteschlange ②, den Ausfluss ③ und die leere Fahrbahn ④

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106 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

8.4.6.3 Zufahrt während einer Rush Hour

Es sei ein Streckenabschnitt (I Fahrstreifen) mit einer Zufahrt (Länge L rmp, kon-stante Verkehrsbelastung Qrmp) auf Höhe x = L der Hauptfahrbahn gegeben. DieVerkehrsnachfrage auf der Hauptstrecke sei während der Rush Hour abrupt erhöht:

Qin ={

Qrush tbeg < t < tend,

Q0 sonst.

Dabei sei beim Zufluss Q0 permanente Staufreiheit möglich, während es in der RushHour beim größeren Fluss Qrush zum Stau kommt (Abb. 8.24).

Phase 1: Freier Verkehr für t < tbeg. Die Engstellenstärke beträgt nach Gl. (8.22)ΔK = Qrmp und die Engstellenkapazität damit KB = K − Qrmp. Es muss alsogelten:

Q0 < KB = K − Qrmp = I Qmax − Qrmp.

Phase 2: Zusammenbruch und Ausbreitung eines Staus während t1 ≤ t < t2. Diestaufreie Phase geht zu Ende, sobald die höhere Nachfrage Qrush > KB den Ort derZufahrt erreicht. Nach Gl. (8.33) ist dies zur Zeit

t1 = tbeg + L

V0

Qrush Q0Q0

V 0

x = 0

x = L

x

Supply S(t) Demand D(t)

Zufahrt

Rush Hour

t

Zufahrt

(x2, t2)

tbeg tend

t1 t2 t3

Abb. 8.24 Modellierung eines durch Überlastung verursachten Verkehrszusammenbruchs an einerZufahrt. Im Gegensatz zum LSA-Beispiel ist hier die Kapazität der Störstelle (d.h. der Rampen-fluss) konstant und der Stau wird durch eine erhöhte Verkehrsbelastung auf der Hauptfahrbahn(Rush Hour) provoziert

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8.4 LWR-Modelle mit dreieckigem Fundamentaldiagramm 107

der Fall.18 Der für Zeiten t > t1 entstehende Bereich gestauten Verkehrs stromauf-wärts der Zufahrt ist charakterisiert durch die fahrstreifenbezogenen Größen

Qcong = KB

I= Qmax − Qrmp

I, ρcong = ρmax(1 − QcongT ), Vcong = Qcong

ρcong.

Der Bereich freien Verkehrs weiter stromaufwärts ist gegeben durch

Qfree = Qrush, ρfree = Qrush

V0, Vfree = V0.

Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der stromaufwärtigen Staufront in Phase 2 ist ge-nau wie in den vorhergehenden Beispielen durch die Schockfrontgleichung gege-ben:

c12 = Q2 − Q1

ρ2 − ρ1= Qcong − Qrush

ρmax(1 − QcongT ) − QrushV0

.

Phase 3: Stauauflösung während t2 < t ≤ t3. Zunächst muss die Zeit t2 be-stimmt werden. Die Phase des Stauwachstums (c12 < 0) endet, wenn der ÜbergangQrush → Q0, welcher das Ende der Rush Hour einleitet, die stromaufwärtige Frontdes Staus trifft. Nach Gl. (8.33) breitet sich der Übergang mit der GeschwindigkeitV0 aus, die Position ist in Abhängigkeit der Zeit durch

xend(t) = V0(t − tend)

gegeben. Die Schnittbedingung xend(t) = x12(t) mit der Staufrontposition x12(t) =L + c12(t − t1) liefert die Zeit

t2 = L − c12t1 + V0tend

V0 + c12

und die maximale Staulänge (vgl. Abb. 8.21)

Lcongmax = L − x12(t2) = −c12(t2 − t1).

Danach wird die Ausbreitungsgeschwindigkeit der stromaufwärtigen Staufront po-sitiv:

c∗12 = Qcong − Q0

ρmax(1 − QcongT ) − Q0V0

.

18 Dies gilt streng genommen nur für vernachlässigbare Längen L rmp der Beschleunigungsstreifen,in hinreichend guter Näherung aber auch für endliche Rampenlängen.

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108 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

Schließlich erreicht die Staugrenze die Rampe zur Zeit

t3 = t2 + Lcongmax

c∗12

= t2 − c12(t2 − t1)

c∗12

.

Zu diesem Zeitpunkt löst sich der Stau auf. Da c12 < 0, aber c∗12 > 0 ist, gilt t3 > t2,

wie es aus Konsistenzgründen auch sein muss.

8.4.6.4 Reduktion der Fahrstreifenzahl

Bei einer Reduktion von I1 auf I2 < I1 Fahrstreifen reduziert sich die Kapazitätgemäß Gl. (8.21) und Abb. 8.15 um den Betrag (I2− I1)Qmax. Sobald die NachfrageQin die Engstellenkapazität

KB = K − ΔK = I2 Qmax (8.38)

überschreitet, bricht der Verkehr zusammen. Beim resultierenden Stau steht fürjeden der I1 stromaufwärtigen Fahrstreifen die anteilige Kapazität

Qcong = KB

I1= I2

I1Qmax (8.39)

zur Verfügung. Die resultierende, spurbezogene Dichte ist damit (vgl. Abb. 8.15)

ρcong = ρmax(1 − QcongT ) = ρmax

(1 − I2

I1QmaxT

). (8.40)

Dies entspricht einer Geschwindigkeit im Stau stromaufwärts der Spursperrung von

Vcong = Qcong

ρcong= Qcong

ρmax(1 − QcongT )= I2V0

I1 + (I1 − I2)ρmaxV0T. (8.41)

Beispiel: Für V0 = 144 km/h, T = 1.5 s und leff = 1/ρmax = 7 m ergeben sich fürdie verschiedenen Situationen folgende Geschwindigkeiten im Stau:

Übergang 3 auf 2 Fahrstreifen: Vcong = 0.17 V0 = 24.9 km/h,

Übergang 3 auf 1 Fahrstreifen: Vcong = 0.05 V0 = 7.1 km/h,

Übergang 2 auf 1 Fahrstreifen: Vcong = 0.09 V0 = 13.6 km/h.

Steht man in einem unfallbedingten Stau, kann man also grob anhand der gefahrenenGeschwindigkeiten abschätzen, ob eine oder zwei Fahrstreifen gesperrt sind. Dieberechneten Geschwindigkeiten hängen nur schwach von V0 ab. Für V0 = 72 km/hergeben sich Staugeschwindigkeiten von 19.8 km/h, 6.2 km/h und 11.5 km/h.

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8.5 Diffusion und Burgers-Gleichung 109

Begründen Sie die bisweilen als gegenintuitiv empfundene Beobachtung, dassman in einer verstauten Situation mit einer sukzessiven Reduktion der Fahr-streifenzahl von 3 über 2 auf 1 nach jeder Spurzahlreduktion schneller vor-ankommt, obwohl die durchgängige Spur jedes Mal zusätzliche Fahrzeugeaufnehmen muss.

8.5 Diffusion und Burgers-Gleichung

Die Schockwellen sind nicht ganz realistisch und bereiten Probleme bei der numeri-schen Lösung – zumindest für andere Fundamentaldiagramme als das des Section-Based-Modells. Zu ihrer Glättung kann ein Diffusionsterm D∂2ρ/∂x2 mit D > 0als Diffusionskonstante eingeführt werden:

∂ρ

∂t+[

Ve(ρ) + ρdVe

]∂ρ

∂x= D

∂2ρ

∂x2LWR-Modell mit Diffusion. (8.42)

Diese nichtlineare, partielle Differentialgleichung lässt sich im Allgemeinen nur nu-merisch lösen (vgl. Abschn. 9.5). Im Spezialfall einer linearen Geschwindigkeits-Dichte-Relation (also einer Parabel als Fundamentaldiagramm, siehe Übungsaufga-be 7.5) kann man die dann „Burgers-Gleichung“ genannte Gleichung mittels dersogenannten Cole-Hopf-Transformation auf eine lineare Diffusionsgleichung abbil-den und exakt lösen.

Linearisiert man die Burgers-Gleichung für kleine Dichteschwankungen (odernimmt man lineare Fluss-Dichte-Relationen wie z.B. Gl. (8.7) an) und befindetman sich überall oberhalb oder unterhalb der kritischen Dichte ρK des Übergangsvon freiem zu gebundenem Verkehr, so wird die Gl. (8.42) zur linearen Diffusions-Transport-Gleichung

∂ρ

∂t+ c

∂ρ

∂x= D

∂2ρ

∂x2, (8.43)

wobei die Ausbreitungsgeschwindigkeit c nach Gl. (8.4) gegeben ist durch c =Q′

e(ρ).Abbildung 8.25 zeigt für das dreieckige Fundamentaldiagramm eine Lösung der

Gl. (8.43) für freien Verkehr (c = V0), falls anfangs auf einem bestimmten Strecken-abschnitt eine endliche Dichte und außerhalb die Dichte Null (entsprechend einerleeren Strecke) herrscht.

Allgemein kann man für konstante Ausbreitungsgeschwindigkeiten c und homo-gene, hinreichend von Rändern oder Inhomogenitäten entfernte Streckenabschnittedie Lösung für beliebige Anfangsbedingungen ρ(x, t0) exakt angeben:

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110 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

0

5

10

15

20

25

0 2000 4000 6000 8000

ρ (1

/km

)

x (m)

Anfangsbedingungt = 10 st = 20 st = 60 st = 90 st = 120 st = 180 s

Abb. 8.25 Lösung der Diffusions-Transport-Gleichung (8.43) für die (mit stärkeren Linien ge-kennzeichnete) Anfangsbedingung ρ(x, 0)

ρ(x, t) =∫

ρ(x ′, t0)g(x − x ′, t − t0) dx ′. (8.44)

Hierbei ist die Greens-Funktion

g(x, t) = F (μ,σ 2)N (x) = 1√

4π Dtexp

[− (x − ct)2

4Dt

](8.45)

die Lösung für eine punktuelle Anfangs-Dichte (entsprechend der punktuellen Auf-enthaltswahrscheinlichkeit eines Fahrzeugs) an der Stelle x = 0. Die Lösung g(x, t)ist die Dichte einer Normal- bzw. Gaußverteilung fN (x) mit dem zeitabhängigenErwartungswert μ(t) = ct und der Varianz σ 2(t) = 2Dt .

Anhand der Lösung (8.44) sieht man direkt, dass der Dichteverlauf des Systemsin Abb. 8.25 durch integrierte Dichtefunktionen der Gaußverteilung, also durch (ku-mulierte) Gaußverteilungsfunktionen selbst, dargestellt werden kann (vgl. Aufga-be 8.7).

Warum ist D für „vernünftige“ Verkehrsmodelle nie negativ? Diskutieren Siedies anhand der Lösung (8.44).

Zeigen Sie durch Einsetzen (d.h. Differenzieren), dass der Dichtever-lauf (8.45) tatsächlich die Diffusions-Transport-Gleichung (8.43) für allet > 0 löst. Wie verändert sich die „Breite“ dieser Dichteverteilung, definiertals Standardabweichung, mit der Zeit?

Page 119: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

8.5 Diffusion und Burgers-Gleichung 111

Übungsaufgaben

8.1 Ausbreitungsgeschwindigkeiten des Übergangs frei → gestautBegründen Sie, warum die Geschwindigkeit (8.6) einer Übergangszone frei → ge-staut (stromaufwärtige Staufront) im LWR-Modell mit dreieckigem Fundamental-diagramm Werte zwischen c und V0 annimmt. Unter welchen Bedingungen werdendie Extremwerte realisiert?

8.2 Ausbreitungsgeschwindigkeiten bei freiem VerkehrDie Ausbreitungsgeschwindigkeiten haben im LWR-Modell mit dreieckigem Fun-damentaldiagramm für freien Verkehr alle die Geschwindigkeit V0 (vgl. Gl. (8.13)).Was bedeutet dies für die Wechselwirkung der Fahrer untereinander?

8.3 Ausbreitungsgeschwindigkeiten des Übergangs gestaut → freiDie Geschwindigkeit von Dichteänderungen im gebundenen Verkehr ist im LWR-Modell mit dreieckigem Fundamentaldiagramm durch c = −leff/T gegeben (vgl.Gl. (8.14)). Ferner ist die Folgezeit T in etwa so groß wie die Reaktionszeit. Veran-schaulichen Sie sich die Gleichung für c am Beispiel des Anfahrens der hinter einerAmpel stehenden Fahrzeuge, nachdem die Ampel auf „Grün“ gesprungen ist.

8.4 Gesamt-Wartezeit hinter einer Ampel während eines UmlaufsErmitteln Sie die durch eine LSA-Rotphase verursachte Gesamt-Wartezeit aller be-troffenen Fahrzeuge in Abhängigkeit der Dauer τr des Rotlichts. Nehmen Sie dabeidie Verhältnisse des Beispiels Abschn. 8.4.6.1 an, also einen konstanten ZuflussQin, einen vollständigen Abfluss der LSA-Warteschlange vor jeder Rotphase undkeinerlei Behinderung durch Rückstaus.

8.5 Staudynamik I: UnfallUntersucht wird der Verkehrsfluss auf einem Fernstraßenabschnitt mit zwei Fahr-streifen zwischen Strecken-Kilometer 0 und 10 während und nach der Sperrungeines Fahrstreifens infolge eines Unfalls bei Kilometer 10 um 15:00 Uhr. Im be-trachteten Zeitraum liegt die Verkehrsnachfrage auf diesem Abschnitt konstantbei 3024 Fz/h. Die Fahrstreifensperrung dauert bis zur Räumung des Unfalls um15:30 Uhr an.

freierVerkehr

ρ1,Q1 ρ3,Q3ρ2,Q2

x = 10 kmStaux = 0 km

Der Verkehrsfluss wird mit dem Section-Based-Modell unter Verwendung der Para-meter s0 = 4 m, T = 1.5 s, V0 = 28 m/s und einer mittleren Fahrzeuglänge von 4 mmodelliert.

1. Berechnen Sie zunächst die Streckenkapazität pro Fahrstreifen und die Gesamt-kapazität vor dem Unfall. Ist die Kapazität ausreichend? Welche Verkehrsdichte

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112 8 Das Lighthill-Whitham-Richards-Modell

herrscht auf der Strecke? Wie hoch ist die Reisezeit zum Durchfahren des 10 kmlangen Abschnitts?

2. Zeigen Sie, dass die Kapazität eines Fahrstreifens geringer als die Nachfrage ist,es also ab 15 Uhr an der Unfallstelle zu einem Stau kommt. Wie hoch ist dieVerkehrsdichte im Bereich gestauten Verkehrs? Berücksichtigen Sie dabei, dass(wie immer in LWR-Modellen) der Ausfluss aus dem Stau gleich dem maximalmöglichen Fluss ist und sich die Fahrzeuge, wo dies möglich ist, gleichmäßigauf beide Fahrstreifen verteilen.

3. Mit welcher Geschwindigkeit breitet sich die stromaufwärtige Staufront aus?Falls Sie (b) nicht gerechnet haben, rechnen Sie im Stau mit einer Dichte von72.5 Fz/km pro Fahrstreifen und einem Fluss von 1008 Fz/h pro Fahrstreifen.Hinweis: Unterscheiden Sie sorgfältig Verkehrsdichten und Flüsse auf der Ge-samtfahrbahn und fahrstreifenbezogene Dichten und Flüsse.

4. Nach Räumung der Unfallstelle sind beide Fahrstreifen wieder frei und der Staulöst sich von der Unfallstelle her auf. Mit welcher Geschwindigkeit bewegt sichder Übergang Stau → freier Verkehr stromaufwärts? Wann löst sich der Stauvollständig auf?

5. Zeichnen Sie die Grenzen des Verkehrsstaus in ein raumzeitliches Diagramm.6. Berechnen Sie die Reisezeit zum Durchfahren der 10 km langen Strecke für ein

um 15:30 Uhr in den Streckenabschnitt einfahrendes Fahrzeug.

8.6 Staudynamik II: Steigung und FahrstreifenreduktionUntersucht wird die Staudynamik auf einer Fernstraße mit Steigungsstrecke sowieReduktion der Fahrstreifenzahl:

Qout

0 km 2 km 4 km3 km

Steigung

IVI II III

Wegen hohen LKW-Aufkommens beträgt die mittlere freie Geschwindigkeit imBereich der Steigung nur V (2)

0 = 60 km/h, während davor und danach V (1)0 =

120 km/h gilt. Die Folgezeit wird im Bereich der Steigung von T1 = 1.5 s aufT2 = 1.9 s erhöht. Die effektive Fahrzeuglänge einschließlich Mindestabstand be-trägt leff = 10 m. Das Fahrverhalten wird gemäß des Lighthill-Whitham-Richards-Modells mit folgender Geschwindigkeitsrelation modelliert:

Ve(ρ) = min

[V0,

1

T

(1

ρ− leff

)].

1. Zeigen Sie, dass die maximale Kapazität pro Fahrstreifen außerhalb der Stei-gungszone 2000 Fz/h beträgt, aber in der Steigungszone auf 1440 Fz/h abfällt.

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Literaturhinweise 113

2. Zwischen 15:00 und 16:00 Uhr herrscht bei x = 0 ein konstanter, über alle Fahr-streifen summierter Zufluss von 2000 Fz/h und überall ist freier Verkehr. GebenSie die Verkehrsdichten und Geschwindigkeiten in den Bereichen I bis IV an.

3. Um 16 Uhr erhöht sich das Gesamt-Verkehrsaufkommen bei x = 0 schlagartigauf 3600 Fz/h. Bricht der Verkehr zusammen? Wenn ja, wann und wo?

4. Nehmen Sie nun einen Zusammenbruch bei x = 3 km an und betrachten Sie zweiSituationen: (i) Die stromaufwärtige Staufront liegt im Bereich I bei x = 1 km,(ii) die Staufront liegt im Bereich II bei x = 2.5 km. Ermitteln Sie für beide Fälledie Flüsse und Dichten auf der Gesamtstrecke.

5. Mit welcher Geschwindigkeit breitet sich die Staufront in den Situationen (i)und (ii) aus Aufgabenteil (4) aus? Welche Reisezeit ist in Situation (i) für dieStrecke von x = 0 bis x = 4 km zu veranschlagen?

8.7 Diffusions-Transport-GleichungErmitteln Sie die Lösung der Diffusions-Transport-Gleichung (8.43) für konstanteAusbreitungsgeschwindigkeit c und die Anfangsbedingungen (vgl. Abb. 8.25)

ρ(x, 0) ={

ρ0 0 ≤ x ≤ L ,

0 sonst.

Literaturhinweise

Lighthill, M.J., Whitham, G.B.: On kinematic waves: II. A theory of traffic on long crowded roads.Proc. R. Soc. A 229, 317–345 (1955)

Richards, P.: Shock waves on the highway. Oper. Res. 4, 42–51 (1956)Daganzo, C.F.: The cell transmission model: a dynamic representation of highway traffic consistent

with the hydrodynamic theory. Transp. Res. B Methodol. 28, 269–287 (1994)Daganzo, C.F.: The cell: transmission model part II: network traffic. Transp. Res. B Methodol. 29,

79–93 (1995)Helbing, D.: A section-based queueing-theoretical traffic model for congestion and travel time

analysis in networks. J. Phys. A Math. Gen. 36, L593–L598 (2003)

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Kapitel 9Makromodelle mit dynamischerGeschwindigkeit

Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begehteinen zweiten.

Konfuzius

9.1 Makroskopische Beschleunigungsgleichung

Die bisher betrachteten makroskopischen Verkehrsmodelle (LWR-Modelle) bestan-den alle aus einer einzigen dynamischen Gleichung (partielle Differentialgleichungoder iterierte Abbildung) für die Verkehrsdichte. Die Geschwindigkeit V (x, t) die-ser Gleichungen hatte keine eigene Dynamik, sondern ergab sich als statische Funk-tion direkt aus der Dichte. Dies entspricht einer instantanen Geschwindigkeitsanpas-sung an die bestehenden Verkehrsverhältnisse (Dichte und Dichtegradient) und istdamit wegen der endlichen Beschleunigungs- und Bremsfähigkeit von Fahrzeugenunrealistisch. Dies wird auch daran ersichtlich, dass mit den LWR-Modellen keineVerkehrsinstabilitäten, also wachsende Stauwellen simuliert werden können, diejedoch bei gebundenem Verkehr (also auf der gestauten Seite des Fundamentaldia-gramms) fast immer in den Detektordaten beobachtet werden (siehe Kap. 17). DieLWR-Modelle können von diesen charakteristischen, raumzeitlichen Eigenschaftenlediglich die konstante Ausbreitungsgeschwindigkeit c reproduzieren (und natürlichdie Tatsachen, dass Staus an Engstellen entstehen und stromabwärtige Staufron-ten entweder stationär sind oder mit c stromaufwärts wandern). In realistischerenModellen wird deshalb nicht die Geschwindigkeit, sondern die Beschleunigungals Funktion der Verkehrsverhältnisse (beschrieben durch Dichte und Geschwin-digkeit sowie deren Gradienten, d.h. räumliche Ableitungen) angenommen.1 DieGeschwindigkeit ist nun eine zweite dynamische Variable, weshalb solche Model-le im englischen Sprachgebrauch auch Second-Order-Models genannt werden, im

1 Auf die Kontinuitätsgleichung hat dies keinen Einfluss, da sie direkt aus der Fahrzeugerhaltungfolgt und damit für alle makroskopischen Verkehrsflussmodelle gilt. Je nach Streckengeometriekommt eine der Kontinuitätsgleichungen aus Abschnitt 7.2 zum Einsatz.

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_9, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

115

Page 123: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

116 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

Gegensatz zu den LWR-Modellen, welche auch als first-order models bezeichnetwerden.

Die Geschwindigkeit ist durch eine zusätzliche Beschleunigungsgleichung derForm

dV (x, t)

dt≡(

∂t+ V (x, t)

∂x

)V (x, t) = A(ρ(x, t), V (x, t)) (9.1)

charakterisiert. Diese Gleichung besagt, dass die zeitliche Ableitung der Geschwin-digkeit dV (x,t)

dt = ∂V∂t + V ∂V

∂x vom mitfahrenden Fahrzeug aus gesehen (linke Sei-te der Gleichung, vgl. Abb. 9.1) gleich einer Beschleunigungsfunktion A(x, t) ist(rechte Gleichungsseite). Die Ableitung ∂V

∂t + V ∂V∂x heißt auch konvektive Ablei-

tung oder Lagrangesche Ableitung und wurde bereits in Kap. 7 bzw. Abb. 7.3 näherdiskutiert.

Die verschiedenen (zeitkontinuierlich formulierten) Modelle zweiter Ordnungunterscheiden sich nur durch die Beschleunigungsfunktion. Diese modelliert dieBeschleunigung eines Fahrzeug-Fahrer-Kollektivs in Abhängigkeit des lokalen Ver-kehrszustands. Neben der Verkehrsdichte ρ(x, t) und der Geschwindigkeit V (x, t)am betrachteten Ort können dies auch die Gradienten ∂ρ

∂x und ∂V∂x sein. Ferner kann

die Beschleunigungsfunktion auch Nichtlokalitäten enthalten, d.h. die Dichte oderdie Geschwindigkeit wird nicht am Bezugsort x , sondern an einem Ort xa > x , alsovor dem Fahrzeug, ausgewertet. Dadurch kann man berücksichtigen, dass Fahrer –im wahrsten Sinne des Wortes – vorausschauend fahren.

Vtraj(t)

x

t

t

x1

t

V(x1,t)

Abb. 9.1 Veranschaulichung der konvektiven Ableitung (Lagrangesche Ableitung) entlang einerFahrzeug-Trajektorie im Vergleich zu der partiellen (Eulerschen) Ableitung im ortsfesten System.Entlang einer durch x(t) gegebenen Trajektorie gilt dV (x(t),t)

dt = ∂V∂x

dxdt + ∂V

∂t = V ∂V∂x + ∂V

∂t . Hier ist

die Situation einer stationären ( ∂V∂t = 0) stromabwärtigen Staufront gezeigt, bei der die Fahrzeuge

beschleunigen ( dVdt > 0). Die Situation entspricht der in Abb. 7.4

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9.2 Eigenschaften der Beschleunigungsfunktion 117

9.2 Eigenschaften der Beschleunigungsfunktion

Zunächst beinhalten auch die meisten Modelle mit dynamischer Geschwindig-keit einen stationär-homogenen Gleichgewichtszustand und damit, ebenso wie dieLWR-Modelle, ein Fundamentaldiagramm Qe(ρ) bzw. eine Gleichgewichtsge-schwindigkeits-Dichte-Relation Ve(ρ).2 Da im stationär-homogenen Fall die linkeSeite der Beschleunigungsgleichung (9.1) verschwindet, muss auch die rechte Seiteverschwinden:

A (ρ, Ve(ρ)) = 0, falls∂ρ(x, t)

∂x= 0,

∂V (x, t)

∂x= 0. (9.2)

Dies ist eine implizite Gleichung für die Funktion der Gleichgewichtsgeschwindig-keit Ve(ρ) bzw. das Fundamentaldiagramm Qe(ρ) = ρVe(ρ). Die Bedingungenan die Gleichgewichtsgeschwindigkeit sind dieselben wie bei den LWR-Modellen,also dVe

dρ≤ 0, Ve(0) = V0 und Ve(ρmax) = 0 (vgl. Abb. 8.1).

Im Gegensatz zu den LWR-Modellen ist im Allgemeinen V (x, t) �= Ve(ρ(x, t)).Die Beschleunigungsfunktion sollte aber das Bestreben der Fahrer modellieren, sichder Gleichgewichtsgeschwindigkeit anzunähern. Im homogenen Fall (keine Dichte-oder Geschwindigkeitsgradienten) ergibt sich für alle sinnvollen Beschleunigungs-funktionen die Bedingung

A(ρ, V ) < 0, falls V > Ve(ρ),∂ρ(x, t)

∂x= 0 und

∂V (x, t)

∂x= 0. (9.3)

Analog gilt A(ρ, V ) > 0 falls V < Ve(ρ). Beide Bedingungen kann man zusam-menfassen und auch auf den Fall mit Gradienten und Nichtlokalitäten verallgemei-nern, indem man fordert

∂ A(ρ, V )

∂V< 0. (9.4)

Diese Gleichung sagt aus, dass bei Erhöhung der Geschwindigkeit die Beschleuni-gung abnimmt, zumindest falls in der lokalen Umgebung alle anderen Größen (wieDichte, Dichtegradienten, Geschwindigkeitsgradienten) unverändert bleiben.3

Wie später im Kap. 15 gezeigt wird, reicht es nicht aus, dass ein Gleichgewichtvorhanden ist (Gl. (9.2)) und die Fahrer versuchen, dieses zu erreichen (Gl. (9.4)).Denn ohne zusätzliche Bedingungen wäre das Modell (9.1) immer instabil. Eswürden also immer Stop-and-Go-Wellen entstehen, auch in Situationen wie frei-em Verkehr, wo diese nicht beobachtet werden! Dies ist genauso unrealistisch wiedie vollständige Abwesenheit solcher Instabilitäten in den LWR-Modellen. Die in

2 Es gibt auch Modelle „ohne“ Fundamentaldiagramm. Diese werden aber höchst kontrovers dis-kutiert und hier nicht betrachtet.3 Die Bedingung, dass alles andere unverändert bleibt, wird auch als ceteris paribus (lat. für „allesÜbrige bleibt gleich“) bezeichnet.

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118 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

der Realität beobachteten Instabilitäten entstehen nur in gewissen Dichtebereichen,welche in der Regel gebundenem Verkehr entsprechen. Genau dies wird durch Mo-dellierung einer zusätzlichen Antizipation erreicht, bei der die Fahrer die zukünftigeVerkehrssituation vorwegnehmen bzw. die Situation weiter stromabwärts betrach-ten. Dies kann durch die Abhängigkeit der Beschleunigungsfunktion von Gradien-ten realisiert werden, wobei:

∂ A(ρ, V )

∂(

∂ρ∂x

) ≤ 0,∂ A(ρ, V )

∂(

∂V∂x

) ≥ 0 . (9.5)

Alternativ zur Bedingung (9.5) kann man eine Nichtlokalität einführen, indem mandie Beschleunigungsfunktion nicht nur in Abhängigkeit der Größen ρ = ρ(x, t)und V = V (x, t) am aktuellen Ort definiert, sondern noch Abhängigkeiten von denVerkehrsgrößen ρa = ρ(xa, t) und Va = V (xa, t) an einer vorweggenommenen(zukünftigen) Position xa > x einführt. Dann muss gelten (vgl. auch Abb. 9.3)

∂ A(ρ, V, ρa, Va)

∂ρa≤ 0,

∂ A(ρ, V, ρa, Va)

∂Va≥ 0 . (9.6)

Zumindest eine der vier Bedingungen der Gleichungen (9.5) und (9.6) muss alsstrikte Ungleichung erfüllt sein. Die Gradienten-Bedingungen (9.5) können alsGrenzfall der nichtlokalen Bedingungen (9.6) für den Fall xa → x (analog zurAbleitung des Grenzfalls eines Differenzenquotienten für verschwindende Differen-zen) aufgefasst werden. Im Allgemeinen sind Modelle mit nichtlokalen Beschleu-nigungsfunktionen realistischer und gleichzeitig effizienter zu simulieren als solchemit Gradienten in der Beschleunigungsfunktion, auch wenn sie – immerhin handeltes sich um nichtlokale, partielle Differentialgleichungen – zunächst komplizierteraussehen.

9.3 Allgemeine Form der Modellgleichungen

Auch die Modelle mit dynamischer Geschwindigkeit gehorchen der Kontinuitäts-gleichung, im allgemeinsten Fall also Gl. (7.15). Dies folgt aus der modellun-abhängigen Herleitung dieser Gleichung aus der Bilanz der Fahrzeugzahlen. DieBeschleunigungsgleichung enthält im Allgemeinen neben den bereits diskutiertenAnteilen auch einen „Rampenterm“, der den Einfluss einfahrender und ausfahrenderFahrzeuge auf die mittlere Geschwindigkeit beschreibt. Sowohl in der Kontinuitäts-als auch in der Beschleunigungsgleichung sind weiterhin sogenannte „Diffusions-terme“ möglich. Zusammenfassend kann man fast alle in kontinuierlichen Orts- undZeitvariablen, also als partielle Differentialgleichungen formulierten Modelle, infolgender allgemeinen Form darstellen:

∂ρ

∂t+ ∂(ρV )

∂x= ∂

∂x

(D

∂ρ

∂x

)− ρV

I

dI

dx+ νrmp(x, t) (9.7)

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9.3 Allgemeine Form der Modellgleichungen 119

∂V

∂t+ V

∂V

∂x= Ve − V

τ− 1

ρ

∂ P

∂x+ 1

ρ

∂x

(η∂V

∂x

)+ Armp(x, t). (9.8)

Im Folgenden werden die einzelnen Beiträge näher beschrieben.

Diffusionsterme. Sowohl in der Kontinuitätsgleichung als auch in der Beschleu-nigungsgleichung können Diffusionsterme verwendet werden, um allzu scharfeÜbergänge und Schockfronten „aufzuweichen“. In der Kontinuitätsgleichung be-schreibt eine Diffusionskonstante D > 0 mikroskopisch einen Random Walkder einzelnen Fahrzeuge, also eine erratische und abrupte Änderung der Positio-nen.4 Der „Viskositätsterm“ in Gl. (9.8) mit der „Viskosität“ η ≥ 0 bzw. derGeschwindigkeits-Diffusionskonstanten Dv = η/ρ führt, analog zur Diffusion inder Kontinuitätsgleichung, zur Aufweichung abrupter Geschwindigkeitsübergän-ge.5 Der Term beschreibt erratische Geschwindigkeitsänderungen, welche beispiels-weise durch Unaufmerksamkeit oder Fehleinschätzungen der Fahrer verursachtsind. Meist wird dieser Term stärker angenommen, als es realistischen, erratischenBeschleunigungsänderungen entspricht. Auf mikroskopischer Ebene entsprechendie Diffusionsterme damit keiner realen Eigenschaft des Verkehrs. Makroskopischkönnen sie dennoch nützlich sein, (i) zur Verbesserung der numerischen Eigen-schaften des Modells, (ii) zur Eliminierung der ebenfalls unrealistischen abruptenÜbergänge (Schockwellen), die einige Modelle aufweisen, (iii) zur Untersuchungder Auswirkung der sogenannten numerischen Diffusion, welche zwangsläufig beider näherungsweisen Lösung der Bewegungsgleichungen auf dem Computer auftritt(vgl. Abschn. 7.2). Schließlich sei noch angemerkt, dass die Diffusion der Dichtenicht die Bedingung der Fahrzeugerhaltung verletzt.

Einflüsse durch Zu- und Abfahrten. Während die Quellterme −ρVI

∂ I∂x und

νrmp(x, t) der Kontinuitätsgleichung direkt aus der Fahrzeugbilanz folgen (vgl.Kap. 7.2) und damit modellunabhängig sind, hängt der Rampenterm Armp der Be-schleunigungsgleichung von Annahmen über die Geschwindigkeit der ein- und aus-fahrenden Fahrzeuge im Moment des Spurwechsels auf die Hauptfahrbahn und vonder Hauptfahrbahn ab. Im einfachsten Fall nimmt man an, dass die Fahrzeuge miteiner konstanten, mittleren Geschwindigkeit Vrmp < V auf die Hauptfahrbahn ein-scheren bzw. bereits vor Verlassen der Hauptfahrbahn auf diese Geschwindigkeitabbremsen. Dadurch wird die mittlere Geschwindigkeit V (x, t) = 〈vi 〉 der Fahr-zeuge i in der lokalen Umgebung verändert, was zu folgender makroskopischenGeschwindigkeits-Änderungsrate führt (vgl. Abb. 9.2 und Übungsaufgabe 9.1):

4 In seiner Arbeit über den Random Walk erklärte Einstein 1905 die unter dem Mikroskop bereitsseit langem beobachtete Zitterbewegung von kleinen Teilchen in Flüssigkeiten (Brownsche Be-wegung) durch erratische Bewegungen der Flüssigkeitsmoleküle und klärte damit gleichzeitig dieNatur der Diffusion auf.5 Für Hydrodynamiker: Hätte man keinen Autoverkehr, sondern eine reale Flüssigkeit oder einreales Gas, so beschriebe η die dynamische und Dv die kinematische Kompressionsviskosität.

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120 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

mit V mitbewegteKoordinaten

ortsfeste Koordinaten

V

Vrmp

Abb. 9.2 Zur Begründung des Rampenterms (9.9). Im mitbewegten Koordinatensystem sind dieFahrzeuge der Hauptfahrbahn ortsfest (Punkte im schraffierten Volumenelement), während dieauffahrenden Fahrzeuge mit der Geschwindigkeit Vrmp − V in das schraffierte Volumenelementeinfahren

Armp(x, t) = (Vrmp − V )

ρ

∣∣νrmp(x, t)∣∣ = (Vrmp − V )|Qrmp|

ρ I L. (9.9)

Ebenso wie der Rampenterm der Kontinuitätsgleichung ist Armp(x, t) nur auf Höhevon Zu- oder Abfahrten ungleich Null.

Geschwindigkeitsanpassung. Der Geschwindigkeits-Anpassungsterm oder Relaxa-tionsterm (Ve −V )/τ beschreibt, im Gegensatz zu allen bisher betrachteten Termen,eine tatsächliche, mittlere Beschleunigung der Fahrzeuge in der lokalen Umgebung.Modelliert wird eine Anpassung der Geschwindigkeit V an die Gleichgewichtsge-schwindigkeit Ve der LWR-Modelle innerhalb des Zeitrahmens τ . Damit werden dieBedingungen (9.2) und (9.4) an die Beschleunigungsfunktion erfüllt. Die Wirkungeines solchen Beitrags wird in Abb. 9.3 veranschaulicht: Befindet man sich außer-halb des Gleichgewichts (Punkte ② oder ③), führt der Anpassungsterm zu einerBeschleunigung (Pfeile) in Richtung der Gleichgewichtsgeschwindigkeit. Je nachVerkehrssituation (Stadt, Autobahn, Abweichung von der angestrebten Geschwin-digkeit) liegt die Anpassungszeit zwischen wenigen Sekunden und etwa 40 s, wirdaber oft konstant angenommen.

Antizipatorische Geschwindigkeitsanpassung. Man kann eine antizipierende (d.h.vorausschauende) Fahrweise auch mit dem Geschwindigkeits-Anpassungsterm be-schreiben, indem man ihn als Funktion der Dichte ρ(xa, t) an einer stromabwärtigenStelle xa > x formuliert. Der resultierende nichtlokale Anpassungsterm

Anl(x, t) = Ve(ρ(xa, t)) − V (x, t)

τ(9.10)

entspricht einer vorausschauenden Fahrweise und ist konsistent mit der allgemei-nen Bedingung (9.6) an die Beschleunigungsfunktion. Die Wirkung ist wieder inAbb. 9.3 gezeigt: Nähert man sich einem Stau (Zustand ④ in der Abbildung, ent-sprechend ρ(xa, t) − ρ(x, t) > 0 bzw. ∂ρ

∂x > 0), dann bewirkt die Antizipation eine

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9.3 Allgemeine Form der Modellgleichungen 121

(ρ2, V2)

(ρ3, V3)

Ve, V

ρ

Ve(ρ(x,t))

Ve(ρ(xa,t))

dVdt

Antizipation1

2

5 4

3

Abb. 9.3 Wirkung der Anpassungs- und Antizipationsterme in Gl. (9.8). Die Punkte ① bis ③charakterisieren Wertepaare von Dichten ρ und Geschwindigkeiten V an einem bestimmten Ort.Punkt ① bezeichnet die Gleichgewichtssituation, während die Pfeile von den Punkten ② und ③nach ① eine Anpassung der Geschwindigkeit beschreiben. Die virtuellen Punkte ④ und ⑤ bezeich-nen reale Geschwindigkeiten, aber Verkehrsdichten, wie sie an einem antizipierten Ort xa > xherrschen

Verzögerung. Fährt man hingegen aus dem Stau heraus (Punkt ⑤), ergibt sich eineBeschleunigung.

Spezialfall einer verschwindenen Anpassungszeit. Multipliziert man die Beschleu-nigungsgleichung (9.8) mit τ , so sieht man leicht, dass sich im Grenzfall τ → 0diese Gleichung auf die LWR-Bedingung V (x, t) = Ve(ρ(x, t)) reduziert. Manerhält in diesem Grenzfall also eine fest an die Dichte gekoppelte Geschwindigkeit,also ein Modell erster Ordnung (LWR-Modell).

Druckterm. Der Druckterm − 1ρ

∂ P∂x mit dem „Verkehrsdruck“ P(ρ(x, t), V (x, t))

beschreibt eine Reaktion auf Dichte- und in manchen Modellen auch Geschwin-digkeitsgradienten. Die entsprechende Beschleunigung enthält dadurch Gradienten,welche den allgemeinen Bedingungen (9.5) an die Beschleunigungsfunktion genü-gen sollten. Der Druckterm kann verschiedene reale und auch statistische verkehr-liche Effekte beschreiben: einerseits eine antizipatorische Reaktion der Fahrer aufGradienten der Geschwindigkeit und/oder der Dichte, andererseits einen rein kine-matischen Effekt einer endlichen Geschwindigkeitsvarianz:

− 1

ρ

∂ P

∂x= − 1

ρ

∂ Pantiz(ρ, V )

∂x− 1

ρ

∂ Pkin(ρ, V )

∂x. (9.11)

Den antizipatorischen Beitrag des Verkehrsdrucks zur Beschleunigung kann manauch schreiben als

Aantiz = −β1∂ρ

∂x+ β2

∂V

∂x, β1 = 1

ρ

∂ Pantiz

∂ρ, β2 = − 1

ρ

∂ Pantiz

∂V(9.12)

mit nichtnegativen, im Allgemeinen von ρ und/oder V abhängigen Sensitivitäten β1und β2. Die Sensitivität β1 auf Dichtegradienten sagt aus, dass man stärker bremst

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122 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

ρ dρdx

dVdt

~ −

x

Abb. 9.4 Sensitivität auf Dichtegradienten am Beispiel bei Einfahrt in einen Stau. Neben derAnpassung der Geschwindigkeit an die aktuelle Dichte gibt es einen zusätzlichen, negativen Be-schleunigungsbeitrag Aantiz = −β1

∂ρ∂x

bzw. weniger beschleunigt, wenn die Verkehrsdichte voraus ansteigt (vgl. Abb. 9.4),während die Sensitivität β2 bezüglich Geschwindigkeitsgradienten ein Verhaltenmodelliert, bei dem man selbst umso stärker beschleunigt (bzw. weniger bremst),je mehr der Umgebungsverkehr beschleunigt ( ∂V

∂x > 0).Im Gegensatz zum antizipatorischen Teil des Druckterms, welcher reale Be-

schleunigungen der einzelnen Fahrer widerspiegelt, ist die Beschleunigung durchden kinematischen Druckanteil,

Akin = − 1

ρ

∂ Pkin

∂x, Pkin = ρσ 2

V (x, t) , (9.13)

allein eine Folge einer endlichen Geschwindigkeitsvarianz

σ 2V (x, t) = ⟨

(vi − V (x, t))2⟩

(9.14)

der Fahrzeuge i im unmittelbaren Umfeld des Ortes x zur Zeit t . Die Varianzwird mit genau den Fahrzeugen gebildet, deren Einzelgeschwindigkeiten vi auchzur makroskopischen Geschwindigkeit V (x, t) = 〈vi 〉 an diesem Ort beitragen.Der kinematische Beschleunigungsterm ist nur wirksam, wenn es unterschiedlichschnelle Fahrzeuge (σ 2

V (x, t) > 0) sowie endliche Dichtegradienten (∂ Pkin/∂x �= 0)gibt. Dann ändert sich nämlich die Zusammensetzung an schnellen und langsamenFahrzeugen i in den makroskopischen Volumenelementen, was letztendlich zu einerÄnderung der makroskopischen Geschwindigkeit V (x, t) = 〈vi 〉(x, t) führt, ohnedass ein einziges Fahrzeug beschleunigt oder bremst (vgl. Abb. 9.5 und Übungsauf-gabe 9.2). Ebenso wie der Rampenterm Armp ist dieser Beschleunigungsbeitrag alsorein kinematischer Natur.

Verdeutlichen Sie sich den Effekt der kinematischen Dispersion anhand einerVerkehrssituation, bei der zum Zeitpunkt t = 0 ein Übergang von fließendemVerkehr (stromaufwärts) zu einer leeren Fahrbahn (stromabwärts) vorliegt.

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9.4 Übersicht über einige Makromodelle zweiter Ordnung 123

t = t1 > t0

t = t0V1<V2

V2

x

Abb. 9.5 Wirkung der kinematischen Dispersion: Anfangs (t = t0) herrscht eine konstante ma-kroskopische Geschwindigkeit V = 1

2 (V1 + V2) und Varianz σ 2V = 1

4 (V1 − V2)2 sowie ein

Dichtegradient dρdx < 0. Die Änderung dV

dt = ∂V∂t + V ∂V

∂x der Geschwindigkeit wird in einemmit V mitbewegten Volumenelement (schraffiert) gemessen. Die langsameren blauen Fahrzeugefahren mit der Relativgeschwindigkeit V1 −V < 0 rückwärts durch das Volumenelement, währenddie schnelleren Fahrzeuge das Volumenelement mit der Relativgeschwindigkeit V2 − V1 vorwärtsdurchqueren. Auf diese Weise erhöht sich im Falle dρ

dx < 0 der Anteil der schnelleren Fahrzeuge.

Die makroskopische Geschwindigkeitsänderung dVdt hat also im mitbewegten System einen Anteil

proportional zu −σ 2V

dρdx

Die Geschwindigkeiten der Fahrzeuge variieren zwischen vmin < V < vmax(mit der mittleren, makroskopischen Geschwindigkeit V ) und kein Fahrzeugbeschleunigt. Welche makroskopische Geschwindigkeit herrscht für t > 0 anden Stellen, an denen die Dichte erstmals von Null verschieden ist?

9.4 Übersicht über einige Makromodelle zweiter Ordnung

Im Folgenden werden einige konkrete Makromodelle zweiter Ordnung vorgestelltund diskutiert.

9.4.1 Payne-Modell

Ein einfaches Beispiel eines makroskopischen Modells mit dynamischer Geschwin-digkeitsgleichung ist das Payne-Modell mit der Beschleunigungsgleichung

∂V

∂t+ V

∂V

∂x= Ve(ρ) − V

τ+ V ′

e(ρ)

2ρτ

∂ρ

∂xPayne-Modell. (9.15)

Das Payne-Modell ist ein Spezialfall der allgemeinen Gl. (9.8) für konstante Ge-schwindigkeitsanpassungszeit τ , einem durch P = −Ve(ρ)/2τ gegebenen varia-blen Verkehrsdruck und verschwindender Diffusionskonstante. Die Funktion Ve(ρ)

für die Gleichgewichtsgeschwindigkeit spezifiziert verschiedene Modellvarianten.

Page 131: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

124 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

Ohne die Beschleunigungsgleichung zu verändern, kann man den Verkehrsdruckum eine Konstante auf die Form

PPayne = V0 − Ve(ρ(x, t))

erweitern und ihn damit als ein Maß der Interaktion zwischen den Fahrern auffassen,welche naturgemäß für ρ → 0 und damit V = V0 verschwindet.6 Im Falle von Zu-und Abfahrten kommt der modellunabhängige Rampenterm Armp hinzu. Wie jedesModell zweiter Ordnung wird das Payne-Modell durch die Kontinuitätsgleichungvervollständigt.

Im Abschn. 10.7 wird das Payne-Modell aus einem einfachen Fahrzeugfolgemo-dell, dem Newell-Modell, hergeleitet.

Das Payne-Modell verhält sich in der Simulation sehr instabil (vgl. Kap. 15).Ferner folgt aus der mikroskopischen Herleitung, dass die Anpassungszeit τ gleichder mikroskopischen Reaktionszeit Tr gesetzt wurde, während in Wirklichkeit dieZeiten deutlich unterschiedliche Werte annehmen: Die Reaktionszeit Tr beträgt et-wa 1 s, während τ durchaus Werte von 10 s und mehr annehmen kann. Üblicherwei-se werden für die Simulation für τ Werte zwischen 1 s und 5 s angenommen.

Grenzfall einer verschwindenden Anpassungszeit. Da im Payne-Modell die An-passungszeit auch im Nenner des Druckterms auftritt, ergibt sich, im Gegensatzzu anderen Modellen, im Grenzfall τ → 0 nicht einfach V = Ve und damit eingewöhnliches LWR-Modell. Vielmehr folgt nach Multiplikation mit τ und Nullset-zen eine nicht nur von der Dichte, sondern auch vom Dichtegradienten abhängigeGeschwindigkeit

V = Ve(ρ) + V ′e(ρ)

∂ρ

∂x.

Setzt man dies in die entsprechende Kontinuitätsgleichung ein, z.B. in die Gl. (7.8)für homogene Streckenabschnitte, erhält man

∂ρ

∂t+ ∂

∂x

(ρVe(ρ) + V ′

e(ρ)

2

∂ρ

∂x

)= 0 .

Dies ist die Lighthill-Whitham-Gleichung mit Diffusion, was durch Umstellen derGleichung noch offensichtlicher wird:

∂ρ

∂t+ ∂(ρVe(ρ))

∂x= ∂

∂x

(D(ρ)

∂ρ

∂x

). (9.16)

Der Diffusionskoeffizient

6 Ein kompressibles, eindimensionales Gas wird mit demselben Ausdruck für den Druck beschrie-ben. Die Analogie ist dennoch rein formaler Natur (vgl. die Diskussion in Abschn. 9.3).

Page 132: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

9.4 Übersicht über einige Makromodelle zweiter Ordnung 125

D = D(ρ) = −V ′e(ρ)

2

ist in diesem Fall eine variable Größe.

9.4.2 Kerner-Konhäuser-Modell

Die Beschleunigungsgleichung des Kerner-Konhäuser-Modells (KK-Modell) ist ge-geben durch

∂V

∂t+ V

∂V

∂x= Ve(ρ) − V

τ− θ0

ρ

∂ρ

∂x+ η

ρ

∂2V

∂x2KK-Modell. (9.17)

Dieses Modell wurde nicht aus einem mikroskopischen Modell hergeleitet. Viel-mehr ist es einem eindimensionalen, kompressiblen Gas nachempfunden mit einemkonstanten Druck θ0 und einer Geschwindigkeitsdiffusion Dv = η/ρ, welche for-mal einer konstanten dynamischen Kompressionsviskosität η entspricht. Wie beimPayne-Modell entspricht das KK-Modell je nach verwendetem Fundamentaldia-gramm Qe(ρ) = ρVe(ρ) einer ganzen Klasse von Modellen. Typische Werte derModellparameter sind (abgesehen von denen des Fundamentaldiagramms) τ = 10 s,θ0 = 200 m2/s2 und η = 150 m/s.

Die Diffusion wurde eingeführt, um unrealistische Geschwindigkeitsverläufe zuverhindern. Allerdings verhindert sie in vielen Fällen eine effiziente Simulation, dasich bei der numerischen Integration sogenannte numerische Instabilitäten einstel-len, sofern man den numerischen Aktualisierungs-Zeitschritt nicht hinreichend kleinwählt (vgl. Abschn. 9.5). Solche Instabilitäten führen immer zu einem Abbruch derSimulation und müssen daher, im Gegensatz zu den durchaus erwünschten physi-kalischen Instabilitäten (immerhin führen diese zu den beobachteten Stop-and-Go-Wellen) möglichst vermieden werden. In Abschn. 9.5 wird gezeigt, dass aufgrundder Diffusion keine Aktualisierungszeitschritte Δt erlaubt sind, welche die „CFL-Bedingung“ Δt < (Δx)2/(2Dv) verletzen.

Beispiel: Mit einer räumlichen Diskretisierung in Zellen der Länge Δx = 50 mund η = 150 m/s ergibt sich bei einer Dichte von ρ = 15 Fz/km = 0.015 Fz/m einekinematische Diffusion Dv = 10 000 m2/s und damit die Bedingung Δt < 0.125 s.Im Vergleich dazu kann man bei derselben Zellenlänge Modelle ohne Diffusion mitZeitschritten von bis zu einer Sekunde simulieren. Da D → ∞ für ρ → 0, mussaußerdem D auf einen Maximalwert begrenzt werden.

Abbildung 9.6 zeigt eine Simulation eines Autobahnabschnitts mit einer Zufahrtals Engstelle. Die linke Grafik zeigt Fluss-Dichte-Punkte, welche aus 1-Minuten-Daten von „virtuellen Detektoren“ gewonnen wurden. „Virtuelle Detektoren“ sinddefinierte Orte, an denen die in der Simulation vorbeikommenden Fahrzeuge genau-so registriert und aggregiert werden wie in der Realität (siehe Kap. 3). Man sieht,dass die Fluss-Dichte-Punkte sich nicht mit dem Fundamentaldiagramm decken,

Page 133: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

126 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

–20

0

20

40

60

80

100

120

V (km/h)

30 60 90 120 150t (min)

4

6

8

10

12

14

16

18

x (k

m)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60 80 100 120

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (1/km)

Fundamentaldiagrammx = 14000 mx = 12000 mx = 10000 m

x = 6000 m

Abb. 9.6 Simulation einer Richtungsfahrbahn mit einer Auffahrt (Rampenfluss 400 Fz/h) mit demKK-Modell. Links: Fundamentaldiagramm (graue Linie) und Fluss-Dichte-Daten (gezackte Lini-en) von virtuellen Detektoren an verschiedenen Stellen; rechts: raumzeitlicher Geschwindigkeits-verlauf

da die Geschwindigkeit und damit auch der Fluss nun eigenständige dynamischeVariablen sind.7 Die in der rechten Grafik der Abb. 9.6 gezeigte raumzeitliche Dy-namik der Geschwindigkeit zeigt wachsende und entgegen der Fahrtrichtung sichausbreitende Stop-and-Go-Wellen, also Merkmale, die zumindest qualitativ den be-obachteten realen Instabilitäten entsprechen (vgl. Abb. 5.1).

9.4.3 GKT-Modell

Das Gaskinetic-Based-Traffic-Modell (GKT-Modell) ist eines der wenigen makro-skopischen Modelle zweiter Ordnung, welches aus einem mikroskopischen Modellunter Berücksichtigung der Heterogenität der Verkehrsteilnehmer hergeleitet wird.Die Heterogenität wird hierbei durch die empirisch messbare makroskopische Ge-schwindigkeitsvarianz charakterisiert, welche im GKT-Modell in der Form

σ 2V (ρ) = α(ρ)[Ve(ρ)]2 (9.18)

angenommen wird. Abbildung 9.7 zeigt ein Beispiel. Der Variationskoeffizient (d.h.die relative Schwankungsbreite, vgl. Abschn. 3.2)

√α(ρ) der Geschwindigkeit liegt

dabei typischerweise zwischen 5–10% (freier Verkehr) und 20% (gestauter Ver-kehr).

Im Mikromodell beschleunigen die Fahrzeuge mit der Beschleunigung vi =(v0i − vi )/τ so lange, bis der Sicherheitsabstand vi T zum Vorderfahrzeug unter-

7 In realen Fluss-Dichte-Daten ist die Streuung im gebundenem Verkehr aber meist wesentlichgrößer. Dies kann man nur simulieren, wenn man zusätzlich explizit Heterogenität durch zeitlichveränderliche Modellparameter annimmt oder mikroskopisch modelliert (vgl. Kap. 12).

Page 134: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

9.4 Übersicht über einige Makromodelle zweiter Ordnung 127

0

0.05

0.1

0.15

0.2

10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

Var

iatio

nsko

effiz

ient

σV/V

Dichte ρ (Fz/km)

A9 Amsterdam

Abb. 9.7 Beobachtete Variationskoeffizienten σV /V der Geschwindigkeit und modellierte Funk-tion

√α(ρ) des GKT-Modells

schritten wird. Dann wird die Geschwindigkeit auf die des Vorderfahrzeugs ge-setzt. Ferner wird die das durch den Variationskoeffizient festgelegte Ausmaß anGeschwindigkeitsdifferenzen permanent durch Zufallsbeschleunigungen aufrecht-erhalten. Die Herleitung aus diesem Modell erfolgt mit Methoden, welche auch beiden kinetischen Gleichungen von Gasen eingesetzt werden, woher dieses Modellseinen Namen hat. Die resultierende Beschleunigungsgleichung lautet

∂V

∂t+ V

∂V

∂x= V ∗

e (ρ, ρa, V, Va) − V

τ− 1

ρ

∂ P

∂xGKT-Modell. (9.19)

Der Druckterm

P(x, t) = ρσ 2V (ρ) (9.20)

rührt allein von der Geschwindigkeitsvarianz her. Ferner gibt es keine Geschwin-digkeitsdiffusion. Alle Beschleunigungen des Fahrzeugkollektivs (sowohl die Ge-schwindigkeitsanpassung als auch die Antizipation) sind in der „dynamischen Ziel-geschwindigkeit“ V ∗

e enthalten, welche von der Verkehrslage (ρ, V ) sowohl amaktuellen Ort als auch von der Situation (ρa, Va) an einem antizipierten Ort xa > xabhängt. Dabei gilt

ρa = ρ(xa, t), Va = V (xa, t), xa = x + γ V (x, t)T . (9.21)

Der antizipierte Ort ist ein Vielfaches γ (typische Werte zwischen 1 und 1.5)des „Sicherheitsabstandes“ V T vor der eigenen Fahrzeugposition. Die dynamischeZielgeschwindigkeit hat die Form

V ∗e (ρ, ρa, V, Va) = V0

[1 − α(ρ)

α(ρmax)

(ρa V T

1 − ρa/ρmax

)2

B

(V − Va

σV

)](9.22)

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128 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

mit dem von der normierten Geschwindigkeitsdifferenz (V − Va)/σV abhängigenund monoton ansteigenden „Boltzmann-Faktor“

B(x) = 2[x fN (x) + (1 + x2)FN (x)

]. (9.23)

Dieser enthält die Dichte fN (x) = 1/√

2π exp(−x2/2) der Standardnormalvertei-lung und die entsprechende Verteilungsfunktion FN (x) = ∫ x

−∞ fN (x ′)dx ′.Im Gegensatz zu den anderen Modellen zweiter Ordnung ist die Gleichgewichts-

geschwindigkeit Ve(ρ) nicht explizit gegeben, sondern ergibt sich aus der dynami-schen Zielgeschwindigkeit V ∗

e (vgl. Aufgabe 9.4). Die ersten drei Parameter sinddieselben wie in den Payne- und KK-Modellen, wenn man dort ein dreieckigesFundamentaldiagramm gemäß Gl. (8.7) annimmt.

Das GKT-Modell ist robust in dem Sinne, dass geringe Änderungen der Mo-dellparameter auch nur zu geringen Änderungen der Simulationsergebnisse füh-ren. Ferner enthält es anschauliche Modellparameter, welche auch mit realistischenWertebereichen simuliert werden können (siehe Tabelle 9.1).

Trotz seiner komplizierten Form lässt sich das GKT-Modell leichter und schnel-ler simulieren als das Payne-Modell oder das KK-Modell. Ein Beispiel einer Simu-lation mit einer Ausfahrt-Einfahrt-Kombination (Anschluss-Stelle oder Autobahn-kreuz) als Engstelle ist in der Abb. 9.8 dargestellt. Die in der simulierten, raum-zeitlichen Dynamik auftretenden Stop-and-Go-Wellen sehen ähnlich wie die realbeobachteten in der Abb. 5.1 aus, welche aus dem Stau am Bad-Homburger Kreuzhervorgegangen sind.

Tabelle 9.1 Typische Modellparameter des GKT-Modells

Parameter Typ. Wert Autobahn Typ. Wert Stadtverkehr

Wunschgeschwindigkeit V0 120 km/h 50 km/hFolgezeit T 1.4 s 1.2 sMaximale Dichte ρmax 160 Fz/km 160 Fz/kmGeschwindigkeits-Anpassungszeit τ 20 s 8 sAntizipationsparameter γ 1.2 1.0

9.5 Numerische Lösung

Bei der numerischen Lösung von makroskopischen Modellen, auch „numerischeIntegration“ genannt, kommt nahezu ausschließlich die Methode der finiten Dif-ferenzen zum Einsatz.8 Dabei werden die zu simulierenden Richtungsfahrbahnenin Zellen der Länge Δx eingeteilt und die in den Modellen vorkommendenAbleitungen durch Differenzenquotienten angenähert. Ausgehend vom „alten“

8 Wir werden hier nur die für die direkte Anwendung relevanten Aspekte betrachten. Für eineVertiefung dieses Themas sei auf die weiterführende Literatur im Anhang verwiesen.

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9.5 Numerische Lösung 129

0

500

1000

1500

2000

0 20 40 60 80 100 120

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

Fundamentaldiagrammx = 15000 mx = 14000 mx = 5000 m

0

20

40

60

80

100

V (km/h)

90 120 150 180t (min)

4

6

8

10

12

14

16

18

x (k

m)

Abb. 9.8 Simulation einer Richtungsfahrbahn mit Autobahnkreuz mit dem GKT-Modell. DasAutobahnkreuz besteht aus einer Ausfahrt und einer 1.5 km stromabwärts gelegenen Ein-fahrt. Die Länge der Verzögerungs- und Beschleunigungsspuren ist jeweils 500 m und dieRampenflüsse −500 Fz/h bzw. 500 Fz/h. Links: Fundamentaldiagramm (graue Linie) und Fluss-Dichte-Daten (gezackte Linien) von virtuellen Detektoren an verschiedenen Stellen; rechts: raum-zeitlicher Geschwindigkeitsverlauf

Verkehrsflusszustand zur Zeit t wird mit einem meist festen und für das gesam-te zu modellierende Verkehrsgeschehen gültigen Aktualisierungs-Zeitschritt Δt einneuer Verkehrszustand zur Zeit t + Δt berechnet. Dies wird bis zum Ende der si-mulierten Zeit fortgesetzt. In diesem Sinne kann das im Abschn. 8.4 behandelteCell-Transmission-Modell als ein LWR-Modell mit zusätzlich spezifiziertem Lö-sungsverfahren (Abschn. 8.4.4) angesehen werden.

Zum Lösen der Modellgleichung für einen Zeitschritt gibt es explizite und im-plizite Verfahren. Bei letzteren wird die Aktualisierung nicht nur mit Hilfe der„alten“, sondern auch mit den „neuen“, noch unbekannten Werten der Verkehrs-flussvariablen durchgeführt. Man erhält damit für jeden Zeitschritt ein gekoppeltesGleichungssystem für die aktualisierten Größen, welches man separat lösen muss.Im Gegensatz dazu werden bei den expliziten Verfahren zum Aktualisieren nur diealten, bekannten Werte verwendet, so dass man als Ergebnis direkt die Werte für denneuen Zeitschritt bekommt. Explizite Verfahren sind einfacher zu programmierenund meist schneller, aber auch instabiler als viele implizite Verfahren. Sobald dieStreckengeometrien komplizierter werden, stoßen jedoch die impliziten Verfahrenan ihre Grenzen, so dass in der Verkehrsflussmodellierung nahezu ausschließlichexplizite Verfahren eingesetzt werden.9 Diese werden im Folgenden näher betrach-tet.

Da makroskopische Verkehrsmodelle aus Fahrzeug- und Flussbilanzen hergelei-tet werden und damit eine Erhaltung der Fahrzeugzahl (und ohne Beschleunigungauch eine Erhaltung des Gesamtflusses) gewährleisten, ist es wichtig, sie in einer

9 Dies gilt allgemein für die numerische Lösung von hyperbolischen partiellen Differentialglei-chungen, zu denen auch die makroskopischen Verkehrsmodelle gehören.

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130 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

Form zu lösen, in der diese Erhaltungsgrößen automatisch berücksichtigt werden.10

Dies wird erreicht, indem die Modellgleichungen in der sogenannten flusserhalten-den Form (engl. conservation equation) formuliert werden, also mit den Variablenρ (Verkehrsdichte) und Q (Fluss) anstelle von ρ und V (Geschwindigkeit). Dieallgemeinen Gleichungen (9.7) und (9.8) mit D = 0 werden damit zu (vgl. Übungs-aufgabe 9.5)11

∂ρ

∂t+ ∂ Q

∂x= νrmp − Q

I

dI

dx, (9.24)

∂ Q

∂t+ ∂

∂x

[Q2

ρ+ P − η

∂x

(Q

ρ

)]= ρV ∗

e − Q

τ+ Sinh . (9.25)

mit dem durch Streckeninhmoogenitäten verursachten Quellterm

Sinh = Q2

ρ I

dI

dx− Qνrmp

ρ+ ρ Armp . (9.26)

In vektorieller Form kann man dies kürzer schreiben als

∂u∂t

+ ∂f(u)

∂x= s(u) (9.27)

mit

u =(

ρ

Q

), f =

⎝Q

Q2

ρ+ P − η ∂

∂x

(Q

ρ

)⎞

⎠ , s =⎛

⎜⎝νrmp − Q

IdIdx

ρV ∗e − Q

τ+ Sinh

⎟⎠ .

(9.28)Hierbei bezeichnen u den Verkehrszustand, f die verallgemeinerten Flüsse und sdie verallgemeinerten Quellen. Um auch Modelle mit verallgemeinerter Zielge-schwindigkeit V ∗

e wie das GKT-Modell (9.19) zu berücksichtigen, wurden die ver-allgemeinerten Quellen mit dieser formuliert. Für die Payne- und KK-Modelle giltV ∗

e (ρ, ρa, Q, Qa) = Ve(ρ). Von den vielen verfügbaren Lösungsverfahren ha-ben sich für die numerische Lösung der makroskopischen Modelle zweiter Ord-nung im Wesentlichen zwei Integrationsverfahren als nützlich erwiesen: Die ein-fache Upwind-Methode ist für Modelle mit Nichtlokalitäten wie dem GKT-Modellgeeignet. Die McCormack-Methode eignet sich für alle anderen Modelle zweiter

10 Aufgrund der Beschleunigungen der Fahrzeuge ist der Fluss bei Verkehrsmodellen keine Erhal-tungsgröße. Man kann aber zeigen, dass die daraus resultierenden „Quellterme“, beispielsweiseder Geschwindigkeitsanpassungsterm, unproblematisch sind. Dasselbe trifft auch für die Rampen-Quellterme η(x, t) oder Armp zu. Das Wesentliche dabei ist, dass die Ableitungen keine variablenVorfaktoren haben. Bei der Wahl der Geschwindigkeit als dynamische Variable ist diese Bedingungauf jeden Fall beim Advektionsterm V dV

dx verletzt.11 Mit D �= 0 ist eine Formulierung in flusserhaltender Form nicht möglich.

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9.5 Numerische Lösung 131

Ordnung. Wir teilen die Strecke in Zellen der Länge Δx ein und integrieren mit derkonstanten Zeitschrittweite Δt . Bezeichnet man den Verkehrszustand u(x, t) am OrtjΔx und zur Zeit nΔt mit un

j = u( jΔx, nΔt) und definiert fnj und sn

j auf dieselbeWeise, so lauten die beiden Methoden:

un+1j = un

j − Δt

Δx(fn

j − fnj−1) + Δt sn

j Upwind-Methode,

un+1j = un

j − Δt

Δx(fn

j − fnj−1) + Δt sn

j McCormack-Prädiktor,

un+1j = un+1

j +unj − Δt

Δx (fn+1j+1−fn+1

j )+Δt sn+1j

2 McCormack-Korrektor.

(9.29)

Bei der McCormack-Methode wird also ein Upwind-Schritt als erster Schätzer(„Prädiktor“) berechnet und dann als Verfeinerung („Korrektor“) das arithmetischeMittel zwischen dem Prädiktor und dem Ergebnis einer eigentlich implizite Metho-de verwendet, welche zur Berechnung der rechten Seite die neuen Werte fn+1

j und

sn+1j verwendet. Da diese noch nicht bekannt sind, werden stattdessen die Prädik-

torwerte eingesetzt, so dass man insgesamt ein explizites Verfahren erhält.Enthalten die Flüsse Gradienten (was der Fall ist, wenn das Verkehrsmodell Dif-

fusionen enthält), dann werden diese ebenfalls mit asymmetrischen Differenzenquo-tienten approximiert, aber „anders herum“. Gilt also für einen Flussanteil f D = ∂g

∂x ,dann gilt f D

j = (g j+1 − g j )/Δx bei der Upwind-Methode und dem McCormack-

Prädiktor, aber f Dj = (g j − g j−1)/Δx beim McCormack-Korrektor. Für die Wahl

eines geeigneten Verfahrens werden folgende Kriterien diskutiert:

Informationsfluss. Die Upwind-Methode berücksichtigt beim Aktualisierungs-schritt nur Informationen der jeweils betrachteten Zelle und der entgegen derFahrtrichtung benachbarten Zelle. Damit kann sie nur bei Modellen eingesetztwerden, deren charakteristische Geschwindigkeiten ausschließlich in Fahrtrichtungverlaufen. Die charakteristischen Geschwindigkeiten sind die Verallgemeinerungder Ausbreitungsgeschwindigkeit Q′

e(ρ) der Modelle erster Ordnung und werdenweiter unten näher betrachtet. Im GKT-Modell verlaufen sie immer in Fahrtrich-tung, während sie im Payne-Modell je nach Parametrisierung auch entgegen derFahrtrichtung laufen können. Damit kommt das Upwind-Verfahren nur für dasGKT-Modell und allgemein für Modelle mit Antizipation in Betracht, während Mo-delle ohne Antizipation besser mit dem McCormack-Verfahren simuliert werden.Im GKT-Modell werden eventuell sich stromaufwärts ausbreitende Informationen(wie Stauwellen) durch die Nichtlokalität berücksichtigt, welche automatisch Infor-mationen von Zellen in Fahrtrichtung verwendet.12

12 Zur Berechnung der nichtlokalen Variablen ist eine lineare Interpolation ausreichend:ua( jΔx, nΔt) = βun

j+1 + (1 − β)unj mit β = (xa − x)/Δx . Falls β > 1 (dann ist aber im

Allgemeinen die Zellenlänge unnötig klein gewählt) werden entsprechend dem ganzzahligen Teilvon β Zellen weiter stromabwärts herangezogen.

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132 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

Will man bei Modellen ohne Nichtlokalität und auch bei LWR-Modellen eineeinfache Methode mit unsymmetrischen Differenzenquotienten wie dem Upwind-Verfahren verwenden, ist, je nach Situation, ein explizites „Umschalten“ von derUpwind- in eine „Downwind“-Methode nötig. Genau dies wird bei den LWR-Modellen mit der in Abschn. 8.4.4 beschriebenen „Supply-Demand-Methode“ reali-siert. Allgemein entsprechen Methoden erster Ordnung mit einem derartigen „Um-schalten“ sogenannten Godunov-Verfahren. Es erweist sich bei Modellen zweiterOrdnung ohne Nichtlokalität (also auch bei Modellen mit Diffusion) generell alsbesser, das McCormack-Verfahren anzuwenden.

Konsistenzordnung. Ein Verfahren hat die Konsistenzordnung p, wenn der loka-le Diskretisierungsfehler der numerischen Lösung sich bei sehr kleinen und imGrenzfall verschwindenden Aktualisierungsintervallen Δt wie (Δt)−p verhält. Da-bei wird bei partiellen Differentialgleichungen wie den Verkehrsflussmodellen vor-ausgesetzt, dass gleichzeitig Δx verfeinert wird, wobei der Quotient Δx/Δt kon-stant gehalten wird. Für differenzierbare Dichte- und Geschwindigkeitsverläufe hatdie Upwind-Methode die Konsistenzordnung 1 und die McCormack-Methode dieOrdnung 2. Halbiert man also Δx und gleichzeitig Δt , so halbiert bzw. vierteltsich der Fehler bei der Upwind- bzw. McCormack-Methode, zumindest im LimesΔt → 0.

Genauigkeit. Die Konsistenzordnung besagt, wie der Fehler bei kleinen Diskreti-sierungsintervallen mit denselben skaliert, sie sagt jedoch nichts über den Vorfaktoraus. Deshalb kann durchaus eine Methode mit Konsistenzordnung 1 genauer oderzumindest numerisch effizienter sein als eine Methode höherer Ordnung. Dies führtletztendlich zu den obigen Empfehlungen (Upwind für Modelle mit Nichtlokalitä-ten, McCormack für die sonstigen Modelle).

Numerische Stabilität. Bei expliziten Lösungsverfahren gibt es mehrere Arten vonnumerischen Instabilitäten, wenn gewisse Bedingungen an die Zeitschrittweite Δtoder Zellenlänge Δx nicht erfüllt sind. Solche Instabilitäten führen in jedem Fallzu einem Abbruch der Simulation und müssen daher vermieden werden. Die nume-rischen Instabilitäten sind von den physikalischen Instabilitäten, also der Bildungvon Stop-and-Go-Wellen, zu unterscheiden. Letztere sind in der Simulation durch-aus unter gewissen Bedingungen erwünscht, denn das simulierte Modell soll ja dieRealität abbilden. Für die Verkehrsflussmodellierung sind folgende numerische In-stabilitäten relevant:

(1) Konvektive Instabilität. Diese tritt auf, wenn Fluss- oder Geschwindigkeitsän-derungen innerhalb eines Zeitschritts von im Aktualisierungsschritt nicht berück-sichtigten Zellen in die betrachtete Zelle gelangen können. Dies beinhaltet die be-reits erwähnte Instabilität bei Nichtberücksichtigung der Informationsrichtung. Dierelevanten Ausbreitungsgeschwindigkeiten, auch charakteristische Geschwindig-keiten genannt, können für nichtlineare Modelle nur im Grenzfall kleiner Schwan-kungen berechnet werden. Dazu linearisiert man die Modellgleichungen (9.27) umden Gleichgewichtspunkt ρ(x, t) = ρ0, Q(x, t) = Q0 = Qe(ρ0) und erhält fürkleine Störungen v = (ρ(x, t) − ρ0, Q(x, t) − Q0)

T auf (der Einfachheit halber)

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9.5 Numerische Lösung 133

homogene Strecken die linearen Gleichungen

∂v∂t

+ C · ∂v∂x

= L · v (9.30)

mit

C =(

0 1

−V 2 + ∂ P∂ρ

2V + ∂ P∂ Q

), (9.31)

L =⎛

⎝0 0

(Ve + ρ ∂ Ve

∂ρ

)1τ

(ρ ∂ Ve

∂ Q − 1)⎞

⎠ . (9.32)

Hierbei gilt Ve = Ve(ρ) für die Payne- und KK-Modelle und Ve = V ∗e (ρ, ρ, Q, Q)

für das GKT-Modell. Die Ausbreitungsgeschwindigkeiten ergeben sich als Eigen-werte der Matrix C. Man erhält für das Payne-Modell die Geschwindigkeitenc1,2 = V ± √−V ′

e(ρ)/2τ , für das KK-Modell c1,2 = V ± √θ und für das GKT-

Modell c1,2 = V (1±√3α) zuzüglich vernachlässigbarer Beiträge, die proportional

αV sind. Das Verbot der Ausbreitung über mehr als eine Zelle pro Zeitschritt führtdaher zu der Bedingung

Δt <Δx

max |c| (9.33)

mit max |c| ≈ V0 für das GKT- und das Payne-Modell und max |c| = V0 + √θ0 für

das KK-Modell.

(2) Diffusive Instabilität. Diffusionsterme beinhalten effektive Ausbreitungsge-schwindigkeiten ceff

diff = √2D/Δt , welche vor allem bei kleinen Zellenlängen re-

levant werden. Dies führt zu den zusätzlichen Bedingungen

Δt <(Δx)2

2Dv

, Δt <(Δx)2

2D. (9.34)

Die Bedingungen (9.33) und (9.34) werden auch als Courant-Friedrichs-Lewy-Bedingungen (CFL-Bedingungen) bezeichnet.

(3) Instabilität durch den Anpassungsterm. Die zeitliche Schrittweite darf nichtgrößer sein als die kleinste Anpassungszeit. Diese „klassische“ Instabilität der Re-gelungstechnik führt zu

Δt <1

max(|λ1|, |λ2|) , (9.35)

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134 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

wobei λ1 und λ2 die beiden Eigenwerte der Matrix L, Gl. (9.32) sind.13 Für diePayne- und KK-Modelle ergibt sich daraus die Bedingung

Δt < τ . (9.36)

Für das GKT-Modell ist die Bedingung (9.35) sehr viel einschränkender (vgl.Übungsaufgabe 9.6). Bei sehr hohen Dichten nahe der maximalen Dichte gilt

Δt < τ

(1 + V0Tρmax

1 − ρ/ρmax

)−1

. (9.37)

(4) Nichtlineare Instabilitäten. Alle bisherigen Instabilitätstypen wurden für kleineSchwankungen der Geschwindigkeit und des Flusses hergeleitet. Bei ausgeprägtenSchwankungen, vor allem Stop-and-Go-Wellen, können weitere nichtlineare Insta-bilitäten auftreten. Diese können nicht weiter charakterisiert werden, es hilft nurTrial and Error.

Numerische Diffusion. Die in den numerischen Integrationsmethoden zwangsläu-fig enthaltenen Diskretisierungsfehler machen sich am deutlichsten durch die so-genannte numerische Diffusion bemerkbar: Die numerische Lösung verhält sich inzweiter Ordnung O(Δt)2 wie die exakte Lösung einer sogenannten modifiziertenModellgleichung, die zusätzliche Diffusionen enthält. Es sei v(x, t ′) die exakte Lö-sung der ursprünglichen Linearisierung (9.30) für t ′ ≥ t mit u(x, t) als Anfangs-bedingung. Dann sind die Diffusionen in Form einer Diffusionsmatrix D gegebendurch

1

Δt

[un+1

j − v(x, t + Δt)]

= D∂2u∂x2

+ O(Δt)2 . (9.38)

Die Diffusionen hängen vom Modell, von der Verkehrsdichte, vom numerischenVerfahren und von den gewählten Schrittweiten Δx , Δt ab. Für die beiden betrach-teten Methoden gilt

Dnum = Δx2 C ·

(�1 − ΔtΔx C

)Upwind-Methode,

Dnum = 0 McCormack-Methode.(9.39)

Im GKT-Modell mit dem Upwind-Verfahren führt das im Wesentlichen auf eineDiffusionskonstante

D = VΔx

2

(1 − V

Δt

Δx

)(9.40)

13 Dies gilt für eine homogene Strecke. Eventuelle zusätzliche Quellen durch Rampen oderSpurzahländerungen bewirken aber keine wesentlichen Änderungen.

Page 142: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

9.5 Numerische Lösung 135

in beiden Gleichungen. Interessanterweise werden die Diffusionen genau dann ne-gativ (genauer gesagt: mindestens ein Eigenwert der Diffusionsmatrix wird negativ),wenn die Upwind-Methode konvektiv instabil wird.

Das McCormack-Verfahren hat keine numerische Diffusion, aber Fehler höhererOrdnung („numerische Dispersion“), welche bei starken Gradienten zu künstlichen,hochfrequenten Wellen führen.

Übungsaufgaben

9.1 Rampenterm der GeschwindigkeitsgleichungZeigen Sie, dass eine Auffahrt der Länge L rmp, von der ein Fluss Qrmp mit dermittleren Geschwindigkeit Vrmp auf die Autobahn (I Fahrstreifen pro Richtung)fließt, zu einem effektiven Beschleunigungsterm in der Geschwindigkeitsgleichungfür Modelle mit dynamischer Geschwindigkeit von

Armp = Qrmp

I L rmpρ

(Vrmp − V

)

für alle x parallel zur Zufahrt führt (vgl. Gl. (9.9)).

9.2 Kinematische DispersionAuf einer Fernstraße herrsche zur Zeit t = 0 die (fahrstreifengemittelte) Verkehrs-dichte (ρ in Fz/km, x in km)

ρ(x, 0) =⎧⎨

15, x < 015 − 100x, 0 ≤ x ≤ 0.15, x > 0.1 .

Ferner ist die Dichte auf beiden Fahrstreifen gleich. Alle Fahrzeuge fahren auf demrechten Fahrstreifen konstant mit 72 km/h und auf dem linken mit 144 km/h, d.h.V (x, 0) = 108 km/h = const. Für alle vorkommenden Verkehrsdichten sei Ve(ρ) =V (x, 0) = 108 km/h ebenfalls konstant, so dass die Fahrzeuge zur Zeit t = 0 nichtbeschleunigen.

1. Welche Geschwindigkeitsvarianz σ 2V (x) herrscht auf der Strecke?

2. Welcher „Beschleunigung“ A(x, 0) entspricht der Anteil Pθ = ρθ des Verkehrs-drucks zur Zeit t = 0 ?

3. Erläutern Sie, wie es zu einer makroskopischen Beschleunigung kommen kann,ohne dass ein einziges Einzelfahrzeug beschleunigt!

4. Erläutern Sie anhand des qualitativen Verhaltens der Lösung für t > 0 für einbeliebiges Makromodell mit P = Pθ und D = 0 eine der prinzipiellen Grenzender Makromodellierung bei heterogenem Verkehr.

9.3 Modellierung der Antizipation durch den DrucktermEine vorausschauende Fahrweise kann man durch den Anpassungsterm modellie-ren, wenn man (dV/dt)relax = (Ve −V )/τ nicht für die aktuelle Position x , sondern

Page 143: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

136 9 Makromodelle mit dynamischer Geschwindigkeit

(um einen Fahrzeugabstand d) „vorausschauend“ für eine Position xa = x + dberechnet:

(dV

dt

)

relax= Ve(ρ(xa, t)) − V (x, t)

τ. (9.41)

1. Drücken Sie d durch makroskopische Größen aus.2. Zeigen Sie, dass der Antizipationsanteil im Anpassungsterm (9.41) näherungs-

weise auch durch einen Anteil

Pa = − Ve(ρ(x, t))

τ

des Verkehrsdrucks P modelliert werden kann, indem Sie am Anpassungstermeine Taylorentwicklung bis einschließlich erster Ordnung um (x, t) bezüglich xdurchführen und die Dichte nährungsweise als konstant annehmen.

3. Gegeben ist eine Verkehrssituation, in der die fahrstreifenbezogene Dich-te innerhalb von 200 m von 20 Fz/km auf 40 Fz/km steigt und dieGleichgeschwindigkeits-Dichte-Relation durch

Ve(ρ) = V0

(1 − ρ

ρmax

)

gegeben ist. Berechnen Sie explizit den Beschleunigungsunterschied, der sichaus der vorausschauenden Fahrweise gegenüber der nichtvorausschauendenFahrweise (xa = x) ergibt, wenn man die Antizipation (i) durch den Anpas-sungsterm und (ii) durch den Anteil Pa im Druckterm modelliert.

9.4 Gleichgewichtsgeschwindigkeit des GKT-ModellsBerechnen Sie für das GKT-Modell die Beziehung Ve(ρ) zwischen Geschwindig-keit und Dichte bei stationären (d.h. „ d

dt = 0“) und homogenen („ ddx = 0“) Verhält-

nissen.

9.5 Herleitung der flusserhaltenden Form der MakromodelleLeiten Sie die flusserhaltende Form (Gln. (9.24) und (9.25)) der allgemeinen Glei-chungen (9.7) und (9.8) für D = 0 her. Eliminieren Sie V in der Kontinuitätsglei-chung mit Hilfe der hydrodynamischen Relation Q = ρV . Multiplizieren Sie dieBeschleunigungsgleichung mit ρ und ersetzen Sie ρ ∂V

∂t = ∂ Q∂t − V ∂ρ

∂t . Eliminie-ren Sie dann die Zeitableitung der Dichte mit Hilfe der Kontinuitätsgleichung undfassen Sie die resultierenden Terme zusammen.

9.6 Simulation des GKT-ModellsDas GKT-Modell soll mit den Parametern der Tabelle 9.1 unter Verwendung einerZellenlänge von 50 m mit der Upwind-Methode simuliert werden. Dabei wird einkonstanter Geschwindigkeits-Variationskoeffizient

√α = 10% angenommen. Die

maximal auftretende Dichte sei 100 Fz/km. Wie hoch ist der maximale numerische

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Literaturhinweise 137

Aktualisierungszeitschritt, um alle linearen numerischen Instabilitäten zu vermei-den? Wie hoch ist die numerische Diffusion bei einer Geschwindigkeit von 72 km/hund Δt = 1 s?

Literaturhinweise

Payne, H.: Models of freeway traffic and control. In: Bekey, G.A. (ed.): Mathematical Models ofPublic Systems, vol. 1, 51–61. Simulation Council, La Jolla, CA (1971)

Treiber, M., Hennecke, A., Helbing, D.: Derivation, properties, and simulation of a gas-kinetic-based, non-local traffic model. Phys. Rev. E 59, 239–253 (1999)

Kerner, B., Konhäuser, P.: Structure and parameters of clusters in traffic flow. Phys. Rev. E 50,54–83 (1994)

LeVeque, R.: Numerical Methods for Conservation Laws. Birkhäuser, Basel (1992)

Page 145: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Kapitel 10Einfache Fahrzeugfolgemodelle

Fortschritt ist eine Verwirklichung von Utopien.Oscar Wilde

10.1 Allgemeines

Fahrzeugfolgemodelle beschreiben das Fahrverhalten aus der Perspektive einzelnerFahrer bzw. Fahrer-Fahrzeug-Einheiten. Die ersten Fahrzeugfolgemodelle wurden1950 von Reuschel und 1953 von Pipes entwickelt. Sie enthalten ein wesentlichesElement der mikroskopischen Verkehrsmodellierung: Der Mindestabstand zum Vor-derfahrzeug sollte proportional zur Geschwindigkeit sein oder, anders formuliert,die „Zeitlücke“ sollte einem vorgegebenen Zielwert entsprechen.

Fahrzeugfolgemodelle sind die wichtigsten Vertreter mikroskopischer Verkehrs-modelle (vgl. Kap. 6). Gemäß der Aktionsmöglichkeiten eines Fahrers unterschei-det man zwischen Modellen der Längsdynamik (Longitudinalmodelle), welche Be-schleunigungen und Bremsmanöver modellieren, und Modellen der Querdynamik(Spurwechselmodelle, siehe Kap. 14). In komplexen, möglichst realitätsnahen Mo-dellen werden die meisten, teils subtilen Wechselwirkungen zwischen Beschleu-nigung und Fahrstreifenwechsel berücksichtigt und beide Komponenten zu einerEinheit verknüpft. Sie bilden oft den Kern kommerzieller Simulationssoftware.

In diesem Kapitel werden Minimalmodelle der Längsdynamik vorgestellt. Siekönnen kein reales Fahrverhalten beschreiben, da im Vergleich zur Realität meistviel zu hohe Beschleunigungen auftreten. Sie lassen sich aber einfach und ef-fizient implementieren und in einfachen Fällen auch analytisch lösen. Hier die-nen sie zur Einführung der wesentlichen Konzepte, während für Anwendungendie in den folgenden Kapiteln dargestellten, detaillierteren Modelle notwendigsind.

Einige der Minimalmodelle sind nicht vollständig in dem Sinne, dass sie füralle Verkehrssituationen (freie Fahrt, Folgefahrt, Annäherungen an langsame oderstehende Fahrzeuge) anwendbar wären. Beispiele sind die ersten Fahrzeugfolgemo-delle von Reuschel und Pipes, bei denen die Abstandsregel nur für die Folgefahrtanwendbar ist, diese auf freier Strecke jedoch keinen Sinn ergibt. Zudem könnenAnnäherungen an langsame oder stehende Fahrzeuge bzw. Hindernisse nicht be-schrieben werden, da die Geschwindigkeitsanpassung in diesen Modellen augen-blicklich, also de facto mit unendlicher Beschleunigung erfolgt.

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_10, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

139

Page 146: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

140 10 Einfache Fahrzeugfolgemodelle

Im Sinne der Einteilung von Abschn. 6.2 handelt es sich bei den Minimalmodel-len dieses Kapitels um heuristische Modelle. Die in Kap. 13 behandelten zellulärenAutomaten gehören ebenso dazu. Dagegen sind die in Kap. 11 behandelten strate-giebasierten Modelle den First-Principles-Modellen zuzuordnen.

10.2 Mathematische Beschreibung

In Fahrzeugfolgemodellen wird jedes Fahrzeug α durch den Ort xα , die Geschwin-digkeit vα

1 und die Beschleunigung vα in Abhängigkeit der Zeit beschrieben. Dabeizählt der Fahrzeugindex α entgegen der Fahrtrichtung (vgl. Abb. 10.1), also in derReihenfolge, in der Fahrzeuge von einem feststehenden Beobachter wahrgenommenbzw. von einem Querschnittsdetektor gemessen werden. Aus den Positionen xα derFahrzeugfront und den Fahrzeuglängen lα ergeben sich die für das Fahrverhaltenwesentlichen Nettoabstände gemäß

sα = xα−1 − lα−1 − xα = xl − ll − xα. (10.1)

Zur kompakteren Darstellung wird das Vorderfahrzeug α−1 oft auch mit dem Indexl (leader) bezeichnet.

Die Fahrer-Reaktion ist in den Minimalmodellen (und auch in vielen der rea-listischeren Modelle der nächsten Kapitel) in Abhängigkeit des Abstandes sα , dereigenen Geschwindigkeit vα und der Geschwindigkeit vl des Vorderfahrzeugs ge-geben. Formuliert man die Zeit kontinuierlich, werden die Fahrer-Reaktionen direktdurch eine Beschleunigungsfunktion amic modelliert und man erhält gekoppelte ge-wöhnliche Differentialgleichungen der allgemeinen Form

vl = vα−1

Abb. 10.1 Die wichtigsten Größen in Fahrzeugfolgemodellen

1 Zur Unterscheidung von der Geschwindigkeit von Makromodellen wird die Geschwindigkeitvon Mikromodellen mit kleinen Buchstaben bezeichnet. Im Allgemeinen gilt die Mikro-Makro-Beziehung V = 〈vα〉.

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10.2 Mathematische Beschreibung 141

xα(t) = dxα(t)dt = vα(t), (10.2)

vα(t) = dvα(t)dt = amic(sα, vα, vl) = amic(sα, vα,Δvα). (10.3)

In den meisten Modellen kommt die Geschwindigkeit vl des Vorderfahrzeugs nurals Geschwindigkeitsdifferenz (Annäherungsrate)

Δvα = vα − vα−1 = vα − vl (10.4)

vor. Die entsprechenden Modelle werden kompakter durch die Beschleunigungs-funktion amic(s, v,Δv) = amic(s, v, v − Δv) formuliert. Mit Gl. (10.1) kannman (10.2) auch formulieren als

sα(t) = dsα(t)

dt= vl(t) − vα(t) = −Δvα(t) (10.5)

und erhält damit gekoppelte Gleichungen für die Abstände sα und Geschwindigkei-ten vα aller Fahrzeuge.

Wird die Zeit diskret in festen Zeitschritten Δt modelliert, ergeben sich anstel-le von Differentialgleichungen gekoppelte iterierte Abbildungen der allgemeinenForm

vα(t + Δt) = vmic (sα(t), vα(t), vl(t)) , (10.6)

xα(t + Δt) = xα(t) + vα(t) + vα(t + Δt)

2Δt. (10.7)

Die Fahrer-Reaktionen werden also nicht durch eine Beschleunigungsfunktion mo-delliert, sondern durch eine Geschwindigkeitsfunktion vmic, welche die im nächstenZeitschritt anvisierte Zielgeschwindigkeit beschreibt. Da die Gl. (10.2) bzw. (10.7) –analog zu der Kontinuitätsgleichung der Makromodelle – immer gültige kinema-tische Tatsachen darstellen, wird das konkrete Mikromodell allein durch die Be-schleunigungsfunktion amic oder die Geschwindigkeitsfunktion vmic definiert.

Die zeitkontinuierlichen und zeitdiskreten Formulierungen hängen über die beizeitkontinuierlichen Modellen notwendigen Integrationsverfahren zur numerischenLösung zusammen. Nimmt man bei der numerischen Lösung der Gln. (10.2)und (10.3) ebenfalls eine konstante Integrationsschrittweite Δt an, so ist ein ein-faches, aber effizientes Lösungsverfahren durch folgende Aktualisierungsvorschriftgegeben:2

vα(t + Δt) = vα(t) + amic (sα(t), vα(t), vl(t))Δt, (10.8)

xα(t + Δt) = xα(t) + vα(t) + vα(t + Δt)

2Δt. (10.9)

2 Bei Fahrzeugfolgemodellen ist dieses Verfahren bei gleicher Genauigkeit um etwa den Faktorzwei effizienter als die Standardmethode zur numerischen Lösung von Differentialgleichungen(Runge-Kutta-Verfahren vierter Ordnung).

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142 10 Einfache Fahrzeugfolgemodelle

Die Kombination eines zeitkontinuierlichen Fahrzeugfolgemodells mit dieser Ak-tualisierungsvorschrift ist mathematisch äquivalent zu zeitdiskreten Modellen. Esgilt folgende Entsprechung:

amic(s, v, vl) = vmic(s, v, vl) − v

Δt. (10.10)

Hingegen ergibt sich ein konzeptioneller Unterschied: Während bei zeitdiskretenModellen die Schrittweite Δt einen Modellparameter darstellt (der beispielsweiseFolgezeiten, Reaktionszeiten oder Anpassungszeiten beschreiben kann), ist die nu-merische Schrittweite der Gleichungen (10.8) und (10.9) eine reine Hilfsgröße unddie eigentliche Lösung ergibt sich im Grenzfall Δt → 0.

10.3 Gleichgewichtsbeziehungen und Fundamentaldiagramm

Da es sich bei den Fahrer-Fahrzeug-Einheiten der Mikromodellierung mathema-tisch um „getriebene Teilchen“ handelt, ist kein Gleichgewicht im engeren Sinnemöglich, sondern nur ein Zustand, bei dem die ein- und ausgehenden Kraft- bzw.Energieflüsse gleich groß sind. Dies wird auch als Fließgleichgewicht bezeichnet.Bei Mikromodellen kann ein Fließgleichgewicht nur dann eindeutig beschriebenwerden, wenn man identische Fahrer-Fahrzeug-Einheiten auf homogener Streckeannimmt.3 Für die mathematische Modellierung bedeutet dies, dass die Parameterder die Modelle charakterisierenden Funktionen amic bzw. vmic für alle Fahrzeugedieselben sind. Das Fließgleichgewicht wird durch zwei Bedingungen charakteri-siert:

• Homogener Verkehr. Alle Fahrzeuge haben denselben Abstand voneinander(sα = s) und fahren gleich schnell (vα = v).

• Keine Beschleunigungen, also vα = 0 bzw. vα(t+Δt) = vα(t) für alle Fahrzeugeα.

Für zeitkontinuierliche Modelle mit Beschleunigungsfunktionen amic bzw. amicfolgt aus diesen Bedingungen

amic(s, v, v) = 0, bzw. amic(s, v, 0) = 0, (10.11)

während für zeitdiskrete Modelle der Art (10.6) die Bedingung

vmic(s, v, v) = v (10.12)

gilt.

3 Es sind Modelle vorstellbar, die auch in diesem Fall keine eindeutige Gleichgewichtsrelationhaben, was verschiedentlich gefordert wird, aber umstritten ist.

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10.4 Heterogener Verkehr 143

Mikroskopisches Fundamentaldiagramm. Aus den Gleichungen (10.11) oder(10.12) ergibt sich jeweils eine eindimensionale Vielfalt möglicher Fließgleichge-wichte, die durch die Gleichgewichtsgeschwindigkeit ve(s) in Abhängigkeit desAbstandes s beschrieben werden kann. Die Funktion ve(s) nennt man auch mikro-skopisches Fundamentaldiagramm.

Übergang zu makroskopischen Beziehungen. Direkt aus der Definition der Dichteals Zahl der Fahrzeuge pro Streckeneinheit ergibt sich bei gegebener Fahrzeuglängel eine Mikro-Makro-Beziehung zwischen dem Nettoabstand s und der Dichte ρ:

sα = s = 1

ρ− l. (10.13)

Ferner ist im Gleichgewicht die Geschwindigkeit der Einzelfahrzeuge gleich dermakroskopischen Geschwindigkeit:

V (x, t) = 〈vα(t)〉 = ve(s). (10.14)

Damit folgen aus dem mikroskopischen Fundamentaldiagramm ve(s) das makros-kopische Geschwindigkeits-Dichte-Diagramm und das Fundamentaldiagramm:

Ve(ρ) = ve

(1

ρ− l

), Qe(ρ) = ρve

(1

ρ− l

). (10.15)

10.4 Heterogener Verkehr

Während Fundamentaldiagramme nur für homogene Fahzeugpopulationen berech-net werden können, spielen mikroskopische Modelle ihre Stärke bei der Modellie-rung unterschiedlicher Fahrzeuge und Fahrstile aus. Diese unter dem Begriff hete-rogener Verkehr zusammengefasste Verschiedenartigkeit hat Auswirkungen auf dieKapazität und Stabilität des Verkehrs. Heterogener Verkehr kann mit Fahrzeugfol-gemodellen auf zweierlei Arten modelliert werden:

1. Jede Fahrer-Fahrzeug-Einheit wird mit demselben Modell, aber unterschied-lichen Parametrisierungen beschrieben. Diese können sowohl klassenbezogen(beispielsweise geringere Beschleunigungen und Geschwindigkeiten bei LKW),als auch für jedes Fahrzeug individuell (z.B. aus Verteilungsfunktionen gezogeneWerte) gewählt werden.

2. Es kommen für die unterschiedlichen Fahrzeugtypen unterschiedliche Model-le zum Einsatz. Damit können unterschiedliche Charakteristika, z.B. zwischenadaptiven Beschleunigungsreglern (ACC-Systemen) und Menschen, direkt be-rücksichtigt werden.

Die Modellierung heterogenen Verkehrs ist nur im Verbund mit Fahrstreifen-wechseln sinnvoll, da sich ansonsten eine große Schlange hinter dem langsamsten

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144 10 Einfache Fahrzeugfolgemodelle

Fahrzeug bilden würde. Zur Modellierung der verschiedenen Fahrstile sind anschau-liche Modellparameter (wie die der in Kap. 11 vorgestellten Modelle) hilfreich.

10.5 Optimal-Velocity-Modell

Das Optimal-Velocity-Modell (OVM) ist ein zeitkontinuierliches Modell der Formamic(s, v). Die Beschleunigungsfunktion lautet

v = vopt(s) − v

τOptimal-Velocity-Modell. (10.16)

Diese Gleichung beschreibt die Anpassung der aktuellen Geschwindigkeit vα andie abstandsabhängige optimale Geschwindigkeit vopt(s) auf einer durch die Anpas-sungszeit τ gegebenen Zeitskala. Diese Optimal-Velocity- bzw. OV-Funktion vopt(s)gehorcht den unmittelbar einsichtigen Bedingungen

v′opt(s) ≥ 0, vopt(0) = 0, lim

s→∞ vopt(s) = v0. (10.17)

Sie ist ansonsten beliebig, so dass die Beschleunigungsgleichung (10.16) eine ganzeKlasse von Modellen definiert, deren Vertreter sich in ihrer OV-Funktion unterschei-den. Die von Bando et al. vorgeschlagene OV-Funktion

vopt(s) = v0tanh

( sΔs − β

)+ tanh β

1 + tanh β(10.18)

verwendet Tangens-Hyperbolicus-Funktionen mit der Wunschgeschwindigkeit v0,der Übergangsbreite Δs und dem „Formfaktor“ β (siehe Abb. 10.2).4

0 20 40 60 80

100 120

0 10 20 30 40 50

v opt

(km

/h)

v opt

(km

/h)

Abstand s (m) Abstand s (m)

AutobahnStadtverkehr

AutobahnStadtverkehr

0 20 40 60 80

100 120

0 10 20 30 40 50

Abb. 10.2 Optimale Geschwindigkeits-Funktionen nach Gl. (10.18) (links) bzw. (10.19) (rechts)für die Parameterwerte aus Tabelle 10.1

4 Die Formulierung wurde gegenüber den Originalpublikationen so angepasst, dass v0 die Bedeu-tung einer Wunschgeschwindigkeit hat.

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10.5 Optimal-Velocity-Modell 145

Eine anschaulichere OV-Funktion leitet sich aus den Bedingungen eines Min-destabstandes s0 bei stehendem Verkehr, einer Folgezeit T im gebundenen Verkehrund der Wunschgeschwindigkeit v0 im freien Verkehr her:

vopt(s) = max

[0, min

(v0,

s − s0

T

)]. (10.19)

Diese Relation ist die mikroskopische Entsprechung des dreieckigen Fundamen-taldiagramms der Section-Based- und Cell-Transmission-Modelle (vgl. Abb. 10.2).Typische Parameterwerte beider OV-Funktionen sind in Tabelle 10.1 gegeben.

Modelleigenschaften.Abbildung 10.3 zeigt zwei Simulations-Szenarien, die zusammen einen Über-

blick über die Modelleigenschaften geben. In der linken Spalte wird eine Auto-

Tabelle 10.1 Modellparameter des Optimal-Velocity-Modells (OVM) (Fahrzeuglänge 5 m)

Parameter Typischer WertAutobahn

Typischer WertStadtverkehr

Wunschgeschwindigkeit v0 120 km/h 54 km/hAnpassungszeit τ 0.65 s 0.65 sÜbergangsbreite Δs [vopt gemäß Gl. (10.18)] 15 m 8 mFormfaktor β [vopt gemäß Gl. (10.18)] 1.5 1.5

Folgezeit T [vopt gemäß Gl. (10.19)] 1.4 s 1.2 sMinimalabstand s0 [vopt gemäß Gl. (10.19)] 3 m 2 m

0

10

20

30

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

Abs

tand

(m

)

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

0

20

40

60

80

100

120

140

V (km/h)

0 30 60 0

Zeit (min)

–12

–10

–8

–6

–4

–2

0

2

Abs

tand

von

der

Zuf

ahrt

(km

)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60

–7 km–5 km–3 km–1 km

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

(b)

(c)

(a)

0 10 20 30 40 50

Ges

chw

. (km

/h)

(d)

–2–1

1050

–5

15

2520

Bes

chl.

(m/s

2 )

Zeit (s)

(e)

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Abb. 10.3 Simulation des OVM mit der Geschwindigkeitsfunktion (10.19) und Parametern ge-mäß Tabelle 10.1. Links: Autobahn mit Zufahrt (500 Fz/h) als Geschwindigkeitsfeld V (x, t) (a)und Fluss-Dichte-Relationen virtueller Detektoren (b). Rechts: Städtisches Start-Stopp-Szenariozwischen zwei Ampeln im Abstand von 1 km

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146 10 Einfache Fahrzeugfolgemodelle

bahnsituation dargestellt, bei der durch hohes Verkehrsaufkommen an einer Zufahrt(Streckenkilometer x = 0) ein Stau entsteht.5 Das Teilbild (a) zeigt das aus denGeschwindigkeiten vα der einzelnen Fahrzeuge rekonstruierte raumzeitliche ma-kroskopische Geschwindigkeitsfeld

V (x, t) = x − xα(t)

xα−1(t) − xα(t)vα(t) + xα−1(t) − x

xα−1(t) − xα(t)vα−1(t), (10.20)

wobei die Fahrzeugindizes so zu wählen sind, dass xα(t) ≤ x < xα−1(t) gilt. Nachca. 10 min entsteht an der Zufahrt ein Verkehrszusammenbruch mit Stauwellen, diesich stromaufwärts ausbreiten. Mit dieser Simulation wird das Fahren im freienVerkehr, das Folgeverhalten im gebundenen Verkehr, sowie das Ein- und Ausfah-ren in und aus Staus getestet. Ferner ergeben sich auch die Stabilitätseigenschaftenfreien und gestauten Verkehrs und ggf. die Eigenschaften der Stauwellen wie Aus-breitungsgeschwindigkeiten, Amplituden, Wellenlängen und Wachstumsraten (vgl.auch Kap. 15).

Teilbild (b) zeigt Fluss-Dichte-Daten an verschiedenen Querschnitten. Um dasErgebnis mit realen Daten vergleichen zu können, wurde der Datenerfassungs-prozess mittels virtueller Detektoren simuliert: Die Schnittpunkte der simuliertenTrajektorien mit den Detektorpositionen ergeben zunächst virtuelle Einzelfahrzeug-daten. Diese werden gemäß Abschn. 3.2 aggregiert (Intervall von 1 Minute), dieDichte gemäß Abschn. 3.3.1 durch arithmetische Mittelwertbildung bestimmt undschließlich Fluss und Dichte wie im Abschn. 4.4 dargestellt.

Die rechte Spalte der Abb. 10.3 zeigt eine typische Stadtsituation. Eine vor ei-ner Lichtsignalanlage (LSA) wartende Fahrzeugkolonne fährt nach Umspringen aufGrün ( t = 0) an, die LSA der nächsten Kreuzung (Abstand 1 km) ist aber beiAnkunft der Kolonne rot, so dass die Fahrzeuge wieder anhalten müssen. Dabei wer-den die drei grundsätzlichen Verkehrssituationen getestet: (i) Beschleunigung undcruising mit der Wunschgeschwindigkeit bei freier Fahrt (erstes Fahrzeug, wenn dieLSA noch weit entfernt ist), (ii) Folgefahrt (alle weiteren Fahrzeuge der Kolonne)und (iii) dynamische Annäherung (hier an ein stehendes, die rote LSA repräsentie-rendes virtuelles Fahrzeug).

In beiden Simulationen ist der Wert der Geschwindigkeitsanpassungszeit τ =0.65 s unrealistisch klein gewählt. Dies führt im Autobahn-Szenario zu nicht wirk-lichkeitsgetreuen kurzen Periodendauern der Stop-and-Go-Wellen von ca. 1–2 minund im Stadt-Szenario zu extremen, nicht realisierbaren Beschleunigungen im Be-reich von −10 bis 22 m/s2.6 Bei lediglich um 5% höheren Werten von τ ergebensich jedoch im Verlauf der Simulationen negative Werte der Abstände sα , was si-mulierten Unfällen entspricht. Bei etwas geringeren Werten von τ herrscht hinge-

5 Die bei der Zufahrt notwendigen Spurwechsel auf die Hauptfahrbahn werden in Kap. 14 be-schrieben.6 In der Realität sind Beschleunigungen oberhalb von 4 m/s2 (entspricht 7 s von Null auf 100 km/h)und unterhalb von −9 m/s2 (entspricht einer Notbremsung auf trockener Straße) nicht möglich.Die normalerweise realisierten Beschleunigungen sind meist weitaus kleiner.

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10.6 Full-Velocity-Difference-Modell 147

gen absolute Kolonnenstabilität (vgl. Kap. 15), was zu ebenfalls nicht realistischenStaus ohne jede Wellenstruktur führt. Bei derart empfindlichen Abhängigkeiten derDynamik von den Parametern sagt man auch, dass Modell sei nicht robust

Diese Ergebnisse sind vor dem Hintergrund zu verstehen, dass das OVM nichtdie Geschwindigkeit des Vorderfahrzeuges berücksichtigt. Es reagiert allein aufden Abstand s, unabhängig davon, ob man sich dem Vorderfahrzeug mit hoherGeschwindigkeit nähert oder nicht. Dies entspricht einer extrem „kurzsichtigen“Fahrweise.

Fließgleichgewicht. Beim OVM führt die Fließgleichgewichts-Bedingung (10.11)zu ve(s) = vopt(s). Das mikroskopische Fundamentaldiagramm ist also direktdurch die OV-Funktion gegeben (siehe Abb. 10.4). Für eine Funktion vopt(s) gemäßGl. (10.19) ergibt sich aus (10.15) das schon bekannte „dreieckige“ makroskopischeFundamentaldiagramm

Qe(ρ) = min

(v0ρ,

1 − ρ(l + s0)

T

).

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60 80 100 120 140 0 20 40 60 80 100 120 140

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

AutobahnStadtverkehr

AutobahnStadtverkehr

0

500

1000

1500

2000

2500

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

Abb. 10.4 Fundamentaldiagramme des OVM nach Gl. (10.18) (links) bzw. Gl. (10.19) (rechts) fürdie Parameterwerte aus Tabelle 10.1

10.6 Full-Velocity-Difference-Modell

Da das OVM wegen der fehlenden Sensitivität bezüglich Geschwindigkeitsdifferen-zen zu Unfällen neigt, besteht eine Erweiterung darin, zusätzlich die Geschwindig-keitsdifferenz als linearen Stimulus zu berücksichtigen:

v = vopt(s) − v

τ− γΔv Full-Velocity-Difference-Modell. (10.21)

Dieses als Full-Velocity-Difference-Modell (FVDM) bezeichnete Modell ist beigeeigneten Werten des Sensitivitätsparameters γ im Bereich von 0.5 s−1 auch fürWerte der Zeitkonstanten τ von deutlich oberhalb einer Sekunde unfallfrei. Wäh-rend das Fundamentaldiagramm identisch zu dem des OVM ist, ergibt das FVDMim Vergleich zum OVM realistischere Beschleunigungen im Stadt-Szenario. Die

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148 10 Einfache Fahrzeugfolgemodelle

0

10

20

30

0 60 120 180 240 300 360

0 60 120 180 240 300 360

0 60 120 180 240 300 360A

bsta

nd (

m)

Zeit (s)0

20

40

60

80

100

120

140V (km/h)

0 30 60 90

Zeit (min)

–8

–6

–4

–2

0

2

Abs

tand

von

der

Zuf

ahrt

(km

)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

–7 km–5 km–3 km–1 km

(b)

(c)

(d)

(e)

(a)

0 10 20 30 40 50

Ges

chw

. (km

/h)

–1

0

1

2

Bes

chl.

(m/s

2 )

Zeit (s)

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Abb. 10.5 Simulation des Full-Velocity-Difference-Modells (FVDM), Gl. (10.21), mit der optima-len Geschwindigkeitsfunktion (10.19) und γ = 0.6 s−1, τ = 5 s sowie den restlichen Parameternv0, β und Δs gemäß Tabelle 10.1. Die Simulationsszenarien sind dieselben wie in Abb. 10.3

Dynamik des Autobahn-Szenarios sieht ebenfalls realistischer aus (Abb. 10.5). Zwarsind die Stop-and-Go-Wellen immer noch sehr kurz, aber sie sind realistischer alsbeim OVM (vgl. Abb. 10.3).

Allerdings ist das Modell, im Gegensatz zum OVM, nicht vollständig in dem Sin-ne, dass sowohl freier Verkehr als auch Folgefahrten und dynamische Annäherungs-fahrten modelliert werden können. Dies liegt an der fehlenden Abstandsabhängig-keit der Sensitivität bezüglich Geschwindigkeitsdifferenzen. Ein langsameres Fahr-zeug oder eine durch ein stehendes Fahrzeug modellierte rote Ampel führen dazu,dass die Wunschgeschwindigkeit auch bei beliebig großen Entfernungen nicht er-reicht wird (siehe Übungsaufgabe 10.4).

10.7 Newell-Modell

Das Newell-Modell ist der einfachstmögliche Vertreter der zeitdiskreten Modelle.Die Geschwindigkeitsfunktion vmic(s, v, vl) = vopt(s) ist direkt durch die optimaleGeschwindigkeit gegeben und die Aktualisierungsgleichung lautet

v(t + Δt) = vopt(s(t)) Newell-Modell. (10.22)

Als Aktualisierungs- bzw. Geschwindigkeitsanpassungszeit wird meist Δt = 1 sgewählt. Dieses Modell hat mehrere interessante Eigenschaften:

Beziehung zum Optimal-Velocity-Modell. Gemäß Gl. (10.10) ist das Newell-Modellmathematisch äquivalent zum OVM (10.16). Es liefert identische Simulationser-

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10.7 Newell-Modell 149

gebnisse, falls man die Anpassungszeit τ des OVM mit der Aktualisierungszeit Δtdes Newell-Modells gleichsetzt und die Fahrzeugpositionen mit (10.9) bzw. (10.7)aktualisiert. Allerdings wird das OVM meist mit wesentlich kleineren Zeitschrittenintegriert. Auch in diesem Fall sind die Fließgleichgewichte und damit die Funda-mentaldiagramme der beiden Modelle identisch.

Beziehung zum Section-Based-Modell. Disaggregiert man das im Abschn. 8.4beschriebene makroskopische Section-Based-Modell, indem man aus einerbeliebigen, gebundenem Verkehr entsprechenden Lösung dieses Modells Trajek-torien gemäß (8.17) erzeugt, so sind diese Trajektorien gleichzeitig Lösungen desNewell-Modells mit der OV-Funktion (10.19) (vgl. Abb. 10.6).

Interpretation der Zeiten. Für die optimale Geschwindigkeit (10.19) ist die Lösungdes Newell-Modells im gebundenen Verkehr durch die rekursiven Beziehungen

xα(t + Δt) = xα−1(t) + ccongΔt und vα(t + Δt) = vα−1(t) (10.23)

allein in Abhängigkeit der Trajektorie des Führungsfahrzeugs α − 1 gegeben. Diesentspricht einer exakten, aber um die Zeitspanne Tr = Δt verzögerten Anpassungan die Geschwindigkeit des jeweiligen Führungsfahrzeugs (Abb. 10.6). Berücksich-tigt man die Beziehung zum OVM, kann ein und dieselbe Zeit auf vier grundsätzlichverschiedene Arten interpretiert werden:

1. als Reaktionszeit Δt = Tr gemäß Gl. (10.23),2. als durch endliche Beschleunigungen verursachte Geschwindigkeits-Anpassungs-

zeit Δt = τ gemäß Gl. (10.22) und der Beziehung zum OVM,3. direkt als numerisches Aktualisierungsintervall Δt gemäß Gl. (10.22)4. und als Folgezeitlücke Δt = T .

Während die Interpretation als Reaktionszeit nur für gebundenen Verkehr und fürdas dreieckige Fundamentaldiagramm gültig ist, kann die Interpretation als Folge-zeit durch die Definition T (s) = s/vopt(s) leicht auf andere OV-Funktionen vopt(s)

Hohe Dichte

vα+1 Tleff

T

α−1 α

Zeit t

Ort x

TT

T

leff

Abb. 10.6 Beziehung des Newell-Modells zum Section-Based-Modell: Die Schattierungen gebenein Beispiel eines sich mit ccong = −leff/T ausbreitenden makroskopischen Dichteverlaufs an. Diedazugehörigen Trajektorien des Newell-Modells haben die Steigung ve(ρ) = (1/ρ − leff)/T

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150 10 Einfache Fahrzeugfolgemodelle

erweitert werden. Die Interpretationen als Anpassungs- oder als numerische Aktua-lisierungszeit (update time) sind immer anwendbar. Den geringsten Anwendungs-bereich hat die Interpretation als Reaktionszeit, dennoch wird Δt meist in diesemSinne interpretiert.

Beziehung zum Payne-Modell. Zur Herleitung der Geschwindigkeitsgleichung desPayne-Modells werden die linke und rechte Seite des Newell-Modells durch makro-skopische Größen ausgedrückt und ggf. Taylorentwicklungen durchgeführt.

Linke Seite vα(t + Δt): Zunächst folgt aus Gl. (10.20) für die makroskopischeGeschwindigkeit zur Zeit t

vα(t) = V (xα(t), t) = V (x, t).

Hierbei wurde die Ortskoordinate x = xα(t) gleich der Position der Trajektorie α

zur „alten“ Zeit t gesetzt. Für die neue Zeit t + Δt ergibt eine Taylorentwicklungerster Ordnung

vα(t + Δt) = V (xα + vαΔt, t + Δt)

= V (xα, t) + ∂V (x, t)

∂xvαΔt + ∂V (x, t)

∂tΔt

= V (x, t) +(

V (x, t)∂V

∂x+ ∂V

∂t

)Δt. (10.24)

Rechte Seite vopt(sα(t)): Zunächst gilt nach Gl. (10.15) vopt(s) = ve(s) = Ve(ρ).Hier ist ρ = ρ(x, t) vom Ort abhängig und die Ortskoordinate muss so bestimmtwerden, dass der Fehler durch die Taylorentwicklung minimal ist. Da der Bruttoab-stand dα = sα + lα−1 = 1/ρ den Abstand zwischen den Fahrzeugen α und α − 1bezeichnet, wird ρ an der Stelle xα + dα/2 = x + dα/2 ausgewertet (Abb. 10.7).Damit ergibt sich

vopt(sα(t)) = Ve (ρ (x + dα/2, t))

= Ve(ρ(x, t)) + V ′e(ρ)

∂ρ

∂x

2

= Ve(ρ(x, t)) + V ′e(ρ)

∂ρ

∂x. (10.25)

In der zweiten Zeile wurde die Taylorentwicklung erster Ordnung und die Kettenre-gel angewandt und in der dritten Zeile dα

2 durch 12ρ(x,t) ausgedrückt.7 Gleichsetzen

von (10.24) und (10.25) führt zu

7 Wir machen eine Taylorentwicklung erster Ordnung für ρ(x+ d2 , t) um x . Da der durch die Dichte

auszudrückende Abstand dα bereits in einem Term der ersten Ordnung der Taylorentwicklungsteht, genügt es, innerhalb dieses Terms zur weiteren Umformung die nullte Ordnung, also dα(t) =1/ρ(x, t), anzuwenden.

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10.7 Newell-Modell 151

vαΔtxα(t)

xα(t+Δt)

αα−1

t t + Δt t

x

Abb. 10.7 Zur Herleitung des Payne-Modells: Trajektorien xα(t) und xα−1(t) des betrachtetenFahrzeugs α und seines Vorderfahrzeugs α − 1 sowie (schattiert) die makroskopische Dichte. Diegeringsten Fehler werden gemacht, wenn man den Kehrwert des Bruttoabstands als Dichte an derStelle xα + dα/2 definiert

∂V

∂t+ V

∂V

∂x= Ve(ρ) − V

Δt+ V ′

e(ρ)

2ρΔt

∂ρ

∂x.

Mit der Identifikation Δt = τ entspricht dies dem Payne-Modell (9.15). DasNewell-Modell ist also immer angenähert äquivalent zum Payne-Modell. Gleich-zeitig ist es unter einschränkenden Bedingungen (gebundener Verkehr, dreieckigesFundamentaldiagramm) exakt äquivalent zum Section-Based-Modell.

Übungsaufgaben

10.1 Beschleunigen und Bremsen zwischen zwei LichtsignalanlagenDas Anfahren an einer grünen Ampel und das Anhalten an der nächsten roten Ampelsoll mit Hilfe eines Fahrzeugfolgemodells mit folgender Beschleunigungsgleichungmodelliert werden:

dv

dt={

v0−vτ

falls Δv ≤ √2b(s − s0),

−b sonst.

Hierbei ist s der Abstand zum nächsten Fahrzeug bzw. zur nächsten roten Ampelund Δv die entsprechende Geschwindigkeitsdifferenz.

L = 500 m

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152 10 Einfache Fahrzeugfolgemodelle

1. Was bedeuten die Modellparameter v0, τ , s0 und b? Wie sieht qualitativ dieBeschleunigungsphase und das Abbremsen vor der nächsten roten Ampel aus?Welche vor allem beim Anfahren wesentliche menschliche Eigenschaft wird indiesem Modell nicht berücksichtigt?

2. Die erste Ampel schaltet zum Zeitpunkt t = 0 auf Grün und das betrachteteFahrzeug fährt von der Position x = 0 los. Berechnen Sie Geschwindigkeit, Ortund Beschleunigung als Funktion der Zeit für zunächst allgemeine Werte von v0und τ unter der Bedingung, dass die zweite Ampel grün ist und bleibt.

3. Es sei nun s0 = 2 m und b = 2 m/s2 und die zweite Ampel sei rot. Das Fahrzeugnähert sich mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h der nächsten roten Ampel.Wieviele Meter vor dieser Ampel beginnt der Fahrer zu bremsen? Wie hoch istdie Bremsverzögerung? Wieviel Meter vor der Ampel kommt der Fahrer mit demFahrzeug zum Stehen?

4. Es sei nun außerdem v0 = 50 km/h und τ = 5 s. Geben Sie die Trajektorie undden gesamten Geschwindigkeitsverlauf des Autos für die 500 m lange Streckefür den Fall an, dass die zweite Ampel rot ist.Hinweis: Sie müssen zunächst den Ort und den Zeitpunkt der ersten Reaktion desFahrers auf die rote Ampel bestimmen. Nehmen Sie näherungsweise an, dass dasFahrzeug an diesem Ort die Wunschgeschwindigkeit bereits erreicht hat.

10.2 OVM-Beschleunigung auf freier StreckeBetrachten Sie ein einzelnes Fahrzeug, welches gemäß des Optimal-Velocity-Modells (OVM) auf leerer Strecke beschleunigt:

dv

dt= v0 − v

τ.

(i) Wann wird die maximale Beschleunigung erreicht? (ii) Bestimmen Sie τ füreine Wunschgeschwindigkeit von 120 km/h und eine Maximalbeschleunigung von2 m/s2. (iii) Nach welcher Zeit wird eine Geschwindigkeit von 100 km/h erreicht(Wunschgeschwindigkeit v0 = 120 km/h)?

10.3 Beschleunigen mit dem Optimal-Velocity-ModellAuf einer geschlossenen Kreisstrecke steht zur Zeit t = 0 eine Kolonne von Fahr-zeugen, wobei alle Fahrzeuge einen konstanten Nettoabstand von 20 m voneinanderhaben. Berechnen Sie für das OVM mit der OV-Funktion (10.19) die Geschwindig-keiten als Funktion der Zeit. Nehmen Sie τ = 1 s, eine Wunschgeschwindigkeit von72 km/h, einen Mindestabstand von 2 m und eine Folgezeit T = 1.8 s an.

10.4 Full-Velocity-Difference-ModellIm Stadt-Szenario (siehe Abb. 10.5) beschleunigen die mit dem FVDM modelliertenFahrzeuge nicht auf 54 km/h, obwohl dies die Wunschgeschwindigkeit ist. Was istdie Ursache dafür? Wie hoch ist die maximal erreichbare Geschwindigkeit, wenn inbeliebiger Entfernung eine durch ein stehendes virtuelles Fahrzeug modellierte roteLSA existiert? Berechnen Sie das Ergebnis allgemein und für die Parameterwertev0 = 54 km/h, τ = 5 s und γ = 0.6 s−1.

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Literaturhinweise 153

10.5 Einfaches Modell für eine NotbremsungKritische Situationen, die eine Notbremsung erfordern, können durch folgendesFahrverhaltensmodell beschrieben werden:

dv

dt={

0 falls t < Tr ,

−bmax sonst.

1. Geben Sie die anschauliche Bedeutung der Modellparameter Tr und bmax an.2. Es sei nun bmax = 8 m/s2 und Tr = 1 s. Berechnen Sie jeweils Anhalte- und

Bremsweg für eine anfängliche Geschwindigkeit von 50 km/h und 70 km/h.Hinweis: Der Anhalteweg setzt sich aus dem eigentlichen Bremsweg und derStrecke zusammen, welche das Fahrzeug während der Reaktionszeit fährt.

3. Ein Kind läuft plötzlich aus einer Parklücke vor das Auto. Der Fahrer schafft esbei der gefahrenden Geschwindigkeit von 50 km/h gerade noch anzuhalten. Mitwelcher Geschwindigkeit würde er es erfassen, wenn die Geschwindigkeit desFahrzeugs anfangs 70 km/h betrüge?

Literaturhinweise

Reuschel, A.: Fahrzeugbewegungen in der Kolonne. Österreichisches Ingenieur-Archiv 4, 193–215 (1950)

Pipes, L.A.: An operational analysis of traffic dynamics. J. Appl. Phys. 24, 274–281 (1953)Bando, M., Hasebe, K., Nakayama, A., Shibata, A., Sugiyama, Y.: Dynamical model of traffic

congestion and numerical simulation. Phys. Rev. E 51, 1035–1042 (1995)Jiang, R., Wu, Q., Zhu, Z.: Full velocity difference model for a car-following theory. Phys. Rev E

64, 017101 (2001)Newell, G.F.: A simplified car-following theory: a lower order model. Transp. Res. B Methodol.

36, 195–205 (2002)

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Kapitel 11Aus Fahrstrategien hergeleiteteFahrzeugfolgemodelle

Ideen sind wie Kinder: Die eigenen liebt man am meisten.

Lothar Schmidt

11.1 Modellkriterien

Die hier vorgestellten Modelle haben dieselbe mathematische Form wie die Mini-malmodelle (vgl. Kap. 10). Sie werden durch eine Beschleunigungsfunktion amic(Gl. (10.3)) oder eine Geschwindigkeitsfunktion vmic (Gl. (10.6)) beschrieben. DieBeschleunigungsfunktion sollte mindestens folgende Aspekte modellieren:

1. Beschleunigung auf die Wunschgeschwindigkeit v0, falls es keine Behinderun-gen durch andere Fahrzeuge gibt und auch andere Hindernisse hinreichend weitentfernt sind:

∂amic(s, v, vl)

∂v< 0, lim

s→∞ amic(s, v0, vl) = 0 für alle vl . (11.1)

2. Im gebundenen Verkehr sollte bei sonst gleichen Bedingungen die Beschleuni-gung abnehmen (bzw. die Bremsverzögerung zunehmen), je geringer der Ab-stand zum Vorderfahrzeug ist:

∂amic(s, v, vl)

∂s≥ 0, lim

s→∞∂amic(s, v, vl)

∂s= 0 für alle vl . (11.2)

Das Gleichheitszeichen der linken Ungleichung ist gültig, wenn andere Fahrzeu-ge so weit entfernt sind, dass sie das Fahrverhalten nicht beeinflussen.

3. Bei dynamischen Annäherungen sollte die Beschleunigung umso geringer (bzw.die Verzögerung umso stärker) sein, je höher bei sonst gleichen Bedingungen dieAnnäherungsrate an das Vorderfahrzeug ist bzw. je schneller dieses fährt:

∂ amic(s, v,Δv)

∂Δv≤ 0 bzw.

∂amic(s, v, vl)

∂vl≥ 0, lim

s→∞∂amic(s, v, vl)

∂vl= 0.

(11.3)

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_11, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

155

Page 161: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

156 11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle

Wieder gilt das Gleichheitszeichen für den Fall, dass keine Behinderungen auf-treten.

4. In einer Warteschlange sollte ein gewisser Mindestabstand s0 zum Vorderfahr-zeug gewahrt werden:

amic(s, 0, vl) = 0 für alle vl ≥ 0, s ≤ s0. (11.4)

Die Bedingungen an die Geschwindigkeitsfunktion vmic ergeben sich aus jenenfür die Beschleunigungsfunktion durch die aus Gl. (10.10) gewonnene Beziehungvmic = v + amicΔt .

Sind diese Bedingungen erfüllt, ist ein Fahrzeugfolgemodell vollständig in demSinne, dass prinzipiell alle in der Längsdynamik auftretenden Situationen konsistentmodelliert werden können. Insbesondere folgt daraus (i) die endliche Reichweitealler Wechselwirkungen, (ii) das Fehlen eines Mitzieheffekts,

amic(s, v, vl) ≤ amic(∞, v, 0) für alle vl (11.5)

und (iii) die Existenz einer Gleichgewichtsgeschwindigkeit1 ve(s), welche die be-reits für die OV-Funktion in Gl. (10.17) geforderten Bedingungen erfüllt (vgl.Übungsaufgabe 11.1):

v′e(s) ≥ 0, ve(0) = 0, lim

s→∞ ve(s) = v0. (11.6)

Diese Konsistenzbedingungen sind notwendig, jedoch nicht hinreichend. Beispiels-weise muss zusätzlich die Beschleunigung auf als komfortabel empfundene bzw.physikalisch mögliche Werte eingegrenzt werden. Bei dynamischen Annäherungenmüssen kinematische Tatsachen wie die quadratische Abhängigkeit des Brems-weges von der Geschwindigkeit berücksichtigt werden und ggf. vorausschauendBremsmanöver eingeleitet werden. Schließlich sollte das Modell zwar Instabili-täten und damit die Ausbildung von Stop-and-Go-Verkehr zulassen, jedoch keineUnfälle.2

Welche der im Kap. 10 vorgestellten Modelle erfüllen die Konsistenzbedin-gungen (11.1), (11.2), (11.3), und (11.4)?

1 Schwächt man Bedingung (11.1) auf ∂amic/∂v ≤ 0 ab, sind auch Modelle ohne Fundamental-diagramm möglich, die gelegentlich postuliert werden.2 Verkehrsflussmodelle stellen die normalen Verhältnisse dar. Unfälle sind fast immer durch grobeFahrfehler verursacht, die gerade nicht dem zu modellierenden Verhalten entsprechen, so dass sieaußerhalb des Beschreibungsbereiches der hier behandelten Modelle liegen.

Page 162: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

11.2 Gipps-Modell 157

11.2 Gipps-Modell

Die hier vorgestellte Version des Gipps-Modells ist gegenüber der Formulierungin der Originalarbeit vereinfacht, aber nicht konzeptionell geändert. Es ist ver-mutlich das einfachstmögliche, vollständige sowie unfallfreie Modell mit realisti-schen Werten der Beschleunigung (wenngleich auch nicht realistischem Beschleu-nigungsverhalten).

11.2.1 Sichere Geschwindigkeit

Die Bedingung der Unfallfreiheit ist mittels einer maximalen, von Abstand undGeschwindigkeit des Führungsfahrzeugs abhängigen „sicheren Geschwindigkeit“vsafe(s, vl) formuliert. Diese wird aus folgenden Annahmen hergeleitet:

1. Es wird mit einer konstanten Verzögerung b gebremst. Eine Unterscheidung zwi-schen komfortabler und maximaler Verzögerung gibt es nicht.

2. Es gibt eine konstante „Reaktionszeit“ Δt .3. Es wird der Worst Case betrachtet: Der Fahrer des Führungsfahrzeugs bremst un-

vermittelt und bis zum Stillstand. Unter dieser Bedingung soll Kollisionsfreiheitherrschen. Um ein Berühren „Stoßstange-an-Stoßstange“ zu vermeiden, sollteein Minimalabstand s0 nicht unterschritten werden.3

Unter den Bedingungen 1 und 3 beträgt der Bremsweg des Führungsfahrzeugs

Δxl = v2l

2b.

Beim betrachteten Fahrzeug muss neben dem Bremsweg auch der während derReaktionszeit zurückgelegte „Reaktionsweg“ berücksichtigt werden (Bedingung 2).Der resultierende Anhalteweg (Summe aus Reaktions- und Bremsweg) ist gegebendurch4

Δx = vΔt + v2

2b.

Das Fahrzeug kommt kollisionsfrei mit einem Mindestabstand s0 zum Stehen, fallsder anfängliche Abstand s größer ist als s0 zuzüglich der Differenz zwischen demeigenen Anhalteweg und dem Bremsweg des Führungsfahrzeugs,

3 Diese in der Originalarbeit nicht enthaltene Bedingung ist notwendig, um Unfallfreiheit auch beiDiskretisierungsfehlern zu gewährleisten.4 Hier ist, im Gegensatz zur Formulierung in der Originalarbeit, nicht berücksichtigt, dass sichwährend der Reaktionszeit die Geschwindigkeit ändern kann.

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158 11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle

s − s0 ≥ vΔt + v2

2b− v2

l

2b.

Für die gerade noch sichere Geschwindigkeit v = vsafe gilt das Gleichheitszeichen.Lösen der resultierenden quadratischen Gleichung ergibt

vsafe(s, vl) = −bΔt +√

b2Δt2 + v2l + 2b(s − s0). (11.7)

11.2.2 Modellgleichung

Die „sichere Geschwindigkeit“ (11.7) ist die wesentliche Komponente des als ite-rierte Abbildung formulierten, vereinfachten Gipps-Modells :

v(t + Δt) = min [v + aΔt, v0, vsafe(s, vl)] Gipps-Modell. (11.8)

Diese Aktualisierungsgleichung spiegelt folgendes Fahrverhalten wider:

• Falls die aktuelle Geschwindigkeit oberhalb der sicheren Geschwindigkeit liegt,wird auf diese im nächsten Schritt abgebremst.5 Der Aktualisierungszeitschrittwird dabei gleich der Reaktionszeit gewählt.

• Ansonsten wird mit einem konstanten Wert a beschleunigt, bis entweder die si-chere Geschwindigkeit oder die Wunschgeschwindigkeit v0 erreicht ist.

11.2.3 Fließgleichgewicht

Im Fließgleichgewicht gilt v(t + Δt) = vl = v und damit

v = min(v0, vsafe) = min(v0,−bΔt +

√b2Δt2 + v2 + 2b(s − s0)

).

Dies führt zur Gleichgewichts-Geschwindigkeitsfunktion

ve(s) = max

[0, min

(v0,

s − s0

Δt

)](11.9)

und mit der Fahrzeuglänge l zum bereits bekannten „dreieckigen“ Fundamentaldia-gramm

5 Dabei ist die Bremsverzögerung (v − vsafe)/Δt nicht auf b begrenzt. Sie kann, beispielsweisenach Einscheren eines anderen Fahrzeuges (passiver Spurwechsel), auch deutlich höher sein. OhneSpurwechsel kann eine solche Situation nicht auftreten.

Page 164: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

11.2 Gipps-Modell 159

Qe(ρ) = min

(v0ρ,

1 − ρ(l + s0)

Δt

). (11.10)

Daraus folgt, dass der Parameter Δt wie im Newell-Modell vierfach interpretiertwerden kann: (i) als Reaktionszeit gemäß der Herleitung von vsafe, (ii) als nu-merische Aktualisierungszeit oder (iii) als Geschwindigkeitsanpassungszeit jeweilsnach Gl. (11.8) und schließlich (iv) als Folgezeit im gebundenen Verkehr nach demFundamentaldiagramm (11.9).

11.2.4 Eigenschaften

Im Gegensatz zu den im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Minimalmodellenhat das Gipps-Modell eine nachvollziehbare Herleitung aus wenigen Grundannah-men und anschauliche Parameter, die auch die richtige Größenordnung besitzen(Tabelle 11.1). Ferner ist das Modell – anders als die Minimalmodelle – robust indem Sinne, dass es in einem weiten Parameterbereich mit sinnvollen Ergebnissensimuliert werden kann.

Das simulierte Autobahn-Szenario (Abb. 11.1 links) stellt eine deutlich realitäts-nähere Dynamik als das OVM oder das Newell-Modell dar: Das Geschwindigkeits-feld, Teilbild (a), zeigt kleine Störungen, die durch Spurwechsel bei der Einfahrtentstehen und im Verlauf ihrer Ausbreitung entgegen der Fahrtrichtung zu Stop-and-Go-Wellen anwachsen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit ist konstant und vonder Größenordnung (etwa −15 km/h) in Einklang mit den Beobachtungen. Fernerweicht die Wellenlänge (etwa 1–1.5 km) nicht zu stark von den Beobachtungen (et-wa 1.5–3 km) ab.

Das aus den virtuellen Detektoren erzeugte Fluss-Dichte-Diagramm, Teilbild (b),weist im gebundenen Verkehr die im realen Verkehr beobachtete weite Streu-ung auf (vgl. hierzu Abb. 4.11 und 4.12). Betrachtet man die Punktewolken ver-schiedener virtueller Detektoren, beobachtet man eine deutliche Verschiebung desSchwerpunktes der Punktewolken in Richtung höherer Dichte und in Richtung desFundamentaldiagramms, je näher der virtuelle Detektor an der stauverursachendenEngstelle liegt. Nur im Bereich des stationären Verkehrsflusses (gefüllte Quadrat-symbole in Teilbild (b)) liegen die Daten nahezu auf dem Fundamentaldiagrammdes Gipps-Modells (obere Begrenzung der Daten). Diese offensichtliche Dichteer-höhung nahe des Stau-Ausflusses wird häufig in realen Daten beobachtet und als

Tabelle 11.1 Modellparameter des vereinfachten Gipps-Modells

Parameter Typ. Wert Autobahn Typ. Wert Stadtverkehr

Wunschgeschwindigkeit v0 120 km/h 54 km/hAnpassungs-/Reaktionszeit Δt 1.1 s 1.1 sBeschleunigung a 1.5 m/s2 1.5 m/s2

Verzögerung b 1.0 m/s2 1.0 m/s2

Minimalabstand s0 3 m 2 m

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160 11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle

0

10

20

30

0 30 60 90 120 150

Abs

tand

(m

)

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

0

20

40

60

80

100

120

140

V (km/h)

0 30 60 90

Zeit (min)

–8

–6

–4

–2

0

2

Abs

tand

von

der

Zuf

ahrt

(km

)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

–7 km–5 km–3 km–1 km

(b)

(c)

(a)

0 10 20 30 40 50

0 30 60 90 120 150

Ges

chw

. (km

/h)

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

(d)

–1

0

1

2

0 30 60 90 120 150B

esch

l. (m

/s2 )

Zeit (s)

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

(e)

Abb. 11.1 Simulation der beiden Standardszenarien „Autobahn“ (links) und „Stadtverkehr“(rechts) mit dem Gipps-Modell (Gln. (11.8) und (11.7)) unter Verwendung der Parameter ausTabelle 11.1

Pinch-Effekt (engl. to pinch: einzwängen) bezeichnet. Die mit der Schwankungs-breite zunehmende systematische Unterschätzung der Dichte legt jedoch nahe, dassdie tatsächliche Dichtezunahme geringer ist oder gar nicht stattfindet. Dies wirddurch die Simulation bestätigt. Daraus folgt eine wichtige Aussage:

Um dynamische Phänomene des Verkehrsflusses zu verstehen, muss mannicht nur die Verkehrsdynamik, sondern auch die Datenerfassung und -auswertung simulieren. Das gilt auch umgekehrt, wenn man die Leistungs-fähigkeit und Aussagekraft von Modellen anhand von realen Verkehrsdatenbestimmen will.

Das städtische LSA-Szenario ist deutlich näher an der Wirklichkeit als bei denbisher betrachteten Modellen. Allerdings ist der Beschleunigungsverlauf unrea-listisch. Zwar liegen die durch die Parameter a und b einstellbaren Werte vonBeschleunigung und Verzögerung im realistischen Bereich. Es gibt aber, wie imTeilbild (e) veranschaulicht, für sämtliche Fahrsituationen nur drei mögliche Be-schleunigungen: v = a, b, oder Null. Das Fahrverhalten ist also übertrieben sche-matisch und die „roboterhaft“ abrupten Übergänge sind unrealistisch.

Das Gipps-Modell unterscheidet nicht zwischen komfortabler und maximal mög-licher Verzögerung. Interpretiert man den Parameter b in Formel (11.7) für die si-chere Geschwindigkeit als maximale Verzögerung, ist das Modell immer unfallfrei,aber es wird immer maximal, d.h. sehr unkomfortabel verzögert. Interpretiert man b

Page 166: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

11.3 Intelligent-Driver-Modell 161

hingegen als komfortable Verzögerung, kann das Modell bei heterogenem Verkehrdoch wieder Unfälle produzieren, wenn (mit anderen Modellen oder Parameternsimulierte) Vorderfahrzeuge stärker bremsen.

In Anbetracht seiner Einfachheit zeigt das Gipps-Modell gute Ergebnisse. Eswird in abgewandelter Form in vielen Simulatoren eingesetzt.

11.3 Intelligent-Driver-Modell

Das zeitkontinuierliche Intelligent-Driver-Model (IDM) ist vermutlich das einfach-ste, vollständige und unfallfreie Modell, welches in allen Verkehrssituationen rea-listische Beschleunigungswerte und ein zumindest plausibles Beschleunigungsver-halten modelliert.

11.3.1 Geforderte Eigenschaften

Als ein typischer Vertreter eines aus Grundannahmen hergeleiteten Modells (First-Principles-Modells) ist das IDM im Wesentlichen durch folgende Liste von zu mo-dellierenden Eigenschaften bestimmt:

1. Die Beschleunigung gehorcht den allgemeinen Plausibilitätsbedingungen (11.1),(11.2), (11.3), und (11.4).

2. Der Gleichgewichtsabstand bei der Folgefahrt sollte einen durch einen Min-destabstand s0 und eine Zeitlücke T definierten „Sicherheitsabstand“ s0 + vTnicht unterschreiten.

3. Die Annäherung an langsame oder stehende Fahrzeuge bzw. Hindernisse ge-schieht mit einer kollisionsvermeidenden intelligenten Bremsstrategie:

• Ist die Situation „unter Kontrolle“, wird „weich“ gebremst, wobei eine gewis-se komfortable Verzögerung allmählich aufgebaut und kurz vor dem Stillstandwieder abgebaut wird.

• Ist die Situation kritisch, wird stärker als mit der komfortablen Verzögerunggebremst und so die Situation wieder unter Kontrolle gebracht. Danach wirdggf. mit der komfortablen Verzögerung weiter abgebremst.

4. Bei der Folgefahrt und beim Annähern sollte es sanfte Übergänge geben. Der alsZeitableitung der Beschleunigung definierte Ruck J (engl. Jerk) sollte daher end-lich bleiben.6 Dies entspricht einer nach allen Variablen stetig differenzierbarenBeschleunigungsfunktion amic(s, v, vl) bzw. amic(s, v,Δv).

5. Das Modell sollte möglichst einfach sein und anschauliche Modellparameter be-sitzen. Jeder Parameter sollte möglichst nur einen Aspekt des Fahrverhaltensbeschreiben und plausible Werte annehmen.

6 Typische Werte für eine als angenehm empfundene Ruckbegrenzung liegen bei |J | ≤ 1.5 m/s3.

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162 11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle

11.3.2 Modellgleichung und mathematische Beschreibung

Die geforderten Eigenschaften werden durch folgende Beschleunigungsgleichungerfüllt:

v = a

[1 −

(v

v0

−(

s∗(v,Δv)

s

)2]

IDM. (11.11)

Die IDM-Beschleunigung ist in der Form amic(s, v,Δv) formuliert. Einerseits wirddie aktuelle Geschwindigkeit v mit der Wunschgeschwindigkeit v0 und andererseitsder aktuelle Abstand s mit dem Wunschabstand s∗ verglichen. Der Wunschabstand

s∗(v,Δv) = s0 + max

(0, vT + vΔv

2√

ab

)(11.12)

enthält neben dem Gleichgewichtsanteil s0 + vT auch einen dynamischen An-teil vΔv/(2

√ab), der die „intelligente“ Bremsstrategie realisiert (siehe Ab-

schn. 11.3.4).

11.3.3 Modellparameter

Die Modellparameter können anhand folgender drei Standardsituationen veran-schaulicht werden: (i) Das Beschleunigen auf freier Strecke geschieht mit der Ma-ximalbeschleunigung a, die beim Annähern an die Wunschgeschwindigkeit v0 ineiner durch δ beschriebenen Weise gegen Null geht. Je größer δ ist, desto späterwird die Beschleunigung reduziert. (ii) Das Folgefahren geschieht mit einem durchdie Folgezeit T charakterisierten Abstand zuzüglich eines Minimalabstandes s0 beistehendem Verkehr. (iii) Beim Annähern an langsamere oder stehende Fahrzeugewird in Normalsituationen die komfortable Verzögerung b nicht überschritten. Zwi-schen den drei Situationen bestehen im Beschleunigungsverhalten kontinuierlicheÜbergänge.

Jeder Modellparameter beschreibt eine klar abgrenzbare Eigenschaft (Abb. 11.2).Beispielsweise kann man deshalb den Übergang von einer Autobahn- zu einer Stadt-situation allein durch Änderung der Wunschgeschwindigkeit beschreiben (Tabel-le 11.2). Die restlichen, den Fahrstil charakterisierenden Parameter bleiben unver-ändert. Damit wird modelliert, dass ein auf Autobahnen aggressiv oder vorsichtigagierender Autofahrer seinen Fahrstil im Stadtverkehr vermutlich nicht ändern wird.

Das IDM enthält keine explizite Reaktionszeit. Zusammen mit der stetig diffe-renzierbaren Beschleunigungsfunktion entspricht es eher den Eigenschaften einesadaptiven Beschleunigungsreglers (Adaptive Cruise Control, ACC) als denen ei-nes menschlichen Fahrers. Es kann zusätzlich um spezifisch menschliche Aspektewie Schätzfehler, Reaktionszeiten, aber auch um Berücksichtigung mehrerer Vor-derfahrzeuge erweitert werden (siehe Kap. 12).

Page 168: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

11.3 Intelligent-Driver-Modell 163

Abb. 11.2 Mit anschaulichen Modellparametern wie jenen des Gipps-Modells oder desIntelligent-Driver-Modells (IDM) kann man verschiedene Aspekte des Fahrstils (und der Lei-stungsgrenzen des Fahrzeugs) direkt durch unterschiedliche Parameterwerte abbilden

Tabelle 11.2 Modellparameter des Intelligent-Driver-Modells (IDM)

Parameter Typ. Wert Autobahn Typ. Wert Stadtverkehr

Wunschgeschwindigkeit v0 120 km/h 54 km/hFolgezeit T 1.0 s 1.0 sMinimalabstand s0 2 m 2 mBeschleunigungsexponent δ 4 4Beschleunigung a 1.0 m/s2 1.0 m/s2

Verzögerung b 1.5 m/s2 1.5 m/s2

Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Modellen sind im IDM die Folgezeit T ,die Geschwindigkeitsanpassungszeit v0/a und die (nur in der später beschriebenenModellerweiterung vorhandene) Reaktionszeit klar voneinander getrennt. Dadurchkann man den Unterschied zwischen ACC-Reglern und menschlichen Fahrern imModell nachvollziehen. Weiterhin können die Fahrstilkombinationen „eher träge,aber dennoch dicht auffahrend“ und „agil, aber auf ausreichenden Sicherheitsab-stand achtend“ unterschieden werden.7

11.3.4 Intelligente Bremsstrategie

Das dynamische Annäherungsverhalten wird durch den Beitrag vΔv/(2√

ab) desdynamischen Wunschabstandes (11.12) modelliert. Aufgrund der geforderten kon-

7 Offensichtlich fördert der erste, durch kleine Werte von a und T beschriebene Fahrstil Verkehrs-instabilitäten. Dies wird durch die Stabilitätsanalyse in Kap. 15 bestätigt.

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164 11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle

tinuierlichen Übergänge ist allerdings immer auch der Gleichgewichtsanteil s0 +vTwirksam. Um die Bremsstrategie isoliert zu betrachten, setzt man den Gleichge-wichtsanteil gleich Null und lässt den auf freier Strecke wirkenden Beschleuni-gungsanteil aF(v) = a[1 − (v/v0)

δ] unberücksichtigt. Ferner betrachtet man bei-spielsweise eine Annäherung an ein stehendes Fahrzeug oder eine rote Ampel, alsoΔv = v. Unter diesen Bedingungen ist die IDM-Beschleunigung gegeben durch

v = −a

(s∗

s

)2

= −av2(Δv)2

4abs2= −

(v2

2s

)21

b.

Definiert man die kinematische Verzögerung durch

bkin = v2

2s, (11.13)

ergibt sich die IDM-Beschleunigung dieses Spezialfalls zu

v = −b2kin

b. (11.14)

Bei einem Abbremsvorgang mit der Verzögerung bkin ist der Bremsweg gleichdem aktuellen Abstand. Die kinematische Verzögerung stellt also die zur Kollisi-onsvermeidung mindestens notwendige Verzögerung dar. Damit erschließt sich ausGl. (11.14) die selbstregulierende Bremsstrategie des IDM:

• Eine „kritische Situation“ ist dadurch charakterisiert, dass die kinematischeVerzögerung größere Werte annimmt als die komfortable Verzögerung b.

• Ist die Situation kritisch, wird noch etwas stärker als mit der kinematischen Ver-zögerung gebremst: |v| = b2

kin/b > bkin. Damit wird die kinematische Verzö-gerung in Richtung der komfortablen Verzögerung reduziert, also die Situation„unter Kontrolle“ gebracht.

• Ist die Situation unkritisch und ein Bremsen noch gar nicht notwendig, bkin < b,ist die aktuelle Verzögerung b2

kin/b < bkin noch geringer. Dadurch steigt bkin inRichtung der komfortablen Verzögerung.

Das Abbremsverhalten ist also dynamisch selbstregulierend im Hinblick auf eineSituation, bei der die kinematische Verzögerung gleich der komfortablen Verzöge-rung ist. Man kann zeigen (siehe Übungsaufgabe 11.4), dass diese Selbstregulierungexplizit durch die Differentialgleichung

dbkin

dt= v bkin

s b

(b − bkin

)(11.15)

gegeben ist. Die kinematische Verzögerung nähert sich daher unabhängig von derSituation der komfortablen Verzögerung b.

Page 170: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

11.3 Intelligent-Driver-Modell 165

Bei diesen Überlegungen wurden Teile der IDM-Beschleunigung nicht berück-sichtigt. Die Simulation in Abb. 11.4e zeigt anhand einer Annäherung an ein anfangsweit entfernt stehendes Hindernis (bkin � b) die komplette Dynamik. Zunächstwird die Verzögerung gemäß Gl. (11.15) annähernd auf die komfortable Verzö-gerung aufgebaut. Aufgrund des konservativen Charakters der anderen, in dieserÜberlegung vernachlässigten Beschleunigungsanteile wird diese Verzögerung beimersten Fahrzeug nicht ganz erreicht und die Verzögerung vor dem Stillstand sanftabgebaut. Das Fahrzeug kommt „auf den Punkt“ im Abstand s = s0 zum Stehen.Bei den weiteren Fahrzeugen der Kolonne wird die komfortable Verzögerung etwasüberschritten. Es kommt aber nie zu Notbremsungen oder gar Unfällen.

Abbildung 11.3 zeigt den Effekt der selbstregulierenden Bremsstrategie anhandeiner Situation, bei der plötzlich gebremst werden muss. Für b = 1 m/s2 ist dieSituation für den IDM-Fahrer bereits „kritisch“, da bkin = v2/(2s) = 1.9 m/s2,so dass er mit noch stärkerer Verzögerung versucht, die Situation unter Kontrollezu bekommen. Für b = 4 m/s2 hingegen ist die komfortable Verzögerung weitoberhalb der anfangs kinematisch notwendigen. Der simulierte Fahrer bremst an-fangs deutlich schwächer, als es bkin entspricht, so dass bkin zunächst deutlich steigt.Wieder bewirken die anderen IDM-Terme, dass die Wunschverzögerung nicht ganzerreicht wird.

Warum verhalten sich durch das IDM modellierte Fahrer umso vorausschau-ender, je kleiner b ist? Warum sind sehr kleine Werte von b (unterhalb von1 m/s2) dennoch nicht sinnvoll?

Machen Sie sich klar, dass in der beschriebenen Annäherungssituation derdurch den dynamischen Teil von s∗ vermittelte Beschleunigungsanteil we-sentlich größer ist als der aller anderen Anteile und dass außerdem diese An-teile fast immer negativ sind, also ein defensives Fahrverhalten modellieren.

–5

–4

–3

–2

–1

0

0 2 4 6 8 10 12

Bes

chl.

(m/s

2 )

Zeit (s)

b=1 m/s2

b=2 m/s2

b=4 m/s2

Abb. 11.3 Auswirkung der komfortablen Verzögerung auf das Verhalten bei Annäherung (An-fangsgeschwindigkeit 54 km/h) an eine LSA, die bei einem Abstand von 60 m zur Haltelinie aufrot schaltet

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166 11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle

11.3.5 Dynamische Eigenschaften

Abbildung 11.4 zeigt die IDM-Simulationen der beiden Standardszenarien „Ver-kehrszusammenbruch auf einer Autobahn mit einer Zufahrt als Engstelle“ und „Be-schleunigen und Anhalten im Stadtverkehr“. Das Geschwindigkeitsfeld des Auto-bahnszenarios (Teilbild (a)) zeigt eine ähnliche Dynamik wie das Gipps-Modellin Abb. 11.1: Nach dem Zusammenbruch entsteht nahe der Engstelle stationärergestauter Verkehr. Weiter stromaufwärts kommt es zu Stauwellen, die sich mitetwa −15 km/h ausbreiten. Die Wellenlänge ist tendenziell kleiner als die realerStauwellen, ansonsten wird die raumzeitliche Dynamik gut reproduziert. Die sichvergrößernden Stauwellen sind die Folge einer simulierten Verkehrsinstabilität. Jenach Parameter und Verkehrsdichte ist das IDM instabil gegenüber Stauwellen (ko-lonneninstabil, siehe Kap. 15) oder absolut stabil. Außer bei extrem unrealistischenParameterwerten kommt es jedoch nie zu Unfällen.

Das Fluss-Dichte-Diagramm der virtuellen Detektorquerschnitte in Teilbild (b)zeigt die typischen Merkmale realer Fluss-Dichte-Daten (vgl. Kap. 4):

• Bei freiem Verkehr liegen die Daten nahezu auf einer Kurve, während die gebun-denem Verkehr zuzuordnenden Datenpunkte über einen weiten zweidimensiona-len Fluss-Dichte-Bereich streuen.

• Die Fluss-Dichte-Punkte des freien Verkehrs liegen nicht auf einer Geraden, son-dern auf einer nahe des Flussmaximums stärker gekrümmten Kurve.

• Die Punkte nahe des Flussmaximums sind in Form eines gespiegelten griechi-schen λ (inverse-λ-Form) angeordnet. Dies bedeutet, dass in einem gewissen

0

10

20

30

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

Abs

tand

(m

)

0

20

40

60

80

100

120

140V (km/h)

0 30 60 90

Zeit (min)

–8

–6

–4

–2

0

2

Abs

tand

von

der

Zuf

ahrt

(km

)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

(b)

(c)

(a)

0 10 20 30 40 50

Ges

chw

. (km

/h)

(d)

–2

–3

–1

0

1

Bes

chl.

(m/s

2 )

Zeit (s)

(e)

–7 km–5 km–3 km–1 km

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Abb. 11.4 Simulation der beiden Standardszenarien „Autobahn“ (links) und „Stadtverkehr“(rechts) mit dem Intelligent-Driver-Modell (11.11) unter Verwendung der Parameter ausTabelle 11.2

Page 172: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

11.3 Intelligent-Driver-Modell 167

Dichtebereich (hier von etwa 18 bis 25 Fz/km) sowohl freier, als auch gebundenerVerkehr möglich ist. Damit zeigt das IDM die in der Realität beobachtete Bi-stabilität und daraus resultierende Hysterese-Effekte wie einen Kapazitätsabfall(capacity-drop). Er beträgt hier etwa 300 Fz/h bzw. 15%.

Der Vergleich mit realen Daten in Abb. 11.5 zeigt eine nahezu quantitative Über-einstimmung im Fluss-Dichte-, Geschwindigkeits-Dichte- und Geschwindigkeits-Fluss-Diagramm. Im Gegensatz zum Gipps-Modell wird auch die Krümmung derjeweils freien Zweige richtig wiedergegeben. Damit ist das IDM geeignet, die Her-kunft der kontrovers diskutierten ausgeprägten Streuung der Fluss-Dichte-Daten zuhinterfragen. Ein Vergleich mit der in der Simulation natürlich verfügbaren echtenDichte in Abb. 11.5b zeigt, wie vorsichtig man bei der Interpretation der Fluss-Dichte-Daten sein muss.8

Die Simulation des Stadtszenarios, Abb. 11.4c–e, zeigt einen realistischen glat-ten Beschleunigungs- und Verzögerungsverlauf. Allerdings tritt beim Folgeverhal-ten nahe der Wunschgeschwindigkeit eine etwas unrealistische Situation auf: Die

0

50

100

150

0 10 20 30 40 50 60 70

V (

km/h

)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 10 20 30 40 50 60 70

Q (

Fz/

h)

ρ (Fz/km) ρ (Fz/km)

ρ (Fz/km)

DatenIDM

0

50

100

150

0 500 1000 1500 2000 2500

V (

km/h

)

Q (Fz/h)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 30 60 90 120

Q (

Fz/

h)

DatenIDM, Ground Truth

(b)(a)

(c) (d)

DatenIDM

DatenIDM

Abb. 11.5 (a) Fundamentaldiagramm, (c) Geschwindigkeits-Dichte-Diagramm und(d) Geschwindigkeits-Fluss-Diagramm eines virtuellen Detektors der in Abb. 11.4 gezeigtenAutobahnsimulation (1 km stromaufwärts der Rampe) im Vergleich mit Daten eines realen Quer-schnitts auf der A5 in der Nähe von Frankfurt. Sowohl bei den Daten als auch in der Simulationwurden arithmetische Geschwindigkeitsmittel zugrundegelegt. (b) Fluss-Dichte-Diagramm desIDM unter Verwendung der echten (lokalen) Dichte

8 Selbst die Streuung der Daten gestauten Verkehrs als solche ist eine Frage der Darstellung: Wäh-rend bei der Fluss-Dichte-Darstellung nur die Daten gestauten Verkehrs weit gestreut erscheinen,streuen im Geschwindigkeits-Fluss-Diagramm 11.5d die zu freiem Verkehr gehörigen empirischenDatenpunkte etwa gleich stark wie die gestauten Verkehrs, obwohl es sich in beiden Darstellungenum dieselben Daten handelt.

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168 11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle

hinteren Fahrzeuge erreichen nicht die Wunschgeschwindigkeit und demnach ver-größert sich ihr Abstand bis zum Beginn der Bremsphase immer weiter. Dies liegtdaran, dass aufgrund der kontinuierlichen Beschleunigungsfunktion der (immer inRichtung Verzögerung wirkende) Einfluss des Vorderfahrzeugs oberhalb des nomi-nellen Wunschabstandes s∗(v, 0) = s0 + vT nicht schlagartig auf Null geht. Des-halb wird der tatsächliche Gleichgewichtsabstand nahe der Wunschgeschwindigkeitdeutlich größer. Dies wird im nächsten Unterabschnitt weiter untersucht und imAbschn. 11.3.7 wird eine Lösung vorgeschlagen.

11.3.6 Fließgleichgewicht

Für das Fließgleichgewicht v = Δv = 0 erhält man aus der IDM-Beschleunigungs-Gl. (11.11) die Bedingung

1 −(

v

v0

−(

s0 + vT

s

)2

= 0.

Für allgemeine Werte des Beschleunigungsexponenten δ lässt sich dieser Ausdrucknur nach s auflösen (vgl. Abb. 11.6),

s = se(v) = s0 + vT√

1 −(

v

v0

)δ. (11.16)

Man erhält das Fließgleichgewicht als Gleichgewichts-Nettoabstand se(v) mit derGeschwindigkeit als unabhängige Variable anstelle einer Gleichgewichtsgeschwin-digkeit ve(s) in Abhängigkeit des Abstandes. Mit der Mikro-Makro-Beziehung(10.15), se = 1

ρe− l, v = V und Qe = ρeV , bekommt man das in Abb. 11.6

dargestellte Geschwindigkeits-Dichte- sowie das Fundamentaldiagramm.Zu beachten ist, dass wegen des kontinuierlichen Übergangs des Fahrzustands

„Folgefahrt“ in den Zustand „freie Fahrt“ der Gleichgewichtsabstand se(v) nichtdurch s∗(v, 0) = s0 + vT gegeben ist. Vielmehr ist er wegen des Nenners in

0 20 40 60 80

100 120

0 10 20 30 40 50 60 70

v e (

km/h

)

Abstand s (m)

AutobahnStadtverkehr

AutobahnStadtverkehr

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60 80 100 120 140

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

Abb. 11.6 Mikroskopisches (links) bzw. makroskopisches Fundamentaldiagramm (rechts) desIDM mit den zwei Parametersätzen der Tabelle 11.2

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11.3 Intelligent-Driver-Modell 169

Gl. (11.16) in der Nähe der Wunschgeschwindigkeit wesentlich höher. Daher istdas Fundamentaldiagramm auch nicht dreieckig, sondern in der Spitze abgerundet.Dies führt zu der beobachteten Krümmung der makroskopischen Geschwindigkeits-Dichte- und der Fluss-Dichte-Diagramme (Abb. 11.5), aber bei identischen Fahr-stilen und Fahrzeugen nahe der Wunschgeschwindigkeit auch zu unrealistischemFolgeverhalten.

11.3.7 Verbesserte Beschleunigungsfunktion

In diesen Abschnitt wird ein mögliches Vorgehen bei der Modellentwicklung ge-zeigt. Die Zielsetzung ist, das in den Abb. 11.4c, d dargestellte unbefriedigendeAbstandsverhalten nahe der Wunschgeschwindigkeit zu verbessern. Die Aufgaben-stellung erfordert eine Verschärfung des zweiten Punktes der Anforderungsliste desAbschn. 11.3.1: Der Gleichgewichtsabstand se(v) = s∗(v, 0) soll für v < v0 exaktdurch s0 +vT gegeben sein. Um die gewünschten und sinnvollen Eigenschaften desIDM, insbesondere bei Annäherungsvorgängen, nicht zu beeinträchtigen, sollte dieModifikation nur in der Nähe des Gleichgewichts und gleichzeitig nahe der Wunsch-geschwindigkeit eine merkliche Auswirkung haben. Hingegen sollte die Beschleu-nigungsfunktion für die Fälle v � v0 sowie für z(s, v,Δv) := s∗(v,Δv)/s � 1und z � 1 weitgehend unverändert bleiben.

Dies kann durch eine Fallunterscheidung zwischen z < 1 (der tatsächliche Ab-stand ist größer als der dynamische Wunschabstand) und z ≥ 1 realisiert werden.Die neue Bedingung fordert amic = 0 für alle Kombinationen der unabhängigenVariablen, für die z(s, v,Δv) = 1 und außerdem v < v0 ist. Die übrigen Bedingun-gen der „Anforderungsliste“, insbesondere die stetige Differenzierbarkeit nach allenVariablen sowie die Bedingungen (11.1), (11.2), (11.3), und (11.4), erfordern an derÜbergangsstelle z = 1 stetige Differenzierbarkeit bezüglich z mit ∂ amic/∂z < 0 undaußerdem amic < 0 für z > 1. Vermutlich die einfachste Beschleunigungsfunktion,die alle diese Bedingungen erfüllt, ist gegeben durch

dv

dt=⎧⎨

a(1 − z2) z = s∗s ≥ 1,

aF

(1 − z

2aaF

)sonst,

(11.17)

mit der freien IDM-Beschleunigung

aF(v) = lims→∞ aIDM(s, v,Δv) = a

[1 −

(v

v0

)δ]

. (11.18)

Dieses Improved-Intelligent-Driver-Modell (IIDM) hat denselben Satz von Modell-parametern wie das IDM und, abgesehen vom Folgeverhalten nahe der Wunsch-geschwindigkeit, die gleichen dynamischen Eigenschaften. Die Wiederholung derSimulation des Stadt-Szenarios mit diesem IIDM ergibt das gewünschte Verhal-

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170 11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle

ten: Alle Fahrzeuge der Kolonne erreichen die Wunschgeschwindigkeit (Abb. 11.7links). Die anderen Eigenschaften des IDM, insbesondere die selbststabilisierendeBremsstrategie und die Bedeutung der komfortablen Verzögerung, bleiben hingegenqualitativ unverändert (Abb. 11.7 rechts).

Allerdings ist das Fundamentaldiagramm nun exakt dreieckig. Eine Simulati-on des Autobahn-Szenarios ergibt deshalb für freien Verkehr keine Krümmungdes Schwerpunktverlaufes der Punktewolken im Fluss-Dichte-, Geschwindigkeits-Fluss- und Geschwindigkeits-Dichte-Diagramm – im Gegensatz zu den Daten unddem ursprünglichen IDM (vgl. Abb. 11.5). Woher eine solche Krümmung ander-weitig stammen kann, wird in Aufgabe 11.6 diskutiert.

0 10 20 30 40 50

0 30 60 90 120 150

Ges

chw

. (km

/h)

Zeit (s)

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

–4

–3

–2

–1

0

0 2 4 6 8 10 12

Bes

chl.

(m/s

2 )

Zeit (s)

b = 1 m/s2

b = 2 m/s2

b = 4 m/s2

Abb. 11.7 Simulation des Stadt-Szenarios (links) und der in Abb. 11.3 gezeigten Situation mitdem IIDM bei unveränderten Parametern

Übungsaufgaben

11.1 Bedingungen an das mikroskopische FundamentaldiagrammLeiten Sie aus den Konsistenzbedingungen (11.1), (11.2), (11.3), und (11.4) dieBedingungen (11.6) an das mikroskopische Fundamentaldiagramm her.

11.2 Faustregeln für Abstand und Bremsweg

1. Welcher Folgezeit T entspricht die Fahrschulregel „Abstand (in m) gleich halberTacho (in km/h)“?

2. Interpretieren Sie auch die amerikanische Regel „For every five miles per houryou drive faster, add a car length to your safety gap“. Teilweise wird diese Regelauch mit ten miles per hour zitiert.

3. Eine Faustformel für den Bremsweg zum Stillstand (ohne Reaktionszeit) lautet„Tachowert quadrieren und durch 100 teilen“. Welcher Bremsverzögerung ent-spricht dies?

11.3 Reaktion auf einscherende FahrzeugeDurch Fahrstreifenwechsel eines anderen Fahrzeugs (Geschwindigkeit gleich derbisherigen Gleichgewichtsgeschwindigkeit) wird der Gleichgewichtsabstand kurz-fristig um 50% unterschritten. Bestimmen Sie die gemäß dem vereinfachten Gipps-Modell (mit δt = 1 s, b = 2 m/s2) und dem IDM die daraus resultierende Brems-verzögerung, falls a = 1 m/s2, Δ = 4 und alle beteiligten Fahrzeuge mit kon-stanter Geschwindigkeit v = v0/2 = 72 km/h fahren. Weitere Parameter desGipps-Modells oder des IDM werden nicht benötigt.

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11.3 Intelligent-Driver-Modell 171

11.4 IDM-BremsstrategieLeiten Sie für die Annäherungssituation an ein stehendes Hindernis (Δv = v) un-ter isolierter Betrachtung des dynamischen IDM-Bremsanteils v = −b2

kin/b dieGl. (11.15) der selbstregulierenden Bremsstrategie her. Berücksichtigen Sie die im-mer gültige Beziehung s = −Δv.

11.5 Analyse eines MikromodellsGegeben ist ein Fahrzeugfolgemodell, das durch folgende Beschleunigungsglei-chung beschrieben wird:

dv

dt=⎧⎨

a falls v < min(v0, vsafe),

0 falls v = min(v0, vsafe),

−a sonst,vsafe = −aT +

√a2T 2 + v2

l + 2a(s − s0).

Hierbei bedeuten vl die Geschwindigkeit des Vorderfahrzeugs und s der Stoßstange-zu-Stoßstange-Abstand zu diesem.

1. Erläutern Sie die Bedeutung der Modellparameter a, s0, v0 und T , indem Sie(i) die Beschleunigung bei freier Strecke, (ii) das Folgeverhalten bei gleich-bleibendem Abstand und konstanter Geschwindigkeit, (iii) das Abbremsen voreinem einzelnen stehenden Fahrzeug betrachten.

2. Es sei nun v0 = 20 m/s, a = 1 m/s2, T = 1.6 s und s0 = 3 m. Bestimmen Siedie Gleichgewichtsgeschwindigkeit ve(s) als Funktion des Abstandes sowie dasFundamentaldiagramm für 5 m lange Fahrzeuge. Zeichnen Sie das Fundamen-taldiagramm.

3. Nehmen Sie nun v0 = 20 m/s, a = 1 m/s2, T = 0 und s0 = 3 m an. Bestim-men Sie die Geschwindigkeit als Funktion der Zeit für ein zur Zeit t = 0 amOrt x = 0 aus dem Stillstand anfahrendes Fahrzeug, welches vor einer rotenAmpel bei x = 603 m wieder anhalten muss. Hinweis: Die Ampel wird durchein stehendes, „virtuelles“ Fahrzeug modelliert; im Verlauf der Fahrt wird dieWunschgeschwindigkeit erreicht.

11.6 Heterogener VerkehrDas modifizierte IDM mit exakt dreieckigem Fundamentaldiagramm führt bei derSimulation identischer Fahrzeuge nicht zu der in den Daten (Abb. 11.5) beobach-teten Absenkung der Geschwindigkeit bereits vor dem Verkehrszusammenbruch.Kann dieser Effekt durch die Kombination von unterschiedlichen Wunschgeschwin-digkeiten und einer Möglichkeit zum Überholen erreicht werden?

11.7 Stadtverker mit dem modifizierten IDMGegeben sind die Simulationsergebnisse einer Stadtsituation mit zwei Lichtsignal-anlagen (LSA), in der mehrere wartende Fahrzeuge nach Grünwerden der erstenLSA zur zweiten LSA fahren und wieder anhalten, bis auch diese LSA grün wird.Das obere Teilbild stellt die Trajektorien aller 15 Fahrzeuge sowie die Rotphasender Ampeln (waagerechte Linien) dar. Das untere Diagramm zeigt die Geschwin-digkeiten der beiden dicker gezeichneten Trajektorien. Für die Simulation wurdedas modifizierte Intelligent-Driver-Modell (IIDM) verwendet.

Page 177: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

172 11 Aus Fahrstrategien hergeleitete Fahrzeugfolgemodelle

–100

0

100

200

300

-5 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60

Pos

ition

[m]

Zeit [s]

0 10 20 30 40 50 60 70 80

–5 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60

v [k

m/h

]

Zeit [s]

erstes Kfz5. Kfz

rote LSATrajektorien

Ausgew. Trajektorien

1. Schätzen Sie die Kapazität K der freien Strecke (ohne Ampeln) durch den ma-ximalen Fluss ab.

2. Wieviele Fahrzeuge würden in einer Grünphase der Ampel bei x = 0 durchkom-men, wenn diese (i) 5 s, (ii) 15 s oder (iii) 40 s lang ist? Leiten Sie daraus eine„Bemessungsregel“ der notwendigen Grünzeit τ für n durchkommende Fahrzeu-ge in der Form τ(n) = τ0 + βn ab, d.h. bestimmen Sie τ0 und β. Kann man β

mit der Kapazität K in Beziehung setzen?3. Schätzen Sie die Ausbreitungsgeschwindigkeit ccong des Übergangs Warte-

schlange → anfahrende Fahrzeuge aus dem Trajektoriendiagramm ab.4. Schätzen Sie die verwendeten IDM-Modellparameter v0, leff = lKfz + s0,

T = 1/(ρmaxccong), a und b. Legen Sie zur Bestimmung der Beschleunigungengeeignete Tangenten in das Geschwindigkeitsdiagramm.

Literaturhinweise

Gipps, P.G.: A behavioural car-following model for computer simulation. Transp. Res. B Metho-dol. 15, 105–111 (1981)

Treiber, M., Hennecke, A., Helbing, D.: Congested traffic states in empirical observations andmicroscopic simulations. Phys. Rev. E 62, 1805–1824 (2000)

Page 178: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Kapitel 12Modellierung menschlichen Fahrverhaltens

Der Vordermann fährt immer miserabel. Frag deinenHintermann.

Paul Mommertz

12.1 Unterschied zwischen Mensch und Maschine

Die in den Kap. 10 und 11 vorgestellten Fahrzeugfolgemodelle verarbeiten alsEingangsgrößen die eigene Geschwindigkeit v, den Abstand s zum Vorderfahrzeugsowie dessen Geschwindigkeit vl . Sie geben die Beschleunigung amic(s, v, vl) bzw.bei zeitdiskreten Modellen die aktualisierte Geschwindigkeit vmic(s, v, vl) aus. In-teressanterweise entspricht dies im Wesentlichen den Eigenschaften automatischerBeschleunigungsregler (Adaptive Cruise Control, ACC): Die Eingangsgrößen wer-den direkt im Fahrzeug sowie durch Radar- und Infrarot-Sensoren gemessen. DieAusgangsgröße amic entspricht bei den ACC-Systemen beschleunigungsäquivalen-ten Signalen für die Motor- und die Bremssteuerung.

Insgesamt sind die durch Modelle der Form v = amic(s, v, vl) bzw. v(t +Δt) = vmic(s, v, vl) beschriebenen oder von ACC-Systemen generierten „Fahrsti-le“ charakterisiert durch vernachlässigbare Schätzfehler beim Bestimmen der Ein-gangsgrößen, einer zu vernachlässigenden Reaktionszeit und einer durch nichts zuerschütternden Aufmerksamkeit. Andererseits entspricht die Beschränkung der Ein-gangsgrößen auf v, s und vl einer gewissen „Kurzsichtigkeit“ (nur das Vorderfahr-zeug wird berücksichtigt und keine Fahrzeuge weiter voraus), einem „Tunnelblick“(auf benachbarten Streifen fahrende Fahrzeuge und die lokale Umgebung werdennicht berücksichtigt) und Ignoranz (weitere Signale wie Bremslicher, Blinker oderHupen bleiben außen vor). Im Gegensatz dazu haben menschliche Fahrer folgende,bisher nicht explizit berücksichtigte Eigenschaften, die in den folgenden Abschnit-ten modelliert werden:

• Endliche Reaktionszeit: Sie beträgt etwa 1 s; bei mangelnder Aufmerksamkeitkann sie auch bedeutend größer sein.

• Schätzfehler: Das Bestimmen von Abständen und Geschwindigkeiten ist nur mitendlichen Fehlern möglich.

• Zeitliche Antizipation: Verkehrssituationen werden, vor allem bei erfahrenen Fah-rern, zeitlich vorweggenommen bzw. antizipiert.

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_12, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

173

Page 179: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

174 12 Modellierung menschlichen Fahrverhaltens

• Multiantizipation bzw. räumliche Antizipation: Der Fahrer berücksichtigt nichtnur das Vorderfahrzeug, sondern weitere Fahrzeuge davor. Teilweise werden auchFahrzeuge auf den Nachbarfahrstreifen oder das Fahrzeug dahinter berücksich-tigt (welches durch dichtes Auffahren oder Lichthupen durchaus einen Einflussausüben kann).

• Kontextabhängigkeit: Das Fahrverhalten hängt von der aktuellen und vergange-nen lokalen Verkehrssituation ab (Memory-Effekt). Beispielsweise vergrößernsich im Stau allmählich die Zeitlücken und es wird zögerlicher angefahren. Inder Nähe von Fahrstreifensperrungen wird ebenfalls das Verhalten geändert undinsbesondere reagiert man gelassener auf Fahrzeuge, die sich mit geringem Ab-stand „hineinquetschen“.

Bemerkenswerterweise zeigt sich, dass die destabilisierenden Eigenschaften dermenschlichen „Unvollkommenheiten“ als Fahrzeuglenker zu einem großen Teildurch stabilisierende Antizipationsfähigkeiten und Kontextsensitivität kompensiertwerden. Dies erlaubt und rechtfertigt in vielen Situationen die direkte Anwendungvon auf Gl. (10.3) basierenden Fahrzeugfolgemodellen zur Beschreibung realer Ver-kehrssituationen.

Wenn man detailliert und quantitativ den Einfluss menschlicher Stärken undSchwächen sowie menschlicher Fahrstrategien auf die Effizienz und Stabilität desVerkehrsflusses untersuchen möchte, kommen die in den folgenden Abschnittenvorgestellten Modelle zum Einsatz. Diese sind, ebenso wie die in Kap. 14 vor-gestellten Spurwechselmodelle, durchgängig als Modellerweiterungen bestehenderACC-artiger Fahrzeugfolgemodelle (wie dem IDM oder dem vereinfachten Gipps-Modell) formuliert.

12.2 Modellierung der Reaktionszeit

Die Reaktionszeit Tr enthält aus Sicht des Verkehrsmodellierers (i) die sensorischeErfassungszeit („es geschieht etwas“), (ii) das Treffen einer Entscheidung (z.B. „ichmuss bremsen“) und (iii) deren Umsetzung (z.B. Fuß vom Gas nehmen und dieBremse drücken).

Bei der Modellierung nimmt man an, dass die Reaktion, also die Beschleuni-gung amic bzw. die neue Zielgeschwindigkeit vmic, gegenüber den Eingangsstimuli(Abstand und Geschwindigkeiten) um Tr zeitverzögert ist.1 Bei zeitkontinuierlichenModellen mit Beschleunigungsfunktion amic(s, v, vl) bzw. amic(s, v,Δv) lässt sichdies direkt formulieren:

v(t) = amic[s(t − Tr ), v(t − Tr ), vl(t − Tr )

]. (12.1)

1 Man kann argumentieren, dass die eigene Geschwindigkeit ohne Verzögerung bekannt ist, daman über sie vollständige Kontrolle hat. Dies würde in Gl. (12.1) einem Argument v(t) stattv(t − Tr ) entsprechen, stimmt aber nicht exakt, da man dann auch die Beschleunigungen bis zurGegenwart kennen müsste. Die aktuelle Geschwindigkeit kann aber sehr gut aus der vergangenenBeschleunigung v(t − Tr ) abgeschätzt werden, siehe Abschn. 12.4.

Page 180: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

12.2 Modellierung der Reaktionszeit 175

Die Beschleunigungsgleichung wird damit zu einer Delay-Differentialgleichung.2

Die Gl. (12.1) ist zwar nicht analytisch, aber problemlos numerisch lösbar. Diesgilt auch, wenn die Reaktionszeit Tr kein Vielfaches der Aktualisierungszeit Δt dernumerischen Integration (10.8), (10.9) ist. Man nähert dabei die Größe u(t − Tr )

(wobei u für s, v oder vl stehen kann) im Aktualisierungsschritt i = t/Δt durchlineare Interpolation an:

u(t − Tr ) = rui− j−1 + (1 − r)ui− j , j = int

(Tr

Δt

), r = Tr

Δt− j. (12.2)

Hierbei steht int(x) für den ganzzahligen Teil von x und r für den Rest. Um dieseFormel anwenden zu können, muss man die j+1 vergangenen Werte ui− j−1, . . . , ui

der dynamischen Variablen u in einem Puffer zwischenspeichern. Mit dieser Inter-polationsformel kann man nicht nur einheitliche, sondern auch individuell verschie-dene und situationsabhängige Reaktionszeiten modellieren.

Eine Modellierung der Reaktionszeiten gemäß Gl. (12.1) entspricht einem idealaufmerksamen Fahrer: Es werden beständig Informationen verarbeitet und mit derVerzögerung Tr umgesetzt. Ein anderer Ansatz geht davon aus, dass die Fahrer ein-gehende Informationen instantan verarbeiten und in Beschleunigungen umsetzenkönnen, dies aber nur zu festen Zeitpunkten mit Abständen Δt tun. Zu anderenZeiten sind sie „unaufmerksam“ und fahren mit der im letzten Zeitpunkt gewähltenBeschleunigung weiter. Dies entspricht der Modellierung als iterierte Abbildunggemäß Gln. (10.6) und (10.7).

Sowohl die eigentliche Reaktionszeit Tr als auch die AufmerksamkeitsspanneΔt tragen zur für den Verkehrsfluss relevanten effektiven Reaktionszeit Teff bei.Beide Beiträge lassen sich mit zeitkontinuierlichen Fahrzeugfolgemodellen direktsimulieren, wobei man Δt nicht mehr als möglichst klein zu wählende numerischeHilfsgröße auffasst, sondern als eigenständigen Modellparameter. Abbildung 12.1zeigt die Reaktion einer mit der IDM-Beschleunigungsfunktion modellierten Fahr-zeugkolonne auf ein langsamer werdendes Führungsfahrzeug (Kfz 1), welches nichtüberholt werden kann. Die durchgezogene dicke Linie im zentralen Diagramm mar-kiert die Stabilitätsgrenze bei Reaktion auf lediglich das Vorderfahrzeug (na = 1)in Abhängigkeit der Reaktionszeit Tr und der Aufmerksamkeitsspanne Δt . Für die-se Grenze gilt in einem weiten Bereich in guter Näherung (dünne durchgezogeneKurven)

Tr + Δt

2= Teff = const. (12.3)

Die destabilisierende Wirkung von Tr ist also etwa doppelt so groß wie die von Δt .Dies lässt sich leicht durch die mittlere verzögernde Wirkung beider Einflussfakto-ren begründen: Unmittelbar nach einer Aktualisierung, also zu Zeiten t = i Δt , spie-gelt die Beschleunigung verzögerungsfrei die aktuellen Verhältnisse wider, währendkurz vor einer Aktualisierung die Eingangsgrößen der Beschleunigung die maxi-

2 Aus der Regelungstechnik ist bekannt, dass Systeme mit steigenden Reaktionszeiten (Totzeiten)instabiler werden.

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176 12 Modellierung menschlichen Fahrverhaltens

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

1.2

1.4

1.6

0 0.2 0.4 0.6 0.8 1Δt

(s)

Tr (s)

na = 1na = 2na = 5

40

50

60

0 10 20 30 40

v (k

m/h

)

Kfz 1Kfz 2

Kfz 10Kfz 20

40

50

60

0 10 20 30 40

v (k

m/h

)

Kfz 1Kfz 2

Kfz 10Kfz 20

40

50

60

0 10 20 30 40

v (k

m/h

)

Kfz 1Kfz 2

Kfz 10Kfz 20

40

50

60

0 10 20 30 40

v (k

m/h

)Kfz 1Kfz 2

Kfz 10Kfz 20

na = 2

na = 2

na = 2

na = 2

t (s)

t (s)

t (s)

t (s)

Abb. 12.1 Einfluss der Reaktionszeit Tr , der Aktualisierungszeit Δt und der Zahl na der berück-sichtigten Fahrzeuge auf die Stabilität des Verkehrsflusses, gezeigt anhand der Reaktion einer Ko-lonne auf ein sich verlangsamendes Führungsfahrzeug (Kfz 1). Das Diagramm in der Mitte zeigtdie Grenzen, ab der merkliche Schwingungen auftreten. Die vier Zeitreihen zeigen Simulationenfür na = 2 und mit den durch die Pfeile gekennzeichneten Werten von Tr und Δt

male Verzögerung Δt aufweisen. Falls die destabilisierende Wirkung linear mit Δtwächst, ergibt sich daraus im Mittel eine effektive Verzögerung Δt/2. Die Abb. 12.1verdeutlicht, dass diese Annahme nur bei sehr großen Werten von Δt nicht erfüllt ist.Daraus folgt, dass die oft als Reaktionszeiten interpretierten Aktualisierungsinter-valle der iterierten Abbildungen (Newell-Modell und Gipps-Modell) in Wirklichkeitnur der halben effektiven Reaktionszeit entsprechen.

12.3 Schätzfehler und unvollkommene Fahrweise

Abgesehen vom Zeitverzug durch Reaktionszeiten weicht das menschliche Fahr-verhalten in zweierlei Hinsicht von der durch die Beschleunigungsfunktion amicmodellierten „deterministischen“ Fahrweise ab. Zum einen können die Argumentes, v und vl der Beschleunigungsfunktion nur mit Fehlern abgeschätzt werden. Zumanderen ist das Fahrverhalten nicht vollständig rational, d.h. die Beschleunigungs-funktion selbst ist von Störungen überlagert.

12.3.1 Modellierung der Schätzfehler

Bei isolierter Betrachtung der Schätzfehler bleibt die Beschleunigungsfunktion amicunverändert,3 aber anstelle der tatsächlichen Eingangsgrößen s und vl werden deren

3 Die Formulierung mit amic stellt keine Beschränkung auf zeitkontinuierliche Modelle dar, danach Gl. (10.10) die Geschwindigkeitsfunktion zeitdiskreter Modelle (Gl. (10.6)) über die Bezie-hung amic = (vmic − v)/Δt mit der Beschleunigungsfunktion zusammenhängt.

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12.3 Schätzfehler und unvollkommene Fahrweise 177

Schätzwerte sest und vestl verwendet. Da die Geschwindigkeit durch Blick auf den

Tacho relativ genau abgeschätzt werden kann, werden Schätzfehler von v vernach-lässigt.4 Die Größe der Schätzfehler sest−s und vest

l −vl hängt von der Fahrsituationab und kann beispielsweise anhand von Experimenten in einem Fahrsimulator be-stimmt werden.5

Schätzfehler des Abstandes. In den meisten Fahrsituationen erweist sich der rela-tive Schätzfehler des Abstandes bzw. der Fehler der logarithmierten Abstände alsweitgehend konstant:

ln sest − ln s = Vsws(t). (12.4)

Hierbei beschreibt der Modellparameter Vs die mittlere relative Abweichung vomtatsächlichen Wert, also den Variationskoeffizienten von sest. Typische Werte liegenum 10%. Die (0,1)-gaußverteilte Zufallsgröße ws(t) beschreibt die Zeitabhängigkeitdes Schätzfehlers. Ihre statistischen Eigenschaften werden weiter unten beschrie-ben.

Schätzfehler der Geschwindigkeit des Führungsfahrzeugs. Die Geschwindigkeit vl

wird anhand der (genau bekannten) eigenen Geschwindigkeit über die wahrgenom-mene Änderung der optischen Winkelausdehnung φ = b/s des Vorderfahrzeugs derBreite b geschätzt. Dabei wird der Schätzfehler der relativen Änderungsrate r dieserWinkelausdehnung als konstant angenommen,

r = dφ/dt

φ=

bs2 Δv

b/s= Δv

s= 1

τTTC. (12.5)

Interessanterweise ist r gleich dem Kehrwert der Time-to-Collision (TTC) τTTC =Δv/s. Bei positiven Annäherungsraten und unveränderten Geschwindigkeiten gibtdie TTC die hypothetische Zeitspanne bis zur Kollision an. Sie gilt als wichtigerSicherheitsindikator.6 Die Annahme einer konstanten Standardabweichung σr derrelativen Änderungsrate r (Größenordnung 0.01 s−1) führt zu

vestl − vl = − (

Δvest − Δv) = −s

(1

τ estTTC

− 1

τTTC

)= −s σr wl(t). (12.6)

Genau wie bei der Schätzung des Abstandes beschreibt die Zufallsgröße wl(t) dieZeitabhängigkeit des Schätzfehlers, die nun besprochen wird.

4 Tatsächlich ist die von Tachos angezeigte Geschwindigkeit um bis zu 3% zu hoch. Dies ist aberein systematischer Fehler, der bei einer Modellkalibrierung automatisch mit berücksichtigt würde.5 Im Übrigen stellt die Modellierung des Umgebungsverkehrs in einem Fahrsimulator auch einAnwendungsfeld für mikroskopische Verkehrsflussmodelle dar.6 Oft wird eine gefährliche Situation durch 0 < τTTC ≤ 4 s definiert.

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178 12 Modellierung menschlichen Fahrverhaltens

Modellierung der Zeitabhängigkeit des Schätzfehlers. Mit den Gln. (12.4) und(12.6) werden die Schätzfehler des Abstandes und der Geschwindigkeitsdifferenzauf standardisierte zeitabhängige Zufallsgrößen w(t) = ws(t) und wl(t) zurückge-führt. Jeder Fahrer hat seinen eigenen Satz von Zufallsgrößen ws(t) und wl(t), diealle voneinander unabhängig sind. Wir nehmen zu jedem Zeitpunkt eine Standard-normalverteilung an, also insbesondere

〈w(t)〉 = 0,⟨w2(t)

⟩ = 1. (12.7)

Die Schätzfehler sind im Mittel also gleich Null. Dies stellt keine Einschränkungdar, da systematische Schätzfehler auf die Modellparameter der Beschleunigungs-funktion abgebildet werden können. Eine einzelne gaußverteilte Zufallsgröße istdurch Erwartungswert und Varianz eindeutig definiert. Da die Werte {w(t)} abereine ganze Zeitreihe von Zufallsgrößen (einen sogenannten stochastischen Prozess)darstellen, muss zusätzlich noch die Autokorrelationsfunktion (AKF) festgelegtwerden. Dazu nutzt man aus, dass der Schätzfehler eine gewisse Persistenz zeigt:Unterschätzt man beispielsweise den Abstand zu gegebener Zeit, wird man ihnkaum in der nächsten Sekunde oder Millisekunde überschätzen. Vielmehr gibt eseine gewisse Persistenzzeit τ mit Werten von wenigen Sekunden bis zu etwa einerMinute. Die dazugehörige AKF lautet

⟨w(t)w(t ′)

⟩ = exp

(−|t − t ′|

τ

). (12.8)

Man kann zeigen (vgl. Übungsaufgabe 12.1), dass eine zeitliche Folge von Zufalls-größen {w(t)} mit den geforderten Eigenschaften aus einer Wiener-Prozess genann-ten stochastischen Differentialgleichung gewonnen werden kann. Diese lautet

dw

dt= −w

τ+√

2

τξ(t) (12.9)

mit

〈ξ(t)〉 = 0,⟨ξ(t)ξ(t ′)

⟩ = δ(t − t ′). (12.10)

Die Diracsche δ-Funktion δ(t) ist gleich Null für alle t �= 0. Für t = 0 divergiert sieso stark, dass das Integral

∫∞−∞ δ(t)dt = 1 ist.7 Die stochastische Differentialglei-

chung (12.9) erlaubt eine einfache und effiziente numerische Aktualisierungsregelzur Generierung der Größen wi = w(iΔt) im i-ten Aktualisierungszeitschritt:

7 Streng genommen ist δ[·] ein Funktional, d.h. eine Abbildung einer Funktion f (x) auf eineZahl: δ[ f (x)] = f (0). Dies kann man als Integral einer δ-„Funktion“ schreiben: δ[ f (x)] =∫

δ(x) f (x)dx = f (0). Die δ-Funktion ergibt also nur innerhalb eines Integrals einen Sinn.

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12.3 Schätzfehler und unvollkommene Fahrweise 179

wi = e−Δt/τwi−1 +√

2Δt

τηi , (12.11)

wobei die Menge {ηi } vom Computer generierte Pseudo-Zufallszahlen mit Erwar-tungswert Null und einer Varianz von eins darstellt.8 Als Anfangswert w0 = η0kann man ebenfalls eine (für jeden Fahrer unterschiedliche) Realisierung einerPseudo-Zufallszahl einsetzen.

Verdeutlichen Sie sich, dass für eine Persistenzzeit τ → ∞ nicht mehrSchätzfehler, sondern de facto heterogener Verkehr simuliert wird: JedeFahrer-Fahrzeug-Einheit hat zwar eine konstante, aber im Allgemeinen un-terschiedliche Beschleunigungsfunktion.

12.3.2 Modellierung der Fahrfehler

Fahrfehler und Unregelmäßigkeiten im Fahrstil wirken sich direkt auf die Beschleu-nigungsfunktion aus. Im einfachsten Fall wird zu der deterministischen Beschleuni-gung amic eine Zufallsbeschleunigung der Standardabweichung σa hinzugefügt, de-ren Zeitabhängigkeit durch einen weiteren Wiener-Prozess wa(t) gemäß Gl. (12.9)modelliert wird. Einschließlich der Schätzfehler lautet die Beschleunigungsglei-chung nun

v(t) = amic(sest, v, vest

l ) + σawa(t). (12.12)

Die bezüglich der verschiedenen Fahrer unabhängige Zufallsbeschleunigung kannnicht nur Fahrfehler, sondern auch nicht berücksichtigte Einflussgrößen sowie Mo-dellierungsfehler repräsentieren.9

Häufig wird die Zeitabhängigkeit der Zufallsbeschleunigung nicht mittels einesgedächtnisbehafteten Wiener-Prozesses wa(t), sondern mit zeitlich unabhängigen(δ-korrelierten) Zufallsvariablen modelliert. Insbesondere ist dies bei fast allen zel-lulären Automaten (vgl. Kap. 13) der Fall, aber auch bei vielen Varianten des Gipps-Modells. Da Fahrfehler, ebenso wie Schätzfehler, eine gewisse Persistenzzeit haben,ist dies aber eher unrealistisch.

8 Diese können gaußverteilt sein, müssen es aber nicht. Für τ � Δt sorgt der Zentrale Grenzwert-satz dafür, dass Gl. (12.11) auch mit anders verteilten (beispielsweise gleichverteilten) Pseudo-Zufallszahlen annähernd gaußverteilte Realisierungen {wi } mit den geforderten Eigenschaften er-zeugt.9 In diesem Sinne stellt der Zufallsterm ein „Bekenntnis zur Unkenntnis“ dar.

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180 12 Modellierung menschlichen Fahrverhaltens

12.4 Zeitliche Antizipation

Bemerkenswerterweise fahren menschliche Fahrer trotz Schätz- und Fahrfehlernmeist unfallfrei und in Situationen dichten, aber noch nicht gebundenen Verkehrssogar schwingungsfrei, selbst wenn der zeitliche Abstand kleiner als die effekti-ve Reaktionszeit Tr ist (vgl. Abb. 4.8). Simulationen zeigen, dass dazu nicht nurdie Berücksichtigung mehrerer Fahrzeuge notwendig ist (vgl. Abschn. 12.5). Viel-mehr muss zusätzlich der durch die Reaktionszeit verursachte Zeitverzug durch eineKurzzeitprognose der Verkehrssituation für die nächsten Sekunden überbrückt wer-den. Dieser sogenannte „siebte Sinn“ der Autofahrer kann näherungsweise durcheinfache Heuristiken10 mathematisch beschrieben werden:

1. Für das eigene Fahrzeug ist nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch dieBeschleunigung gut abschätzbar. Ferner trifft es in den meisten Situationen zu,dass sich die Beschleunigung innerhalb einer Reaktionszeit wenig ändert.11 Esist daher sinnvoll, die Reaktionszeit durch die Heuristik konstanter Beschleu-nigung bzw. der linearen Fortschreibung der Geschwindigkeitsänderungen zuüberbrücken:

vprog(t) = vest(t − Tr ) + Tr v(t − Tr ). (12.13)

Dabei ist v(t − Tr ) die zur Zeit t − Tr realisierte Beschleunigung.2. Die Beschleunigung des Vorderfahrzeugs lässt sich hingegen nur grob, z.B.

durch den binären Zustand des Bremslichts (an oder aus), abschätzen. In denmeisten Modellen werden Reaktionen auf Bremslichter gar nicht berücksichtigt.Die einfachste Annahme ist daher die Heuristik der unveränderten Geschwindig-keit, welche in linearer Ordnung bezüglich der Reaktionszeit gleichzeitig einerlinearen Fortschreibung der Abstandsänderungen entspricht:

vprogl (t) = vest

l (t − Tr ), sprog = sest − Tr Δvest(t − Tr ). (12.14)

12.5 Berücksichtigung mehrerer Fahrzeuge

Menschliche Fahrer bilden nicht nur Hypothesen über die nächsten Sekunden (zeit-liche Antizipation), sondern berücksichtigen, wann immer dies möglich ist, auch

10 Eine Heuristik ist eine nicht begründbare Annahme, welche der Erfahrung nach häufig zutrifftund daher eine sinnvolle Basis für Entscheidungen mit unvollständiger Information bildet.11 Dies entspricht im Wesentlichen, dass der Fahrer keine aktiven Handlungen durchführt, wie dasGaspedal stärker durchzudrücken oder ein Bremsmanöver einzuleiten.

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12.5 Berücksichtigung mehrerer Fahrzeuge 181

mehrere voraus fahrende Fahrzeuge.12 Diese Vorausschau wird auch als räumlicheAntizipation bzw. Multiantizipation bezeichnet.

Um dies mathematisch im Rahmen einer Modellerweiterung zu formulieren,wird die Beschleunigungsfunktion amic(s, v, vl) (bzw. die Geschwindigkeitsfunk-tion vmic(s, v, vl) = v + Δt amic(s, v, vl) zeitdiskreter Modelle) in eine freie Be-schleunigung afree und einen Wechselwirkungsanteil aint aufgrund der Behinderungdurch andere Fahrzeuge aufgespaltet:

amic(s, v, vl) = afree(v) + aint(s, v, vl), afree(v) = lims→∞ amic(s, v, vl). (12.15)

Zur Berücksichtigung von na ≥ 1 Vorderfahrzeugen α − 1, . . . , α − na werdenim einfachsten Fall alle Wechselwirkungsanteile addiert und dabei die jeweils da-zwischenliegenden Fahrzeuge ignoriert.13 Für die resultierende Beschleunigung desFahrzeugs α gilt also14

vα = afree(vα) +α−1∑

β=α−na

aint(sαβ, vα, vβ), sαβ =β−1∑

j=0

sα− j . (12.16)

Da die Fahrzeuglängen für die Dynamik keine Rolle spielen, werden bei der Be-stimmung der gegenseitigen Abstände nur die Nettoabstände sαβ zusammengezählt.

Machen Sie sich klar, dass bei Basismodellen, welche die im Abschn. 11.1dargestellten allgemeinen Plausibilitätskriterien erfüllen, das unmittelbareVorderfahrzeug nach wie vor den größten Einfluss ausübt.

Die direkte Verwendung dieses Ansatzes hat jedoch den Nachteil, dass durchdie aufsummierte Wechselwirkung die Gleichgewichtsabstände zunehmen und sichdamit das Fundamentaldiagramm verändert. Um Ansätze mit und ohne Multianti-zipation vergleichbar zu machen, sollte das Fundamentaldiagramm aber unverän-dert bleiben. Deshalb werden alle Wechselwirkungsbeschleunigungen mit einemgemeinsamen (eventuell von der Geschwindigkeit abhängigen) Faktor c ≤ 1 mul-tipliziert, so dass im Fließgleichgewicht (Geschwindigkeit vα = v, sα = se(v))gilt:

12 Meist ist es möglich, durch das Vorderfahrzeug hindurch oder an ihm vorbei den Verkehr vorauszu beobachten. Falls dies nicht möglich ist, beispielsweise hinter LKWs oder Lieferfahrzeugen,wird das Fahren meist als unangenehmer empfunden und der Abstand messbar vergrößert.13 In der Physik entspricht diese Annahme einer abschirmungsfreien additiven Überlagerung derKräfte wie beispielsweise bei der Gravitationskraft oder der elektrostatischen Kraft bei nicht pola-risierbaren geladenen Teilchen.14 Hier sind die Fahrzeugindizes wesentlich, die bisher der Übersichtlichkeit halber weggelassenwurden; im Falle heterogenen Verkehrs haben nicht nur die Argumente, sondern auch die Be-schleunigungsfunktionen selbst einen Index. Dieser wird aber weiterhin weggelassen.

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182 12 Modellierung menschlichen Fahrverhaltens

cna∑

j=1

aint( jse(v), v, v) = aint(se(v), v, v). (12.17)

Für das IDM führt dies (vgl. Übungsaufgabe 12.3) zum geschwindigkeitsunabhän-gigen Reduktionsfaktor

cIDM =⎛

⎝na∑

j=1

1

j2

⎠−1

, (12.18)

was selbst bei Berücksichtigung unendlich vieler Vorderfahrzeuge einen endlichenWert c∞ = 6/π2 ergibt. Als Ergebnis erhält man bei Berücksichtigung der Multi-antizipation die Beschleunigungsfunktion

amulti(sα, vα, {sβ}, {vβ}) = afree(vα) + cα−1∑

β=α−na

aint(sαβ, vα, vβ). (12.19)

Bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Schätzfehlern und zeitlicher Antizipationsetzt man für die Argumente die geschätzten und prognostizierten Werte gemäßGln. (12.13) und (12.14) ein.

Abbildung 12.2 zeigt Simulationen der beiden Standardszenarien „Autobahnver-kehr“ und „Stadtverkehr mit LSA“, wenn man alle bisherigen Erweiterungen auf dasIDM anwendet. Als auffälligste Veränderung gegenüber dem originalen IDM (vgl.Abb. 11.4) erkennt man im Autobahn-Szenario die größeren und nunmehr realisti-schen Wellenlängen des Stop-and-Go-Verkehrs und im Stadt-Szenario die raschereAbnahme der maximalen Bremsverzögerungen. Beides wird maßgeblich durch dieMultiantizipation verursacht. Die endliche Reaktionszeit und die zeitliche Antizipa-tion heben sich im Wesentlichen auf, während die Schätzfehler bei der simuliertenGrößenordnung (10% Ungenauigkeit bei der Abstandsschätzung und 0.01 s bei derSchätzung der inversen TTC) noch wenig Auswirkungen haben. Wesentlich größereSchätzfehler haben drastische Auswirkungen, die bis zu Unfällen führen können.

Abbildung 12.1 verdeutlicht, dass die Grenze, bis zu der trotz Unaufmerksamkeits-Spannen Δt oder Reaktionszeiten Tr in Fahrzeugkolonnen noch stabiler Verkehrmöglich ist, stark von der Multiantizipation abhängt: Berücksichtigt man statt le-diglich das direkte Vorderfahrzeug fünf vorausfahrende Fahrzeuge, ist bei gleicherStabilität eine etwa doppelt so große effektive Reaktionszeit Tr + Δt/2 möglich.Mehr als fünf antizipierte Fahrzeuge ändern hingegen die Dynamik nur noch unwe-sentlich.

Abschließend bleibt noch zu bemerken, dass die Modellerweiterungen mit weni-gen neuen Modellparametern formuliert wurden. Abgesehen von der Modellierungder Schätzfehler gibt es nur zwei zusätzliche Parameter: die Reaktionszeit und dieZahl der berücksichtigten Vorderfahrzeuge.

Page 188: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

12.6 Berücksichtigung weiterer menschlicher Faktoren 183

0

10

20

30

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

Abs

tand

(m

)

0

20

40

60

80

100

120

140V (km/h)

0 30 60 90

Zeit (min)

–12

–10

–8

–6

–4

–2

0

2

Abs

tand

von

der

Zuf

ahrt

(km

)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

(b)

(c)

(a)

0 10 20 30 40 50

Ges

chw

. (km

/h)

(d)

–2

–1

0

1

2

Bes

chl.

(m/s

2 )

Zeit (s)

(e)

–7 km–5 km–3 km–1 km

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Abb. 12.2 Simulation der beiden Standardszenarien „Autobahn“ (links) und „Stadtverkehr“(rechts) unter Berücksichtigung von Reaktionszeiten, Schätzfehlern, zeitlicher Antizipation undMultiantizipation mit Modellparametern gemäß Tabelle 12.1. Basis ist das Intelligent-Driver-Modell (11.11) mit Parametern aus Tabelle 11.2

Tabelle 12.1 Modellparameter der Modellerweiterungen für menschliches Fahrverhalten

Parameter Typischer Wert

Reaktionszeit Tr 0.6 sZahl der berücksichtigten Vorderfahrzeuge na 5Variationskoeffizient der Abstandsschätzung Vs 10%Schätzfehler der inversen TTC σr 0.01 s−1

Größe der Zufallsbeschleunigung σa 0.1 m/s2

Persistenzzeiten der Schätzfehler τ 20 sPersistenzzeit der Zufallsbeschleunigung τa 1 s

12.6 Berücksichtigung weiterer menschlicher Faktoren

Bisweilen werden auch weitere menschliche Eigenschaften modelliert. Die wichtig-sten Aspekte sind hier die Berücksichtigung zusätzlicher verkehrsrelevanter Größenund der lokale Verkehrskontext.

Zusätzliche verkehrsrelevante Größen. Vor allem bei zellulären Automaten (sieheKap. 13) werden Bremslichter als weiterer diskreter Zustand betrachtet. Bremst einFahrzeug, wird eine binäre Zustandsvariable „Bremslicht“ auf „ein“ gesetzt. Aufdiesen Status können die Fahrzeuge im nächsten Zeitschritt durch defensivere Fahr-weise bzw. Anpassung der Antizipations-Heuristik reagieren. Analog können imRahmen von Spurwechselmodellen (Kap. 14) Blinker zur „Kommunikation“ desSpurwechselwunsches oder im Rahmen von „rückwärts“ gerichteter Multiantizipa-

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184 12 Modellierung menschlichen Fahrverhaltens

tion die Verwendung der Lichthupe, die das Vorderfahrzeug zum Beschleunigenoder Spurwechseln animieren soll, modelliert werden.

Berücksichtigung des lokalen Verkehrskontextes. Häufig beobachtet man in denempirischen Daten nach längerer Fahrt im Stau einen gewissen „Resignationsef-fekt“: Das Fahrverhalten wird weniger agil und die Beschleunigungen geringer. Diesführt zu einer weniger effizienten Fahrweise und einer Selbstverstärkung des Stausdurch den damit verbundenen Capacity drop. Abbildung 12.3 zeigt ein Beispiel:Trotz konstanter Verkehrsnachfrage auf der Hauptstrecke und der Zufahrt wird derStau mit der Zeit immer dichter.

Umgekehrt kann man durch Berücksichtigung des Verkehrskontextes auch wün-schenswerte verkehrsadaptive Fahrstiländerungen wie eine Erhöhung der Agilitätim Bereich von Engstellen oder eine defensivere Fahrweise bei Annäherung anBaustellen oder Staus modellieren (Abschn. 20.4). Im weiteren Sinne werden auchlokal gültige Tempolimits, der Wirkungsbereich sonstiger Verkehrsbeeinflussungs-maßnahmen sowie der Unterschied zwischen Stadtverkehr und Autobahnverkehr alslokaler Verkehrskontext aufgefasst.

Die Modellierung eines neuen Kontextes erfolgt durch Änderung der Parame-ter: entweder auf langen Zeitskalen von mehreren Minuten, beispielsweise in Ab-hängigkeit von der in den letzten Minuten gefahrenen Durchschittsgeschwindigkeit(Memory-Effekt, vgl. Abb. 12.3), oder ereignisorientiert bei Beginn eines Tempoli-mits, beim Durchfahren eines Engstellenbereichs und bei der Abfahrt von der Au-tobahn in den Stadtverkehr.

Das Wiedemann-Modell. Ein bekanntes Modell, welches den lokalen Verkehrskon-text berücksichtigt, ist das zeitkontinuierliche Wiedemann-Modell. Es dient als Basiseiniger kommerzieller Verkehrsfluss-Simulatoren. Dieses Modell versucht, psycho-physische Aspekte des Fahrverhaltens durch vier diskrete Fahrmodi zu modellie-ren: (i) Freies Fahren, (ii) Annähern an langsamere Fahrzeuge, (iii) Folgefahrt und(iv) Situationen, welche stärkeres Bremsen erfordern. In jedem dieser vier Fahrzu-stände k gilt eine unterschiedliche Beschleunigungsfunktion der Form a(k)

mic(s, v, vl).Die Übergänge zwischen den Zuständen werden von Schwellwertfunktionen ver-

0

20

40

60

80

100

120

140V (km/h)

0 30 60 90Zeit (min)

–8

–6

–4

–2

0

2

Abs

tand

von

der

Zuf

ahrt

(km

)

Abb. 12.3 Simulation des Autobahn-Standardszenarios mit dem IDM und Memory-Effekt: Wäh-rend der Fahrt im Stau wird allmählich die Beschleunigung a reduziert und die Folgezeit T erhöht

Page 190: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Literaturhinweise 185

mittelt, welche ebenfalls von s, v und Δv abhängen. Zusätzlich werden Zufallsbe-schleunigungen der in Abschn. 12.3.2 beschriebenen Art überlagert. Trotz seinespsycho-physischen Charakters enthält das Modell keine expliziten Reaktionszeiten.Das Modell ist komplex, da vier Beschleunigungsfunktionen a(k)

mic(s, v, vl) sowiedie Schwellwertflächen im Zustandsraum (s, v, vl) definiert werden müssen. Fernerenthält das Modell viele Parameter.

Übungsaufgaben

12.1 Statistische Eigenschaften des Wiener-ProzessesZeigen Sie, dass die stochastische Differentialgleichung (12.9) für die Zufallsgrößew(t) zur Autokorrelationsfunktion (12.8) führt. Verwenden Sie dazu die formaleLösung

w(t) =√

2

τ

t∫

−∞e−(t−t ′)/τ ξ(t ′)dt ′

und werten Sie⟨w(t)w(t ′)

⟩mit t ′ ≤ t unter Berücksichtigung von 〈ξ(t1)ξ(t2)〉 =

δ(t1 − t2) aus.

12.2 Auswirkung von SchätzfehlernGegeben sei eine aus mehreren Fahrzeugen α bestehende Kolonne, welche gleich-mäßig mit vα = 80 km/h hinter einem LKW fährt. Wie wirkt sich eine konstan-te Überschätzung des Abstandes um Vs ws = 10% auf den tatsächlichen Gleich-gewichtsabstand im Optimal-Velocity-Modell (dreieckiges Fundamentaldiagramm,s0 = 0, T = 1.4 s, v0 = 120 km/h) aus? Wie wirkt sich bei einer Anpassungszeitvon τ = 0.65 s eine im Fall τ → ∞ konstante Zufallsbeschleunigung von 0.4 m/s2

aus?

12.3 Multiantizipation beim IDMLeiten Sie Gl. (12.18) für den Reduktionsfaktor c her und zeigen Sie, dass mananstelle einer Multiplikation der Interaktionsbeschleunigungen mit c auch die Mo-dellparameter s0 und T mit dem Faktor

√c „renormieren“ könnte.

Literaturhinweise

Green, M.: “How long does it take to stop?” Methodological analysis of driver perception-braketimes. Transp. Hum. Fact. 2, 195–216 (2000)

Treiber, M., Kesting, A., Helbing, D.: Delays, inaccuracies and anticipation in microscopic trafficmodels. Physica A 360, 71–88 (2006)

Treiber, M., Helbing, D.: Memory effects in microscopic traffic models and wide scattering inflow-density data. Phys. Rev. E 68, 046119 (2003)

Treiber, M., Kesting, A., Helbing, D.: Understanding widely scattered traffic flows, the capacitydrop, and platoons as effects of variance-driven time gaps. Phys. Rev. E 74, 016123 (2006)

Wiedemann, R.: Simulation des Straßenverkehrsflusses. In: Heft 8 der Schriftenreihe des IfV.Institut für Verkehrswesen, Universität Karlsruhe, Karlsruhe (1974)

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Kapitel 13Zelluläre Automaten

Das, wobei unsere Rechnungen versagen, nennen wir Zufall.

Albert Einstein

13.1 Allgemeines

Zelluläre Automaten (cellular automata, CA) beschreiben dynamische Systemeausschließlich durch (meist kleine) ganzzahlige Variablen (vgl. Abb. 13.1):

• Der physikalische Ort xphys ist in Zellen der Länge Δx eingeteilt und wird durchden Zellenindex i beschrieben: xphys = i Δx . Im Falle mehrerer Fahrstreifen gibtes einen zusätzlichen Spurindex (vgl. Abb. 13.1 und 6.2).

• Wie bei iterierten Abbildungen ist die Zeit in Zeitschritte der Länge Δt eingeteilt.Die physikalische Zeit ergibt sich aus dem ganzzahligen Zeitindex t durch tphys =t Δt .

• Jede Zelle kann zu einem Zeitpunkt im Zustand ρi (t) = 1 (besetzt) oderρi (t) = 0 (leer) sein. Besetzte Zellen haben im Verkehrskontext meist weite-re Zustandsvariablen wie z.B. die Geschwindigkeit. Dabei bedeutet der ganz-zahlige Zustand vi (t), dass am Ort i Δx zur Zeit t Δt ein Fahrzeug (Mikro-modell) bzw. der Verkehrsfluss (Makromodell) die (mittlere) Geschwindigkeitvphys = v Δx/Δt hat. Werden makroskopische Modelle als CA formuliert, kanneine Zelle auch mehrfach besetzt sein (ρi (t) > 1).

vα = 2

leff = Δxα gα = 2

Abb. 13.1 Bei zellulären Automaten ist die Strecke in feste „Zellen“ der Länge Δx eingeteilt

Der Zusammenhang zwischen den bisher betrachteten Modellklassen und der Artder Variablen ist in Tabelle 13.1 zusammengefasst.

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_13, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

187

Page 192: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

188 13 Zelluläre Automaten

Tabelle 13.1 Zusammenhang von Modellklassen und Variablen

Modellklasse Zeit Ort Zustandsvariable

Zeitkontinuierliche Modelle kontinuierlich kontinuierlich kontinuierlichIterierte Abbildungen diskret kontinuierlich kontinuierlichCell-Transmission-Modell diskret diskret kontinuierlichZellulärer Automat diskret diskret diskret

Allgemeine Modellgleichungen. Als allgemeine Modelle zur Erzeugung komplexerMuster wurden CA bereits um 1940 formuliert.1 Die ursprüngliche Formulierung istzellenbasiert und entspricht formal einem makroskopischen Verkehrsmodell:

ρi (t + 1) = ρCA({ρ j (t)}, {Z j (t)}, ξ(t)

),

Zi (t + 1) = ZCA({ρ j (t)}, {Z j (t)}, ξ(t)

).

(13.1)

Hierbei hängen die rechten Seiten meist nur von den Besetzungen {ρ j } und Zustän-den {Z j } weniger Zellen j in der Nachbarschaft von i ab. Die Wechselwirkung istalso, wie bei den anderen Verkehrsflussmodellen, lokal. Bei Verkehrsflussmodellenhat Zi (t) meist die Bedeutung einer Geschwindigkeit Vi .2 Ferner sind verkehrsbe-zogene CA fast immer stochastische Modelle mit einem Zufallsanteil ξ(t).

Mikroskopische CA. Meist werden CA für die Formulierung mikroskopischer Mo-delle verwendet. Anstelle der allgemeinen zellenbezogenen Aktualisierungsglei-chung (13.1) ist dann eine fahrzeugbezogene Formulierung vorteilhafter. In dieserFormulierung werden nicht alle Zellen i aktualisiert, sondern nur die Positioneniα = xα besetzter Zellen bzw. Fahrzeuge α:

vα(t + 1) = vCA({xα′(t)}, {vα′(t)}, {zα′(t)}, ξ(t)

),

xα(t + 1) = xα(t) + vα(t + 1),

zα(t + 1) = zCA({xα′(t + 1)}, {vα′(t + 1)}, {zα′(t)}).

(13.2)

Die Zellenlänge Δx wird in den meisten Fällen mit der effektiven Fahrzeuglänge leffidentifiziert. Es gibt aber auch CA, bei denen ein Fahrzeug mehrere Zellen besetzt(siehe Abschn. 13.3). Fast immer sind die Wechselwirkungen lokal, d.h. die rechtenSeiten hängen nur von wenigen Fahrzeugen {α′} in der Umgebung des Fahrzeugs α

ab.3 Die Zustandsvariablen zα und die dritte Gleichung in (13.2) sind nur notwendig,wenn die Fahrzeuge neben der Position und der Geschwindigkeit weitere Zustands-

1 Die Anwendung auf die Verkehrsflussmodellierung erfolgte erstmals mit dem Nagel-Schreckenberg-Modell im Jahr 1992 (siehe Abschn. 13.2).2 Streng genommen könnte man auf die Besetzungszahl ρi verzichten und alles durch einen er-weiterten Zustand Zi ausdrücken, der Besetzungen und Geschwindigkeiten enthält (z.B. Zi =(Vmax + 1)ρi + Vi ). Dies wäre die Formulierung eines CA in „Reinform“.3 Ohne Multiantizipation sind dies nur das eigene Fahrzeug (α′ = α) und das Vorderfahrzeug(α′ = α − 1).

Page 193: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

13.2 Nagel-Schreckenberg-Modell 189

variablen besitzen. Ein Beispiel ist z = ( f, b) mit f = 0 bzw. 1 für normale oderdefensive Fahrweise und b = 0 bzw. 1 für aus- oder eingeschaltete Bremslichter.

Machen Sie sich klar, dass sich, abgesehen von den möglichen Werten derVariablen, die fahrzeugbezogene Formulierung eines CA nicht grundsätzlichvon einem als iterierte Abbildung formulierten Fahrzeugfolgemodell unter-scheidet (auch Fahrzeugfolgemodelle können zusätzliche Zustandsvariablenzα aufweisen). Pro Zeitschritt werden die Fahrzeuge allerdings um die Streckevα(t + 1) und nicht um 1

2 (vα(t) + vα(t + Δt))Δt fortbewegt. Warum nimmtman nicht den „genaueren“ Mittelwert aus alter und neuer Geschwindigkeit?

13.2 Nagel-Schreckenberg-Modell

Das erste, bekannteste und einfachste CA-Verkehrsmodell ist das Nagel-Schrecken-berg-Modell (NSM). In seiner Grundform gilt es für einen Fahrstreifen und ist durchfolgende Update-Gleichungen definiert (Abb. 13.2):

1. Deterministisches Beschleunigen bzw. Bremsen in Abhängigkeit vom Nettoab-stand bzw. von der Zahl der leeren Zellen gα = xα−1 − xα − 1 (gap) und derWunschgeschwindigkeit v0:

v∗α(t + 1) = min

(vα(t) + 1, v0, gα

). (13.3)

2. „Trödeln“ als spontanes, unbegründetes Bremsen mit einer gewissen „Trödel-wahrscheinlichkeit“ p:

vα(t + 1) ={

max(v∗α(t + 1) − 1, 0

)mit Wahrscheinlichkeit p,

v∗α(t + 1) sonst.

(13.4)

t = 0

t= 1

t= 2

t= 3

t= 4

0

0

0

0

1

1

2

1

0

0

0

0

12

2

Abb. 13.2 Veranschaulichung der Fortbewegungsregeln des Nagel-Schreckenberg-Modells fürv0 = 2. Die Zahlen in den Kästchen sind die im vergangenem Zeitpunkt realisierten Geschwindig-keiten. Die Fahrer der roten Fahrzeuge haben im letzten Zeitschritt „getrödelt“

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190 13 Zelluläre Automaten

3. Fortbewegen:

xα(t + 1) = xα(t) + vα(t + 1). (13.5)

Verdeutlichen Sie sich die Bedeutung der Modellgleichungen des NSM ausSicht eines Fahrers: Wie hoch ist die maximale Beschleunigung und die maxi-male Verzögerung? Reagieren die modellierten Fahrer auf Geschwindigkeits-differenzen? Ist das Modell unfallfrei? Wie groß ist die maximale Dichte?

Die beim NSM üblicherweise verwendete Diskretisierung ist Δx = 7.5 m (vgl.Tabelle 13.2). Dies entspricht in etwa der effektiven Fahrzeuglänge leff, also derphysikalischen Länge zuzüglich eines Mindestabstandes. Die Zeitdiskretisierungvon einer Sekunde lässt nur eine sehr grobe Modellierung der Dynamik zu, daGeschwindigkeiten nur Vielfache von 7.5 m/s und Beschleunigungen nur Vielfachevon 7.5 m/s2 annehmen können.

Abbildung 13.3 stellt die Simulationsergebnisse der zwei Standardsituationen„Autobahn mit Zufahrt“ und „Stadtverkehr mit LSA“ dar, anhand derer auch dieModelle der beiden vorhergehenden Kapitel getestet wurden. Aus makroskopischerSicht zeigt das Autobahn-Szenario einige nachvollziehbare Ergebnisse: Das Ge-schwindigkeitsfeld, Teilbild (a), zeigt einen Stau, der durch die bei Streckenkilo-meter Null gelegene Einfahrt verursacht wird. Ferner breiten sich Strukturen imstromaufwärts entstehenden Stau entgegen der Fahrtrichtung ungefähr mit der kor-rekten Geschwindigkeit von etwa 15 km/h aus. In Übungsaufgabe 13.5 wird gezeigt,dass die negativste Ausbreitungsgeschwindigkeit durch

cNSMcong = −(1 − p)

Δx

Δt(13.6)

gegeben ist. Man kann also über die Wahl des Trödelfaktors p (und über Δx und Δt)die Ausbreitungsgeschwindigkeiten kalibrieren. Allerdings sind in Abb. 13.3a auchbetragsmäßig deutlich kleinere Ausbreitungsgeschwindigkeiten zu sehen, die letzt-lich dazu führen, dass der Stau im NSA nicht aus langlebigen Stauwellen, sondernaus kurzlebigen statistischen Strukturen besteht. Ferner entstehen spontan einige

Tabelle 13.2 Modellparameter des Nagel-Schreckenberg-Modells und einer Slow-to-Start-Erweiterung mit zusätzlichem Parameter p0 (siehe Abschn. 13.3)

Parameter Typ. Wert Autobahn Typ. Wert Stadtverkehr

Zellenlänge Δx = leff 7.5 m 7.5 mZeitschrittweite Δt 1 s 1 sWunschgeschwindigkeit v0 5 2Trödelwahrscheinlichkeit p 0.2 0.1Trödelwahrscheinlichkeit p0 0.4 0.2

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13.2 Nagel-Schreckenberg-Modell 191

0 10 20 304050

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

Abs

tand

(m

)

0

20

40

60

80

100

120

140V (km/h)

0 30 60 90

Zeit (min)

–8

–6

–4

–2

0

2

Abs

tand

von

der

Zuf

ahrt

(km

)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

(b)

(c)

(a)

0 10 20 30 40 50

Ges

chw

. (km

/h)

(d)

–15

–10

0

–5

5

10

Bes

chl.

(m/s

2 )

Zeit (s)

(e)

–6 km–4.5 km

–3 km–1.5 km

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Abb. 13.3 Simulation der beiden Standardszenarien „Autobahn“ (links) und „Stadtverkehr“(rechts) mit dem Nagel-Schreckenberg-Modell und den Parametern aus Tabelle 13.2

kurzlebige, wie Stauwellen aussehende Strukturen an Stellen, wo diese eigentlichnicht auftreten sollten: im freien Verkehr stromabwärts der Einfahrt (x > 0) sowiestromaufwärts vor der eigentlichen Stauentstehung (beispielsweise bei x ≈ −6 kmzur Zeit t ≈ 20 min). Diese Strukturen stellen Artefakte des Modells dar.

Obwohl die Zufallskomponente des Modells immer wirksam ist, zeigt das Fun-damentaldiagramm in Abb. 13.3b stärkere Streuungen nur im gebundenen Verkehr –in Übereinstimmung mit realen Verkehrsdaten. Erklären lässt sich dies dadurch,dass die Zufallskomponente für ungebundenen Verkehr (linker Zweig des Funda-mentaldiagramms) nur Geschwindigkeitsschwankungen der Standardabweichungp(1 − p)Δx/Δt bewirkt, während Wechselwirkungen abrupte Schwankungen imgesamten Geschwindigkeitsbereich verursachen.

Man beachte, dass man aufgrund der stochastischen Natur des NSM das Fun-damentaldiagramm nicht anhand eines Fließgleichgewichts formulieren kann. Viel-mehr muss man bei gegebener globaler Dichte Erwartungswerte von Geschwindig-keiten berechnen (siehe Übungsaufgaben 13.4 und 13.5).

Die Simulation des Stadtverkehrs (Abb. 13.3c–e) zeigt die Grenzen des NSM:Aufgrund der groben Diskretisierung – nur drei Geschwindigkeits- und vier Be-schleunigungswerte sind möglich – ergeben die Zeitreihen von Abstand, Geschwin-digkeit und Beschleunigung kein realistisches Bild. Trotz seiner Eigenschaft als mi-kroskopisches Modell ist das NSM also nur für die Simulation der makroskopischenDynamik einsetzbar. Meist wird es daher nicht direkt verwendet, sondern dient alsBasismodell für Erweiterungen. Ein einfaches und ein komplexes Modell werdenim nächsten Abschnitt behandelt.

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192 13 Zelluläre Automaten

13.3 Verfeinerte Modelle

Barlovic-Modell. Eine einfache Erweiterung ist die erstmals von Barlovic formu-lierte Einführung einer Slow-to-Start-Regel. Hierbei wird die Verzögerungswahr-scheinlichkeit in Gl. (13.4) geschwindigkeitsabhängig formuliert:

p(v) ={

p v > 0,

p0 > p v = 0.(13.7)

Dies modelliert eine einfache Form von Kontextabhängigkeit: Stehen die Fahrer imStau, werden sie träger und fahren zögerlicher an. Dadurch verstärken sich einmalentstandene Stauwellen selbst, wodurch das Problem der kurzlebigen Stauwellendes NSM behoben werden soll.

Das Geschwindigkeitsfeld der Autobahnsimulation in Abb. 13.4 zeigt tatsächlichlanglebige Stauwellen, welche eher der Realität entsprechen. Allerdings gibt es auchhier aus freiem Verkehr ohne Störung entstehende „Stauwellen aus dem Nichts“ imBereich stromabwärts der Zufahrt x > 0.

KKW-Modell. Als Beispiel eines komplexen CA mit sehr feiner Zellenaufteilungkann das von Kerner, Klenov und Wolf formulierte KKW-Modell dienen. In diesemModell sind die Zellen nur noch 0.5 m lang, wodurch ein einziges Fahrzeug meh-rere Zellen besetzt (meist wird mit einer effektiven Fahrzeuglänge von 15 Zellensimuliert, entsprechend leff = 7.5 m wie im NSM). Als Zeitschrittweite wird, wieim NSM, meist Δt = 1 s angenommen. Die sich dadurch ergebenden Geschwin-digkeitsstufen von 0.5 m/s = 1.8 km/h und Beschleunigungsstufen von 0.5 m/s2

erlauben eine differenziertere und realistischere Simulation dieser Größen als mitdem NSM. Bei einer Wunschgeschwindigkeit von v0 = 120 km/h im Autobahn-Szenario ergeben sich 67 Geschwindigkeitsstufen, so dass sich das KKW-Modellde facto einem als iterierte Abbildung formulierten Fahrzeugfolgemodell annähert.

0

20

40

60

80

100

120

140V (km/h)

0 30 60 90Zeit (min)

–8

–6

–4

–2

0

2

Abs

tand

von

der

Zuf

ahrt

(km

)

Abb. 13.4 Simulation des Autobahn-Standardszenarios für das Barlovic-Modell mit Parameternaus Tabelle 13.2

Page 197: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

13.3 Verfeinerte Modelle 193

Die Modellgleichungen würden den Rahmen dieses Buches sprengen und wer-den daher nur qualitativ beschrieben.4 Im Gegensatz zu den bisherigen CA hängtdas Fahrverhalten des KKW-Modells von der Geschwindigkeitsdifferenz ab. Fer-ner gibt es, im Gegensatz zu allen bisher vorgestellten Modellen, bei gebundenemVerkehr einen Indifferenzbereich des Abstandes: Bei gleichmäßigem Folgen un-terhalb der Wunschgeschwindigkeit (v = vl < v0) finden im deterministischenTeil des Modells keine Beschleunigungen statt, sofern die Nettozeitlücke zwischenTmin = Δt und Tmax = kTmin (mit dem Modellparameter k für den Indifferenz-bereich, siehe unten) liegt. Das Modell besitzt also auch ohne Zufallsanteile keineindeutiges Fundamentaldiagramm. Wie bei den anderen CA wird der deterministi-sche Teil durch eine Zufallsbeschleunigung überlagert. Diese ist hier in Abhängig-keit von v und vl formuliert und enthält fünf verschiedene Wahrscheinlichkeiten alsModellparameter.

Die Simulation des Standardszenarios „Autobahnverkehr“ in Abb. 13.5 zeigtein deutlich realistischeres Verhalten als das NSM, vor allem im Fluss-Dichte-Diagramm und im Bereich der ab einer Simulationszeit t = 30 min entste-henden Stop-and-Go-Wellen. Allerdings sind die Ausbreitungsgeschwindigkei-ten im gleichmäßigen gebundenen Zustand davor (strukturloser heller Bereich

0 10 20 304050

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

0 30 60 90 120 150

Abs

tand

(m

)

0

20

40

60

80

100

120

140V (km/h)

0 30 60 90

Zeit (min)

–8

–6

–4

–2

0

2

Abs

tand

von

der

Zuf

ahrt

(km

)

0

500

1000

1500

2000

2500

0 20 40 60

Flu

ss Q

(F

z/h)

Dichte ρ (Fz/km)

(b)

(c)

(a)

0 10 20 30 40 50

Ges

chw

. (km

/h)

(d)

–12–14

–10

–2–4–6–8

20

Bes

chl.

(m/s

2 )

Zeit (s)

(e)

–7 km–5 km–3 km–1 km

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Kfz 1Kfz 5

Kfz 10Kfz 15Kfz 20

Abb. 13.5 Simulation der beiden Standardszenarien „Autobahn“ (links) und „Stadtverkehr“(rechts) mit dem KKW-Modell. Die Modellparameter sind im Wesentlichen der Literatur ent-nommen. Für den Autobahnverkehr wurde die Wunschgeschwindigkeit auf v0 = 67 (entspricht120 km/h) verändert. Für den Stadtverkehr wurden die v0 auf 28, sowie der Modellparameter vpauf den Wert 14 gesetzt

4 Für Details siehe S. 411ff. in Kerner (2004).

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194 13 Zelluläre Automaten

im Geschwindigkeitsfeld, auch „synchronisierter Verkehr“ genannt) betragsmäßigdeutlich zu groß.5

Die Simulation des Stadtverkehrs in Abb. 13.5 verdeutlicht die Wirkung derfeineren Diskretisierung. Man kann nun auch in sinnvoller Weise Geschwindig-keiten und Beschleunigungen einzelner Fahrzeuge modellieren. Allerdings sind dieBremsverzögerungen vor dem Ampelstopp viel zu hoch.

13.4 Vergleich zellulärer Automaten mit Fahrzeugfolgemodellen

Bei Fahrzeugfolgemodellen sind Ort, Zeit und Geschwindigkeit kontinuierlicheGrößen, bei CA sind dagegen alle Größen diskret (vgl. Tabelle 13.1). Lediglichder Fahrstreifenindex ist in beiden Kategorien diskret.

CA sind konzeptionell einfacher und bei komplexen Infrastrukturen meist schnel-ler zu implementieren als kontinuierliche Modelle. Ferner haben die meisten CAgegenüber zeitkontinuierlichen Mikromodellen einen Geschwindigkeitsvorteil beider Ausführung, vor allem bei Berücksichtigung mehrerer Fahrstreifen und bei derSimulation von Fußgängerströmen. Für die neueren, detaillierteren Modelle nimmtdieser Vorteil jedoch wegen der feineren Diskretisierung und zusätzlicher Regelnum etwa eine Zehnerpotenz ab und kommt damit in den Bereich von Fahrzeugfol-gemodellen.6

Die CA-Modellparameter sind häufig wenig anschaulich oder haben unrealisti-sche Werte. Ferner zeigen die meisten CA ohne ad-hoc hinzugefügte stochastischeTerme (wie dem „Trödeln“ im NSM) Artefakte oder extreme Abhängigkeiten vonModellparametern und Anfangsbedingungen. Diese mangelnde Robustheit machtein Modell für viele Anwendungen unbrauchbar. Wegen der groben Diskretisierungeignen sich einfache CA wie das NSM trotz ihrer Formulierung als Mikromodellnicht zur Modellierung der Dynamik einzelner Fahrzeuge. Auch verfeinerte Mo-delle, die schon eher den Charakter von Fahrzeugfolgemodellen haben, zeigen teil-weise unrealistisches Verhalten, beispielsweise beim Annähern an langsame oderstehende Hindernisse. Sie eignen sich deshalb nicht zur Simulation verschiedenerFahrstile oder zur simulationsgestützten Bewertung der Wirkung von Verkehrsbe-einflussungsmaßnahmen (siehe Kap. 20).

Da sich auf großen Skalen viele Details „wegmitteln“, ist eine Anwendung vonCA bei der modellgestützten Verkehrszustandsprognose (vgl. Kap. 17) sinnvoll undwird bereits realisiert (siehe www.autobahn.nrw.de). Allerdings konkurrieren CAin diesem Bereich mit den makroskopischen Verkehrsflussmodellen, vor allem demCell-Transmission-Modell.

5 Dieser Artefakt verschwindet allerdings, wenn man den (die relative Größe des Indifferenzbe-reichs beschreibenden) Parameter k vom Literaturwert 2.55 auf k = 2 reduziert.6 Zudem nimmt durch immer höhere Rechenleistungen der Computer die Bedeutung der Ausfüh-rungsgeschwindigkeit ab.

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Literaturhinweise 195

Übungsaufgaben

13.1 Dynamische Eigenschaften des Nagel-Schreckenberg-ModellsWelchen tatsächlichen Wunschgeschwindigkeiten entsprechen die in Tabelle 13.2angegebenen Werte von v0? Welche Zeit vergeht bei Verwendung der Autobahnpa-rameter für eine freie Beschleunigung „von Null auf hundert“ (km/h) (i) im determi-nistischen Modell p = 0 und (ii) im Mittel im stochastischen Modell mit p = 0.4?

13.2 Annäherung des NSM an eine rote AmpelWie würde sich ein gemäß dem deterministischen NSM (p = 0) agierender Fahrerauf einer ansonsten freien Strecke einer roten Ampel annähern?

13.3 Fundamentaldiagramm des deterministischen NSMZeichnen Sie das Fundamentaldiagramm des deterministischen NSM für v0 = 2(Stadtverkehr) und v0 = 5 (Autobahn). Wie hoch sind, in physikalischen Einheiten,die Wunschgeschwindigkeit, die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Störungen imgebundenen Verkehr, die Folgezeit und die maximale Dichte? Welche qualitativenÄnderungen sind für das stochastische Modell („Trödelfaktor“ p > 0) zu erwarten?

13.4 Makroskopische WunschgeschwindigkeitZeigen Sie, dass bei vollständig freiem Verkehr (keine Wechselwirkungen) die ma-ximale makroskopische (d.h. über viele Fahrzeuge und/oder die Zeit gemittelte)Geschwindigkeit V = 〈vα〉 des NSM in physikalischen Einheiten gegeben ist durch

Vmax = (v0 − p)Δx

Δt.

13.5 Stau-AusbreitungsgeschwindigkeitDie negativste Ausbreitungsgeschwindigkeit wird beim Anfahren aus einer stehen-den Warteschlange (ρmax = 1) erreicht. Zeigen Sie, dass die Geschwindigkeit desÜbergangs Warteschlange → Ausfluss aus dem Stau in physikalischen Einheitendurch Gl. (13.6) gegeben ist.

Literaturhinweise

Von Neumann, J., Burks, A.: Theory of self-reproducing automata. University of Illinois Press,Urbana, IL (1966)

Chowdhury, D., Santen, L., Schadschneider, A.: Statistical physics of vehicular traffic and somerelated systems. Phys. Rep. 329, 199–329 (2000)

Maerivoet, S., DeMoor, B.: Cellular automata models of road traffic. Phys. Rep. 419, 1–64 (2005)Nagel, K., Schreckenberg, M.: A cellular automaton model for freeway traffic. J. Phys. I France 2,

2221–2229 (1992)Barlovic, R., Santen, L., Schadschneider, A., Schreckenberg, M.: Metastable states in cellular

automata for traffic flow. Euro. Phys. J. 5, 793 (1998)Kerner, B.S.: The physics of traffic: empirical freeway pattern features, engineering applications,

and theory. Springer, New York, NY (2004)

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Kapitel 14Fahrstreifenwechsel und andere diskreteEntscheidungen

Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.

Albert Einstein

14.1 Übersicht

Aus Fahrersicht gibt es drei unmittelbare, die Dynamik beeinflussende Aktionen:Beschleunigen, Bremsen und Lenken. Die Dynamik des Lenkens ist eher im Bereichder Fahrzeugdynamik und damit bei den submikroskopischen Modellen angesiedelt(vgl. Tabelle 1.1). Bei der Modellierung der Verkehrsdynamik wird deshalb eine Stu-fe höher angesetzt und es werden direkt die verkehrlich relevanten Auswirkungenwie Spurwechseln oder Abbiegen modelliert. Auf dieser Ebene ist der Zustands-raum fast immer diskret. Beispielsweise werden nur diskrete Fahrstreifenindizesunterschieden, während die Wechsel selbst als instantan angenommen werden.1

In der Längsdynamik gibt es neben den kontinuierlichen, durch Beschleuni-gungsfunktionen wie amic(s, v, vl) modellierten Aktionen diskrete Entscheidungs-situationen. Nähert man sich einer LSA, die von Grün auf Gelb springt, muss mansich entscheiden, ob man anhält oder weiterfährt. Außerdem beeinflussen Fahrstrei-fenwechsel, vor allem wenn sie zum Zweck des Überholens durchgeführt werden,nicht nur die Querdynamik, sondern ebenso die Längsdynamik. Allgemein kannman bei diskreten Entscheidungen im Verkehr mehrere Ebenen unterscheiden:

1. Die strategische Phase wie Zielwahl, Verkehrsmittelwahl und Routenwahl istGegenstand der Verkehrsplanung (vgl. Tabelle 1.1).

2. Die taktische Phase beinhaltet antizipatorische Maßnahmen wie Beschleunigen,Bremsen oder eine Lücke schaffen mit dem Ziel, eine bestimmte Aktion wie Ab-biegen oder einen Fahrstreifenwechsel zu erleichtern bzw. zu ermöglichen. Dies

1 In der Realität liegen typische Zeitspannen für Fahrstreifenwechsel in der Größenordnung vonwenigen Sekunden. In vielen Simulatoren wird der Fahrstreifenwechsel grafisch zwar kontinuier-lich dargestellt, bezüglich der Entscheidungslogik jedoch ein instantaner Fahrstreifenwechsel zuBeginn des visualisierten Fahrstreifenwechsels angenommen.

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_14, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

197

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198 14 Fahrstreifenwechsel und andere diskrete Entscheidungen

kann auch ein fremdes Fahrzeug betreffen, vor allem bei erzwungenen Wechselnin gestauten Situationen (Reißverschlussprinzip).

3. Die operative Entscheidung legt fest, welche von mehreren diskreten Alternati-ven im nächsten Zeitschritt verfolgt wird.

4. In der Realisierungsphase wird die Konsequenz der operativen Entscheidungmodelliert, beispielsweise das Anhalten bei Gelb an einer Ampel.

Die Darstellung in diesem Kapitel beschränkt sich auf die operative Entschei-dungsebene.2 Es wird ein einheitlicher, auf Nutzenfunktionen basierender Model-lierungsansatz beschrieben. Die Nutzenfunktionen sind im Wesentlichen durch die(zunächst hypothetischen) Beschleunigungen der zugeordneten Realisierungspha-sen definiert. Dadurch wird einerseits die Kompatibilität des Längsdynamikmodellsmit dem Entscheidungsmodell gewährleistet, andererseits ist der Ansatz ökono-misch bezüglich der Zahl der Annahmen und Modellparameter: Entspricht das Be-schleunigungsmodell beispielsweise einem aggressiven Fahrer, überträgt sich dieserFahrstil in natürlicher Weise auf das Spurwechsel- oder Abbiegeverhalten. Ebensowerden antizipative Elemente des Beschleunigungsmodells übernommen. Naturge-mäß sind die Grenzen dieses Ansatzes dann erreicht, wenn taktische Maßnahmenund Kooperation unabdingbar sind wie bei erzwungenen Fahrstreifenwechseln ingebundenem Verkehr.

14.2 Allgemeines Entscheidungsmodell

Es wird angenommen, dass den Fahrern in einem konkreten Zeitschritt zweioder mehr Entscheidungsmöglichkeiten k zur Verfügung stehen, beispielsweise einWechsel nach links, nach rechts oder kein Wechsel, aber auch die Alternativenzwischen Abbiegen auf eine Vorfahrtsstraße oder Warten, bis die Straße frei wird.Ferner wird angenommen, dass die Fahrer die Konsequenz ihrer Entscheidung inForm der dann möglichen Beschleunigungen des eigenen Fahrzeugs sowie allerbeteiligten Fahrzeuge antizipieren können. Die Beschleunigungen werden mit demzugrundeliegenden Längsdynamikmodell (Fahrzeugfolgemodell, aber auch ein zel-lulärer Automat ist möglich) berechnet und dienen zur Formulierung folgender, dieEntscheidungsgrundlage ausmachender Kriterien:

Sicherheitskriterium. Keiner der beteiligten Fahrer β (einschließlich des Entschei-ders α) darf als Konsequenz der Entscheidung zu Alternative k gezwungen sein, einsicherheitskritisches Bremsmanöver durchzuführen:

a(β,k)

mic > −bsafe. (14.1)

2 In komplexen Modellen, die den Kern kommerzieller Simulationssoftware bilden, wird die tak-tische Phase ebenfalls berücksichtigt. Die Beschreibung der Modellierung der teils subtilen Wech-selwirkungen zwischen Beschleunigung und Fahrstreifenwechsel würde allerdings den Rahmendieses Buches sprengen.

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14.3 Fahrstreifenwechsel 199

Der Modellparameter bsafe bezeichnet dabei die gerade noch zulässige Brems-verzögerung. Sie liegt in der Größenordnung der komfortablen Bremsverzögerungdes IDM (um 2 m/s2).

Anreizkriterium. Von allen sicheren Alternativen k′ wird vom Entscheider α dieje-nige gewählt, welche den höchsten individuellen Nutzen (utility) U hat:

k = arg maxk′ U (α,k′). (14.2)

Wie bei den meisten Modellen diskreter Entscheidungen liegt dem Anreizkriterium(engl. incentive criterion) die Annahme des rationalen Entscheiders bzw. Nutzen-maximierers (Homo Oeconomicus) zugrunde. Im einfachsten Fall ist der Nutzendirekt durch die Beschleunigungsfunktion gegeben,3

U (α,k) = a(α,k)mic . (14.3)

Je nach Situation kommt aber noch eine Schwelle hinzu, die verhindert, dass manwegen marginaler Vorteile eine andere Alternative als jene im letzten Zeitschrittwählt. Diese Schwelle verhindert beispielsweise ständige Spurwechsel oder unent-schlossenes Zurücknehmen einmal getroffener Entscheidungen. Auch Verkehrsre-geln wie ein Rechtsfahrgebot können in die Nutzenfunktion einfließen. Schließlichkann man in der Nutzenfunktion auch die nicht vom Sicherheitskriterium erfasstenBelange anderer Fahrer berücksichtigen, indem man sie durch einen Höflichkeits-faktor einführt (Abschn. 14.3.3).

14.3 Fahrstreifenwechsel

Die allgemeine Situation bei einem Fahrstreifenwechsel ist in Abb. 14.1 dargestellt.Betrachtet wird das dunklere Fahrzeug auf dem mittleren Fahrstreifen mit aktuellerGeschwindigkeit vα . Die drei Alternativen sind „Wechsel nach rechts“, „kein Wech-sel“ und „Wechsel nach links“. Ohne Einschränkung der Allgemeinheit werden nurdie beiden letzten Alternativen betrachtet.

14.3.1 Sicherheitskriterium

Das Sicherheitskriterium bezieht sich auf die Beschleunigung ahz des hinteren Fahr-zeugs (Index h) auf der Zielspur (Index z, vgl. Abb. 14.1). Für den betrachtetenhypothetischen Wechsel (Größen nach dem Wechsel werden mit einem Dach ver-

3 In Modellen der diskreten Wahltheorie wie dem Multinomial-Logit-Modell setzt sich der Nutzenmeist aus einem deterministischen Nutzen und einem Zufallsnutzen zusammen. Bei stochastischenBeschleunigungsmodellen hat dies in der Zufallsbeschleunigung eine direkte Entsprechung.

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200 14 Fahrstreifenwechsel und andere diskrete Entscheidungen

sh

shz^

shz

hz

h

vz

sα^

Abb. 14.1 Illustration der Größen bei einem Spurwechsel nach links. Die Größen mit Dach geltennach dem (möglicherweise nur hypothetischen) Wechsel

sehen) auf den linken Fahrstreifen ist also das wechselnde Fahrzeug α das neueFührungsfahrzeug. Damit wird Gl. (14.1) zu

ahz = amic(shz, vhz, vα) > −bsafe Sicherheitskriterium. (14.4)

Der Modellparameter bsafe gibt die gerade noch zulässige Bremsverzögerung an4

(vgl. Übungsaufgabe 14.2). Im Falle heterogenen Verkehrs mit individuellen Be-schleunigungsfunktionen wird die Beschleunigung ahz des hinteren Fahrzeugs aufder Zielspur mit den Parametern dieses Fahrzeugs bzw. Fahrers berechnet.5

14.3.2 Anreizkriterium egoistischer Fahrer

Bei den meisten Modellen wird das Anreizkriterium ausschließlich aus Fahrersichtformuliert. Die Vor- und Nachteile anderer Fahrer bleiben unberücksichtigt. Auchunter dieser vereinfachenden Annahme hängt die Modellierung der Nutzenfunkti-on stärker als bei den Beschleunigungsmodellen von länderspezifischen Regelun-gen und Fahrgewohnheiten ab. Auf europäischen Autobahnen ist vor allem dasRechtsüberholverbot relevant.6 Einfacher wird die Modellierung im Stadtverkehroder auf amerikanischen Autobahnen, da in diesen Fällen die Fahrstreifenwechselim Wesentlichen symmetrisch ablaufen.7 Das egoistische Anreizkriterium für den

4 Damit die Implementierung ohne weitere Fallunterscheidung auch Wechsel verhindert, wenn sichauf der Zielspur auf nahezu gleicher Höhe ein Fahrzeug befindet (negativer Nettoabstand), mussdie Beschleunigungsfunktion amic(s, v, vl ) für diesen Fall eine betragsmäßig sehr hohe negative„Strafbeschleunigung“ ergeben.5 Man mag einwenden, dass man – in Ermangelung der Fähigkeit zum Gedankenlesen – die Be-schleunigungsfunktion des Hintermanns gar nicht kennt. Der Augenschein lässt aber meist einegrobe Abschätzung zu. Zumindest kann man LKW von PKW und normale von offensichtlich„sportlichen“ Fahrern unterscheiden.6 Dies wird hier nicht weiter behandelt. Wir verweisen auf die Literatur (Kesting et al., 2007).7 Auch auf amerikanischen Autobahnen sollten die langsameren Fahrzeuge rechts fahren. De factowird dies aber nicht streng eingehalten und auch rechts überholt.

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14.3 Fahrstreifenwechsel 201

Tabelle 14.1 Parameter der Spurwechselmodellierung

Parameter Typischer Wert

Sichere Verzögerung bsafe 2 m/s2

Wechselschwelle Δa 0.1 m/s2

Asymmetriebeitrag (Rechtsfahrgebot) abias 0.3 m/s2

Höflichkeitsfaktor (Wechselmodell MOBIL) p 0 bis 1

symmetrischen Fall lautet

aα − aα > Δa, mit aα = amic(sα, vα, vl) und aα = amic(sα, vα, vvz). (14.5)

Die Wechselschwelle Δa verhindert unnötige Spurwechsel, welche nur einen mar-ginalen Vorteil bringen (vgl. Tabelle 14.1). Eine einfache Form asymmetrischenWechselverhaltens lässt sich durch einen zusätzlichen Asymmetriebeitrag abias aufeiner Seite der Ungleichung (14.5) realisieren. Bei einem Rechtsfahrgebot wäre die-ser Beitrag bei der Bewertung eines potenziellen Wechsels nach links auf der rechtenSeite von (14.5) zu addieren. Der Asymmetriebeitrag ist vergleichsweise klein, abergrößer als die Wechselschwelle.

Zu beachten ist, dass das Anreizkriterium auch einen Sicherheitsaspekt enthält,nämlich für das eigene Fahrzeug (in der allgemeinen Gl. (14.1) bedeutet dies β =α). Wechsel werden nämlich insbesondere dann verhindert, wenn auf der Zielspurdas Vorderfahrzeug einen sicherheitskritisch kleinen Abstand hat oder auf nahezugleicher Höhe fährt, so dass sα < 0.8

Das Stau-Paradoxon. Eine Motivation, im Stau die Fahrstreifen zu wechseln, re-sultiert häufig aus dem Eindruck, dass es auf den benachbarten Fahrstreifen zügigervorangeht. In Aufgabe 14.1 wird gezeigt, dass dies oft ein Trugschluss ist: Ausstatistischen Gründen ist der Zeitanteil, in dem man im Stau von Fahrzeugen derNachbarfahrstreifen überholt wird, größer als der Zeitanteil, in dem man selberandere Fahrzeuge überholt. Der Trugschluss ist, dass man aus diesen Zeitanteilenauf höhere mittlere Geschwindigkeiten der benachbarten Fahrstreifen im Vergleichzum eigenen schließt. Da die hier vorgestellten Wechselkriterien keine taktischeKomponente enthalten, trifft diese Tendenz unnötiger Wechsel auch auf sie zu.

14.3.3 Spurwechseln mit Höflichkeit: MOBIL

Im durch die Gln. (14.4) und (14.5) definierten Wechselmodell werden die anderenFahrer nur durch das Sicherheitskriterium berücksichtigt. Willkürliche (nicht durchFahrstreifensperrungen oder Ähnliches erzwungene) Wechsel werden jedoch auchbei erfülltem Sicherheitskriterium vermieden, wenn die Behinderung anderer Fahrer

8 Auch hier wird gefordert, dass amic(s, v, vl ) für s < 0 eine betragsmäßig sehr hohe negative„Strafbeschleunigung“ ergibt.

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202 14 Fahrstreifenwechsel und andere diskrete Entscheidungen

in keinem Verhältnis zum eigenen Nutzen steht. Zur Modellierung werden in derNutzenfunktion die Belange anderer Fahrer berücksichtigt, allerdings gewichtet miteinem Höflichkeitsfaktor p , welcher in der Regel wesentlich kleiner als 1 ist:

aα − aα + p(ahz − ahz + ah − ah

)> Δa MOBIL-Anreizkriterium. (14.6)

Für den Spezialfall einer Gleichgewichtung der Belange anderer Fahrer (p = 1) undohne Wechselschwelle (Δa = 0) wird genau dann gewechselt, wenn sich die Sum-me aller Beschleunigungen erhöht bzw. die Summe aller Verzögerungen minimiert.Dies kommt in folgendem Akronym zum Ausdruck:

MOBIL – Minimizing overall braking deceleration induced by lane changes.

Die zentrale Komponente des MOBIL-Kriteriums ist der Höflichkeitsfaktor, wel-cher das Maß an – über die Sicherheit hinausgehende – Rücksichtnahme auf ande-re Verkehrsteilnehmer angibt: Für p = 0 erhält man, wie in den meisten ande-ren Modellen, egoistische Fahrer. Für p = 1 werden die Bedürfnisse der anderenebenso gewichtet wie die eigenen. Sinnvolle Werte von p liegen im Wertebereichum 0.2.9

Wie schätzen Sie den Wert des Höflichkeitsfaktors für die beiden in Abb. 11.2dargestellten Fahrer ein? Kann man mit p auch altruistische Fahrer sowie„Schulmeister“ modellieren, welche absichtlich, unter Inkaufnahme eigenerNachteile, andere Verkehrsteilnehmer behindern?

14.3.4 Anwendung auf spezifische Fahrzeugfolgemodelle

Die im vorhergehenden Abschnitt vorgestellten Spurwechselmodelle ergeben erstim Verbund mit einem Beschleunigungsmodell explizite Wechselregeln. Im Prin-zip sind das Sicherheitskriterium (14.4) und die Anreizkriterien (14.5) bzw. (14.6)kompatibel mit jedem Modell der Längsdynamik, bei dem eine Beschleunigungs-funktion amic entweder direkt gegeben ist oder indirekt über Differenzenquotienten(Geschwindigkeitsänderung geteilt durch Zeitschrittweite) definiert werden kann.Im Folgenden wird die Anwendung auf drei Modelle vorgestellt.

9 Auf der Webseite www.traffic-simulation.de kann man dieses Modell mit verschiedenenHöflichkeitsfaktoren ausprobieren. Als zugrundeliegendes Fahrzeugfolgemodell wurde dort dasIDM eingesetzt (siehe Abschn. 14.3.4).

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14.3 Fahrstreifenwechsel 203

Regeln für das Optimal-Velocity-Modell. Setzt man die OVM-Beschleunigung v =(vopt(s) − v)/τ in das Sicherheitskriterium (14.4) ein, erhält man folgende Bedin-gung für den Abstand des hinteren Fahrzeugs auf der Zielspur,

ahz = vopt(shz) − vhz

τ> −bsafe.

Nach dem zunächst hypothetischen Wechsel muss die Lücke shz zum hinteren Fahr-zeug auf der Zielspur mindestens so groß sein, dass die neue Wunschgeschwin-digkeit dieses Fahrzeugs die Bedingung vopt(shz) > vhz − τbsafe erfüllt. Mit derUmkehrfunktion se(v) der optimalen Geschwindigkeitsfunktion (Gleichgewichts-abstand bei gegebener Geschwindigkeit) ergibt sich daraus

shz > se (vhz − τbsafe) . (14.7)

Analog folgt aus dem Anreizkriterium (14.5) die Bedingung vopt(sα) − vopt(sα) >

Δaτ bzw. mit der Umkehrfunktion se(v) eine Bedingung für die vordere Lücke aufder Zielspur:

sα > se(vopt(sα) + Δaτ). (14.8)

Speziell ergeben sich für das dreieckige Fundamentaldiagramm (10.19) bzw.se(v) = s0 + vT für v < v0 die drei Bedingungen10

shz > s0 + vhzT − bsafeτT, sα > sα + Δa τT, sα < s0 + v0T − Δa τT .

Da sowohl T als auch τ in der Größenordnung von 1 liegen (vgl. Tabelle 10.1), sindalle Beiträge, welche das Produkt τT enthalten, von der Größenordnung 1 m unddamit gegenüber den Lücken sα , sα und shz vernachlässigbar. Im Ergebnis bekommtman die Bedingungen

shz > se(vhz), sα > sα, vopt(sα) < v0. (14.9)

Für einen Spurwechsel muss also (i) eine Behinderung vorliegen (vopt(sα) < v0),(ii) die vordere Lücke auf der Zielspur größer sein als auf der eigenen, und (iii)die hintere Lücke auf der Zielspur größer sein als der Sicherheitsabstand. Solchenur von (geschwindigkeitsabhängigen) Mindestlücken abhängigen Wechselkriteriengehören zur Klasse der Gap-Acceptance-Modelle. Die obige Herleitung der Gap-Acceptance-Kriterien (14.9) für den Fall bsafe = Δa = 0 gilt nicht nur für das

10 Die dritte Bedingung kommt daher, dass ansonsten das Argument der Umkehrfunktion se(v)

auf der rechten Seite von Gl. (14.8) einer Geschwindigkeit oberhalb der Wunschgeschwindigkeitentspricht, wofür se(v) nicht definiert ist. Da diese Situation freiem Verkehr entspricht, kann manformal se(v) → ∞ setzen, so dass das Anreizkriterium nicht erfüllt ist. Einfacher sieht man dasdirekt an den Beschleunigungen.

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204 14 Fahrstreifenwechsel und andere diskrete Entscheidungen

OVM, sondern generell für alle Beschleunigungsmodelle ohne Abhängigkeit vonder Geschwindigkeitsdifferenz wie das Newell-Modell (Abschn. 10.7), aber auchfür das Nagel-Schreckenberg-Modell (Abschn. 13.2).

Die Einfachheit dieser Regeln macht sie aber gleichzeitig unrealistisch, dennin der Realität macht es speziell unter dem Sicherheitsaspekt einen großen Unter-schied, ob sich das hintere Fahrzeug auf der Zielspur mit hoher Geschwindigkeitnähert oder mit ähnlicher Geschwindigkeit wie man selbst fährt (vgl. Aufgabe 14.3).Deshalb ist eine Anwendung der Wechselregeln auf Modelle sinnvoll, welcheGeschwindigkeitsdifferenzen berücksichtigen. Dies wird nun betrachtet.

Regeln für das Full-Velocity-Difference-Modell. Die Beschleunigung des im Ab-schn. 10.6 vorgestellten Full-Velocity-Difference-Modells (FVDM) ergibt sich ausder OVM-Beschleunigung durch Addition des zusätzlichen, von der Geschwindig-keitsdifferenz (Annäherungsrate) Δv abhängigen Anteils −γΔv. Die Anwendungder Spurwechselbedingungen (14.4) und (14.5) liefert die Kriterien

shz > se (vhz − τbsafe + γ τ(vhz − vα)) Sicherheit, (14.10)

sα > se(vopt(sα) + τ Δa + γ τ(vhz − vα)

)Anreiz. (14.11)

Die hinteren und vorderen Mindestlücken shz bzw. sα auf der Zielspur hängen nunalso auch von der Geschwindigkeitsdifferenz ab. In diesem Sinne sind die Wechsel-kriterien konsistent mit den entsprechenden Beschleunigungsmodellen.

Regeln für das Intelligent-Driver-Modell. Generell ergibt sich für alle Mikromo-delle, welche den im Abschn. 11.1 vorgestellten Konsistenzbedingungen genügen,aus dem Sicherheitskriterium (14.4) eine von der eigenen Geschwindigkeit und derGeschwindigkeit des Hinterfahrzeugs auf der Zielspur abhängige hintere Mindest-lücke. Das Sicherheitskriterium kann daher als verallgemeinerte Gap-Acceptance-Regel formuliert werden, die nicht nur von der Geschwindigkeit vhz, sondern auchvon der Differenzgeschwindigkeit vhz − vα bzw. der Geschwindigkeit vα abhängt:

shz = xα − lα − xhz > ssafe(vhz, vα). (14.12)

Dies ist für alle Modelle explizit formulierbar, bei denen sich die Beschleunigungs-formel nach dem Abstand auflösen lässt. Für das IDM ist dies (im Gegensatz zu denmeisten Versionen des OVM oder des FVDM) der Fall und ergibt

ssafe(vh, v) = s∗(vh, vh − v)√afree(vh)

a + bsafea

. (14.13)

Im verbesserten IDM (IIDM, Abschn. 11.3.7) ist die Beziehung sogar einfacher,

ssafe(vh, v) = s∗(vh, vh − v)√1 + bsafe

a

. (14.14)

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14.3 Fahrstreifenwechsel 205

In jedem Fall ist der Mindestabstand im Wesentlichen durch den dynamischenWunschabstand s∗ nach Gl. (11.12) gegeben.

Die Abb. 14.2 zeigt die hintere Mindestlücke (14.13) für die IDM-Parameteraus Tabelle 11.2 sowie bsafe = b = 1.5 m/s2. Wenn beispielsweise sowohl dasbetrachtete Fahrzeug als auch das Hinterfahrzeug auf der Zielspur mit 50 km/h fah-ren, dann muss nach dem Sicherheitskriterium die hintere Lücke mindestens etwa10 m betragen. Bei diesem Grenzabstand würde das neue Hinterfahrzeug nach demWechsel mit der Verzögerung bsafe bremsen.11 Fährt das Hinterfahrzeug jedoch mit70 km/h, nähert sich also mit Δv = 20 km/h an, so ergibt das Sicherheitskriteriumbzw. Abb. 14.2 einen Mindestabstand von etwa 40 m. Im IDM hängt das Wechsel-kriterium damit entscheidend von der Geschwindigkeitsdifferenz ab.

Das Anreizkriterium (14.5) ist für das IDM ebenfalls analytisch auswertbar. Füralle plausiblen Mikromodelle lässt sich zunächst das Anreizkriterium als allgemeineFunktion für die vordere Mindestlücke auf der Zielspur formulieren,

sα > sinc(sα, vα,Δvα, vvz). (14.15)

Für das IDM und auch das IIDM ergibt sich der konkrete Ausdruck

sinc(s, v,Δv, vz) = s∗(v, v − vz)√(s∗(v,Δv)

s

)2 − Δaa

. (14.16)

0

20

40

60

80

100

ssafe (m)

40 50 60 70 80 90 100 110vα (km/h)

−10

0

10

20

30

40

Δv (

km/h

)

Abb. 14.2 Hintere Mindestlücke (14.13) des IDM in Abhängigkeit der eigenen Geschwindigkeitvα und der Geschwindigkeitsdifferenz Δv = vhz − vα . Die dünnen Linien entsprechen einer Ab-standsänderung von 10 m und die dicken von 50 m

11 Untersuchungen an Trajektoriendaten zeigen, dass man in der Realität kurzfristig geringereLücken akzeptiert. Das Hinterfahrzeug verzögert nur geringfügig, bis sich allmählich der ge-wünschte Abstand einstellt. Dies ist jedoch Teil des taktischen Verhaltens, welches hier nichtbehandelt wird.

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206 14 Fahrstreifenwechsel und andere diskrete Entscheidungen

0

10

20

30

40

50

60

70

80

60 70 80 90 100 110

s inc

(m

)

Geschwindigkeit (km/h) auf der Zielspur

Δv = 0Δv = 5 km/h

Δv = −5 km/h

Abb. 14.3 Mindestlücke zum Vorderfahrzeug auf dem Zielstreifen für einen Anreiz zum Wechselnin Abhängigkeit der Geschwindigkeit auf der Zielspur. Die Ausgangssituation ist durch sα = 30 mund vα = 80 km/h gegeben

Auch hier hängt die Mindestlücke stark von den Geschwindigkeitsdifferenzen zumjeweiligen Vorderfahrzeug auf dem alten und neuen Fahrstreifen ab (vgl. Abb. 14.3).

14.4 Entscheidungssituation beim Annähern an eine Ampel

Nähert man sich einer LSA an, die von Grün auf Gelb springt, so muss man sichentscheiden, ob man noch über das Gelblicht fährt oder ob man abbremst und an derHaltelinie zum Stehen kommt. Diese Situation kann mit dem beschleunigungsba-sierten Entscheidungsmodell modelliert werden. Das Anreizkriterium entfällt. Ge-mäß des Sicherheitskriteriums wird nur dann angehalten, wenn dadurch eine sicherebzw. komfortable Verzögerung bsafe im Verlauf nicht überschritten wird. Für Mo-delle mit plausibler Bremsstrategie genügt es, die Verzögerung zum Entscheidungs-punkt (Gelbwerden des Signals, ggf. zuzüglich einer Reaktionszeit) zu betrachten.12

Bezeichnet man gemäß Abb. 14.4 den Abstand zur Haltelinie mit s und die Ge-schwindigkeit zum Zeitpunkt der Entscheidung mit v (hier sind keine Indizes nötig),ergibt sich das einfache Kriterium

amic(s, v, v) < −bsafe Weiterfahren,

amic(s, v, v) ≥ −bsafe Anhalten.(14.17)

12 Ist aus kinematischen Gründen eine Verzögerung oberhalb der komfortablen bzw. sicherenVerzögerung unvermeidbar, so wird diese in solchen Modellen bereits zu Beginn des Manöversangewandt, um die Situation „unter Kontrolle“ zu bringen.

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14.5 Einfahren in eine vorfahrtsberechtigte Straße 207

??v v

v = 0

s

Grübel,grübel ...

Abb. 14.4 Illustration der Entscheidungssituation „Anhalten oder Weiterfahren“ an einer gelb wer-denden LSA

Die Abb. 14.5 zeigt, dass der kritische Abstand im Wesentlichen quadratischmit der Geschwindigkeit steigt, während die kritische TTC (Time-to-Collision, hier:Zeit bis zum Erreichen der Haltelinie bei unveränderter Geschwindigkeit), außer beisehr langsamer Fahrt linear mit der Geschwindigkeit zunimmt. Die kritische TTCvon 3 s bei 50 km/h und 4 s bei 70 km/h sind konsistent mit gesetzlichen Vorschriftenzur Mindestdauer der Gelbphase bei den jeweiligen Höchstgeschwindigkeiten (vgl.Übungsaufgabe 14.2).13

14.5 Einfahren in eine vorfahrtsberechtigte Straße

Die Situation beim Einbiegen auf eine vorfahrtsberechtigte Straße ist im Prinzipanalog zur Situation an der LSA, nur dass das Sicherheitskriterium nicht das eigeneFahrzeug betrifft, sondern für das von hinten herannahende Fahrzeug (Index h) auf

0

10

20

30

40

50

60

70

80

10 20 30 40 50 60 70

krit.

Abs

tand

(m

bzw

. 0.1

s)

v (km/h)

räumlicher Abstand (m)zeitlicher Abstand (0.1s)

Abb. 14.5 Kritischer Abstand zur Haltelinie zum Entscheidungszeitpunkt bei gelber LSA in Ab-hängigkeit der Geschwindigkeit (b = 2 m/s2, bsafe = 3 m/s2; weitere Parameter gemäß Tabel-le 11.2)

13 Zu der TTC kommt allerdings noch die Reaktionszeit Tr ≈ 1 s hinzu.

Page 211: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

208 14 Fahrstreifenwechsel und andere diskrete Entscheidungen

betrachtetesFahrzeug

vh^

sh^

v

Fahrzeug h

Abb. 14.6 Illustration der Entscheidungssituation „Warten oder Einfahren“ auf eine vorfahrtsbe-rechtigte Straße

der Hauptfahrbahn gilt. Es wird angenommen, dass der einbiegende Fahrer sowohlseine Geschwindigkeit vα , als auch die Lücke sh und die Geschwindigkeit vh desFahrzeugs h zum Zeitpunkt des erstmaligen Konflikts der Trajektorien abschätzenkann (Abb. 14.6). Dann lautet das Sicherheitskriterium

sh > ssafe(vh, v). (14.18)

Das „Anreizkriterium“ (14.15) ist in dieser Situation immer erfüllt, solange daseinbiegende Fahrzeug nicht mit dem gerade vorbeifahrenden Fahrzeug (Vorderfahr-zeug auf der Hauptfahrbahn) kollidiert (sv < 0) bzw. dessen Abstand zum Konflikt-zeitpunkt der Trajektorien extrem gering ist. Insgesamt sind die Abbiegekriterienlediglich Spezialfälle der Spurwechselkriterien.

Übungsaufgaben

14.1 Das Stau-ParadoxonBegründen Sie, warum man im Stau unabhängig von der Wahl des Fahrstreifenstendenziell den größeren Zeitanteil auf der langsameren Spur verbringt. BetrachtenSie dabei die folgende Situation:

V2>V1V1

V1LL

Die Abbildung zeigt versetzte Stauwellen auf Streckenintervallen der Länge Lmit mittlerer Geschwindigkeit 〈vα〉 = V1 und schneller fließenden, aber immernoch gebundenen Verkehr mit Geschwindigkeit V2 > V1 auf den gleich langenIntervallen dazwischen. Nehmen Sie ein dreieckiges Fundamentaldiagramm und

Page 212: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Literaturhinweise 209

vernachlässigbare Geschwindigkeitsanpassungszeiten an, wie sie beispielsweise fürdas Newell-Modell oder das OVM zutreffen. Berechnen Sie den Zeitanteil pslow, indem man sich auf dem langsameren Fahrstreifen befindet, als Funktion von V1 undV2 und der Modellparameter T und leff und staunen Sie über das Ergebnis.

14.2 Bremsen vor LichtsignalanlagenEine bezüglich Bremsverzögerungen optimale und gesetzeskonforme Verhaltens-strategie vor von Grün auf Gelb schaltenden Lichtsignalanlagen ist wie folgt: Zu-nächst wird abgeschätzt, ob die Ampel bei unveränderter Geschwindigkeit nochbei Gelb passiert werden kann. Falls ja, wird diese Alternative gewählt, ansonstenwird gleichmäßig (mit konstanter Verzögerung) bis zur Haltelinie abgebremst. Beieiner Geschwindigkeit von 50 km/h beträgt die vorgeschriebene minimale Gelbpha-sendauer τg = 3 s. Welche maximale Bremsverzögerung wird einem Fahrer vomGesetzgeber zugemutet, wenn man als komplexe Reaktionszeit (Erkennen der Si-tuation, Entscheidungsfindung und Umsetzung) 1 s veranschlagt?

14.3 BaustelleneinfahrtAn einer Baustelleneinfahrt einer Autobahn muss man praktisch aus dem Stand aufdie Hauptfahrbahn wechseln. Das entsprechende Sicherheitskriterium soll mit demOVM mit dreieckigem Fundamentaldiagramm und bsafe = 0 modelliert werden.Auf der Hauptfahrbahn nähert sich ein Fahrzeug mit 72 km/h. Zum Entscheidungs-zeitpunkt ist das Sicherheitskriterium gerade noch erfüllt. Mit welcher mittlerenVerzögerung muss das sich nähernde Fahrzeug zur Vermeidung eines Auffahrun-falls mindestens bremsen, wenn das einfahrende Fahrzeug zunächst mit 2 m/s2 be-schleuinigt? iIst das OVM-Kriterium also wirklich „sicher“?

14.4 Einfahren auf eine vorfahrtsberechtigte StraßeFormulieren Sie das IDM-Sicherheitskriterium für eine Einfahrt mit Stoppschild,d.h. die anfängliche Geschwindigkeit ist nahe Null. Wie groß muss der Abstand vonmit 50 km/h fahrenden Fahrzeugen auf der Hauptfahrbahn mindestens sein, falls dieModellkombination IDM/MOBIL mit den Parametern a = b = bsafe = 2 m/s2,T = 1 s, v0 = 50 km/h und s0 = 0 m verwendet wird?

Literaturhinweise

Ben-Akiva, M., Lerman, S.: Discrete choice analysis: theory and application to travel demand.MIT Press, Cambridge, MA (1993)

Gipps, P.G.: A model for the structure of lane-changing decisions. Transp. Res. B Methodol. 20,403–414 (1986)

Kesting, A., Treiber, M., Helbing, D.: General lane-changing model MOBIL for car-followingmodels. Transp. Res. Rec. 1999, 86–94 (2007)

Nagel, K., Wolf, D., Wagner, P., Simon, P.: Two-lane traffic rules for cellular automata: a systematicapproach. Phys. Rev. E 58, 1425–1437 (1998)

Redelmeier, D., Tibshirani, R.: Why cars in the next lane seem to go faster. Nature 401, 35 (1999)

Page 213: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Kapitel 15Stabilitätsanalyse

Bücher ohne Zahlen beunruhigen mich.

Alexander von Humboldt

15.1 Entstehung von Stop-and-Go-Wellen

Instabilitäten und in der Folge Stauwellen entstehen durch Reaktionszeiten der Fah-rer sowie durch die endliche Beschleunigungs- und Bremsfähigkeit der Fahrzeuge.Beides führt zu einer verzögerten Anpassung der Geschwindigkeit an die Zielge-schwindigkeit, die bei hinreichend großem Verkehrsaufkommen zu einem „Teufels-kreis“ führen kann. Dieser wird zunächst anhand der Abb. 15.1 anschaulich erklärt(vgl. auch Abb. 15.4):

• In der dargestellten Situation wird anfangs eine Fahrzeugkolonne im Gleichge-wicht (sα = se, vα = ve) angenommen. Aus irgendeinem Grunde bremst zur Zeitt = t0 Fahrzeug 1 leicht auf die Geschwindigkeit v1 < ve und behält diese neueGeschwindigkeit bei.

• Damit ist auch für das nachfolgende Fahrzeug 2 die neue optimale Geschwindig-keit durch v1 gegeben. Der Fahrer dieses Fahrzeugs kann aber seine Geschwin-digkeit erst in endlicher Zeitspanne (zur Zeit t1) von ve auf v1 anpassen.

• Ist der Verkehr dicht genug oder die Geschwindigkeitsanpassungszeit lang ge-nug, verringert sich während dieser Zeit der Abstand stärker als es dem Gleich-gewichtsabstand se(v1) bei der neuen Geschwindigkeit entspricht. Um wiederauf den Wunschabstand zu kommen, muss der Fahrer 2 seine Geschwindigkeitvorübergehend weiter auf v2 < v1 absenken (Zeit t1 bis t2).

• Der nächste Fahrer 3 kann auf die Verzögerung des Fahrzeugs 2 von ve auf v2ebenfalls nicht sofort reagieren und sein Abstand wird bei hinreichender Ver-kehrsdichte kleiner als der Wunschabstand de(v2). Er muss also auf v3 < v2abbremsen, um den Abstand wieder zu erreichen (Zeit t2).

• Dieser Mechanismus setzt sich beim nachfolgenden Fahrzeug fort, welches erst-mals komplett anhalten muss (Zeit t3). Die entstehende Stauwelle löst sich erstauf, wenn die Zahl der neu einfahrenden Fahrzeuge (also der Verkehrsfluss strom-aufwärts) geringer wird.

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_15, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

211

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212 15 Stabilitätsanalyse

t = t0 t = t2 t = t3 t = t4t = t1

Stau−welleF

ahrt

rich

tun

g

Zeit

nah

ezu

Sti

llsta

nd

Sti

llsta

nd

leic

hte

s B

rem

sman

öve

r

Sti

llsta

nd

vers

tärk

te B

rem

sun

g

1

1

1

1

2

2

2

2

2

3

33

3

4

4 4

5

Abb. 15.1 Der Teufelskreis: Jedes Fahrzeug muss auf eine niedrigere Geschwindigkeit abbremsenals das jeweilige Fahrzeug davor. Die Zahlen neben den Fahrzeugen bezeichnen den Fahrzeugindex

Im Ergebnis ist eine Stop-and-Go-Welle scheinbar „aus dem Nichts“ entstanden(vgl. auch Abschn. 17.3). Bei geringer Verkehrsdichte wird der Teufelskreis durch-brochen, denn dann nähert sich ein nachfolgendes Fahrzeug, z.B. Fahrzeug 3, erstdann dem Vorderfahrzeug (z.B. Fahrzeug 2) an, wenn dieses seinerseits bereits denGleichgewichtsabstand wieder erreicht hat. Auch die Fahrzeuge 3, 4 etc. müssenin diesem Fall ihre Geschwindigkeit nur auf die Geschwindigkeit v1 des Störungs-Verursachers reduzieren, so dass der „Stop-and-Go-Mechanismus“ nicht wirksamist. Bei einer Anpassungszeit von Null, wie im LWR-Modell, ist dieser Mechanis-mus natürlich unabhängig von der Dichte nie wirksam. Konsequenterweise könnenbestehende Verkehrsstörungen im LWR-Modell oder verwandten Modellen nichtwachsen und damit kein Stop-and-Go-Verkehr aus kleinen Störungen entstehen.Lediglich vorhandene Dichteunterschiede können sich zu Schockwellen „aufstei-len“, ohne aber dabei die Amplitude zu vergrößern.

Die Stabilitätsanalyse in den folgenden Abschnitten zeigt, dass sich, in Über-einstimmung mit dieser qualitativen Argumentation, die Neigung zu Verkehrsinsta-bilitäten mit der Anpassungszeit, der Fahrzeugdichte und der Abstandssensitivität|v′

e(s)| bzw. V ′e(ρ) erhöht.

15.2 Relevante Instabilitätskonzepte für den Verkehrsfluss

Alle im weiteren Verlauf dieses Kapitels besprochenen Instabilitäten bedeuten Nei-gung zu Schwingungen, Stop-and-Go-Verkehr und dergleichen, nicht aber notwen-digerweise Unfälle (die in den Modellen durch negative Nettoabstände oder Dichtenoberhalb ρmax charakterisiert sind). Simulierte Unfälle finden meist erst dann statt,wenn die Instabilitätsgrenzen weit überschritten sind. Umgekehrt sind linear stabile

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15.2 Relevante Instabilitätskonzepte für den Verkehrsfluss 213

Modelle (wie das OVM in bestimmten Parameterbereichen) nicht notwendigerweiseunfallfrei. Die hier behandelten Instabilitäten haben ebenfalls nichts mit den nume-rischen Instabilitäten zu tun.1

Je nach Bedingungen für das Auftreten der Instabilität und Art der entstehendenStaumuster unterscheidet man die Instabilitäten gemäß folgender Kriterien:

Zahl der beteiligten Fahrzeuge. Untersucht man die Folgefahrt eines einzelnenFahrzeugs (oder weniger Fahrzeuge) hinter einem Führungsfahrzeug mit vorgegebe-nem Geschwindigkeitsverlauf (häufig Konstantfahrt), dann spricht man von lokalerInstabilität, wenn sich die anfänglichen Abstands- oder Geschwindigkeitsschwan-kungen mit der Zeit aufschaukeln (vgl. Abb. 15.2). Ansonsten ist die Folgefahrtlokal stabil. Diese Stabilitätskategorie lässt sich sinnvoll nur für mikroskopische

s, v, a

i = 0

....

i = 1i = 2

anfängl. Ort des Fz 0

....

s, v, a

i = 0

i = 2i = 1

anfängl. Ort des Fz 0

s, v, a

i = 0i = 1i = 2....

anfängl. Ort des Fz 0

s, v, a

i = 0i = 1i = 2....

t

lokaleInstabilität

Kolonnen−Instabilität

konvektive

absoluteStabilität

Auto 0Anfangsstörung

Kolonnen−Instabilität

absolute

i = 3 i = 2 i = 1 i = 0

Abb. 15.2 Veranschaulichung der Instabilitätskategorien: Bei konvektiver Instabilität schaukelnsich die Störungen von Fahrzeug zu Fahrzeug auf. Jedes einzelne Fahrzeug fährt aber bereitswieder gleichmäßig, wenn es den Anfangsort der Störung überquert. Bei absoluter Kolonnenin-stabilität sind die Schwingungen beim Überqueren der Anfangsortes noch nicht abgeklungen undbei lokaler Instabilität klingen sie überhaupt nicht mehr ab

1 Insbesondere gibt es sowohl bei den numerischen als auch bei den hier behandelten physikali-schen Instabilitäten sogenannte „konvektive Instabilitäten“ (Abschni. 9.5 bzw. 15.5) , die keinerleiBeziehung zueinander haben.

Page 216: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

214 15 Stabilitätsanalyse

Modelle definieren und ist vor allem bei der Entwicklung von Reglern für ACC-Systeme bedeutsam.2

Die im Verkehrsfluss beobachtete Instabilität, vor allem der Stop-and-Go-Verkehr, entspricht hingegen einer Kolonneninstabilität (String stability). Der Ver-kehrsfluss ist kolonnenstabil, wenn sich Schwankungen auch bei beliebig langenFahrzeugkolonnen nicht aufschaukeln. Kolonnenstabilität ist ein viel strengeres Kri-terium als lokale Stabilität: Selbst wenn bei einer Folgefahrt Schwankungen schnellabklingen und subjektiv nahezu kein Überschwingen feststellbar ist, ja selbst beiabsoluter Schwingungsfreiheit (überdämpftes Verhalten), kann der modellierte Ver-kehrsfluss kolonneninstabil sein. Dies wird in den beiden mittleren Situationen derAbb. 15.2 und in Abb. 15.3 veranschaulicht (vgl. Aufgabe 15.3). Als kollektivesPhänomen ist Kolonnenstabilität sowohl für mikroskopische als auch makroskopi-sche Modelle anwendbar.3

Größe der Störung. Klingen kleine Störungen ab, spricht man von linearer Stabi-lität. Verschwinden auch beliebig große Störungen mit der Zeit (z.B. die Störungdes Verkehrsflusses nach einer Vollbremsung), ist das Modell nichtlinear stabil. Oft

55 60 65 70

v (k

m/h

)

Folgefahrzeug

−1

−0.5

0

a (m

/s2 )

a (m

/s2 )

t (s)

18 20 22

−2 0 2 4 6 8 10 12 14 16

−2 0 2 4 6 8 10 12 14 16

−2 0 2 4 6 8 10 12 14 16 −2 0 2 4 6 8 10 12 14 16

−2 0 2 4 6 8 10 12 14 16

−2 0 2 4 6 8 10 12 14 16

s (m

)

55 60 65 70

v (k

m/h

)

−1

−0.5

0

t (s)

18 20 22

s (m

)Folgefahrzeug Folgefahrzeug

Führungsfahrzeug

FolgefahrzeugFührungsfahrzeug

FolgefahrzeugFührungsfahrzeug

FolgefahrzeugFührungsfahrzeug

Abb. 15.3 Mit dem Optimal-Velocity-Modell (OVM) modellierte Reaktion eines Folgefahrzeugs,nachdem das Führungsfahrzeug von 72 km/h auf 54 km/h abgebremst hat. Links: Grenze zur lokalabsolut schwingungsfreien Reaktion (v′

e = 1 s−1, τ = 0.25 s). Rechts: Grenze zur Kollonenin-stabilität (v′

e = 1 s−1, τ = 0.5 s). Im Prinzip können alle drei Gr0ßen s, v und v zur Analyseherangezogen werden, bei den Beschleunigungen sind die Schwingungen aber meist am ausge-prägtesten

2 Zumindest solange der Ausstattungsgrad dieser Systeme klein bleibt. Ansonsten ist auch Kolon-nenstabilität wichtig.3 Einige Autoren unterscheiden zwar die mikroskopische string stability von der makroskopischenflow stability, doch das ist eine Konsequenz nicht perfekter Übereinstimmungen der verwende-ten mikroskopischen und makroskopischen Modelle. Konzeptionell gibt es keinerlei Unterschied.Man kann sogar umgekehrt als notwendige Bedingung für die dynamische Äquivalenz zwischenMikro- und Makromodellen fordern, dass string und flow stability äquivalent sind, also dieselbenStabilitätsgrenzen aufweisen.

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15.2 Relevante Instabilitätskonzepte für den Verkehrsfluss 215

haben Fahrzeugfolgemodelle oder makroskopische Modelle zweiter Ordnung Para-meterbereiche, in denen der simulierte Verkehrsfluss linear stabil und gleichzeitignichtlinear instabil ist. Kleine Störungen klingen also ab, während sich große auf-schaukeln. Man spricht dann von Metastabilität. Damit ist automatisch eine Pfadab-hängigkeit bzw. Hysterese verbunden. Der Verkehrsfluss verhält sich nach kleinenStörungen – auch nach sehr langer Zeit – qualitativ anders als nach großen.

Damit sich aus großen Störungen eine Stauwelle entwickeln kann, dürfen ausihr nur weniger Fahrzeuge heraus- als hineinfahren, so dass der Ausfluss aus demStau (dynamische Kapazität) geringer als der maximal mögliche Fluss bei freiemVerkehr und kleinen Störungen (statische Kapazität). Typische beobachtete Wertedieses sogenannten capacity drop liegen um 10% (vgl. Kap. 4). In Bereichen mitMetastabilität gibt es also zu gegebener Dichte zwei Flusswerte bzw. die Zweigedes Fundamentaldiagramms für freien und gestauten Verkehr überlappen sich. Diesführt zu der typischen Form eines „gespiegelten“ griechischen λ (inverse lambda),siehe Abb. 4.11 und 4.12.

Formal kann man lineare bzw. nichtlineare Kolonneninstabilität durch die En-wicklung der Amplitude U (x, t) der Störgröße (beispielsweise Abweichung von derGleichgewichtsgeschwindigkeit) auf einem unendlich langen Streckenabschnitt mitGleichgewichts-Verkehrsdichte ρe in Abhängigkeit der Größe ε der Anfangsstörungin den Anfangsbedingungen definieren:

U (x, 0) = Aε(x) ={

ε falls|x | < 12ρe

, ε > 0, x ∈ IR,

0 sonst., (15.1)

Dies entspricht mikroskopisch der Störung durch einen einzigen Fahrer, der z.B. sei-ne Geschwindigkeit um den Betrag |ε| absenkt. Der Verkehrsfluss ist linear instabilfalls

limt→∞ max

xU (x, t) > 0 für alle ε > 0. (15.2)

Er ist nichtlinear instabil bzw. metastabil, falls eine Mindeststörung εnl > 0 exi-stiert, so dass

limt→∞ max

xU (x, t) =

{U0 > 0 falls ε > εnl,

0 falls ε ∈ [0, εnl]. (15.3)

An der Grenze zur linearen Instabilität geht εnl → 0, während an der Grenze zurabsoluten Stabilität die notwendige Störung betragsmäßig maximal wird, z.B. |ε| =V im Falle von Störungen durch Bremsmanöver.

Ausbreitungsrichtung der Störung. Ist der Verkehrsfluss (linear oder nichtlinear)kolonneninstabil, so können sich die dann wachsenden Störungen, vom ortsfestenSystem aus betrachtet, entweder in beide Richtungen ausbreiten oder nur in eine,also nur stromaufwärts bzw. -abwärts. Breiten sie sich in beide Richtungen aus,spricht man von absoluter Instabilität. In diesem Fall ist früher oder später der

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216 15 Stabilitätsanalyse

Verkehrsfluss auf der ganzen Strecke von der anfänglich räumlich eng begrenztenStörung betroffen.

Der Verkehrsfluss ist ein offenes System. Daher ist es auch möglich, dass die Stö-rungen zwar wachsen, aber sich nur in eine Richtung ausbreiten und so letztendlichaus dem System (bzw. dem betrachteten Streckenabschnitt) wandern. In diesem Fallspricht man von konvektiver Instabilität. Natürlich muss man bei der Betrachtungder konvektiven Instabilität ein ruhendes Bezugssystem annehmen. Aus Fahrersichtbreiten sich die Störungen immer nach hinten aus (vgl. die zweite Situation inAbb. 15.2).

Konvektive Instabilitäten wurden ursprünglich in fließenden Flüssigkeiten wieRohrströmungen beobachtet. In diesem Fall fließen die Störungen in Flussrichtungaus dem System heraus, daher auch der Name konvektive Instabilität (von lat. con-vehi: mitfahren, mitfließen). In Verkehrsflüssen hingegen beobachtet man häufig,dass die Störungen nur entgegen der Flussrichtung wachsen und letztendlich denStreckenabschnitt über die stromaufwärtige Begrenzung verlassen. Insbesonderegilt dies natürlich für einzelne laufende Stop-and-Go-Wellen.4

Das Phänomen ist sehr weit verbreitet. Beispielsweise sind die in Abb. 5.1 ge-zeigten Instabilitäten und Stauwellen auf der Autobahn A5 alle konvektiver Natur.Sie wachsen also nur entgegen der Fahrtrichtung. Die Sörungen werden fortlaufendan der Engstelle bzw. dem Staukopf erzeugt (beispielsweise durch die dort notwen-digen Fahrstreifenwechsel). Da sie jedoch anfangs klein sind und während ihresWachstums stromaufwärts wandern, bleiben die Schwankungen am Entstehungsort(Staukopf) klein. Aus einer Vielzahl von Beobachtungen auf Autobahnen in Europaund den USA kann man folgern:

Die überwiegende Mehrzahl aller Verkehrsinstabilitäten auf Fernstraßen istkonvektiver Natur.

Formal kann man konvektive Instabilität wieder mit der Dynamik der AmplitudeU (x, t) bei gegebener Anfangsbedingung Aε(x) nach Gl. (15.1) definieren: Homo-gener Verkehrsfluss ist bezüglich dieser Anfangsstörung konvektiv instabil, falls

limt→∞ max

xU (x, t) > 0, lim

t→∞ U (0, t) = 0. (15.4)

Die erste Bedingung besagt, dass der Verkehrsfluss (linear oder nichtlinear) kolon-neninstabil ist. Die zweite Bedingung besagt, dass die Störung am Ursprungsortletztendlich verschwindet.5 Ist die zweite Bedingung nicht erfüllt, handelt es sich

4 Auch in Verkehrsflussmodellen sind sich in Flussrichtung ausbreitende konvektive Instabilitätenmöglich. Sobald jedoch die Amplitude der Instabilität hinreichend groß wird, führen Nichtlinea-ritäten zu einer Umkehr der Ausbreitungsrichtung. Im Ergebnis ist dieser Typ der konvektivenInstabilität nicht robust und damit für die Verkehrsdynamik nicht relevant.5 Dies gilt sogar allgemeiner für jeden festen Ort x .

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15.3 Lokale Instabilität 217

um eine absolute Instabilität. Durch Kombination mit der Bedingung (15.3) kannman in natürlicher Weise auch eine konvektive Metastabilität definieren.

Wellenlänge der Störung. Da der Verkehrsfluss ein ausgedehntes System darstellt,gibt es prinzipiell eine unendliche Vielzahl von Störungen bezüglich derer der Flussinstabil ist. In Abschn. 15.4 wird gezeigt, dass man diese nach zwei Typen und je-weils unendlich vielen Wellenlängen ordnen kann. Für die Praxis wichtig sind abernur die Störungsformen, welche als erstes instabil werden: Wegen der Nichtlinea-ritäten (wie dem capacity drop) unterdrücken nämlich bereits entstandene Störun-gen alle weiteren, sobald sie hinreichend groß sind. Man unterscheidet zwei Typen:Bei Kurzwellen-Instabilitäten hat die zuerst instabil werdende Störung eine endli-che, meist kurze Wellenlänge von wenigen Fahrzeugabständen. Hingegen wird beiLangwellen-Instabilitäten zuerst eine Störung mit einer gegen unendlich gehendenWellenlänge instabil. Da jedoch aufgrund der Fahrzeugerhaltung die Wachstums-rate von Störungen mit gegen unendlich steigender Wellenlänge gegen Null geht,werden in der Praxis Störungen endlicher, aber großer Wellenlängen (von der Grö-ßenordnung 1 km und mehr) das Rennen machen.

Generell gilt, dass in kontinuierlicher Zeit und ohne explizite Reaktionszeit for-mulierte Mikro- und Makromodelle (wie das IDM und das KK-Modell) prinzipiellden Langwellenlängen-Instabilitätstyp aufweisen, während bei iterierten Abbildun-gen (Gipps-Modell), bei expliziten Reaktionszeiten (Abschn. 12.2) oder bei Model-len mit nichtlokalen Anteilen (GKT-Modell) auch Kurzwellenlängen-Instabilitätenauftreten können, aber nicht müssen. Die im realen Verkehr beobachteten Instabi-litäten sind immer vom Langwellen-Typ, so dass man sich auch bei der Stabili-tätsanalyse darauf beschränken kann. Beobachtet man hingegen bei SimulationenKurzwellenlängen-Instabilitäten (beispielsweise tritt beim Gipps-Modell in der ur-sprünglichen Formulierung zuerst eine Instabilität mit der minimal möglichen Wel-lenlänge von zwei Fahrzeugabständen auf), muss dies als Unzulänglichkeit des Mo-dells angesehen werden.

15.3 Lokale Instabilität

Wir untersuchen kleine Abstandsschwankungen y(t) und Geschwindigkeitsschwan-kungen u(t) eines einzelnen Fahrzeugs, welches hinter einem mit konstanter Ge-schwindigkeit vl(t) = ve < v0 fahrenden Führungsfahrzeug folgt:

s(t) = se + y(t), (15.5)

v(t) = ve + u(t). (15.6)

Setzt man diesen Ansatz in die allgemeine Form (10.3) zeitkontinuierlicher Mikro-modelle ein, ergeben sich in nullter Ordnung (also y = u = 0) die bereits bekanntenGleichgewichtsbedingungen

amic(se, ve, ve) = 0 bzw. amic(se, ve, 0) = 0. (15.7)

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218 15 Stabilitätsanalyse

Diese definieren das „mikroskopische“ Fundamentaldiagramm in Form der Gleich-gewichtsgeschwindigkeit ve(se) als Funktion des Gleichgewichtsabstandes se (vgl.Abschn. 10.3).

In erster Ordnung bezüglich der Störvariablen y und u ergibt sich aus der Ab-standsgleichung ds

dt = vl − v und Gl. (10.3) folgendes System aus zwei linearenDifferentialgleichungen:

dy

dt= ul − u = −u, (15.8)

du

dt= as y + avu + avl ul = as y + avu. (15.9)

Hierbei wurde ausgenutzt, dass wegen der vorausgesetzten Konstantfahrt des Füh-rungsfahrzeuges yl = ul = 0 ist. Die Linearisierung wurde mit Hilfe einer Taylor-Entwicklung der Beschleunigungsfunktion bezüglich ihrer drei unabhängigen Va-riablen s, v und vl um den Gleichgewichtspunkt durchgeführt:

amic(s, v, vl ) = amic(se, ve, ve) + as y + avu + avl ul + höhere Ordnungen (15.10)

mit den Taylorkoeffizienten

as = damic

ds

∣∣∣∣e, av = damic

dv

∣∣∣∣e, avl = damic

dvl

∣∣∣∣e. (15.11)

Das Subskript e bedeutet, dass die Ableitungen am Gleichgewichtspunkt ausge-wertet werden, also s = se und v = vl = ve(se).

Aufgrund der Gleichgewichtsbedingung (15.7) sind die Taylorkoeffizienten as

und av nicht unabhängig voneinander. Die Gleichgewichtsbedingung beschreibtnämlich eine eindimensionale Vielfalt von Gleichgewichtslösungen ve(s). Bewegtman sich auf der Gleichgewichtskurve durch den durch die unabhängigen Variablens, v, vl aufgespannten Raum, gilt

asds + (av + avl

)dve = asds + (

av + avl

)v′

e(s)ds = 0, (15.12)

also

as = −v′e(s)(av + avl ). (15.13)

Betrachtet man Beschleunigungsfunktionen amic(s, v,Δv), erhält man ein linearesGleichungssystem von der Form wie die Gln. (15.8) und (15.9), wenn man as ,av und avl folgendermaßen durch die entsprechenden Ableitungen der Beschleu-nigungsfunktion a ersetzt:

as = as, av = av + aΔv, avl = −aΔv. (15.14)

Page 221: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

15.3 Lokale Instabilität 219

Dies gilt für alle Formeln dieses Kapitels. Beispielsweise ergibt sich für die Ab-hängigkeiten der Ableitungen aufgrund der Gleichgewichtsbedingung anstelle vonGl. (15.13) die Bedingung

as = −v′e(s)av. (15.15)

Die Gln. (15.8) und (15.9) kann man zu einer einzigen Gleichung für einen ge-dämpften harmonischen Oszillator zusammenfassen:

d2 y

dt2+ 2η

dy(t)

dt+ ω2

0 y(t) = 0 (15.16)

mit

η = −av

2= − (av + aΔv)

2, ω2

0 = as = as . (15.17)

Mit dem Exponentialansatz

y = y0eλt (15.18)

bekommt man eine quadratische Gleichung

λ2 + 2ηλ + ω20 = 0 (15.19)

für den im Allgemeinen komplexen Wert der Wachstumsrate λ = σ + iω mit denLösungen

λ1/2 = −η ±√

η2 − ω20. (15.20)

Lokale Stabilität ist gegeben, wenn keine dieser beiden Lösungen wächst, also keinRealteil der Wachstumsraten positiv ist, d.h. σ1/2 = Re(λ1/2) ≤ 0. Daraus folgtmit Gl. (15.17) und der für alle sinnvollen Modelle gültigen Bedingung as ≥ 0 dasKriterium

av ≤ 0 bzw. av + aΔv ≤ 0 Lokale Stabilität. (15.21)

Zusätzlich erfolgt die Anpassung an den Gleichgewichtsabstand ohne Schwingun-gen, wenn die Wachstumsraten keine Imaginärteile haben, d.h. ω2

0 < η2, alsoas ≤ a2

v/4. Drückt man as wieder durch die Ableitung v′e(s) der Gleichgewichtsge-

schwindigkeit aus und verwendet (15.14), erhält man eine weitere Formulierung:

as ≤ a2v

4bzw. v′

e(s) ≤ −av

4

(1 + aΔv

av

)2

Schwingungsfreiheit. (15.22)

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220 15 Stabilitätsanalyse

Zusammenfassend kann man folgende Aussagen bezüglich der lokalen Stabilitättreffen:

• Da für alle sinnvollen Modelle av < 0 gilt, sind Mikromodelle in Differential-gleichungsform ohne Reaktionszeit immer lokal stabil.

• Die Bedingung (15.22) der Schwingungsfreiheit ist deutlich schärfer. Beispiels-weise gilt für das Optimal-Velocity-Modell (OVM) mit av = av = −1/τ dieBedingung

v′e(s)OVM <

1

4τ. (15.23)

Diese Bedingung ist doppelt so scharf wie die im folgenden Abschnitt herzulei-tende Bedingung v′

e(s)OVM < 1/(2τ) für Kolonnenstabilität. Dies gilt allgemeinfür Modelle ohne Sensitivität auf Geschwindigkeitsdifferenzen.

• Aber auch bei der Grenze zur Kolonneninstabilität sind die Schwingungen bei derAnnäherung an das lokale Gleichgewicht nahezu unmerklich (vgl. Abb. 15.3). ImUmkehrschluss bedeutet dies, dass Modelle bzw. ACC-Regler, die beim Folgeneines einzelnen Fahrzeugs wahrnehmbare Schwingungen aufweisen, mit großerSicherheit kolonneninstabil sind. Es ist sogar möglich, dass ein lokal völligschwingungsfreies Modell kolonneninstabil ist (vgl. die Aufgabe 15.3).

Im Gegensatz zu obigen Ergebnissen für zeitkontinuierliche Modelle derForm (10.3) können zeitkontinuierliche Modelle mit endlicher Reaktionszeit oderals iterierte Abbildungen formulierte Modelle sehr wohl lokal instabil werden. Führtman die Stabilitätsanalyse beispielsweise für Modelle des Typs (12.1) durch, alsoddt v(t + Tr ) = amic(s(t), v(t),Δv(t)), erhält man anstelle der quadratischen Glei-chung (15.19) die transzendente (nicht analytisch lösbare) Gleichung

λ2 + e−λTr(

2ηλ + ω20

)= 0. (15.24)

Die Analyse der Lösungen dieser Gleichung ist trotz des einfachen Aussehens rela-tiv unübersichtlich. Insbesondere werden bei hinreichend hohen Reaktionszeiten Tr

(von 1 s oder mehr) die Modelle in der Regel lokal instabil.

15.4 Kolonneninstabilität

Auch wenn eine Folgefahrt hinter einem einzelnen Fahrzeug weit im stabilen Be-reich liegt, können sich dennoch Schwingungen von Fahrzeug zu Fahrzeug auf-schaukeln (vgl. Abb. 15.2 sowie Abb. 15.4).

In der Regel haben die bei Kolonneninstabilitäten entstehenden Schwingungenbzw. Wellen eine Wellenlänge von mindestens einem Kilometer, so dass eine einzigeStauwelle sehr viele Fahrzeuge enthält. Es liegt daher eine Langwelleninstabilitätvor. Dieser Umstand ermöglicht kompakte und analytisch formulierbare Kriterienfür die Stabilitätsgrenzen bei Fahrzeugfolge- und bei Makromodellen.

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15.4 Kolonneninstabilität 221

Verkehrsdichte

LKW − Anteil

Time Warp 5−fach

42 Fz/km

20 %

PKWLKW

Stop&

Go−

Wel

le

Fahrtrichtung

www.traffic−simulation.de

Abb. 15.4 Interaktive Simulation von Stop-and-Go-Wellen mit dem Intelligent-Driver-Modell(IDM) auf der Webseite der Autoren

15.4.1 Stabilitätsbedingungen für Fahrzeugfolgemodelle

Wir gehen von der allgemeinen Form (10.5) bzw. (10.3) zeitkontinuierlicher Fahr-zeugfolgemodelle ohne Multi-Antizipation aus, betrachten aber identische Fahrerund Fahrzeuge auf homogener Strecke, also identische Modellparameter.6 In diesemFall benötigt die Beschleunigungsfunktion amic keinen zusätzlichen Index α mehrund die allgemeinen Gleichungen lauten

dsα

dt= vα−1 − vα, (15.25)

dvα

dt= amic (sα(t), vα(t), vα−1(t)) . (15.26)

Wir gehen vom stationär-homogenen Zustand mit gleichen Nettoabständen se undzugehöriger Gleichgewichtsgeschwindigkeit ve(se) aus und betrachten kleine Ab-standsschwankungen yα und Geschwindigkeitsschwankungen uα um diesen statio-nären Zustand:

6 Auf Multi-Antizipation wird nur der Übersichtlichkeit halber verzichtet. Man kann die kompletteStabilitätsanalyse auch mit Berücksichtigung zusätzlicher Vorder- und auch Folgefahrzeuge aus-gehend von Gl. (12.19) durchführen. Die erforderlichen Verallgemeinerungen sind offensichtlich.

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222 15 Stabilitätsanalyse

sα = se + yα(t), (15.27)

vα = ve + uα(t). (15.28)

In nullter Ordnung bezüglich der Störvariablen yα und uα ergibt sich dieselbeGleichgewichtsbedingung wie bei der Analyse der lokalen Stabilität. Damit blei-ben das mikroskopische Fundamentaldiagramm ve(s) und die Beziehungen (15.13),(15.14) und (15.15) gültig.

In erster Ordnung ergibt sich folgendes System von linearen, gekoppelten Diffe-rentialgleichungen:

dyα

dt= uα−1 − uα, (15.29)

duα

dt= as yα + avuα + avl uα−1, (15.30)

wobei die Ableitungen as , av und avl wieder durch (15.11) gegeben sind. Die-se Gleichungen stellen gekoppelte lineare Differentialgleichungen mit konstan-ten Koeffizienten dar und werden durch einen Fourier-Ansatz folgender Formgelöst:

(yα(t)uα(t)

)=(

yu

)eλt+iαk . (15.31)

Dieser Ansatz entspricht gleichförmigen Stauwellen kleiner Amplitude. Die Größenhaben folgende Bedeutung:

• i = √−1 ist die imaginäre Einheit.• λ = σ + iω ist eine komplexwertige Wachstumsrate. Der Realteil σ gibt an, wie

schnell die Stauwellen mit der Zeit anwachsen, während der Imaginäranteil ω

angibt, wie schnell sich die Phase der Welle aus Sicht des Autofahrers ändert. Erdurchfährt eine komplette Welle in der Zeit 2π/ω.

• Als einheitenlose Größe gibt k die Phasenverschiebung der Wellen pro Fahrzeugan und liegt im Bereich [−π, π ]. Die Zahl der Fahrzeuge in einer Welle ist durch2π/k gegeben. Die räumliche Wellenlänge beträgt also (se + l)2π/k. Die Pha-sengeschwindigkeit ist durch eine konstante Phase von exp(λt + iαk), also durcheinen konstanten Imaginärteil ωt + αk des Exponenten definiert. Der Fahrzeug-fluss durch beispielsweise einen Wellenberg ist damit gegeben durch α = −ω/k.Dies ergibt im physikalischen Raum eine Wellenausbreitungsgeschwindigkeit7

crel = (se + l)ω

k= ω

ρek. (15.32)

7 Der Fahrzeugindex steigt entgegen der Fahrtrichtung, deshalb dreht sich das Vorzeichen um.

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15.4 Kolonneninstabilität 223

Auch diese Geschwindigkeit ist relativ zur Fahrzeuggeschwindigkeit zu verste-hen.

• Die Stauwellen beinhalten sowohl Abstands- als auch Geschwindigkeitsände-rungen. Der Quotient u/y der Vorfaktoren gibt deren relative Anteile an. EineWelle mit y = 0 würde beispielsweise nur aus Geschwindigkeits- und nicht ausAbstandsschwankungen bestehen.

Setzt man diesen „Stauwellenansatz“ in das lineare System ein, ergibt sich daslinear-homogene 2 × 2 Gleichungssystem für die Amplitudenanteile

(λ 1 − e−ik

−as λ − (av + avl e

−ik))

·(

yu

)= 0. (15.33)

Dieses System ist nur lösbar, falls die Determinante der Koeffizientenmatrix ver-schwindet. Die resultierende quadratische Gleichung für die komplexe Wachstums-rate hat die Lösung

λ(k) = − p(k)

2

[1 ±

1 − 4q(k)

p2(k)

](15.34)

mit den Koeffizienten

p(k) = −av − avl e−ik, (15.35)

q(k) = as

(1 − e−ik

). (15.36)

Diese Lösbarkeitsbedingung besagt, dass für gegebene Phasenverschiebung k nurzwei mögliche Wachstumsraten der Stauwelle möglich sind. Zu jeder der beidenWachstumsraten sind relative Amplitudenanteile der Geschwindigkeits- und Ab-standsschwankungen u bzw. y (der sogenannte Eigenvektor) zugeordnet.

Das Modell ist nur dann kolonnenstabil, wenn der Realteil σ der Wachstumsrateλ für beide Lösungen (15.34) und alle möglichen Werte von k = 0 bis |k| = π nicht-positiv ist. Für Modelle ohne explizite Reaktionszeit wird die Kolonne, in Überein-stimmungen mit den Beobachtungen, jedoch immer zuerst gegenüber Störungen mitsehr großer Wellenlänge ∝ 1/k instabil. Man muss also Gl. (15.34) nur im Limesk → 0 untersuchen. Die Vorfaktoren der quadratischen Gleichung werden dazu ineine Taylor-Reihe um k = 0 entwickelt:

p(k) = p0 + p1k + O(k2),

q(k) = q1k + q2k2 + O(k3),(15.37)

mit

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224 15 Stabilitätsanalyse

p0 = −(av + avl ) = −av,

p1 = iavl = −i aΔv,

q1 = ias = i as = iv′e(se)p0,

q2 = as2 = as

2 = v′e(se)

2 p0.

(15.38)

Die Vorfaktoren p0 und q2 sind reellwertig, während p1 und q1 rein imaginär sind.Die durch die jeweils letzten Gleichheitszeichen in den Ausdrücken für q1 und q2gegebenen Entsprechungen folgen aus den Bedingung (15.13) bzw. (15.15).

Da q(k) keine Terme nullter Ordnung hat und p0 = −av gemäß den allgemeinenKriterien an die Beschleunigungsfunktion strikt positiv ist, kann λ nur für das ne-gative Vorzeichen der Wurzel in Gl. (15.34) positiv werden, so dass wir nur diesenFall betrachten. Entwickelt man nun die Wachstumsrate (15.34) selbst um k = 0und nutzt die für kleine (komplexwertige) ε gültige Beziehung

√1 − ε = 1 − ε − 1

8ε2 + O(ε3)

aus, erhält man bis einschließlich der zweiten Ordnung

λ = − q1

p0k +

(q1 p1

p20

− q2

p0− q2

1

p30

)k2 + O(k3) (15.39)

bzw. mit den Koeffizienten (15.38)

λ = −iv′e k + v′

e

av + avl

[1

2(avl − av) − v′

e

]k2 + O(k3). (15.40)

Die Wachstumsrate λ verschwindet für k = 0. Dies ist direkt eine Folge der Konti-nuitätsgleichung: Aufgrund der Fahrzeugerhaltung können sich Dichteschwankun-gen unendlicher Wellenlänge nicht mehr auflösen, denn in diesem Grenzfall könnendie Fahrzeuge nirgendwo hin.

Der in k lineare Term ist rein imaginär und beschreibt damit die Ausbreitungs-eigenschaft der Wellen für kleine Phasenverschiebungen. Aus λ = σ + iω folgtdirekt ω = −v′

ek und damit für die relative Ausbreitungsgeschwindigkeit (15.32)der einfache Ausdruck

crel = (se + l)ω

k= −(se + l)v′

e(se). (15.41)

In dieser Gleichung geht die Beschleunigungsfunktion des Modells nur indirekt überdie Ableitung v′

e(s) der Gleichgewichtsrelation ein. Da v′e(s) ≥ 0, gilt crel ≤ 0, die

Störungen breiten sich also, bezogen auf die Fahrzeugbewegung, nach hinten aus.Dies ist plausibel, da in der betrachteten Klasse der Fahrzeugfolgemodelle nur aufdie Vorderfahrzeuge, nicht aber auf die Hinterfahrzeuge reagiert wird.

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15.4 Kolonneninstabilität 225

Der Term zweiter Ordnung ist rein reellwertig und beschreibt damit die Wachs-tumseigenschaften der Wellen. Insbesondere ist der Verkehrsfluss (linear) kolonnen-stabil, falls dieser Term negativ ist. Da v′(se) > 0 und der Nenner av +avl = av < 0ist, muss die eckige Klammer der Gl. (15.40) positiv sein. Daraus folgt direkt dieStabilitätsbedingung

v′e(se) ≤ 1

2

(avl − av

)Kolonnenstabilität für vα = amic(sα, vα, vα−1). (15.42)

Für Modelle mit Beschleunigungsfunktionen in der Form a(s, v,Δv) erhält mandaraus mit Gl. (15.14) die alternative Bedingung

v′e(se) ≤ − av

2− aΔv Kolonnenstabilität für vα = amic(sα, vα,Δvα). (15.43)

Diskussion. Anhand dieser Stabilitätsbedingungen für mikroskopische Modellekann man direkt die drei stabilitätsbestimmenden Einflussfaktoren ablesen. Zu-nächst setzt eine Instabilität einen hinreichend große Sensitivität v′

e(s) > 0 derGleichgewichtsgeschwindigkeit vom Abstand voraus. Ohne diese Sensitivität würdeder in Abschn. 15.1 diskutierte Entstehungsmechanismus von Stop-and-Go-Wellenbereits im ersten Schritt zusammenbrechen, denn die nachfolgenden Fahrzeuge rea-gieren auf Abstandsänderungen kaum. Dies ist natürlich nur bei geringer Verkehrs-dichte realistisch und erklärt, warum es für Instabilitäten eines hinreichend großenVerkehrsaufkommens bedarf.

Bei hohem Verkehrsaufkommen und auch bei gebundenem Verkehr ist v′e(s) ge-

nerell hoch (1/v′e hat die Größenordnung der modellierten Folgezeit) und Instabi-

lität kann nur verhindert werden, wenn die Sensitivität der Fahrer auf Änderungender eigenen Geschwindigkeit und der Geschwindigkeit des Vorderfahrzeugs hinrei-chend hoch ist. Die Sensitivität av < 0 auf die eigene Geschwindigkeit modellierteine Anpassung an die gerade aktuelle Gleichgewichtsgeschwindigkeit. Der Betragvon 1/av ist damit durch die Anpassungszeit der Größenordnung 10 s gegeben. Dadie Folgezeit kaum mehr als 1 s beträgt und damit bei gebundenem Verkehr −av/2deutlich kleiner als v′

e ist, reicht selbst eine schnelle Anpassung an die Gleichge-wichtsgeschwindigkeit, also eine hohe Agilität der Autofahrer nicht allein aus, umStabilität zu erreichen.

Zusätzlich ist eine Reaktion auf das Vorderfahrzeug nötig. Die entsprechendenSensitivitäten avl bzw. aΔv müssen betragsmäßig deutlich größer sein als −av , umKolonnenstabilität zu erreichen. Dies entspricht einem vorausschauenden Fahrstil.Im Stop-and-Go-Mechanismus des Abschn. 15.1 bedeutet dies, dass die nachfol-genden Fahrzeuge frühzeitig auf die Bremsaktion des ersten Fahrzeugs reagieren.Damit ergeben sich höhere „Zeitpolster“ und die Stauwelle bekommt von hintenweniger „Nachschub“. Zusätzlich beschleunigen die Fahrzeuge an der Vorderseiteder Stauwelle umso frühzeitiger und zügiger, je höher avl ist. Dadurch fahren mehr

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226 15 Stabilitätsanalyse

Fahrzeuge aus dem Stau heraus als stromaufwärts hinein, so dass sich sogar bereitsvorhandene Stauwellen auflösen können.

15.4.2 Stabilitätsbedingungen für makroskopische Modelle

Bei der Untersuchung der Kolonnenstabilität makroskopischer Modelle gehen wirvon der allgemeinen Formulierung zeitkontinuierlicher Modelle zweiter Ordnungaus (Gln. (9.7) und (9.8)). Zur effizienteren Darstellung fassen wir den lokalen bzw.nichtlokalen Anpassungsterm, den Druckterm und den Geschwindigkeitsdiffusions-term zu einer allgemeinen makroskopischen Beschleunigungsfunktion zusammen.Ferner beschränken wir uns auf homogene Strecken.8 Die Ausgangsgleichungenlauten somit

∂ρ

∂t+ ∂(ρV )

∂x= D

∂2ρ

∂x2, (15.44)

∂V

∂t+ V

∂V

∂x= A (ρ, V, ρa, Va, ρx , Vx , ρxx , Vxx ) . (15.45)

Hierbei bedeuten

ρx = ∂ρ(x, t)

∂x, ρxx = ∂2ρ(x, t)

∂x2, ρa = ρ(xa, t) mit xa > x (15.46)

und entsprechende Definitionen für Vx , Vxx und Va . Genau wie bei den Mikromo-dellen werden die Modellgleichungen zunächst um den stationär-homogenen Zu-stand (ρe, Ve) mit Ve = Ve(ρe) linearisiert. Der Ansatz

ρ(x, t) = ρe + ρ(x, t), (15.47)

V (x, t) = Ve + V (x, t) (15.48)

mit A(ρe, Ve, ρe, Ve, 0, ...) = 0 führt zu den linearen partiellen, im Allgemeinennichtlokalen Gleichungen

∂ρ

∂t= −ρe

∂ V

∂x− Ve

∂ρ

∂x+ D

∂2ρ

∂x2, (15.49)

∂ V

∂t= −Ve

∂ V

∂x+ Aρρ + AV V + Aρa ρa + AVa Va

+Aρx

∂ρ

∂x+ AVx

∂ V

∂x+ Aρxx

∂2ρ

∂x2+ AVxx

∂2V

∂x2. (15.50)

8 Andernfalls lässt sich der Fouriermoden-Ansatz nicht durchführen.

Page 229: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

15.4 Kolonneninstabilität 227

Die bei der Linearisierung verwendeten Taylorkoeffizienten sind definiert durch dieAbleitung der Beschleunigungsfunktion nach den jeweiligen Argumenten, also

Aρ = ∂ A

∂ρ

∣∣∣∣e, Aρa = ∂ A

∂ρa

∣∣∣∣e, Aρx = ∂ A

∂ρx

∣∣∣∣e, Aρxx = ∂ A

∂ρxx

∣∣∣∣e

(15.51)

und analoge Definitionen für die Ableitungen nach V , Va oder nach Gradientenvon V . Das Subskript „e“ bedeutet, dass die Ableitungen am Gleichgewichtspunkt(ρe, Ve) ausgewertet werden.

Der allgemeine „Stauwellenansatz“ zur Lösung dieser Gleichungen lautet

(ρ(x, t)V (x, t)

)∝(

ρ

V

)eλt−ikx =

V

)e(σ+iω)t−ikx . (15.52)

Im Gegensatz zum mikroskopischen Ansatz (15.31) ist dieser Ansatz im ortsfestenSystem formuliert. Außerdem ist die Größe k, im Gegensatz zur Darstellung beiden Mikromodellen, dimensionsbehaftet mit der Einheit m−1. Sie entspricht derin der Physik üblichen Definition der Wellenzahl. Die Wellenlänge der beschrie-benen Stauwellen ist also direkt durch 2π/k und nicht, wie im mikroskopischenFall, durch (se + l)2π/k gegeben. Bei I Fahrstreifen enthält eine Stauwelle somitIρe2π/k Fahrzeuge und breitet sich mit der Geschwindigkeit c = ω/k bezüglichdes ortsfesten Systems aus.

Setzt man den Ansatz (15.52) in die Gln. (15.44) und (15.45) ein, erhält manwie im mikroskopischen Fall ein algebraisches lineares Gleichungssystem für diebeiden Amplituden ρ und V :

λρ = (ikVe − Dk2)ρ + ikρeV ,

λV = (Aρ + Aρa e−iksa − ik Aρx − k2 Aρxx

+ (ikVe + AV + AVa e−iksa − ik AVx − k2 AVxx

)V .

Hier ist sa = xa − x die Antizipations-Entfernung im Falle nichtlokaler Modelle.Der weitere Verlauf der Analyse, also die Entwicklung nach langen Wellenlän-

gen bzw. kleinen Wellenzahlen k, ist identisch zur Analyse der im Abschn. 15.4.1beschriebenen Fahrzeugfolgemodelle. Am Ende gelangt man wieder zur Gl. (15.39)mit den Entwicklungskoeffizienten

p0 = −(AV + AVa ),

p1 = i(AVx + sa AVa − 2Ve),

q1 = iVe(AV + AVa ) − iρe(Aρ + Aρa ) = −i Q′e p0,

q2 = Ve(AVx + sa AVa ) − ρe(Aρx + sa Aρa ) − V 2e − D AV .

(15.53)

Das zweite Gleichheitszeichen beim Ausdruck für q1 folgt aus der Tatsache, dassdie makroskopischen Gleichungen beliebig viele, mit ρe parametrisierte Gleichge-wichtslösungen (ρe, Ve(ρe)) besitzen. Aus den jeweiligen Gleichgewichtsbedingun-gen A(. . . ) = 0 folgt durch Ableiten nach ρ

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228 15 Stabilitätsanalyse

(Aρ + Aρa

)dρ + (

AV + AVa

) dVe

dρdρ = 0

und damit

dVe

dρ= V ′

e = − Aρ + Aρa

Av + AVa

,

also

q1 = −iVe p0 − iρeV ′e = −i(Ve + ρeV ′

e)p0 = −i Q′e p0.

Aus der ersten Ordnung der Taylorentwicklung (15.39) nach Wellenzahlen be-kommt man die Ausbreitungsgeschwindigkeit

c = ω

k= − Im(q1)

p0= Q′

e. (15.54)

Genau wie bei den LWR-Modellen ist also auch in Modellen zweiter Ordnungdie Ausbreitungsgeschwindigkeit von Wellen (zumindest bei großen Wellenlängen,k � 1) durch die Steigung des Fundamentaldiagramms gegeben. In Aufgabe 15.2wird gezeigt, dass dies auch für Mikromodelle gilt.

Zur Stabilitätsanalyse betrachten wir wieder den Term zweiter Ordnung inGl. (15.39). Aus der Bedingung, dass für Kolonnenstabilität der Vorfaktor (die rundeKlammer in dieser Gleichung) nicht positiv sein darf, erhält man die makroskopi-sche Stabilitätsbedingung

(Q′e)

2 − i p1 Q′e − q2 ≤ 0. (15.55)

Lokale Modelle. Für lokale Modelle (Aρa = AVa = 0) erhält man durch Einsetzender Koeffizienten in Gl. (15.55) und der Ersetzung Q′

e = Ve + ρeV ′e die allgemeine

Stabilitätsbedingung

(ρeV ′e)

2 ≤ −ρe(V ′

e AVx + Aρx

)− D AVStabilitätsbedingung fürlokale Makromodelle.

(15.56)

Kann das lokale makroskopische Modell in der Form (9.8) geschrieben werden (alleGradienten der Beschleunigungsfunktion können als Gradient −1/ρ∂ P/∂x einesnur von ρ abhängigen Verkehrsdrucks P(ρ(x, t)) geschrieben werden), spezialisiertsich Gl. (15.56) zur Bedingung

(ρeV ′e)

2 ≤ P ′e − D AV mit P ′

e = P ′(ρe). (15.57)

Nichtlokale Modelle. Da die nichtlokalen Terme dieselbe Rolle spielen wie die Gra-dienten bei den lokalen Modellen, sind in diesem Fall in der Beschleunigungsfunk-

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15.4 Kolonneninstabilität 229

tion keine zusätzlichen Gradiententerme sinnvoll – zumindest keine, welche Be-schleunigungen einzelner Fahrzeuge entsprechen. Schließlich repräsentieren nicht-lokale Modelle genau diese Gradienten auf eine stabilere Weise. Damit gilt bei denallgemeinen Koeffizientengleichungen (15.53) Aρx = 0, AVx = 0 und D = 0.Allerdings können auch durch die statistischen Eigenschaften der mikroskopischenGeschwindigkeitsdifferenzen in den makroskopischen Gleichungen Gradiententer-me in Form des Druckterms −1/ρ ∂ P

∂x auftreten (vgl. Abschn. 9.3), so dass dieser inder Form P(x, t) = P(ρ(x, t)) mitgeführt wird. Eine Auswertung von Gl. (15.55)führt zur allgememeinen Stabilitätsbedingung für nichtlokale Modelle wie demGKT-Modell:

(ρeV ′e)

2 ≤ P ′e − ρesa

(V ′

e AVa + Aρa

) Stabilitätsbedingung fürnichtlokale Makromodelle.

(15.58)

Diskussion. Wie bei den Mikromodellen wächst die Neigung zu Instabilitäten mitden Sensitivitäten |V ′

e(ρ)| der Gleichgewichtsgeschwindigkeit bezüglich des Ab-standes bzw. der Dichte. Bemerkenswerterweise taucht die Sensitivität AV bezüg-lich der Gewichtsgeschwindigkeit nur gekoppelt mit der Dichtediffusion D auf, diemeist gleich Null angenommen wird. Ohne Gradienten oder nichtlokale Terme,d.h. ohne irgendeine Form von Antizipation, sind die Modelle damit bedingungs-los instabil! Die Gradiententerme auf der rechten Seiten der Gln (15.56) bzw. derDruckgradient der Gl. (15.57) wirken immer stabilisierend. Die nichtlokalen Termein Gl. (15.58) sind die direkte Entsprechung der Gradiententerme in Gl. (15.56) undhaben einen ähnlich stabilisierenden Effekt auf den Verkehrsfluss.

Weiterhin hängt die lineare Stabilität nicht von der Geschwindigkeitsdiffusion η

oder anderen Diffusionstermen in der Geschwindigkeitsgleichung ab; die entspre-chenden Ableitungen AVxx oder Aρxx der Beschleunigungsfunktion treten nicht inden Stabilitätsbedingungen auf. Die Diffusion stabilisiert aber größere Störungen,welche nicht in den Gültigkeitsbereich von Gl. (15.56) fallen. Deshalb wird sie ineinigen Modellen wie z.B. dem Kerner-Konhäuser-Modell (KK-Modell) verwendet.

15.4.3 Anwendungsbeispiele

Die im vorhergehenden Abschnitt hergeleiteten allgemeinen Stabilitätskriterienwerden nun auf die in den Kap. 9 und 10 vorgestellten makroskopischen und mikro-skopischen Modelle angewandt.

Payne-Modell. Mit der Modellgleichung (9.15) ergibt sich die Beschleunigungs-funktion zu

A(x, t) = Ve(ρ) − V

τ+ V ′

e(ρ)

2ρτ

∂ρ

∂x.

Mit Aρx = V ′e/(2ρτ), AVx = 0 und D = 0 ergibt die Stabilitätsbedingung (15.56)

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230 15 Stabilitätsanalyse

ρV ′e

2 ≤ −Aρx = − V ′e

2ρτ

und damit (man beachte bei der Ungleichung V ′e(ρ) < 0)

− V ′e(ρ) = |V ′

e(ρ)| ≤ 1

2ρ2τ. (15.59)

Je agiler die Fahrer (je kleiner die kollektive Anpassungszeit τ ), desto stabiler istder Verkehrsfluss in diesem Modell.

LWR-Modelle. Im Grenzfall τ → 0 resultiert aus dem Payne-Modell das LWR-Modell mit Diffusion (vgl. Abschn. 9.4.1). Dieses ist gemäß den obigen Überle-gungen bedingungslos stabil. Das klassische LWR-Modell ohne Diffusion hingegenhat nach den Kriterien unbestimmte Stabilitätseigenschaften. Da aber eine noch sokleine Dichtediffusionskonstante das Modell global stabil macht und bei der nu-merischen Integration immer numerische Diffusion auftritt (vgl. Abschn. 9.5, Sei-te 134), ist es in der praktischen Anwendung ebenfalls global stabil (theoretisch istes marginal stabil).

Kerner-Konhäuser-Modell. Hier ist das Stabilitätskriterium (15.57) am günstigstenanzuwenden. Mit P = ρθ0, P ′(ρ) = θ0 und D = 0 ergibt sich

ρ2(V ′e)

2 ≤ θ0. (15.60)

GKT-Modell. Trotz der scheinbar komplexen GKT-Beschleunigungsgleichung las-sen sich die zum Einsetzen in Gl. (15.58) notwendigen Ableitungen der Beschleu-nigungsfunktion relativ kompakt ausdrücken:

Aρa = ∂ A

∂ρa= −2(V0 − Ve)ρmax

τρe(ρmax − ρe), (15.61)

Ava = ∂ A

∂Va= 2(V0 − Ve)

τσV (ρe)√

π. (15.62)

Hierbei ist die Geschwindigkeitsvarianz, Gl. (9.18), durch σ 2V (ρ) = α(ρ)V 2

e (ρ)

gegeben. Einsetzen in Gl. (15.58) ergibt die GKT-Stabilitätsbedingung

(ρeV ′e)

2 − P ′e + 2sa(V0 − Ve)

τ

[ρeV ′

e

σV√

π− ρmax

ρmax − ρe

]≤ 0, (15.63)

mit sa = γ VeT und P ′e = σ 2

V + ρα′(ρ)V 2e an der Stelle ρ = ρe.

Optimal-Velocity-Modell und Erweiterungen. Bei den mikroskopischen Modellenbetrachten wir zunächst das verallgemeinerte Optimal-Velocity-Modell (OVM) mitAntizipation (Full Velocity-Difference-Modell, Abschn. 10.6). Seine Beschleuni-gungsfunktion amic(s, v,Δv) = (vopt(s) − v)/τ − γΔv ist als Funktion der

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15.4 Kolonneninstabilität 231

Geschwindigkeitsdifferenzen formuliert, weshalb Bedingung (15.43) zur Anwen-dung kommt. Mit av = −1/τ und aΔv = −γ erhält man direkt durch Einsetzen

v′e(s) ≤ 1

2τ+ γ. (15.64)

Da im gebundenen Verkehr v′e(s) von der Größenordnung der Folgezeit ist, erfordert

die Stabilitätsbedingung für das OVM Anpassungszeiten τ von der Größenordnungeiner halben Sekunde. Damit ist ein mit dem OVM modellierter Verkehrsfluss nurfür unrealistisch agile Fahrer stabil und eine Modellerweiterung um eine Sensitivitätbezüglich Geschwindigkeitsdifferenzen mit γ in der Größenordnung 1 s−1 notwen-dig.

Newell-Modell. Für iterierte Abbildungen wie dem Newell-Modell (10.22) kanndie Herleitung des Stabilitätskriteriums im Prinzip wie im Abschn. 15.4.1 durch-geführt werden. Man erhält allerdings anstelle von Gl. (15.34) eine transzendenteGleichung für die Wachstumsraten λ(k), welche ähnlich wie Gl. (15.24) aussieht.Daraus lässt sich kein kompakt formulierbares Stabilitätskriterium ableiten, zumalfür solche Modelle auch zuerst Instabilitäten mit kurzer Wellenlänge auftreten kön-nen. Nimmt man hingegen von vorneherein nur Instabilitätsmuster an, deren Pe-riodendauer (im mit dem Fahrer mitbewegten System) viele Zeitschritte umfasst,verändert der Übergang von Differenzen- zu Differentialquotienten nicht die Stabi-litätseigenschaften. Anstelle des Newell-Modells vα(t + T ) = ve(sα(t)) wird alsogemäß der Entsprechung (10.10) die kontinuierliche Version mit der Beschleuni-gungsfunktion

aNewellmic (s, v) = ve(s) − v

T(15.65)

untersucht. Diese ist identisch zum OVM, wenn man die Geschwindigkeitsanpas-sungszeit gleich der Reaktionszeit setzt. Das Modell ist somit stabil, falls

v′e(s) ≤ 1

2T. (15.66)

Vereinfachtes Gipps-Modell. Hier gelten bei der Stabilitätsuntersuchung dieselbenEinschränkungen wie beim Newell-Modell. Die Instabilitäten können auch kurzeWellenlängen haben. Beim ursprünglichen Gipps-Modell sind dies in der Tat dieersten Instabilitäten. In der vereinfachten Version (11.8) mit Gl. (11.7) hingegentreten zuerst Störungen mit langen Wellenlängen auf, die mit dem zeitkontinuier-lichen Effektivmodell ohne explizite Reaktionszeit erfasst werden können. DessenBeschleunigungsfunktion a(s, v, vl) ist im gebundenen Verkehr9 gegeben durch

9 Ansonsten können keine Instabilitäten auftreten.

Page 234: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

232 15 Stabilitätsanalyse

aNewellmic (s, v, vl) = vsafe(s, vl) − v

T=√

b2T 2r + v2

p + 2bs − bTr − v

T. (15.67)

Daraus ergibt sich für v < v0 (d.h. gebundenen Verkehr)

v′e(s) = 1

T, as = b

T (bT + ve), av = − 1

T, avl = ve

bT + ve. (15.68)

Die Stabilitätsbedingung (15.42) ist damit gegeben durch

1

T≤ 1

2T

(1 + ve

ve + bT

). (15.69)

Da diese Bedingung nie erfüllt ist, ist ein durch dieses Modell dargestellter gebun-dener Verkehr also immer instabil! Allerdings ist die Instabilität immer konvektiverNatur (siehe Abschn. 15.5). Außerdem sind bei kleinen Werten des Verzögerungs-parameters b die Wachstumsraten so klein (1/σ ist dann von der Größenordnungeiner Stunde), dass Störungen erst über viele Kilometer merklich wachsen (vgl.Abb. 11.1). Dann haben die Störungen aber in der Regel den Staubereich bereitsverlassen und sich danach aufgelöst. Damit ist das Modell bei kleinen Werten von b(etwa unterhalb 1 m/s2) de facto marginal stabil.

Intelligent-Driver-Modell. Die Beschleunigungsfunktion des Intelligent-Driver-Modells (IDM) ist vom Typ a(s, v,Δv). Da die Ableitung av bezüglich v einendeutlich längeren Ausdruck ergeben würde als die bezüglich des Nettoabstandess, wird mit Hilfe der Relation (15.15) av = −as/v

′e(s) gesetzt. Damit lautet

Gl. (15.43)

v′e(se) ≤ as

2v′e(se)

− aΔv. (15.70)

Mit den Ableitungen

aIDMs = 2a

se

(s0 + veT

se

)2

und aIDMΔv = −ve

se

√a

b

(s0 + veT

se

)(15.71)

ergibt sich schließlich (Abb. 15.5)

(v′e)

2 ≤ a(s0 + veT )

s2e

[s0 + veT

se+ vev

′e√

ab

]. (15.72)

Die Stabilität wächst also mit dem Beschleunigungsparameter a (die rechte Seitevon Gl. (15.72) wird gräßer, vgl. auch Abb. 15.5) und sinkt mit s0 (die rechte Seitewird kleiner).

Insbesondere gilt im Grenzfall ve → 0 mit se → s0 und v′e(se) = 1/T die

Bedingung

Page 235: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

15.5 Konvektive Instabilität 233

0 20 40 60

v (k

m/h

)

0 20 40 60 80 100 120 0 20 40 60 80 100 120 0

20 40 60

v (k

m/h

)

0

10

20

30

0 20 40 60 80 100 120 0 20 40 60 80 100 120

s (m

)

0

10

20

30

s (m

)

0 20 40 60 80 100 120 0 20 40 60 80 100 120–3–2–1 0 1

dv/d

t (m

/s2 )

Zeit (s)

–3–2–1 0 1

dv/d

t (m

/s2 )

Zeit (s)

Abb. 15.5 Kolonneninstabilität beim IDM bei der Reaktion auf ein Bremsmanöver des Führungs-fahrzeugs (schwarze, dicke Linien). Gezeigt ist das erste, 10., 20., 40., 60. und 80. Fahrzeug deranfänglich im Gleichgewicht deutlich unterhalb der Wunschgeschwindigkeit (v0 = 120 km/h)fahrenden Kolonne. Linke Spalte: Kolonnenstabiles Verhalten (Parameter T = 1 s, s0 = 2 m,a = b = 2 m/s2). Rechte Spalte: Das IDM wird durch Reduktion des Beschleunigungsparametersauf a = 0.6 m/s2 kolonneninstabil

a ≥ s0

T 2. (15.73)

Falls das IDM für höhere Geschwindigkeiten bzw. Abstände kolonneninstabil wird,aber Gl. (15.73) erfüllt ist, spricht man auch von Restabilisierung. In diesem Fallwürde gebundener Verkehr mit höheren Flüssen instabil sein, aber durch sehr starkeEngstellen verursachte Staus mit dementsprechend sehr geringen Geschwindigkei-ten stabil, so dass der Verkehr dann „zähfließend“ ist. Dies wird in Abschn. 16.2ausführlich diskutiert.

15.5 Konvektive Instabilität

Um zumindest näherungsweise ein analytisches Kriterium für den Unterschied zwi-schen konvektiver und absoluter Instabilität zu erhalten, geht man direkt von derDefinition (15.4) aus. Man untersucht also, ob sich eine anfangs nahezu punktför-mige Störung stromaufwärts und -abwärts ausbreitet (absolute Instabilität) oder aus-schließlich in eine Richtung, also entweder stromaufwärts oder stromabwärts (kon-vektive Instabilität). Da alle folgenden Überlegungen von Langwelleninstabilitätenausgehen und auf der linearen Wachstumsrate λ(k) in der Form (15.34) aufbau-en, die sich jeweils aus den mikroskopischen und makroskopischen Lösbarkeits-bedingungen (15.33) bzw. (15.4.2) ergibt, sind die Ergebnisse gleichermaßen fürMikro- und Makromodelle gültig.

Im Gegensatz zu den bisherigen Betrachtungen werden nun die Wachstumsratennicht um k = 0 Taylor-entwickelt, sondern um die Wellenzahl

Page 236: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

234 15 Stabilitätsanalyse

k0 = arg maxk

(Re(λ1/2(k)) (15.74)

der Störung, welche am schnellsten anwächst. Die dazugehörige maximale Wachs-tumsrate

σ0 = σ(k0) = Re(λ(k0)) (15.75)

ist wegen der Voraussetzung linearer Kolonneninstabilität natürlich positiv. Abbil-dung 15.6 zeigt für das IDM, dass die Wellenzahl ungleich Null ist und mit demAbstand von der linearen Stabilitätsgrenze (diese entspricht hier einem Wert vona = 1.10 m/s2) zunimmt. Dies kommt daher, dass aufgrund der Fahrzeugerhal-tung die Störung mit der Wellenzahl k = 0 immer die Wachstumsrate Null hatund aus Symmetrie- und Stetigkeitsgründen die Tangentensteigung σ ′(0) ebenfallsverschwindet. Die Instabilität bleibt aber langwelliger Natur: Der Wert k0 = 0.132der mittleren Kurve in Abb. 15.6 (Grenze zwischen konvektiver und absoluter In-stabilität) entspricht Stauwellen mit 2π/k0 ≈ 47 Fahrzeugen pro Welle und Fahr-streifen bzw. einer Wellenlänge von knapp 1.3 km. Die dazugehörige Wachstumrateσ0 = 0.0017 s−1 entspricht einem Wachstum um den Faktor e alle zehn Minuten.10

Die Amplitude U (x, t) der Störungen ergibt sich aus der lokalen, durch Gl. (15.1)beschriebenen Anfangsstörung und der durch Gl. (15.34) gegebenen komplexenWachstumsrate (mit dem Minuszeichen vor der Quadratwurzel) in folgenden Schrit-ten:

• Aufteilen der Anfangsbedingung in Anteile mit verschiedenen Wellenzahlendurch Fouriertransformation und der Näherung k � 1 (Mikromodelle) bzw.k � ρe (Makromodelle).

–0.002

–0.001

0

0.001

0.002

0.003

0.004

0.005

0 0.05 0.1 0.15 0.2 0.25

Wac

hstu

msr

ate

(1/s

)

skalierte Wellenzahl k

a = 0.80 m/s2

a = 0.93 m/s2

a = 1.10 m/s2

Abb. 15.6 Lineare Wachstumsrate des Intelligent-Driver-Modells (IDM) bei gebundenem Verkehrder Geschwindigkeit ve = 48 km/h in Abhängigkeit der auf den Wertebereich [−π, π ] skaliertenWellenzahl k und des IDM-Parameters a. Die restlichen IDM-Parameter sind v0 = 120 km/h,T = 1.5 s, s0 = 2 m, b = 1.3 m/s2 bei einer Fahrzeuglänge von l = 5 m

10 Auch ein Indiz dafür, dass es sehr lange dauern kann, bis aus einer Störung ein richtiger Stauentsteht.

Page 237: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

15.5 Konvektive Instabilität 235

• Zeitentwicklung der Anteile mit Wellenzahl k durch Gl. (15.31) für Mikromo-delle bzw. Gl. (15.52) für Makromodelle.

• Im Falle von Mikromodellen Transformation in ein ortsfestes Bezugssystem mitMetern anstatt des Gleichgewichts-Bruttoabstandes als Einheit des Ortes.

• Zusammenfassen der Anteile mit verschiedenen Wellenzahlen (inverse Fourier-transformation).

Dieser letzte Schritt lässt sich analytisch durchführen, wenn man die Wachstums-rate um die Wellenzahl k0 bis einschließlich der zweiten Ordnung Taylor-entwickeltund das entstehende komplexe Gaußintegral ausführt. Als Ergebnis erhält mandie raumzeitliche Ausbreitung der anfangs eng umgrenzten Störung in der FormU (x, t) = Re(U (x, t)) mit der komplexen Störungsgröße (vgl. Abb. 15.8)

U (x, t) ∝ exp[i(kphys

0 x − ω0t)]

exp

[(σ0 +

(vg − x

t

)2

2(iωkk − σkk)

)t

]. (15.76)

Die Entwicklungskoeffizienten sind in folgender Tabelle gegeben:

Größe in (15.76) Mikromodelle Makromodelle

kphys0 ρek0 = ρearg max

kRe λ(k) k0 = arg max

kRe λ(k)

σ0 Re λ(k0) Re λ(k0)

ω0 veρek0 + Im λ(k0) Im λ(k0)

vg ve + Im λ′(k0)/ρe Im λ′(k0)

σkk Re λ′′(k0)/ρ2e Re λ′′(k0),

ωkk Im λ′′(k0)/ρ2e Im λ′′(k0).

Anhand von Ausdruck (15.76) sieht man, dass sich einzelne Wellen mit derPhasengeschwindigkeit vφ = ω0/kphys

0 bewegen (erster Faktor dieser Gleichung),während sich die Störung als ganzes mit der Gruppengeschwindigkeit vg ausbreitet(zweiter Faktor) und die Amplitude im Zentrum mit der Rate σ0 wächst. Abbil-dung 15.7 zeigt, dass sich beide Geschwindigkeiten im Allgemeinen voneinanderund von der LWR-Ausbreitungsgeschwindigkeit c = limk→0 vφ(k) unterscheiden.

In Abb. 15.8 sieht man direkt die Konsequenzen dieser unterschiedlichen Ge-schwindigkeiten: Da hier vg wesentlich weniger negativ ist als vφ , entstehen dieeinzelnen Wellen am stromabwärtigen Rand der Störung und laufen mit der Pha-sengeschwindigkeit durch die Störung hindurch. Die Abbildung zeigt, dass trotzder vielen verwendeten Näherungen der analytische Ausdruck (15.76) bis in dieEinzelheiten mit der Simulation übereinstimmt.

Wendet man nun auf die Lösung (15.76) direkt die Definition (15.4) konvektiverInstabilität an, so erhält man folgende Bedingungen:

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236 15 Stabilitätsanalyse

–14

–12

–10

–8

–6

–4

–2

0

0 0.05 0.1 0.15 0.2 0.25Aus

brei

tung

sges

chw

. (km

/h)

skalierte Wellenzahl k

Gruppengeschwindigkeit vφWachstumsmaximum

Phasengeschwindigkeit c

Abb. 15.7 Ausbreitungsgeschwindigkeit vφ(k) und Gruppengeschwindigkeit vg(k) für das IDMmit a = 0.93 m/s2 und den restlichen IDM-Parametern sowie ve wie in Abb. 15.6

–5 –4 –3 –2 –1 0 1x (km)

10 20

30

40

t (min)

47.6 47.8

48 48.2 48.4V (km/h)

–5 –4 –3 –2–1 0 1x (km)

10 20

30

40

t (min)

47.5

48

48.5V (km/h)

–5–4 –3

–2 –1 0 1x (km)

10 20

30

40

t (min)

47.96 47.98

48 48.02 48.04V (km/h)

–5 –4 –3 –2 –1 0 1x (km)

10 20

30

40

t (min)

47.98 47.99

48 48.01 48.02

V (km/h)

–3–2

–1 0

1x (km)

10

20

30

t (min)

44 46 48 50 52

V (km/h)

–3–2

–1 0 1x (km)

10

20

30

t (min)

46 47 48 49 50

V (km/h)

Abb. 15.8 Raumzeitliche Ausbreitung einer anfänglich nahezu punktförmigen Störung U (x, t)der Gleichgewichtsgeschwindigkeit ve = 48 km/h im konvektiv instabilen Bereich (links, IDM-Parameter a = 1 m/s2), an der aus (15.77) berechneten Grenze zur absoluten Instabilität (Mitte,a = 0.93 m/s2) und im Bereich absoluter Instabilität (rechts, a = 0.85 m/s2) gemäß analytischerNäherung (15.76) (oben) und aus einer IDM-Simulation (unten). Die weiteren IDM-Parameter sinddieselben wie in Abb. 15.6

0 < σ0 ≤ v2g

2D2, D2 = −σkk

(1 + ω2

kk

σ 2kk

)KonvektiveInstabilität.

(15.77)

Das erste Ungleichheitszeichen besagt, dass der Verkehrsfluss linear instabil ist,während das zweite Ungleichheitszeichen aussagt, dass die Instabilität keine absolu-te ist. Als wesentliches Ergebnis erhalten wir, dass der Bereich der Wachstumsratenmit konvektiver Instabilität mit dem Quadrat der Gruppengeschwindigkeit wächstund umgekehrt proportional zur Dispersion zweiter Ordnung D2 ist. Diese Dispersi-on hat dieselbe Einheit, Größenordnung (100 m2/s) und Wirkung wie Diffusionster-me in Makromodellen. Ist man hinreichend weit auf der „gestauten“ Seite des Fun-damentaldiagramms, so ist vg betragsmäßig groß, die Dispersionen sind klein undals Ergebnis sind die Instabilitäten fast immer konvektiver Natur. Gleichung (15.77)

Page 239: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

15.6 Nichtlineare Instabilitäten und das Stabilitätsdiagramm 237

erlaubt auch eine sich in Flussrichtung ausbreitende konvektive Instabilität (vg > 0)wie in den ursprünglichen hydrodynamischen Systemen. Da aber die in diesem Fallanfänglich vorwärtslaufenden Stauwellen bei Einsetzen der Nichtlinearitäten ihreRichtung umkehren (ein Beispiel ist in Abb. 17.3 zu sehen), ist dieser Fall für dieVerkehrsdynamik nicht bedeutsam. Für negative Gruppengeschwindigkeiten hinge-gen wird die konvektive Natur nicht von den nun zu besprechenden Nichtlinearitätenbeeinträchtigt.

15.6 Nichtlineare Instabilitäten und das Stabilitätsdiagramm

Alle bisherigen Analysen bezogen sich auf kleine Störungen und damit auf lineareStabilität. Für große Störungen, insbesondere für einmal entstandene Stop-and-Go-Wellen, sind nur wenige analytische Aussagen möglich. Vielmehr untersucht mandiese in der Regel direkt durch Simulationen in möglichst einfachen, wohldefinier-ten Systemen. Das für diese Zwecke am häufigsten verwendete toy system ist einegeschlossene homogene Ringstraße mit einem Fahrstreifen und identischen Fahr-zeugen und Fahrern. Um eine Abhängigkeit vom Umfang des Rings zu vermeiden(finite-size effects), sollte der Ring 500 Fahrzeuge oder mehr enthalten. Der einzi-ge Steuerparameter (control parameter) ist die globale Dichte ρe. Untersucht mandas Modellverhalten, indem man den Wertebereich [0, ρmax] des Steuerparametersdurchfährt, erhält man ein sogenanntes Stabilitätsdiagramm.

Obwohl dieses System nicht realistisch ist (in realen Systemen wirkt der Flussund nicht die Dichte als Steuerparameter; außerdem fehlen Engstellen sowie dieMöglichkeit für konvektive Instabilitäten), lassen sich aus dem Stabilitätsdiagrammweitgehende Aussagen auch über reale offene Systeme mit Engstellen machen (Ab-schn. 16.2). Der große Vorteil des Stabilitätsdiagramms ist, dass es ausschließlichModelleigenschaften und Parameterwerte, aber keine Systemeigenschaften wider-spiegelt.

Zur Erstellung von Stabilitätsdiagrammen wie denen der Abb. 15.9 wird die Si-mulation bei gegebener globaler Dichte einmal mit einer sehr kleinen und einmalmit einer maximalen anfänglichen Störung gestartet11 und festgestellt, ob sich per-manente, den Ring umkreisende Stauwellen bilden oder sich die Störung auflöst.Dies wird mit anderen Werten der globalen Dichte wiederholt und so der Wertebe-reich des Steuerparameters abgetastet. Das resultierende Stabilitätsdiagramm hat imAllgemeinen folgende Bereiche:

• Absolute Stabilität bei globalen Dichten ρe unterhalb von ρ1,• Metastabilität im Bereich ρ1 ≤ ρe < ρ2. In diesem Bereich lösen sich hin-

reichend kleine Störungen auf, während sich große Störungen zu permanentenStop-and-Go-Wellen entwickeln (Abb. 15.10),

11 Anstelle der Simulation bei kleiner Störung kann man natürlich die analytischen Ergebnisseheranziehen. Es bietet sich aber an, durch Vergleich der analytischen und numerischen Resultatedie Simulation (und die Annahmen hinter den analytischen Formeln) zu testen.

Page 240: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

238 15 Stabilitätsanalyse

0

500

1000

1500

2000

0 20 40 60 80 100 120 140

Q (

Fz/

h)

ρe (Fz/km)0 20 40 60 80 100 120 140

ρe (Fz/km)

Qe(ρ)

ρcv

ρ2

ρ1

Qe(ρ)

ρ2 = ρcv

ρ4

ρ3

ρ1

0

500

1000

1500

2000

Q (

Fz/

h)

a = 0.8 m/s2 a = 1.1 m/s2

Abb. 15.9 Stabilitätsdiagramm des IDM für zwei Werte des IDM-Beschleunigungsparameters undsonstigen Parametern wie in den Abb. 15.6, 15.7, und 15.8)

–4–2

0 2

4x (km)

10

20

30

t (min) 25 26 27 28 29

–8–6

–4 –2 0 2x (km)

10

20

30

t (min) 0

50

100

ρ (Fz/km) ρ (Fz/km)

Abb. 15.10 Ein metastabiler Dichtebereich des Stabilitätsdiagramms der Abb. 15.9 (ρ =26 Fz/km): Kleine Störungen vergehen (links), während große zu beständig umlaufenden Stau-wellen führen (rechts)

• absolute lineare Instabilität im Bereich ρ2 ≤ ρe < ρcv,• konvektive lineare Instabilität,12 im Bereich ρcv ≤ ρe < ρ3.• konvektive Metastabilität im Bereich ρ3 ≤ ρe < ρ4,• und absolute Stabilität für ρe ≥ ρ4.

15.6.1 Stabilitätsklassen

Die Bereiche folgen fast immer in dieser Reihenfolge13, also ρ1 ≤ ρ2 ≤ ρcv ≤ ρ3 ≤ρ4, aber im Allgemeinen weisen nicht alle Modelle und alle Kombinationen derModell-Parameter alle Bereiche auf. In Abb. 15.9 fehlen beispielsweise im linkenDiagramm die Bereiche oberhalb der Grenze ρ3, während das rechte Stabilitätsdia-

12 Dazu benötigt man theoretisch einen unendlichen Umfang des Rings. In der Praxis muss derUmfang so groß sein, dass während der Simulationszeit kein Fahrzeug um das System fahrenkann.13 In einem engen Parameterbereich ist ein an beiden Seiten von konvektiver Instabilität eingebet-teter Dichtebereich absoluter Instabilität möglich.

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15.6 Nichtlineare Instabilitäten und das Stabilitätsdiagramm 239

gramm keinen Bereich absoluter Instabilität aufweist. Generell können bis auf denersten Bereich alle Bereiche weitgehend unabhängig voneinander auch verschwin-den.14 Bei der Analyse realer offener Systeme mit Engstellen zeigt sich, dass diewesentliche raumzeitliche Dynamik von nur wenigen Kombinationen existierenderBereiche abhängt. Allerdings spielt zusätzlich die relative Lage dieser Bereiche zumMaximalflusszustand (ρe = ρK ) eine Rolle. Dies führt zur Einteilung in folgendeStabilitätsklassen:

Klasse 1a: Das Modell wird bereits vor dem Flussmaximum instabil und bleibt esim gesamten Bereich des gestauten Verkehrs: ρ2 < ρK , ρ3 = ρ4 = ρmax. Da in derNähe des Kapazitätsmaximums die Ausbreitungsgeschwindigkeiten verschwinden,ist die Instabilität dort gemäß Gl. (15.77) eine absolute. Sie bleibt meist in einemgrößerem Dichtebereich absolut, ist aber nahe der maximalen Dichte normalerweisekonvektiv.

Klasse 1b: Der Verkehrsfluss „restabilisiert“ sich für sehr hohe Dichten, d.h. gleich-mäßig „zähfließender“ Verkehr ist möglich: ρ2 < ρK < ρcv < ρ3 < ρmax.

Klasse 2a: Das Modell wird erst bei gestautem Verkehr (also auf der rechten Seitedes Fundamentaldiagramms) instabil und es gibt keine Restabilisierung: ρ2 > ρK ,ρ3 = ρ4 = ρmax. Die Instabilität ist meist im gesamten Dichtebereich konvektiverNatur, kann aber in der Nähe von ρK einen kleinen Bereich absoluter Instabilitätaufweisen.

Klasse 2b: Wie Klasse 2a, aber mit Restabilisierung, ρ3 < ρmax.

Klasse 3: Absolute Stabilität, ρ1 = ρmax.Im Allgemeinen kann ein bestimmtes Modell je nach Parameterkombination ver-

schiedene Stabilitätsklassen aufweisen. Abbildung 15.11 zeigt, dass das IDM sogaralle Stabilitätsklassen annehmen kann. An diesem Modell lassen sich auch die wich-tigsten Einflussfaktoren der Stabilitätsklassen diskutieren:

Agilität: Je höher der Beschleunigungsparameter a, desto agiler ist der Fahrer unddesto kleiner ist die Geschwindigkeitsanpassungszeit. Mit steigender Beschleuni-gung reicht deshalb das Modell von Klasse 1 (selbst bei freiem Verkehr sind Insta-bilitäten möglich) über Klasse 2 (Instabilitäten nur bei gebundenem Verkehr) bis zurKlasse 3 (absolute Stabilität in allen Situationen, vgl. auch Abb. 15.5).

Netto-Zeitlücke: Je kleiner die Nettozeitlücke, desto höher ist die Kapazität. Da dieFahrer dann aber auch weniger Spielraum zum Reagieren haben, wird der Verkehrs-fluss instabiler. Bemerkenswerterweise betrifft dies aber nur die Restabilisierungbei hohen Dichten, während die Möglichkeit von Instabilitäten bei freiem Verkehrweitgehend von a beeinflusst wird.

14 Es ist allerdings schwierig, Modelle und Parameterkombinationen zu finden, die absolut stabileund metastabile, nicht aber instabile Bereiche enthalten.

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240 15 Stabilitätsanalyse

0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2IDM Parameter T (s)

0.5

1

1.5

2

2.5

IDM

Par

amet

er a

(m

/s2 )

2b

1b1a

2a

3s0 = 2 mv0 = 120 km/h

b = 1.5 m/s2

Abb. 15.11 Stabilitätsklassendiagramm des IDM im Parameterraum. Gezeigt ist die Zugehörig-keit zu einer der Stabilitätsklassen in Abhängigkeit des Folgezeitparameters T und der maximalenBeschleunigung a (Fahrzeuglänge 5 m)

Antizipation: Durch Skalierung des IDM kann man zeigen (vgl. Aufgabe 15.7),dass sich an der Stabilitätsklasse bei Erniedrigung der Wunschverzögerung (ent-spricht einer Erhöhung der Antizipation) um den Faktor fb < 1 nichts ändert,wenn man die Klasse in Abb. 15.11 an der Stelle T

√fb und a/ fb abliest sowie die

Wunschgeschwindigkeit um den Faktor√

fb reduziert. Erhöht man beispielsweisedie Antizipation durch Halbierung von b, so ist der dadurch hervorgerufene Effektderselbe, als wenn man b unverändert ließe, aber a verdoppelt, sowie T und v0um den Faktor

√2 reduziert. Gemäß der Abbildung wirkt dies erwartungsgemäß

stabilisierend.15

Übungsaufgaben

15.1 Charakterisierung von InstabilitätsmusternBetrachten Sie die in Abb. 15.1 schematisch gezeigte Instabilität. Handelt es sichum eine lokale oder eine Kolonneninstabilität? Ist sie absolut oder konvektiv, linearoder nichtlinear?

15.2 Ausbreitungsgeschwindigkeit der Stauwellen in MikromodellenZeigen Sie, dass sich aus der mikroskopischen Ausbreitungsgeschwindig-keit (15.41) die Beziehung c(ρ) = Q′

e(ρ) für die Ausbreitungsgeschwindigkeitmakroskopischer Wellen ergibt. Geben Sie dazu die Ausbreitungsgeschwindigkeitim ortsfesten System an und drücken Sie mikroskopische durch makroskopischeGrößen aus.

15.3 Stabilitätsgrenzen beim Velocity-Difference-ModellGegeben ist die Modellgleichung (10.21) des Velocity-Difference-Modells mit einer

15 Es ändert sich allerdings nichts an der Restabilisierung, die nicht von b abhängt: Gilt a ≥ s0/T 2,so fällt das Modell in eine der Klassen 1b, 2b oder 3, ansonsten in die Klassen 1a oder 2a.

Page 243: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

15.6 Nichtlineare Instabilitäten und das Stabilitätsdiagramm 241

Geschwindigkeitsanpassungszeit τ = 5 s und einem dreieckigen Fundamentaldia-gramm mit der mikroskopischen Relation ve(s) = min(s/T, v0) mit T = 1 s. Wiehoch muss die Sensitivität γ auf Geschwindigkeitsdifferenzen mindestens sein, um(i) lokale Stabilität, (ii) Schwingungsfreiheit bei der Folgefahrt, (iii) Kolonnensta-bilität zu gewährleisten?

15.4 Stabilität des Optimal-Velocity-Modells im Vergleich zum Payne-ModellZeigen Sie durch entsprechende Transformation der Funktionen der optimalen Ge-schwindigkeit (10.19), dass für das OVM das Kriterium für Kolonnenstabilität äqui-valent zur Stabilitätsbedingung (15.59) des Payne-Modells ist.

15.5 Stabilitätsbereiche im Payne- und im Kerner-Konhäuser-ModellBetrachten Sie das Payne- und das Kerner-Konhäuser- (KK-) Modell mit jeweilsdreieckigem Fundamentaldiagrammen für Qe(ρ) = min(V0ρ, 1/T (1 − leffρ)) undden Parametern leff = 6 m, V0 = 144 km/h und T = 1.1 s. (i) Zeigen Sie, dassdas Payne-Modell für beliebige Dichten stabil ist, falls τ < T/2. (ii) Legen Siedie Geschwindigkeitsvarianz θ0 im KK-Modell so fest, dass das Modell in demDichtebereich von 20 Fz/km bis 50 Fz/km instabil ist.

15.6 Stabilität des GKT-ModellsBetrachten Sie hohe Verkehrsdichten, so dass der Variationskoeffizient σV der Ge-schwindigkeiten als konstant angesehen werden kann. Zeigen Sie, dass das GKT-Modell ohne Antizipation (γ = 0 bzw. Antizipationsdistanz sa = 0) immer instabilist, ansonsten aber bei hinreichend hohen Verkehrsdichten immer stabil wird bzw.bleibt.

15.7 Stabilitätsklassen-Diagramm des IDM für andere Werte von b und s0Zeigen Sie, dass sich bei Änderung des Parameters b des Intelligent-Driver-Modells(IDM) um den Faktor fb und des Parameters s0 um den Faktor fs an der Stabilitäts-klasse des IDM in Abb. 15.11 nichts ändert, wenn man gleichzeitig a mit den Faktorfb, T mit dem Faktor

√fs/ fb, v0 mit dem Faktor

√fs fb sowie die Fahrzeuglänge

mit dem Faktor fs multipliziert. Formulieren Sie dazu das IDM mit einheitenlosenOrts- und Zeitvariablen, welche das Vielfache der Einheitslänge s0 bzw. Einheitszeit√

s0/b angeben.

15.8 Fundamentaldiagramm mit HystereseAusgehend von Verkehrsmessungen und Detektordaten wurden auf einem Auto-bahnabschnitt folgende Größen ermittelt: mittlere Fahrzeuglänge l = 4.67 m, mitt-lerer Abstand bei zähfließendem Verkehr s = s0 + vT mit s0 = 2 m und T = 1.6 s,(konstante) Geschwindigkeit bei freiem Verkehr 120 km/h, Verkehrsdichte beim Zu-sammenbruch freier Verkehr → Stau 20 Fz/km pro Fahrstreifen. Aus den Angabenfolgt, dass es in einem gewissen Dichtebereich zwei Werte des Verkehrsflusses ge-ben kann.

1. Bei welchem Verkehrsfluss bricht freier Verkehr (im Mittel) zusammen, d.h., beiwelchem Fluss endet der „freie Zweig“ des Fundamentaldiagramms?

2. Ermitteln Sie den „gestauten Zweig“ des Fundamentaldiagramms. Für welcheVerkehrsdichte schneidet dieser den freien Zweig?

Page 244: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

242 15 Stabilitätsanalyse

3. Am Staukopf herrschen stationäre Verhältnisse und beim Ausfluss ändern sichFluss und Dichte annähernd entlang des gestauten Zweigs des Fundamentaldia-gramms. Wie groß ist der Ausfluss aus den Stau? Wie groß ist die Dichte imfreien Verkehr hinter der Ausflusszone? Wie groß ist der „Capacity drop“ inFz/h pro Fahrstreifen und relativ? Für welchen Bereich der Dichte („bistabilerBereich“) sind also zwei Flusswerte möglich?

4. Zeichnen Sie das Fundamentaldiagramm.

Literaturhinweise

Helbing, D.: Verkehrsdynamik. Springer, Berlin (1997)Wilson, R.: Mechanisms for spatio-temporal pattern formation in highway traffic models. Philos.

Trans. R. Soc. A 366, 2017–2032 (2008)Huerre, P., Monkewitz, P.: Local and global instabilities in spatially developing flows. Annu. Rev.

Fluid Mech. 22, 473–537 (1990) 473–537

Page 245: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Kapitel 16Phasendiagramm der Stauzustände

Menschen mit einer neuen Idee gelten so lange als Spinner, bissich die Sache durchgesetzt hat.

Mark Twain

16.1 Von geschlossenen zu offenen Systemen

Im vorhergehenden Kapitel wurden die Stabilitätseigenschaften von Verkehrsfluss-modellen im einfachsten System, einer geschlossenen homogenen Ringstrecke, un-tersucht und die Ergebnisse in Form eines Stabilitätsdiagramms zusammengefasst(Abschn. 15.6). Für ein Verständnis der Dynamik des realen Straßenverkehrs istjedoch die Übertragung dieser Ergebnisse auf offene, inhomogene Strecken nötig.

Dies gelingt, indem die Erkenntnisse der Modellierung von Engstellen in LWR-Modellen (Abschn. 8.4.3) und der im Stabilitätsdiagramm zusammengefassten Sta-bilitätseigenschaften kombiniert werden. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dassim Fall gebundenen Verkehrs die Engstelle durch ihre Kapazität den Verkehrsflussvorgibt. Allerdings ist diese Kapazität im Allgemeinen nicht, wie bei den LWR-Modellen, durch das Maximum des an der Engstelle gültigen Fundamentaldia-gramms (bei Zufahrten abzüglich des Rampenflusses) gegeben. Vielmehr existiertbei Modellen mit dynamischen Instabilitäten in der Regel eine Flussreduktion ander Engstelle, sobald der Verkehr zusammengebrochen ist. Für die Stauausbreitungist damit die kleinere dynamische Kapazität K dyn

B der Engstelle entscheidend:

K dynB = KB(1 − ε). (16.1)

Sie unterscheidet sich von der für LWR-Modelle relevanten statischen KapazitätKB = I Q B

max durch einen capacity drop genannten relativen Beitrag ε, der inder Größenordnung von 10% liegt und im Allgemeinen nur numerisch bestimmtwerden kann. Dies hat seine Entsprechung in der gespiegelten λ-Form gemesse-ner Fluss-Dichte-Daten und ist insofern in Übereinstimmung mit den empirischenBeobachtungen (Abschn. 4.4), aber auch mit simulierten Fluss-Dichte-Daten wiedenen in Abb. 11.5.

Wie bei den LWR-Modellen ist im gebundenen Verkehr der „gestaute“ Zweigρcong(Q) des Fundamentaldiagramms relevant. Insbesondere ergibt sich nach einem

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_16, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

243

Page 246: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

244 16 Phasendiagramm der Stauzustände

Verkehrszusammenbruch stromaufwärts der Engstelle der Gleichgewichtszustand

Qe = K dynB

I, ρe = ρcong(Qe) Fließgleichgewicht im Stau. (16.2)

Hier bezeichnet I die Zahl der Fahrstreifen am betrachteten Ort.Die dem gestauten Zweig des Fundamentaldiagramms entsprechende Gleichge-

wichtsdichte ρcong(Q) spielt eine zentrale Rolle beim Übergang von geschlosse-nen zu offenen Systemen: Die Dynamik offener Systeme wird durch die Verkehrs-nachfrage und die Inhomogenitäten (Engstellen) mit ihren Flüssen und Kapazitätengesteuert, während bei geschlossenen Systemen die Dynamik maßgeblich von derDichte beeinflusst wird. Die Beziehung (16.2) „übersetzt“ die Steuerparameter derbeiden Systeme, indem sie die Dichte als Funktion der Kapazität bzw. Engstellen-stärken ausdrückt.

16.2 Begründung der Staumuster: Phasendiagramm

Mit der Beziehung (16.2) lassen sich die theoretisch erwarteten Staumuster in offe-nen Systemen herleiten. Die beiden wichtigsten Steuerparameter sind die Verkehrs-nachfrage und die Engstellenstärke.

Verkehrsnachfrage. Die auf einen Fahrstreifen bezogene Nachfrage Qmain gibt denpotenziellen mittleren Verkehrsfluss auf der Hauptstrecke an. Nach einem Zusam-menbruch ist der tatsächliche mittlere Verkehrsfluss nur stromaufwärts des dannentstandenen Staus gleich Qmain.

Engstellenstärke. Die verkehrsbehindernde Auswirkung der Engstelle δQ (engl.bottleneck strength) wird durch die Differenz der statischen Kapazität K = I Qmaxder homogenen Strecke stromaufwärts der Engstelle und der dynamischen Engstel-lenkapazität (16.1) charakterisiert und auf die Zahl I der Fahrstreifen des homoge-nen Abschnitts bezogen:

δQ = K − K dynB

IEngstellenstärke. (16.3)

Zu beachten ist, dass sich die Engstellenkapazitäten immer auf den möglichen Flussauf der Hauptstrecke beziehen. Im Falle einer Zufahrt wird diese Kapazität natur-gemäß umso niedriger, je höher der Rampenfluss Qrmp ist. Die statische Kapazität(maximal möglicher Fluss auf der Hauptfahrbahn bei freiem Verkehr bzw. vor demZusammenbruch) ist damit bei unveränderter Fahrstreifenzahl der Hauptfahrbahndurch K B = I Qmax − Qrmp = K − Qrmp gegeben. Nach dem Zusammenbruch,also bei „aktivierter“ Engstelle, ergibt sich mit (16.1) die um den capacity dropε reduzierte dynamische Kapazität K dyn

B = K B(1 − ε). Mit der Definition (16.3)resultiert daraus eine Engstellenstärke

Page 247: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

16.2 Begründung der Staumuster: Phasendiagramm 245

δQ = K − K dynB

I= K − KB(1 − ε)

I= Qrmp(1 − ε)

I+ εQmax. (16.4)

Für I = 1 Fahrstreifen und vernachlässigbaren Reduktionsfaktor ε ergibt sich

δQ ≈ Qrmp, (16.5)

aber auch sonst ist Qrmp ein Maß für die Engstellenstärke, so dass man das Phasen-diagramm bei als Engstellen wirkenden Zufahrten auch direkt durch Qrmp anstellevon δQ aufspannen kann.

Mit der Definition (16.3) und der Beziehung (16.2) kann man den mittleren Flussund die mittlere Dichte im Bereich des gebundenen Verkehrs stromaufwärts derEngstelle auch schreiben als

Qe = Qmax − δQ, ρe = ρcong(Qmax − δQ). (16.6)

Dies gilt, falls der Verkehr nicht zu inhomogen ist, also nicht aus einzelnen Stop-and-Go-Wellen besteht. An dieser Formel sieht man, dass der Fluss und nicht etwadie Dichte die den Zustand kontrollierende Variable (Steuervariable) ist. Teilt manden durch Qmain und δQ aufgespannten Raum in Bereiche auf, in denen qualita-tiv gleichartige Staumuster („dynamische Phasen“) entstehen, enthält man ein Pha-sendiagramm.1 Im Folgenden werden die Phasendiagramme für die verschiedenenStabilitätsklassen hergeleitet.

16.2.1 Stabilitätsklasse 1

Nach Abschn. 15.6 ist die Dynamik in dieser Stabilitätsklasse dadurch charakteri-siert, dass Verkehr an der statischen Kapazität linear instabil ist, ρ2 < ρK . Darauslassen sich, in Abhängigkeit des Hauptflusses Qmain, der Engstellenstärke δQ undggf. der Vorgeschichte, folgende Staumuster und die zugehörige Phasen ableiten(vgl. Abb. 16.1):

Geringe Engstellenstärke, hohe Nachfrage. In diesem Fall ist nach Gl. (16.6) dieVerkehrsdichte ρe = ρcong(Qmax −δQ) nach dem Zusammenbruch nur etwas höherals die Dichte ρK an der statischen Kapazität. Dies folgt aus ρK = ρcong(Qmax)

und dem nach Voraussetzung kleinen Wert der Engstellenstärke δQ. Ferner ist fürdiese Stabilitätsklasse und diesen Dichtebereich die Instabilität meist eine absolute,d.h. Störungen breiten sich innerhalb des gebundenen Verkehrs in beide Richtungenaus. Daraus resultieren Stauwellen im gesamten Bereich des gebundenen Verkehrsbis hin zum Staukopf (Abb. 16.2 links).

1 Es handelt sich hierbei nicht um Phasen im thermodynamischen Sinn, welche nur im Gleichge-wicht definiert sind, sondern um die bereits erwähnten dynamischen Phasen.

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246 16 Phasendiagramm der Stauzustände

Qm

ain

(Fz/

h)

Qm

ain

(Fz/

h)

Qrmp (Fz/h) Qrmp (Fz/h)

Große StörungGeringe Störung

OCT HCTOCT HCT

Freier Verkehr Freier Verkehr

Qtot =

KB

Qtot =

KB

dyn

PLC

δQ =

Qm

ax −

Q3

δQ =

Qm

ax −

Qc4

(a) (b)

MLCTSG + Stop−and−Go−Wellen

TSG

+ Stop−and−Go−Wellen

Abb. 16.1 Für Modelle der Stabilitätsklasse 1b hergeleitetes qualitatives Phasendiagramm in Ab-hängigkeit der Verkehrsstärke Qmain und der Engstellenstärke δQ bzw. des Rampenflusses Qrmp.Das linke Phasendiagramm gilt für eine sich allmählich steigernde Nachfrage ohne große Störun-gen, während das rechte Phasendiagramm die resultierenden Staumuster nach großen Störungen(beispielsweise eine passierende, anderswo entstandene Stauwelle) darstellt. Für die Stabilitäts-klasse 1a entfällt der Bereich der homogen gestauten Zustände hoher Dichte (HCT). Bei sehr hohenNachfragen Qmain ist der freie Verkehr oberhalb des Staus metastabil oder instabil. Dadurch sindin diesem Bereich unabhängig vom eigentlichen Staumuster Stop-and-Go-Wellen möglich

0

20

40

60

80

100

30 60 90 120

t(min)

2

4

6

8

10

12

x (k

m)

V (km/h)

0

20

40

60

80

100

30 60 90 120

t(min)

2

4

6

8

10

12

x (k

m)

V (km/h)

Abb. 16.2 IDM-Simulation mit einer Zufahrt (Qrmp/I = δQ = 100 Fz/h) und Parametern, wel-che absoluter Instabilität (links) bzw. konvektiver Stabilität (rechts) entsprechen. Im Diagramm derAbb. 15.11 sind dies die Punkte (T = 1.5 s, a = 0.75 m/s2) (links) und (T = 1.5 s, a = 1.0 m/s2)

(rechts)

Da der Ausfluss Qout aus den Stauwellen kaum größer ist als die Engstellenkapa-zität, benötigt der Aufbau von neuen Stauwellen an der Engstelle verhältnismäßigviel Zeit, so dass zwischen den Wellen freier Verkehr herrscht.2 Im Ergebnis er-hält man einzelne, sich an der Engstelle aufbauende und sich dann ablösende Stau-wellen, die man auch als „getriggerte“ Stop-and-Go-Wellen (Triggered Stop-and-Go, TSG) bezeichnet. Üblicherweise werden TSG-Muster durch größere Störungenim Verkehrsfluss ausgelöst, beispielsweise durch passierende Stauwellen, welche

2 Damit ist der Gültigkeitsbereich von Gl. (16.6) eigentlich überschritten. Die Überlegungen geltendeshalb für geringe Engstellenstärke nur qualitativ.

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16.2 Begründung der Staumuster: Phasendiagramm 247

anderswo erzeugt wurden. Ist die Engstellenstärke jedoch sehr schwach, kann dieEngstellenkapazität durchaus höher sein als der Ausfluss Qout aus Stauwellen. Da-mit können sich anderswo entstandene Stauwellen durch die Engstelle ausbreiten,ohne einen neuen Zusammenbruch zu provozieren oder, anders formuliert, die Eng-stelle zu aktivieren. Man spricht dann auch von Moving Localized Clusters (MLC).

Höhere Engstellenstärken. Je größer die Engstellenstärke, desto geringer ist nachGl. (16.6) der Fluss und desto höher die zugehörige Gleichgewichtsdichte ρe =ρcong(Qmax − δQ). Wegen der nun höheren Differenz zwischen Qout und der Eng-stellenkapazität entstehen die Stauwellen an der Engstelle in schnellerer Folge, bisletztendlich kein freier Verkehr mehr zwischen ihnen existiert. Der Zustand wirddann als Oscillating Congested Traffic (OCT) bezeichnet.3

Hohe Engstellenstärke. Im Falle der Unterklasse 1a ändert sich prinzipiell nichtsbis zur höchsten möglichen Engstellenstärke δQ = Qmax bzw. K dyn

B = 0: Solangeder Verkehr überhaupt noch fließt, führen Instabilitäten zu einem (hochfrequenten)OCT-Zustand. Unterhalb einer gewissen Flussstärke Qcv bzw. oberhalb der dazu-gehörigen Dichte ρcv ist die Instabilität allerdings nicht mehr absoluter, sondernkonvektiver Natur (vgl. Abb. 15.9 links). Dies hat zur Folge, dass sich nahe desStaukopfes ein im Wesentlichen homogener gestauter Bereich bildet und die Os-zillationen erst weiter stromaufwärts größere Amplituden erreichen. Dies wird inAbschn. 16.2.2 ausführlicher diskutiert.

Im Falle der Stabilitätsklasse 1b ist der Verkehrsfluss für Dichten ρ > ρ3 bzw.hohe Engstellenstärken, welche der Bedingung

δQ > Qmax − Q3

genügen, wieder metastabil und für ρ > ρ4 bzw. δQ > Qmax − Q4 sogar abso-lut stabil. Durch diese Restabilisierung entsteht zähfließender, homogener Verkehr,welcher auch Homogeneous Congested Traffic (HCT) genannt wird.

Nachfrage etwas unterhalb der Engstellenkapazität. Die bisher betrachteten TSG-,OCT- und HCT-Zustände entsprechen ausgedehnten Staumustern, welche entste-hen, wenn die Nachfrage Qmain die fahrstreifenbezogene dynamische Engstellen-kapazität Qe = K dyn

B /I = Qmax − δQ überschreitet. Liegt die Nachfrage je-doch geringfügig unterhalb der dynamischen Kapazität, so kann sich nach einerexternen Störung (verursacht beispielsweise durch eine vorbeikommende laufendeStauwelle) selbstorganisiert eine stehende Stauwelle bilden, welche an die Engstellegebunden ist (Pinned Localized Cluster, PLC). Konsequenterweise ist bei dieser„mildesten“ Stauform der Ausfluss aus dem Stau nicht durch die dynamische Eng-stellenkapazität gegeben, sondern er ist gleich der Nachfrage (bzw. bei Zufahrtengleich der Summe Qmain + Qrmp), also etwas geringer. Der Mindestwert, bei dem

3 Es gibt allerdings kein diskretes bzw. qualitatives Kriterium zur Unterscheidung der OCT- undTSG-Zustände.

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248 16 Phasendiagramm der Stauzustände

PLC möglich ist, lässt sich nicht herleiten. Die variable dynamische Kapazität je-doch, die PLC erst ermöglicht, lässt sich anhand einer Zufahrt mit großer Ram-penlänge plausibel machen: Stromabwärts der Rampe ist der Fluss so hoch, dassInstabilitäten und letztendlich stromaufwärts laufende Wellen entstehen. Je weiterdiese Welle auf Höhe der Zufahrt stromaufwärts propagiert, desto geringer ist derFluss (da die auffahrenden Fahrzeuge noch nicht auf die Hauptfahrbahn gewechselthaben), bis der Fluss kleiner wird als der Ausfluss Qout aus der Stauwelle, so dassdiese schließlich „verhungert“ und ihre Richtung umkehrt. Dadurch bewegt sie sichwieder stromabwärts in Regionen höherer Flüsse, kehrt abermals die Richtung um,bis sich ein stationärer Zustand in Form einer stehenden Welle einstellt.

16.2.2 Stabilitätsklasse 2

Im Unterschied zur Stabilitätsklasse 1 ist in der Klasse 2 der Verkehrsfluss an derKapazität (Dichte ρK , Fluss Qmax) stabil oder metastabil, es gibt also (meta-)stabilen gebundenen Verkehr mit relativ geringer Dichte im Bereich ρe ∈ [ρK , ρ2],entsprechend hohen Flüssen im Bereich Qe ∈ [Q2, Qmax]. Gemäß Gl. (16.6) ent-spricht dies homogenem gebundenen Verkehr hinter Engstellen geringer Stärke.Dieser Zustand wird auch als Homogeneous Synchronized Traffic (HST) bezeichnet(vgl. Abb. 16.3).4

Die qualitativen Eigenschaften sind dieselben wie beim HCT, welcher aber nurbei großen Engstellenstärken entstehen kann und im Phasendiagramm durch die

Qm

ain

(Fz/

h)

Qrmp (Fz/h) Qrmp (Fz/h)

Qm

ain

(Fz/

h)

Große StörungGeringe Störung

OCT HCT

OCT HCT

HST

Freier VerkehrQtot = Q

max

PLCFreier Verkehr

(a) (b)

TSGHST

MLC+ Stop−and−Go−Wellen

TSG+ Stop−and−Go−Wellen

δQ =

Qm

ax −

Q3

δQ =

Qm

ax −

Qc4

Qm

ain = K

Bdyn

Abb. 16.3 Für Modelle der Stabilitätsklasse 2b hergeleitetes qualitatives Phasendiagramm in Ab-hängigkeit der Verkehrsstärke Qmain und des Rampenflusses Qrmp. Für die Stabilitätsklasse 2aentfällt jeweils der Bereich der homogen gestauten Zustände hoher Dichte (HCT)

4 Der Begriff „synchronisierter Verkehr“ (synchronized traffic) bezieht sich ursprünglich auf dieSynchronisation der Geschwindigkeiten verschiedener Fahrstreifen. Da dies aber für alle Artengebundenen Verkehrs zutrifft („im Stau sind alle gleich“), ist diese Bezeichnung eher missver-ständlich.

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16.2 Begründung der Staumuster: Phasendiagramm 249

oszillatorischen Zustände TSG und OCT getrennt ist. Falls der HST-Zustand meta-stabil ist, können starke Störungen im Verkehrsfluss zu einem Übergang zu Stop-and-Go-Verkehr führen.5

Für höhere Engstellenstärken und demzufolge höhere Verkehrsdichten ρe > ρ2ist der Verkehrsfluss, genau wie in der Stabilitätsklasse 1, instabil und es bilden sichStauwellen des Typs TSG oder OCT. Da die Instabilitäten bei Klasse-2-Modellenaber fast immer konvektiv sind, sich Störungen also nur entgegen der Fahrtrichtungvergrößern können, bildet sich am Staukopf nahe der Engstelle ein Bereich mit na-hezu stationärem Verkehrsfluss, der durchaus eine Ausdehnung von mehreren Kilo-metern haben kann. Erst weiter stromaufwärts entstehen die TSG- oder OCT-Muster(Abb. 16.2 rechts). Im Gegensatz dazu breiten sich bei absolut instabilem Verkehrdie Schwankungen bis hin zum Staukopf aus (Abb. 16.2 links).

Die weitaus meisten der beobachteten ausgedehnten Staus sind nahe des Stau-kopfes weitgehend homogen, der Verkehrsfluss also nur konvektiv instabil. Bei-spielsweise sind in den empirischen Daten in Abb. 5.1 zwei Bereiche mit OCT(links und rechts) und zwei einzelne Stauwellen (TSG) zu sehen. In einem bis zu3 km ausgedehnten Bereich stromaufwärts des Staukopfes herrscht aber in allen dreiFällen im Wesentlichen stationärer Verkehr. All dies spricht dafür, dass der realeVerkehrsfluss der Stabilitätsklasse 2 zuzuordnen ist.

Wie in der Stabilitätsklasse 1 gibt es zwei Unterklassen. Beim Untertyp 2b führensehr hohen Engstellenstärken zu einer Restabilisierung, also zu HCT-Staumustern.Bei Klasse-2a-Modellen bleibt hingegen der Verkehrsfluss instabil bzw. wird erstbei Stillstand, also einer Komplettsperrung, trivialerweise stabil.

Schließlich sei noch bemerkt, dass es laufende und stehende isolierte Stauwellenbei freiem Umgebungsverkehr, also MLC-, TSG- und PLC-Muster, nur geben kann,falls auch freier Verkehr einen metastabilen Dichtebereich aufweist, also ρ1 < ρK ,während die Definition der Klasse 2 die Relation ρ2 > ρK bedingt. Hingegen sindHCT-, OCT- und HST-Zustände auch für ρK < ρ1 < ρmax möglich.

16.2.3 Stabilitätsklasse 3

In der Stabilitätsklasse 3 ist homogener Verkehr im gesamten Dichtebereich stabilund außerdem der Kapazitätsabfall ε (Gl. (16.1)) sehr klein oder gleich Null. Damitist die Dynamik im Wesentlichen dieselbe wie bei den LWR-Modellen und es gibtnur HCT bzw. HST als gestaute Zustände. Diese beiden Zustände sind in Klasse-3-Modellen aber nicht unterscheidbar.

5 Dies entspricht einer Prämisse der sogenannten Drei-Phasen-Theorie. Nach dieser Theorie ent-steht Stop-and-Go-Verkehr immer über den Zwischenzustand „synchronisierter Verkehr“. Diestrifft in der Praxis häufig, aber nicht immer zu. Gegenbeispiele sind die Staumuster der Abb. 17.2cund 17.3 sowie das OCT-Muster der Abb. 16.6.

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250 16 Phasendiagramm der Stauzustände

16.3 Simulierte und reale Staumuster

Die im vorhergehenden Abschnitt vorgestellten Herleitungen der Phasendiagrammein offenen inhomogenen Systemen beruhen im Wesentlichen auf dem Stabilitätsdia-gramm. Da dieses für mikroskopische und makroskopische Modelle gültig ist, sollteauch eine Simulation der Staumuster mit beiden Modellkategorien möglich sein.

Wir stellen als Beispiel die Simulation mit dem mikroskopischen Intelligent-Driver-Modell (IDM, Abschn. 11.3) und dem makroskopischen GKT-Modell(Abschn. 9.4.3) vor. Durch eine geeignete Parametrisierung kann man mit beidenModellen die Stabilitätsklasse (1a, 1b, 2a, 2b oder 3) beliebig wählen (vgl. dasKlassendiagramm in Abb. 15.11). Da die Stabilitätsklasse 2 den empirischen Datenam besten entspricht, werden die Simulationen für diese Klasse durchgeführt.6 Fürdas IDM wurden die Autobahn-Parameter der Tabelle 11.2 verwendet, welche derStabilitätsklasse 2a entsprechen. Für das GKT-Modell wurden hingegen der Stabili-tätsklasse 2b entsprechende Parameter gewählt.

Die Abb. 16.4 und 16.5 zeigen die Ergebnisse für das IDM und das GKT-Modell.Simuliert wurden bei unveränderten Parameterwerten jeweils verschiedene offeneSysteme, welche verschiedenen Punkten im Phasendiagramm entsprechen.

Die Verkehrsnachfrage Qmain ist direkt durch den Zufluss Qmain pro Fahrstrei-fen gegeben, in der Simulation also durch die stromaufwärtigen Randbedingungendes offenen Systems. Die Engstelle und damit die Engstellenstärke (16.4) wird inbeiden Fällen durch eine Zufahrt mit, je nach Punkt im Phasendiagramm, verschie-

0

1

–5

0

0 50

100O

rt (km)

IDMPLC

Zeit (h)

V (km/h)

0

1

–5

0

0 50

100

Ort (km

)

IDMOCT

Zeit (h)

V (km/h)

0

1

–5

0

0 50

100

Ort (km

)

IDMMLC

Zeit (h)

V (km/h)

0

1

–5

0

0 50

100

Ort (km

)

IDMHST

Zeit (h)

V (km/h)

0

1

–5

0

0 50

100

V (km/h)

Ort (km

)

IDMTSG

Zeit (h)

V (km/h)V (km/h)

020406080100120140160

0

1

–5

0

0 50

100

V (km/h)

Ort (km

)

IDMPseudo-HCT

Zeit (h)

V (km/h)

020406080100120140160

)b()a( (c)

(e)(d) (f)

Abb. 16.4 Modellierung der Stautypen des Phasendiagramms der Stabilitätsklasse 2a mit demIntelligent-Driver-Modell (Autobahn-Parameter der Tabelle 11.2). Obwohl diese Stabilitätsklas-se keinen HCT-Zustand aufweist, ist das bei hohen Engstellenstärken entstehende Staumuster(„Pseudo-HCT“) kaum davon zu unterscheiden

6 Simulierte Staumuster und Phasendiagramme der Klasse 1 sind in den ersten beiden Referenzender Literaturhinweise zu diesem Kapitel gezeigt.

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16.3 Simulierte und reale Staumuster 251

Ort [km

]

GKTPLC

Zeit [h]

0

1

–5

0

0

50

V [km/h]

Ort [km

]

GKTMLC

Zeit [h]

0

1

–5

0

0

50

V [km/h]

Ort [km

]

GKTHST

Zeit [h]

0

1

–5

0

0

50

V [km/h]

20406080100

Ort [km

]

GKTTSG

Zeit [h]

V (km/h)

0

1

–5

0

0

50

V [km/h]

20406080100

Ort [km

]GKTHCT

Zeit [h]

V (km/h)

0

1

–5

0

0

50

V [km/h]

Ort [km

]

GKTOCT

Zeit [h]

0

1

–5

0

0 50

100

V [km/h]

(a)

(d) (e) (f)

(b) (c)

Abb. 16.5 Modellierung des Phasendiagramms der Abb. 16.1 mit dem makroskopischen GKT-Modell in einer Parametrisierung, welche der Stabilitätsklasse 2b entspricht

denen Zuflussstärken Qrmp realisiert. Wie in den bisherigen Simulationen wird derZufluss in der Makrosimulation direkt durch den Quellterm der Kontinuitätsglei-chung (7.11) berücksichtigt, während in der Mikrosimulation der Wechsel auf die(als einstreifig angenommene) Hauptfahrbahn durch das einfachste Spurwechselm-odell – Wechsel in die größte Lücke – modelliert wird.

Aus der Mikrosimulation (Abb. 16.4) und der Makrosimulation (Abb. 16.5) erge-ben sich durch Zusammenfassen qualitativ gleicher Staumuster simulierte Phasen-diagramme, die durch den Zufluss Qmain und die Engstellenstärke bzw. den ZuflussδQ ≈ Qrmp aufgespannt werden (siehe Abb. 16.3). Die wesentlichen Eigenschaftender in den Teilbildern (a–f) der Abb. 16.4 und 16.5 dargestellten Staumuster könnenwie folgt zusammengefasst werden:

Pinned Localized Cluster (PLC): Einzelne stehende Stauwelle, die am Ort einerStörstelle fixiert ist und eine begrenzte Ausdehnung hat. Dieser Zustand kann beiunterschiedlichen Engstellenstärken entstehen, wenn die Verkehrsnachfrage Qmainauf der Hauptstrecke kleiner ist als ein Wert, welcher zu ausgedehnten Staumustern(TSG, OCT, oder HCT) führen würde.

Moving Localized Cluster (MLC): Einzelne laufende Stauwelle begrenzter Aus-dehnung, die sich mit einer konstanten, charakteristischen Geschwindigkeit strom-aufwärts ausbreitet. Die Engstelle ist hier so klein, dass Verhältnisse wie auf einerhomogenen Strecke herrschen.

Triggered Stop-and-Go (TSG): Stauwellen, welche sich aus einer nahezu statio-nären Zone gebundenen Verkehrs ablösen bzw. in dieser Zone erzeugt werden.

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252 16 Phasendiagramm der Stauzustände

Oscillating Congested Traffic (OCT): Ausgedehnter Stau mit oszillierender innererStruktur.7 Die Wellenlängen der Oszillationen können verschieden sein, die Aus-breitungsgeschwindigkeit aller Strukturen ist aber nahezu dieselbe (Teilbild (d) inAbb. 16.4 und 16.5). Die Zustände OCT und TSG entsprechen dem, was gemeinhinals Stop-and-Go-Verkehr bezeichnet wird. Gemäß dem Phasendiagramm entstehensie bei mittleren Engstellenstärken (beispielsweise Autobahnkreuze) und hohemVerkehrsaufkommen.

Homogeneous Synchronized Traffic (HST): Weitgehend homogener (gleichmä-ßiger) gebundener Verkehr ohne starke Geschwindigkeitsschwankungen an derGrenze zwischen freiem Verkehr und Stau. Dieses Muster tritt bei geringenEngstellenstärken (verursacht beispielsweise durch Anschlussstellen) und hohemVerkehrsfluss auf der Hauptstrecke auf, sofern das Stabilitätsverhalten der Klasse 2entspricht. Die Tatsache, dass auch in der Realität solche Staumuster beobachtetwerden, ist ein starkes Indiz dafür, dass realer Verkehrsfluss auf Fernstraßen dieserStabilitätsklasse entspricht.

Homogeneous Congested Traffic (HCT): Homogener (gleichmäßiger) Stau ohnestarke Geschwindigkeitsschwankungen, der auch als „zähflüssig kriechender Ver-kehr“ charakterisiert werden kann. Dieses Staumuster tritt, im Gegensatz zu HST,als Folge sehr starker Engstellen (typischerweise Teilsperrungen nach Unfällen)auf, wenn Restabilisierung vorliegt. Dies ist bei der GKT-Simulation der Fall(Abb. 16.5f). Aber auch ohne Restabilisierung, wie bei der IDM-Simulation, werdendie Schwankungen des OCT-Zustandes bei sehr hohen Engstellenstärken so hoch-frequent, dass sie in der Praxis, also bei Rekonstruktion aus aggregierten Detektor-daten, nicht von rein statistischen Schwankungen unterschieden werden können. Inder Abb. 16.4f wird dieser OCT-Zustand deshalb als „Pseudo-HCT“ bezeichnet.

Vergleich mit empirischen Staumustern. Der letztendliche Beweis für die Tragfä-higkeit des Phasendiagramm-Konzeptes muss natürlich durch Vergleich mit beob-achteten, realen Verkehrsdaten geführt werden (siehe Kap. 17). Allerdings sind dieempirischen Staumuster, wie z.B. die der Abb. 17.1 und 17.2, in der Regel das Er-gebnis eines komplexen Zusammenspiels von stauerzeugenden Streckeninhomoge-nitäten (Engstellen) mit bereits vorher entstandenen Staus sowie der Überlagerungund Wechselwirkung verschiedener Stauregionen.

In fast allen Fällen können diese komplexen Staumuster jedoch als Überlage-rung weniger idealtypischer Stauformen aufgefasst werden. Manchmal kann mandie Grundmuster auch direkt „in Reinform“ beobachten. Abbildung 16.6 zeigt dieseanhand von rekonstruierten Verkehrszusammenbrüchen auf der A5 bei Frankfurt.Dabei wurde das HCT-Muster durch eine unfallbedingte Teilsperrung verursacht,während die anderen Muster durch Autobahnkreuze, Anschlussstellen und Steigun-gen hervorgerufen wurden.

7 Dieses Staumuster wird in empirischen Daten oft beobachtet (siehe z.B. Abb. 17.1).

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Literaturhinweise 253

Abb. 16.6 Idealtypische Staumuster, beobachtet auf der Autobahn A5 in der Nähe von Frankfurt

Literaturhinweise

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Teil IIIAnwendungen der Verkehrsmodellierung

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Kapitel 17Stauentstehung und Stauausbreitung

Wissenschaft hat etwas Faszinierendes an sich. So einegeringfügige Investition an Fakten liefert so einen reichenErtrag an Voraussagen.

Mark Twain

17.1 Drei Faktoren für den Verkehrszusammenbruch

Wie entsteht ein Stau? Um die Mechanismen der Stauentstehung in Raum und Zeitzu analysieren und Hypothesen wie die folgende „Drei-Zutaten-Hypothese“ zu be-legen, werden Daten von stationären Detektoren verschiedener Autobahnstreckenherangezogen und mit Hilfe spezialisierter Verfahren wie der Adaptive SmoothingMethod (Abschn. 5.2) daraus die raumzeitliche Verkehrsdynamik rekonstruiert.

Bei der Analyse zeigen sich bemerkenswerte Regelmäßigkeiten in den Stau-mustern. Eine wesentliche Erkenntnis dabei ist, dass die beobachteten Staus nahezuausschließlich an durch Streckeninhomogenitäten bewirkten Engstellen entstehen.Für einen Verkehrszusammenbruch sind neben diesem räumlichen Bezug im All-gemeinen noch zwei weitere „Zutaten“ erforderlich, ein hohes Verkehrsaufkommenund Störungen im Verkehrsfluss. Nachfolgend werden diese drei Einflussfaktorenbeschrieben.

Engstellen. Die in realen Straßennetzwerken immer vorhandenen Streckeninhomo-genitäten wirken als „Kondensationskeime“ für einen Verkehrszusammenbruch. DieEngstellen (bottlenecks) können verschiedenster Art sein. Die häufigsten Beispiele,vor allem auf Autobahnen, sind:1

• Zufahrten und Abfahrten,• Spursperrungen, -verengungen, -verschwenkungen (insbesondere im Bereich

von Baustellen),• Kurvenstrecken,• Steigungs- und Gefällestrecken,• unfallbedingte Behinderungen,• Staus oder Unfälle auf der Gegenfahrbahn.

1 In Stadtnetzen sind es offensichtlich die Lichtsignalanlagen, die als (periodisch aktivierte) Eng-stellen die Verkehrsdynamik in der Stadt dominieren.

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_17, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

257

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258 17 Stauentstehung und Stauausbreitung

Das gemeinsame Merkmal dieser Streckeninhomogenitäten ist eine lokal redu-zierte Streckenkapazität (siehe auch Abb. 20.4). Diese Eigenschaft wird auch beider Modellierung von Engstellen genutzt (vgl. Abschn. 8.4.3). Die meisten dergenannten Engstellen beruhen auf Eigenschaften der Infrastruktur und sind daherpermanent vorhanden. Unfälle stellen temporäre Engstellen dar. Schließlich kön-nen besondere Ereignisse auf der Gegenfahrbahn (wie Staus oder Unfälle) vomVerkehrsgeschehen in der eigenen Fahrtrichtung ablenken und dadurch ebenfallstemporäre verhaltensinduzierte Engstellen verursachen.

Bricht Verkehr an einer Engstelle zusammen, spricht man von einer aktiviertenEngstelle. In Übereinstimmung mit den Simulationen geht die Aktivierung meistmit einer deutlichen Minderung des Verkehrsflusses, dem sogenannten capacitydrop, einher.

Als Beispiele für Auffahrten als aktivierte Engstellen können die Staus in denAbb. 17.1a, 17.2c sowie in Abb. 17.2b die ausgedehnten Staus mit den Stauköpfenbei Kilometer 472 und 482 betrachtet werden. Auf der A8 (Abb. 17.1b) entsteht derStau als Folge der Sperrung des rechten Fahrstreifens bei Streckenkilometer 43.5

0

20

40

60

80

100

120

V[km/h]

06:00 08:00 10:00Uhrzeit

500

505

510

515

520

525

AK

AK

AS

(a) A9 Süd, 29.10.1998

Mün

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−N

ord

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fahr

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en

0

20

40

60

80

100

120

V[km/h]

17:00 18:00 19:00 20:00

Uhrzeit

30

35

40

45(b) A8 Ost, 11.07.1997Unfall

Wey

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Irsc

henb

erg

Abb. 17.1 Raumzeitliche Geschwindigkeitsprofile auf den Autobahnen A9 (Fahrtrichtung Süd)und A8 (Fahrtrichtung Ost)

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17.1 Drei Faktoren für den Verkehrszusammenbruch 259

V[km/h]

12:00 14:00 16:00 18:00

Uhrzeit

474

476

478

480

482

484

486

488

490

4920

20

40

60

80

100

120

Fra

nkfu

rtW

−K

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Fra

nkfu

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Kre

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KB

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ombu

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ung

(a) A5 Nord, 21.08.1998

V[km/h]

0

20

40

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80

100

120

06:00 08:00 10:00

Uhrzeit

466

468

470

472

474

476

478

480

482

484

486

AK

Bad

Hom

burg

AS

Frie

dber

g

(b) A5 Süd, 11.06.2001

V[km/h]

0

20

40

60

80

100

120

07:00 08:00 09:00 10:00Uhrzeit

472

474

476

478

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482

484

486

488

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492

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reuz

Fra

nkfu

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W−

Kre

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SB

ad H

ombu

rg

(c) A5 Süd, 06.06.2001

Abb. 17.2 Raumzeitliche Geschwindigkeitsprofile auf der Autobahn A5 nördlich des FrankfurterWest-Kreuzes in beiden Fahrtrichtungen

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260 17 Stauentstehung und Stauausbreitung

zwischen 17:40 und 18:20 Uhr. Und in der Abb. 16.6f kommt es durch eine unfallbe-dingte Vollsperrung auf der A5 bei Kilometer 478 zwischen 11:40 und 12:40 Uhr zueinem ausgedehnten Stau. In der Abb. 17.1b wurde der ausgedehnte Stau mit einemStaukopf bei etwa Kilometer 40 durch den Irschenberg verursacht. (Der weiter obenerwähnte unfallbedingte Stau wandert durch diesen hindurch.)

Hohes Verkehrsaufkommen. Eine Engstelle ist ein notwendiger, jedoch nicht hin-reichender Faktor für die Entstehung eines Staus. Daneben bedarf es eines hohenVerkehrsaufkommens, wie es z.B. vor allem während der morgendlichen und abend-lichen Spitzenzeiten (peak hours) oder während der Sommermonate auf einigenAutobahnen mit viel Urlaubsverkehr beobachtet wird. Die mit einem hohen Ver-kehrsfluss verbundene höhere Dichte sorgt dafür, dass die Fahrer auf die Vorder-fahrzeuge unmittelbarer reagieren, die „Wechselwirkungskette“ also wirksam ist(vgl. Kap. 15). Bei hohem Verkehrsaufkommen können sich Störungen, die dendritten Einflussfaktor für einen Verkehrszusammenbruch darstellen, überhaupt erstvergrößern.

Störungen im Verkehrsfluss. Neben den räumlichen und zeitlichen Abhängigkeiten,die durch eine Engstelle und hohes Verkehrsaufkommen gegeben sind, bedarf esnoch lokaler Störungen als auslösendes Moment für einen Verkehrszusammenbruch(vgl. Kap. 15). Störungen im Verkehrsablauf kommen permanent vor und werdenbeispielsweise durch Unachtsamkeit, fehlerhafte Fahrstreifenwechsel, mangelndenSicherheitsabstand, nicht angepasste Geschwindigkeit oder einander überholendeLKWs („Jumborennen“) verursacht.

Derartige Störungen sind in aggregierten Detektordaten allerdings nicht direktbeobachtbar. Die als Folge dieser Störungen eventuell entstehende Kolonne dichtauffahrender Fahrzeuge kann allerdings in Darstellungen des Verkehrsflusses alskurzfristiger „Hochflusszustand“ identifiziert werden, teilweise sogar in den Ge-schwindigkeitsprofilen, wie z.B. in Abb. 17.3 gezeigt: Der Verkehrszusammenbruchwird kurz nach 7:00 Uhr auf der A5 am Frankfurter NW-Kreuz beobachtet. Dashohe Verkehrsaufkommen ist durch die morgendliche Rush Hour gegeben, währenddie Abfahrt des Autobahnkreuzes die Engstelle darstellt. Die Störung im Verkehrs-fluss (möglicherweise sich überholende LKWs) führt zu einem sich vergleichsweiselangsam, mit etwa 75 km/h in Fahrtrichtung bewegenden raumzeitlichen Geschwin-digkeitsbereich. Die Gleichheit von Ausbreitungs- und Fahrzeuggeschwindigkeitlässt auf eine Fahrzeugkolonne schließen. Der eigentliche Verkehrszusammenbruchmit den typischen, sich entgegen der Fahrtrichtung ausbreitenden Stauwellen fin-det jedoch erst statt, wenn diese Kolonne die Engstelle bei Streckenkilometer 488passiert.

Abgesehen von Unfällen sind die ersten beiden Einflussgrößen für die Stauent-stehung überwiegend deterministischer Natur. Das spontane Entstehen bzw. An-wachsen einer Störung im Verkehrsfluss hängt dagegen vom Zufall ab. Daraus folgt,dass eine exakte Voraussage eines Verkehrszusammenbruchs nicht möglich ist. EinVerständnis für die Einflussfaktoren stellt jedoch eine wichtige Voraussetzung dar,um zumindest Stauwahrscheinlichkeiten anzugeben. Dagegen lässt sich der zeitliche

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17.1 Drei Faktoren für den Verkehrszusammenbruch 261

07:00

08:00

482

484

486

488

490

1000

2000

Fluss [1/h/Spur]

(b) A5 Süd, 25.09.2001

Uhrzeit

Fluss [1/h/Spur]

07:00

08:00

482

484

486

488

490

0 50

100

V [km/h]

(a) A5 Süd, 25.09.2001

Uhrzeit

V [km/h]

FrankfurtNW−Kreuz

FrankfurtNW−Kreuz

Abb. 17.3 Visualisierung der drei Faktoren für einen Verkehrszusammenbruch am Beispiel der A5in Fahrtrichtung Süd anhand der raumzeitlichen Darstellung der Geschwindigkeit und Verkehrs-stärke

Verlauf eines einmal entstandenen Verkehrsstaus relativ präzise prognostizieren(vgl. auch Abb. 8.20 in Kap. 8).

Die Analyse raumzeitlicher Geschwindigkeitsprofile zeigt, dass nahezu alleStaus durch das Zusammenwirken folgender drei Einflussfaktoren entstehen:

1. Hohes Verkehrsaufkommen (zeitlicher Bezug),2. eine Engstelle (räumlicher Bezug) sowie3. lokale Störungen im Verkehrsfluss (auslösendes Moment).

Empirische Staumuster. Die beobachtbaren Staumuster, wie die in den Abb. 17.1und 17.2, sind in der Regel das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung vonstauerzeugenden Streckeninhomogenitäten (Engstellen) mit bereits vorher entstan-denen Staus sowie der Überlagerung verschiedener Stauregionen.

Beispielsweise breitet sich der durch einen Unfall bei Kilometer 43.5 verursach-te ausgedehnte Stau auf der A8-Ost, Abb. 17.1a, durch den bereits vorhandenenebenfalls ausgedehnten Stau am Irschenberg mit Staukopf bei etwa Kilometer 40hindurch aus. In den in den Abb. 17.2a–c gezeigten Staumustern interagieren ein-zelne laufende Stauwellen mit weiteren Engstellen und bereits vorhandenen Staus.In der Abb. 17.2c ist ab 7:00 Uhr eine laufende Stauwelle zu sehen, welche beimPassieren des Autobahnkreuzes Bad Homburg bei Kilometer 481 eine zusätzlichestehende Welle erzeugt. Die laufende Stauwelle stellt damit den dritten Faktor zurStauentstehung – Störung im Verkehrsfluss – dar. Weitere laufende Stauwellen pas-sieren die stehende Welle nahezu unbeeinflusst. Besonders komplex sind die Wech-selwirkungen in Abb. 17.2b: Eine sich aus einem Stau am Bad Homburger Kreuzlösende laufende Stauwelle verursacht um etwa 9:00 Uhr bei Kilometer 476 einetemporäre Engstelle (vermutlich aufgrund eines Unfalls), die ihrerseits einen ausge-dehnten Stau hervorruft. Sowohl die laufende Stauwelle als auch der ausgedehnteStau treffen bei Kilometer 471 auf eine weitere Engstelle (AS Friedberg) und be-einflussen den dort bereits früher entstandenen ausgedehnten Stau. Ferner führt der

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262 17 Stauentstehung und Stauausbreitung

Zusammenbruch bei Kilometer 476 zu einer Reduktion des Verkehrsflusses strom-abwärts (capacity drop), welcher zu einer beschleunigten Auflösung des Staus amAK Bad Homburg führt.

17.2 Charakteristische Merkmale der Stauausbreitung

Die im Kap. 5 vorgestellte verkehrsadaptive Interpolationsmethode (Adaptive Smoo-thing Method) erlaubt eine detailgetreue Darstellung der Verkehrsdynamik anhandvon Querschnittsdaten in Raum und Zeit. Bei der Analyse der Geschwindigkeitspro-file zeigen sich bemerkenswerte Regelmäßigkeiten in den zu beobachtenden Stau-mustern (vgl. Abschn. 16.3). Diese „Gesetzmäßigkeiten“ bzw. idealtypischen Merk-male fassen wir folgendermaßen zusammen:

(1) Räumliche Ausdehnung entweder beschränkt oder ausgedehnt. Der Bereich ge-stauten Verkehrs ist entweder lokalisiert mit einer konstanten Ausdehnung von typi-scherweise 1 bis 2 km (siehe Abb. 17.2c bei Streckenkilometer 480) oder ausgedehntmit variabler räumlicher Ausdehnung (z.B. alle Staus in Abb. 17.1).

(2) Staukopf fix oder beweglich mit konstanter Geschwindigkeit. Der stromab-wärtige Übergang von gestautem in freien Verkehr, der „Staukopf“, ist entwederan der Engstelle fixiert oder bewegt sich stromaufwärts mit einer charakteristischenGeschwindigkeit von etwa −15 km/h. Beide Ausbreitungsgeschwindigkeiten kön-nen innerhalb eines einzigen Staus beobachtet werden, wie z.B. in Abb. 17.1a: Derstationäre Staukopf bei Streckenkilometer 510 löst sich um etwa 9:45 Uhr von derEngstelle ab und breitet sich mit etwa 17 km/h entgegen der Fahrtrichtung aus. Beiunfallbedingten Staus wird die Ablösung durch die Aufhebung der temporären Eng-stelle (Abb. 17.1b bei Streckenkilometer 43.5 um 18:30 Uhr) bewirkt. Sie kann aberauch an permanenten Engstellen beobachtet werden, wie z.B. am AutobahnkreuzNeufahrn (Abb. 17.1a bei Kilometer 510 um etwa 10:00 Uhr). Da die beiden charak-teristischen Ausbreitungsgeschwindigkeiten auch für räumlich beschränkte Stauszutreffen, sind diese entweder ortsfest oder bewegen sich als Stop-and-Go-Wellestromaufwärts (vgl. Abb. 17.2c).

(3) Stromaufwärtige Staufront ohne charakteristische Geschwindigkeit. Die strom-aufwärtige Staufront ausgedehnter Staus (d.h. der Übergangsbereich von freiem ingestauten Verkehr) hat keine charakteristische Geschwindigkeit. Insbesondere kannsie sich sowohl in stromaufwärtiger als auch stromabwärtiger Richtung entsprech-end der Engstellenstärke und der stromaufwärtigen Verkehrsnachfrage fortpflanzen.Zur Veranschaulichung können alle in Abb. 17.1 gezeigten Staumuster dienen.

(4) Einheitliche Ausbreitungsgeschwindigkeit. In räumlich ausgedehnten Stauswird meist eine signifikant von statistischen Schwankungen unterschiedliche „in-nere Struktur“ in Form von mehr oder weniger ausgeprägten Stauwellen beobach-tet. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit dieser Strukturen ist konstant und gleich derAusbreitungsgeschwindigkeit sich bewegender stromabwärtiger Staufronten. Damitpflanzen sich alle Stauwellen, unabhängig von ihrer Größe, mit einer einheitlichen

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17.3 Gibt es den „Stau aus dem Nichts“? 263

Geschwindigkeit (Betrag zwischen 15 und 20 km/h) fort. In den raumzeitlichenDarstellungen sind daher alle Strukturen einer gestauten Region sowie eine eventu-ell vorhandene sich bewegende stromabwärtige Staufront zueinander parallel (vgl.Abb. 17.1 und 17.2).

(5) Variable Wellenlänge. Im Gegensatz zur Ausbreitungsgeschwindigkeit hängtdie Wellenlänge der Stauwellen signifikant von der Stärke des Staus ab. Die zeitlichePeriode nimmt mit der Stärke des Staus ab und beträgt zwischen 4 und 60 min, wasaufgrund der charakteristischen Ausbreitungsgeschwindigkeit von etwa 15 km/hWellenlängen zwischen 1 und 15 km entspricht. In Übereinstimmung mit der Theo-rie erzeugen kleinere Engstellen generell Stop-and-Go-Verkehr größerer Wellenlän-ge, während bei stärkeren Engstellen (wie der unfallbedingten Engstelle in Abb. 5.1)die Stauwellen dicht hintereinander folgen. Diese Abhängigkeit ist deutlich inAbb. 17.1b zu sehen: Die Steigung des Irschenbergs um den Streckenkilometer 40stellt eine vergleichsweise schwache Engstelle dar und führt zu Stop-and-Go-Verkehr mit größeren Wellenlängen als die des überlagerten, durch einen Unfallbei Kilometer 43.5 verursachten Staus.

(6) Anwachsende Störungen. Die Stauwellen wachsen, während sie sich strom-aufwärts entgegen der Fahrtrichtung fortpflanzen. Insbesondere ist dies für allein diesem Buch abgebildeten ausgedehnten empirischen Staumuster der Fall. AmStaukopf in der Nähe der Engstelle ist der gestaute Verkehr meist weitgehend gleich-mäßig (Stationarität nahe der Engstelle). Aus kleinen Schwankungen nahe der Eng-stelle entstehen oft mehr oder weniger ausgeprägte „Stop-and-Go-Wellen“, die sichbis hin zu isolierten Stop-and-Go-Wellen verstärken können. In Grenzfällen, wiein Abb. 16.6c, ist eine eindeutige Definition einer stromaufwärtigen Staufront nichtmehr sinnvoll und die Stauwellen werden besser als eigenständige lokalisierte Stausbetrachtet.

(7) Gleichmäßiger Stau nur bei starken oder schwachen Engstellen. Nur für sehrstark oder gering ausgeprägte Engstellen werden teilweise auch ausgedehnte Regio-nen gebundenen, gleichmäßigen Verkehrs gefunden, welche, abgesehen von stati-stischen Schwankungen, als stationär und homogen angesehen werden können (vgl.Abb. 16.6e–f des Kap. 16).

17.3 Gibt es den „Stau aus dem Nichts“?

In Abschn. 17.1 wurde erläutert, dass ein Stau in den allermeisten Fällen durchdas Zusammenwirken von drei Faktoren entsteht. Verdeutlicht man sich die im vor-herigen Abschn. 17.2 diskutierten Eigenschaften der raumzeitlichen Stauausbrei-tung aus der Sicht des Autofahrers, so kann durchaus der subjektive Eindruck eines„Staus aus dem Nichts“ gerechtfertigt erscheinen.

Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass sich ein einmal entstandener Stauin Form einer oder mehrerer Stauwellen in stromaufwärtiger Richtung ausbreitenkann. Solche Stauwellen, wie sie z.B. in den Abb. 17.1 und 17.2 beobachtet wurden,

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264 17 Stauentstehung und Stauausbreitung

werden vom Autofahrer in der Regel räumlich und zeitlich von der Ursache entkop-pelt durchfahren. Dies kann, insbesondere bei unfallbedingten Staus, so weit ge-hen, dass zum Wahrnehmungszeitpunkt die (räumliche) Ursache des Staus gar nichtmehr existiert. Beispielsweise laufen in Abb. 17.1b zwischen 18:30 und 19:00 Uhrdrei Stop-and-Go-Wellen durch den Bereich zwischen Streckenkilometer 30 und 34.Diese Stauwellen wurden durch eine unfallbedingte Sperrung des rechten Fahrstrei-fens bei Streckenkilometer 43.5, also etwa 10 km stromabwärts, verursacht (räum-liche Entkopplung). Außerdem wurde die Streckensperrung bereits um 18:20 Uhr,also mindestens 10 min davor, aufgehoben (zeitliche Entkopplung).

In den Stabilitätsuntersuchungen des Kap. 15 wurde gezeigt, dass es durchausauch einen Mechanismus für einen Stau ohne räumliche Ursache gibt und daherder „Stau aus dem Nichts“ existiert. Praktisch kann dieser aber nicht beobachtetwerden, weil die dazu nötigen Flüsse auf freier Strecke aufgrund der Engstellen defacto nicht erreicht werden.

Schließlich bleibt noch zu bemerken, dass Unfallereignisse natürlich auch au-ßerhalb infrastruktureller Engstellen stattfinden können, so dass eine unfallbedingtetemporäre Engstelle selbst quasi „aus dem Nichts“ entsteht. Der Stau bildet sich injedem Fall aber erst als Folge.

17.4 Grundlagen der Verkehrslageschätzung

Eine wichtige Anwendung und Grundlage vieler Telematikdienste ist die Verkehrs-lageschätzung und -prognose. Die Problemstellung verlangt, aus den zum aktuellenZeitpunkt verfügbaren Daten entweder die Verkehrslage in real-time zu schätzenoder die zukünftige Verkehrssituation, z.B. für die nächste Viertelstunde oder – mitabnehmender Zuverlässigkeit – Stunde, zu prognostizieren.

Für derartige Anwendungen eignen sich vor allem makroskopische Modelle. DasCell-Transmission-Modell wurde beispielsweise in Abb. 8.20 dazu verwendet, dieDynamik der Staugrenzen mit Hilfe von zwei Detektorzeitreihen für den Verkehrs-fluss zu prognostizieren. Eine andere Herausforderung stellt die Konsistenzprüfungund Fusion von Daten aus unterschiedlichen Quellen oder verschiedener Kategoriendar. Hierfür eignet sich z.B. die Adaptive Smoothing Method (vgl. Abschn. 5.3).

Wie bereits bei der Diskussion der drei „Zutaten“ zu einem Verkehrszusammen-bruch erwähnt, hängt die Stauentstehung auch vom Zufall ab und ist damit nichtexakt vorhersagbar. Hingegen lässt sich der zeitliche Verlauf eines einmal entstan-denen Verkehrsstaus relativ präzise prognostizieren. Daher sollten sowohl modell-als auch regelbasierte Ansätze die wesentlichen Einflussfaktoren und „Gesetzmä-ßigkeiten“ der Verkehrsflussdynamik berücksichtigen. Die Ausdehnung des Stausin Abb. 8.20 hängt beispielsweise im Wesentlichen von der Bilanz der NachfrageQmain und dem Ausfluss Qout am Staukopf ab.

Weiterhin bestimmen, abgesehen von den durch Unfälle verursachten temporä-ren Engstellen, die infrastrukturellen und damit permanenten Engstellen die raum-zeitliche Staudynamik (siehe Abschn. 17.2). Zusammen mit der häufig ebenfalls

Page 265: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

17.4 Grundlagen der Verkehrslageschätzung 265

messbaren Bottleneck-Stärke δQ (siehe Gl. (16.3)) lassen sich noch weitergehen-de Aussagen hinsichtlich der entstehenden Staumuster treffen (vgl. Kap. 16): Iso-lierte stehende oder laufende Stauwellen entstehen eher an schwachen Engstellen,während ausgedehnte Staus sich in Folge stärkerer Engstellen ausbilden. Aus denvorgestellten „Gesetzmäßigkeiten“ der Stauausbreitung ergeben sich noch weitereAspekte für die Verkehrslageschätzung:

• Laufende isolierte Stauwellen sowie alle Dichte- und Geschwindigkeitsänderun-gen innerhalb von ausgedehnten Staus breiten sich mit einer konstanten Ge-schwindigkeit von −cstopGo entgegen der Fahrtrichtung aus (siehe Gesetzmäßig-keit (4) des Abschn. 17.2). Im dreieckigen Fundamentaldiagramm (8.7) lässt sichdiese Stop-and-Go-Ausbreitungsgeschwindigkeit

cstopGo = − 1

Tρmax= − s0 + l

T(17.1)

als Funktion der Mittelwerte von Fahrzeuglänge, Mindestabstand und Folgezeitausdrücken. Sie liegt bei etwa 15 km/h.

• Der Ausfluss Qout am Staukopf von ausgedehnten Staus (dynamische Kapazi-tät) ist relativ konstant. Im Rahmen von Mikro- und Makromodellen wurde alsobere Grenze des Fundamentaldiagramms (8.7) die statische Kapazität Qmax proFahrstreifen eingeführt. Es gilt

Qout ≤ Qmax = 1

T

(1 − s0 + l

s0 + l + v0T

). (17.2)

Typische Werte des Ausflusses aus dem Stau sind Qout = 2 000 Fz/h pro Fahr-streifen. Die Größen cstopGo und Qout können daher auch als „Staukonstanten“bezeichnet werden. Diese Größen hängen geringfügig vom mittleren Verhaltenund der Zusammensetzung des Fahrerkollektivs ab und können daher abhängigvon Land und Tageszeit leicht variieren. Im Wesentlichen sind sie aber unabhän-gig von der Art des Staus.

• Gemäß Gesetzmäßigkeit (2) ist die stromabwärtige Staufront entweder orts-fest an Inhomogenitäten fixiert oder bewegt sich stromaufwärts mit der bereitsbekannten festen Geschwindigkeit cstopGo:

cdown ={

0 Engstelle aktiv,cstopGo Engstelle deaktiviert.

Für die stromabwärtige Staufront sind keine anderen Geschwindigkeiten mög-lich. Ein Beispiel eines sich stromaufwärts bewegenden Stauendes im Stadtver-kehr ist die sich auflösende Warteschlange nach Grünwerden der Ampel, d.h.nach Deaktivieren der Störstelle. Im Allgemeinen ist jedoch die Frage, ob undwann eine Engstelle deaktiviert wird, die Staufront sich also von der Störstelleablöst, nicht systematisch zu beantworten.

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266 17 Stauentstehung und Stauausbreitung

• Die Ausbreitung der stromaufwärtigen Staufront lässt sich in guter Näherungdurch die Ausbreitungsgeschwindigkeit (8.6) für Schockwellen,

cup = �Q

�ρ,

beschreiben. Die minimale Geschwindigkeit (z.B. Vollsperrung mit Qjam = 0 beigleichzeitig maximaler Verkehrsnachfrage Qin = Qmax) beträgt cup = cstopGo.Die maximale positive Geschwindigkeit (bei der Verkehrsnachfrage Qin = 0) istgleich der Geschwindigkeit Vjam = Qjam/ρjam der Fahrzeuge im Stau.

• Oft ist der Verkehr im Stau instabil, so dass z.B. durch Fahrmanöver entstehendeStörungen anwachsen (Gesetzmäßigkeit (6)). Gleichzeitig können diese Störun-gen sich aber nur mit der Geschwindigkeit cstopGo stromaufwärts ausbreiten, sodass nahe der Störstelle der Verkehr homogen bzw. gleichmäßig bleibt. Im Fal-le dieser konvektiven Instabilität erhält man weiter stromaufwärts stärkere Ge-schwindigkeitsvariationen, die bis zur Ausbildung einzelner Stauwellen führenkönnen.

Literaturhinweise

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Page 267: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Kapitel 18Schätzung der Reisezeit

Nicht mit Erfindungen, sondern mit Verbesserungen machtman Vermögen.

Henry Ford

18.1 Definitionen der Reisezeit

Die Reisezeit ist definiert durch die Zeitspanne, die ein Fahrzeug für die Durchfahrteines Streckenabschnitts [x1, x2] benötigt. Als streckenbezogene Größen könnenReisezeiten einzelner Fahrzeuge entweder für den Eintrittszeitpunkt t1 oder denAustrittszeitpunkt t2 definiert werden. Die tatsächlich benötigte Reisezeit τ12(t) ei-nes Fahrzeugs, welches zum Zeitpunkt t = t2 den Abschnitt bei x = x2 verlässt,lautet

τ12(t2) = t2 − t1 . (18.1)

Die erwartete Reisezeit τ12(t) von Fahrzeugen, die zur Zeit t = t1 in den Abschnitthineinfahren, lautet hingegen

τ12(t1) = t∗2 − t1 . (18.2)

Die Reisezeit τ12 ist die relevante Größe für eine Online-Anwendung, setzt aber eineKurzfristprognose über die zukünftige Verkehrslage voraus, um die zu erwartendeAustrittszeit t∗2 zu schätzen.

Weiterhin kann man die Gesamtreisezeit τtot aller Fahrzeuge in einem raumzeit-lichen Bereich [x1, x2] × [tstart, tend] definieren. Sie kann z.B. als zu minimierendeZielfunktion einer Verkehrsfluss-Optimierung dienen (vgl. Kap. 20).

18.2 Reisezeitbestimmung in der Mikrosimulation

Da man in mikroskopischen Simulationen die vollständige Information über jedesFahrzeug hat, ist eine direkte Bestimmung der Reisezeiten möglich. Für die indivi-duellen Reisezeiten τ12 und τ12 erhält man

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_18, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

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268 18 Schätzung der Reisezeit

τ12(t) = tα2 − tα1 und τ12(t) = tβ2 − tβ1 , (18.3)

wobei α das Fahrzeug kennzeichnet, welches als letztes aus dem Abschnitt (beix = x2) herausgefahren ist (tα2 ≤ t < tα+1

2 ), während β das Fahrzeug kennzeichnet,

welches als letztes in das Gebiet (bei x = x1) hineingefahren ist(

tβ1 ≤ t < tβ+11

).

Für das raumzeitliche Gebiet [x1, x2]×[tstart, tend] ergibt sich die Gesamtreisezeitaus der Mikrosimulation

τtot =tend∫

tstart

n12(t) dt (18.4)

durch Aufintegrieren der sich zur Zeit t auf der Strecke befindlichen Fahrzeugzahln12 über die Simulationszeit.

Die Reisezeit eines Fahrzeugs, definiert durch das für die Durchfahrt der Streckebenötigte Zeitintervall, liegt aber erst am Ende des betrachteten Streckenabschnittsvor. Alternativ kann man in der Simulation zu jedem Zeitpunkt t die instantane mitt-lere Reisezeit τinst(t) aus der Summe der aktuellen Bruttozeitlücken aller Fahrzeugedefinieren:

τinst(t) =n12(t)∑

α=1

Δtα =n12(t)∑

α=1

Δxα

. (18.5)

Da diese Größe nur definiert ist, wenn alle Fahrzeuggeschwindigkeiten vα > 0 sind,sollte man für die Auswertung eine endliche Minimalgeschwindigkeit annehmen.

18.3 Kumulierte Fahrzeugzahl

Die Darstellung kumulierter Fahrzeugzahlen (N-curves) ist die einzige Möglich-keit, aus aggregierten Detektordaten (Aggregierungsintervall Δt) die Reisezeit zubestimmen. Dazu wird für mehrere Querschnitte i an den Orten xi die kumulierteFahrzeugzahl entweder aus dem Integral des Verkehrsflusses berechnet,

Ni (t) = Ni (t0) +t∫

t0

Qi (t′) dt ′, (18.6)

oder am Ende des k-ten Aggregierungsintervalls direkt aus den Zählwerten nk′ dervorhergehenden Intervalle (k < k′):

Ni (tk) = Ni (t0 + kΔt) = Ni (t0) +k∑

k′=1

ni (tk′). (18.7)

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18.4 Reisezeitschätzung aus Detektor- und Floating-Car-Daten 269

Δ n12Δ n23

τ12 τ23

Nk

Zeit t

N = 1 N = 2 N = 3kumulierteFahrzeugzahl

Abb. 18.1 Bestimmung der Reisezeiten zwischen je zwei Querschnitten mit Hilfe kumulierterFahrzeugzahlen

Unter der Voraussetzung, dass gleiche kumulierte Zählerstände Ni bei allen Detek-toren demselben Fahrzeug zugeordnet werden können, ergeben sich in einer Darstel-lung der zeitabhängigen Zählerstände die Reisezeiten zwischen je zwei Querschnit-ten direkt als horizontale Abstände der zugeordneten N-curves (vgl. Abb. 18.1).Insbesondere sind die Reisezeiten zwischen zwei Detektoren 1 und 2 gemäß denDefinitionen der Gl. (18.3) gegeben durch

N1(t − τ12(t)) = N2(t), N1(t) = N2(t + τ12(t)). (18.8)

Außerhalb von Zu- und Abfahrten und unter Vernachlässigung von Detektor-Zähl-fehlern sowie von Fahrstreifenwechseln und Überholvorgängen kann die Bedingunggleicher Zählstände eines Fahrzeugs an allen Querschnitten durch die Vorgabe festerAnfangswerte Ni (t0) erfüllt werden. Mit in Fahrtrichtung steigendem Detektorin-dex, xi+1 > xi , gilt

Ni (t0) = Ni+1(t0) +xi+1∫

xi

ρ(x, t0) dx . (18.9)

Diese Bedingung ist allerdings eher theoretischer Natur. Im folgenden Abschnittwird ein praktikables und auch bei Messfehlern und Mehrspurverkehr anwendbaresVerfahren zur Reisezeitbestimmung vorgestellt, bei der Floating Cars zur Initialisie-rung und Korrektur verwendet werden.

18.4 Reisezeitschätzung aus Detektor- und Floating-Car-Daten

Als Anwendungsbeispiel wird eine Reisezeitschätzung vorgestellt, die auf der Me-thode der kumulierten Fahrzeugzahlen des vorhergehenen Abschnitts aufbaut. Zu-sätzlich werden Floating-Car-Daten (vgl. Kap. 2) genutzt, um die Zählstände derDetektoren zu initialisieren bzw. akkumulierte Detektions- und Bilanzfehler (durchAuf- und Abfahrten) zurückzusetzen. Bei üblichen Zählratenfehlern von etwa 1%

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270 18 Schätzung der Reisezeit

t12

τ12 (t31)

t13 t21t11 t31 t23

D1

D2

D3

t

Floa

ting

Car

j =

1

j = 2x j = 3

Abb. 18.2 Nutzung von FC-Daten zur Rücksetzung der kumulierten Fahrzeugzahlen zu den FC-Durchgangszeiten t j i . Im Gegensatz zu Abb. 18.1 bezeichnet die vertikale Achse den Ort (mit denDetektoren Di ) und nicht die kumulierten Fahrzeugzahlen

wird etwa alle halbe Stunde ein Floating Car benötigt. Die Methode nutzt folgendeInput-Informationen (vgl. Abb. 18.2):

• Mindestens zwei, vorzugsweise aber mehrere Querschnitte i , die für jedes Ag-gregierungsintervall k die über alle Fahrstreifen summierten Zähldaten (vehicle-counts) ni (tk) liefern,

• Floating Cars (FC) j , wobei j in der Reihenfolge der Überfahrt am ersten De-tektor gezählt wird.1 Benötigt werden die Zeiten t j i , zu denen das j-te FC deni-ten Detektorquerschnitt passiert.

Die Querschnitts-Zählstände werden durch das erste FC j = 1 zu den Durch-gangszeiten t1i zurückgesetzt:

Ni (t1i ) = 0. (18.10)

In der Abb. 18.2 kann die Rücksetzung z.B. durch das FC j = 1 erfolgen:N1(t11) = N2(t12) = N3(t13) = 0. In der Praxis ist zu beachten, dass die Quer-schnittsdaten nur nach jedem Aggregationsintervall (z.B. Δt = 1 Minute) aktuali-siert werden, während die Durchgangszeiten t j i zumindest sekundengenau sind. Umeinen unnötigen Genauigkeitsverlust durch die Minutenaggregierung zu vermeiden,werden die nach dem FC in derselben Minute noch den Querschnitt passierendenFahrzuege anteilig berücksichtigt und die Zählstände am Ende des Zeitintervalls k(Zeit tk mit tk−1 ≤ t1i < tk) nicht auf Null, sondern auf den Wert

1 Zusätzlich müssen Routinen zum Indextausch bereit gestellt werden für den Fall, dass sich zweiFloating Cars gegenseitig überholen.

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18.5 Reisezeitbestimmung in der Makrosimulation 271

Ni (tk) = ni (tk)t1k − tk−1

Δt(18.11)

gesetzt. Die eigentliche Schätzung der Reisezeiten zwischen zwei Detektoren i undi + 1 erfolgt dann direkt mit Gl. (18.8), also Ni (t − τi,i+1(t)) = Ni+1(t). Praktischliest man Ni+1(t) ab und ermittelt, zu welcher vergangenen Zeit t−t ′ die BedingungNi (t ′) = Ni+1(t) gilt. Dann ist τi,i+1(t) = t − t ′.

Die Korrektur auflaufender Zählfehler erfolgt immer dann, wenn ein neues FC jden jeweiligen Querschnitt i (zur Zeit t j i ) passiert, und zwar durch Verallgemeine-rung der Initialisierungsgleichung (18.11):

Ni (tk) = ni (tk)t jk − tk−1

Δt, tk−1 ≤ t j i < tk . (18.12)

Daraus folgt natürlich, dass zu gegebener Zeit tk einige Detektoren bereits durchaktuellere FCs zurückgesetzt sein können als andere. Um bei der Reisezeitbestim-mung (18.8) nicht inkonsistent zurückgesetzte Detektoren zu verwenden, müssenbei jedem Querschnitt der Index des letzten vorbeigefahrenen FCs und außerdem diekumulierten Fahrzeugzahlen bezüglich aller nicht zu lange vergangenen Rückset-zungen vorgehalten werden, so dass Gl. (18.8) stets mit konsistent zurückgesetztenZählerständen angewandt werden kann.

Die geschätzten Reisezeiten vor und nach der Korrektur der Zählerstände könnengleichzeitig auch als Qualitätskontrolle dienen. Je geringer die sich daraus erge-benden Sprünge in der Reisezeit sind, desto geringer ist der Gesamtfehler dieserSchätzmethode. Die Fehler werden z.B. durch Detektorfehler, FC-Datenfehler, Dis-kretisierungsfehler, Zeitstempelfehler, aber auch durch Überholvorgänge hervorge-rufen.

18.5 Reisezeitbestimmung in der Makrosimulation

Neben der direkten Reisezeitbestimmung mit Hilfe generierter „virtueller Trajek-torien“ (Abschn. 18.6) lässt sich das Verfahren der kumulierten Fahrzeugzahlenauch anhand makroskopischer Simulationsergebnisse unter Verwendung „virtuel-ler“ (d.h. simulierter) Querschnittsdetektoren anwenden.

Man benötigt nur zwei virtuelle Detektoren an den Begrenzungen x1 (strom-aufwärts) und x2 des Streckenabschnitts. Ferner ergeben sich natürlich keinerleiProbleme mit der Initialisierung der Zählstände der Detektoren, da die anfänglicheFahrzeugzahl

n(t0) =x2∫

x1

ρ(x, t0) dx

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272 18 Schätzung der Reisezeit

bekannt ist. Die Initialisierung der kumulierten Zählwerte Ni für die beiden Detek-toren lauten gemäß Gl. (18.9) einfach N1(t0) = n(t0) und N2(t0) = 0.

Die Gesamtzeit τtot lässt sich makroskopisch wiederum einfach bestimmen, in-dem man berücksichtigt, dass n(t) = ∫

dxρ(x, t) die Zahl der Fahrzeuge auf demStreckenabschnitt zur Zeit t ist und die Gesamtzeit aller Fahrzeuge die mittlereFahrzeuganzahl auf der Strecke multipliziert mit dem Zeitintervall ist. Die Gesamt-reisezeit aus einer Makrosimulationen ist damit gegeben durch

τtot =tend∫

tstart

dt

x2∫

x1

dx ρ(x, t). (18.13)

18.6 Schätzung der Reisezeit aus dem Geschwindigkeitsfeld

Eine Schätzung von Reisezeiten aus Querschnittsdaten ist auch anhand einer rekon-struierten raumzeitlichen Geschwindigkeitsfunktion V (x, t) möglich (siehe Kap. 5).Auf einem Streckenabschnitt [x1, x2] betrachten wir dafür „virtuelle Trajektorien“xFC(t), deren lokale Geschwindigkeiten durch das raumzeitliche Feld V (x, t) vor-gegeben sind. Die Bewegungsgleichung eines virtuellen Floating-Cars lautet daher

dxFC

dt= V (xFC(t)) mit xFC(t1) = x1 (18.14)

als Anfangsbedingung. Man kann auch einen kompletten Satz virtueller Trajek-toriendaten gemäß Gl. (8.17) generieren. In jedem Fall werden die Gleichungendurch numerische Integration gelöst. Anschließend werden die Reisezeiten τ12(t)gemäß Gl. (18.3) und die dazugehörigen mittleren Geschwindigkeiten, v12(t) =τ12(t)/(x2 − x1), ermittelt.

Die Abb. 18.3 und 18.4 veranschaulichen dies anhand eines Geschwindigkeits-feldes, welches mit Hilfe der Adaptive Smoothing Method (Kap. 5) aus Quer-schnittsdaten eines 20 km langen Abschnitts der A5 bei Frankfurt/Main erzeugtwurde. Man erkennt, dass die Fahrzeit auf dem 20 km langen Abschnitt der A5durch einen Stau von ca. 10 min auf bis zu 30 min in der Spitze anwächst, wo-durch sich die mittlere Reisegeschwindigkeit bis auf ungefähr 40 km/h reduziert. Zubeachten ist, dass die Reisezeiten und -geschwindigkeiten aus der über alle Fahr-streifen gemittelten makroskopischen Geschwindigkeit V (x, t) folgen. Betrachtetman lediglich die Detektoren des linken (rechten) Fahrstreifens, bekäme man imfreien Verkehr höhere (niedrigere) Reisegeschwindigkeiten. Im gestauten Verkehrsind diese Unterschiede jedoch durch die Synchronisation der Geschwindigkeitenzu vernachlässigen.

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18.6 Schätzung der Reisezeit aus dem Geschwindigkeitsfeld 273

0

20

40

60

80

100

120

140"Virtuelle Trajektorien" (A5, 5.4.2001) V [km/h]

7 8 9 10Zeit [h]

470

475

480

485

Ort

[km

]

Abb. 18.3 Veranschaulichung des Konzepts „virtueller Trajektorien“, die aus dem raumzeitlichenGeschwindigkeitsfeld V (x, t) durch Integration der Bewegungsgleichung (18.14) folgen. Darausabgeleitete Reisezeitschätzungen sind in Abb. 18.4 dargestellt

0 5

10 15 20 25 30 35

7 8 9 10

Rei

seze

it [m

in]

Uhrzeit [h]

0 20 40 60 80

100 120 140

7 8 9 10Dur

schn

ittsg

esch

w. [

km/h

]

Uhrzeit [h]

Abb. 18.4 Zeitreihen der geschätzten Reisezeit τ12 und der durchschnittlichen Reisegeschwin-digkeit als aggregierte Größen, die sich aus den „virtuellen Trajektorien“ für die in Abb. 18.3dargestellte Verkehrssituation ergeben. Aufgrund eines Staus auf der A5 erhöht sich die Reisezeitin der Spitze gegen 8:00 Uhr auf ca. das Dreifache

Übungsaufgaben

18.1 Reisezeit aus kumulierten ZähldatenUnter welcher Bedingung gilt bei der Reisezeitermittlung mit kumulierten Fahr-zeugzahlen der Zusammenhang „Reisezeit gleich horizontaler Abstand“ exakt? Wiekann man sich behelfen, wenn kein Testfahrzeug für die Initialisierungen der Fahr-zeugzahlen zur Verfügung steht?

18.2 Reisezeitbestimmung aus aggregierten DetektordatenDie beiden Detektoren D1 und D2 sind 4 km voneinander entfernt und zeigen imZeitverlauf folgende Verkehrsstärken (jeweils über beide Fahrstreifen summiert) an:

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274 18 Schätzung der Reisezeit

D1:Zeit < 16:42 16:42–16:50 16:50–16:58 > 16:58

Q (Fz/h) 1 800 0 3 600 1 800

D2:Zeit < 16:00 16:00–16:30 16:30–17:00 > 17:00

Q (Fz/h) 1 800 0 3 600 1 800

1. Wie könnte die zu diesen Detektor-Zeitreihen führende raumzeitliche Verkehrs-dynamik aussehen? Hinweis: Es gibt einen Unfall mit Totalsperrung. Mindestenszwei verschiedene Szenarien führen zu demselben qualitativen Verlauf der ange-gebenen Zeitreihen.

2. Bestimmen Sie die kumulierten Fahrzeugzahlen n1(t) und n2(t) an den beidenDetektoren. Geben Sie die Zeit t in Sekunden ab 16:00 Uhr an und berücksich-tigen Sie zur Berechnung von n(tstart) bei Detektor D1, dass vor 16:00 Uhr dieFahrzeuge alle mit 120 km/h fuhren und der Gesamtfluss bei beiden Detektorenkonstant und gleich 1 800 Fz/h war.

3. Stellen Sie die kumulierten Fahrzeugzahlen grafisch dar und bestimmen Sie dar-aus die Reisezeiten τ12 und τ12 für 16:40 Uhr, also t = 2400 s.

4. Geben Sie τ12(t) analytisch für die Intervalle t < −120 s und −120 s ≤ t <

2 520 s sowie τ12(t) für das Intervall 1 800 s ≤ t < 3 000 s an. Warum springtτ12(t) bei t = −120 s um 1 800 s, d.h. um 30 Minuten?

Literaturhinweise

Cassidy, M.J., Windover, J.R.: Methodology for assessing dynamics of freeway traffic flow. Transp.Res. Rec. 1484, 73–79 (1995)

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Coifman, B.: Estimating travel times and vehicle trajectories on freeways using dual loop detectors.Transp. Res. A Policy Pract. 36, 351–364 (2002)

Van Lint, J.: Reliable travel time prediction for freeways. TRAIL thesis series, Delft UniversityPress (2004)

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Kapitel 19Treibstoffverbrauch und Emissionen

Die höchsten Kilometerkosten von allen Wagentypen hatimmer noch ein Einkaufswagen im Supermarkt.

Lothar Schmidt

19.1 Modell-Übersicht

Allgemein unterscheidet man auch bei Verbrauchs- und Emissionsmodellen mi-kroskopische und makroskopische Ansätze. Beide Ansätze werden im Folgendenvorgestellt.

19.1.1 Makroskopische Ansätze

In dieser Modellklasse werden nur globale, für alle Fahrzeuge bzw. eine Fahrzeug-klasse gültige Bedingungen, nicht aber das Fahrverhalten einzelner Fahrer berück-sichtigt. Solche Modelle werden angewandt, um den Verbrauch für ein komplettesStreckennetz oder global für eine ganze Region zu berechnen.

Ein Modellansatz basiert beispielsweise auf Emissionsfaktoren (emission-factormodels). In Abhängigkeit von Fahrzeugtyp und Verkehrssituation (Stadt, Landstra-ße, Autobahn) werden die streckenbezogenen Verbräuche bzw. Emissionen ermit-telt. Dies geschieht üblicherweise durch Verbrauchs- bzw. Emissionsmessung beitypischen Vertretern der Fahrzeugklasse, welche standardisierte Testzyklen durch-laufen.

Ein anderer Modellansatz basiert auf Durchschnittsgeschwindigkeiten (average-speed models). Verbrauchsmessungen werden anhand einer Vielzahl von Fahrtenmit einer Vielzahl von Fahrzeugtypen durchgeführt und die entsprechenden Mit-telwerte anschließend nur nach einem einzigen Beeinflussungsfaktor disaggregiert:der mittleren Geschwindigkeit.

Makroskopische Verbrauchsmodelle liefern als abhängige (erklärte) Variablespezifische Verbräuche bzw. Emissionen, z.B. in Einheiten von Liter/Kfz/km oderkg/Kfz/km in Abhängigkeit des Verkehrstyps. Dieser ist z.B. durch den Streckentyp(Stadtverkehr, Landstraße oder Autobahn) oder durch die mittlere Geschwindigkeitcharakterisiert. Mit entsprechenden Verkehrsleistungen (in Einheiten von „Fahr-zeugkilometern“, d.h. Kfz · km), welche z.B. von Verkehrsbefragungen oder Ver-

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_19, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

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276 19 Treibstoffverbrauch und Emissionen

kehrsplanungsberechnungen stammen können, sind damit globale Aussagen überVerbräuche bzw. Emissionen möglich. Umgekehrt kann man anhand der Menge desverkauften Treibstoffes die schwierig zu bestimmende Verkehrsleistung abschätzen.

19.1.2 Mikroskopische Ansätze

Ein Nachteil der makroskopischen Ansätze liegt darin, dass die Beeinflussung desVerbrauchs durch Beschleunigungs- und Bremsmanöver sowie durch den Motor-betriebszustand unberücksichtigt bleibt. Detailliertere Modelle, sogenannte mikro-skopische Verbrauchsmodelle (modal-consumption models) , ermöglichen hingegen,Fragen nach der Abhängigkeit des Verbrauchs vom (individuellen) Fahrstil hinsicht-lich Beschleunigungs-, Brems- und Gangwahlverhalten zu beantworten. Insbeson-dere kann man mit dieser Modellklasse untersuchen, wie stark Verkehrsstaus undStop-and-Go-Verkehr den Verbrauch erhöhen und ob lichtsignalisierte Kreuzungenoder Kreisverkehre hinsichtlich des Verbrauchs eine günstigere Knotenpunktregel-ung erlauben.

Die erklärten Variablen dieser Modelle sind für jeden Fahrzeugtyp Verbrauchs-raten, d.h. Kraftstoff-Flüsse bzw. Emissionsraten dC

dt in Abhängigkeit von Ge-schwindigkeit, Beschleunigung, Motorbetriebszustand und ggf. externen Variablenwie die Steigung der Strecke. Um zu einer Aussage bezüglich des Verbrauchsbzw. der Emissionen zu kommen, benötigt man also als Input für mikroskopischeVerbrauchsmodelle genau den Output mikroskopischer Verkehrsmodelle (d.h. Ge-schwindigkeiten und Beschleunigungen).

Eine Unterkategorie stellen die phänomenologischen (tabellenbasierten) Mo-delle dar, bei denen die Verbrauchsrate als Funktion der Geschwindigkeitund Beschleunigung im Fahrzeug gemessen und daraus eine zweidimensionale„Verbrauchsmatrix“ als Lookup-Tabelle der Verbrauchsrate erstellt wird. Ein-flussfaktoren wie Steigungen, die Beladung oder die Gangwahl bleiben dadurchaber unberücksichtigt. Außerdem muss man die Verbrauchsmatrix aufwändig durchTestfahrten erzeugen.

Bei physik-basierten Modellen werden dagegen universell gültige physikalischePrinzipien zur Ermittlung des Leistungsbedarfs als Funktion von Geschwindigkeit,Beschleunigung und Steigung angewandt und dann mittels eines Motorkennfeldesdie Verbrauchs- und Emissionsraten ermittelt. Der Vorteil bei diesem Ansatz ist,dass die Leistungsfunktionen analytisch berechnet werden (also keine Messungennötig sind), solange einige globale Fahrzeugeigenschaften wie Masse und cw-Wertbekannt sind. Die benötigten Motorkennfelder wiederum kann man in Motorprüf-ständen messen. Dieses Vorgehen ist universeller und erfordert insbesondere keineaufwändigen Testfahrten. Schließlich ist ein derartiger Modellansatz anschaulicherund verdeutlicht die Einflussfaktoren des Verbrauchs prägnanter als die phänome-nologischen Modelle. Im Weiteren wird ein physik-basiertes Modell detailliert vor-gestellt.

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19.2 Physik-basiertes Modell für den Treibstoffverbrauch 277

19.2 Physik-basiertes Modell für den Treibstoffverbrauch

Abbildung 19.1 zeigt die Ansatzpunkte des Modells in der Übersicht. Die Hauptur-sache des Kraftstoffverbrauchs liegt in der Überwindung des Fahrwiderstandes F ,welcher hauptsächlich (mittels der Trägheitskraft und des Luftwiderstandes) von derGeschwindigkeit und Beschleunigung abhängt, also von genau den Größen, welchein Fahrzeugfolgemodellen berechnet werden.

Aus dem Fahrwiderstand berechnet sich nach der Formel „Leistung gleich Kraftmal Geschwindigkeit“, d.h.

P = F v, (19.1)

die benötigte mechanische Leistung. Zu dieser muss allerdings die Betriebsleistungzur Versorgung der Nebenaggregate und zur Überwindung allfälliger Verluste hin-zuaddiert werden. Mit der resultierenden Leistung wird unter Berücksichtigungeines im Allgemeinen vom Betriebszustand abhängigen Wirkungsgrades die Ver-brauchsrate und aus dieser der auf z.B. 100 km hochgerechnete Verbrauch berech-net. Diese letzte Größe wird – leicht tiefpassgefiltert – in vielen modernen Fahr-zeugen direkt angezeigt. In den folgenden Unterabschnitten werden die einzelnenModellkomponenten vorgestellt.

Fahrzeug

FahrwiderstandF

VerbrauchsratedC/dt

Drehzahl

Benötigte LeistungP = Pdyn + P0

Wirkungsgraddes Motors

streckenbezogenerVerbrauch

Verlust −undBetriebsleistung P0(Radio,Licht,Klima)

DynamischeLeistungPdyn = F v

Straße(Steigung)

Beschleunigung Geschwin−digkeit

Trägheit

Hangabtrieb

Luft−widerstand

Rollreibung

Abb. 19.1 Diagramm zur Veranschaulichung der instantanen Kraftstoff-Verbrauchsmodellierungmit einem physik-basierten Modellansatz

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278 19 Treibstoffverbrauch und Emissionen

19.3 Fahrwiderstand

Der Fahrwiderstand, d.h. die zur Aufrechterhaltung der vorgegebenen Geschwin-digkeit und Beschleunigung notwendige mechanische Kraft, wird durch folgendenAnsatz modelliert:

F(v, v) = mv + (μ + β)mg + 1

2cwρ Av2. (19.2)

Diese Fahrwiderstands-Formel enthält folgende Beiträge:

1. Die Trägheitskraft mv ergibt sich nach dem klassischen Newton’schen Gesetzaus der Gesamtmasse m multipliziert mit der Beschleunigung v = dv

dt . BeiVerzögerungen ist diese Kraft negativ und wird mit den anderen Kraftbeiträgen„verrechnet“.

2. Die Kraft mgμ aufgrund geschwindigkeitsunabhängiger Roll- und Festkörper-reibung ist proportional zur Gewichtskraft mg (mit g = 9.81 m/s2) und demReibungskoeffizienten μ. Es gibt auch geschwindigkeitsproportionale Anteileder Reibung, welche hier aber vernachlässigt werden.

3. Die Hangabtriebskraft mg sin(β) ≈ mgβ berücksichtigt den Einfluss von Stei-gungen und Gefällen. Da bei üblichen Neigungswinkeln β die Näherung sin β ≈tan β ≈ β anwendbar ist, kann man β direkt durch die geläufigen „Steigungs-prozente“ angeben: Eine 10-prozentige Steigung entspricht β = 0.1. Auf Gefäl-lestrecken gilt entsprechend β < 0.

4. Der Luftwiderstand 12 cwρ Av2 enthält neben der nicht beeinflussbaren Luftdichte

(ρ ≈ 1.3 kg/m3 auf Meereshöhe) die Fahrzeug-Querschnittsfläche A (von vornegesehen, typische Werte für PKW um 2 m2) und den dimensionslosen Luftwider-standsbeiwert cw, welcher auch einfach „cw-Wert“ genannt wird. Er besitzt beimodernen Fahrzeugen Werte von 0.25–0.35, während er beim VW Käfer nochca. 0.5 betrug. Vor allem hängt der Luftwiderstand aber auch quadratisch vonder Geschwindigkeit ab, weshalb er ab Geschwindigkeiten von etwa 130 km/hden dominanten Fahrwiderstands- und damit Verbrauchsbeitrag darstellt (vgl.die Abb. 19.5).

19.4 Motorleistung

Neben der zur Überwindung des Fahrwiderstandes benötigten mechanischen Lei-stung Pdyn = Fv fällt beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs immer auch ein zusätz-licher Mindestleistungsbedarf P0 an, welcher auch Betriebsleistung genannt wird.Er setzt sich vor allem zusammen aus (i) dem Leistungsbedarf durch Licht, Radio,Klimaanlage etc., (ii) dem Leistungsbedarf diverser Nebenaggregate und Stellmoto-ren (Fensterheber, Lüftung, Scheibenwischer etc.), (iii) verschiedenster elektrischer

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19.5 Verbrauchsrate 279

Verluste, aber auch (iv) die zum Leerlaufbetrieb benötigte Leistung zur Überwin-dung der inneren Motorreibung.1

Berücksichtigt man, dass in modernen Fahrzeugen im Schleppbetrieb (Motor-bremse) die Kraftstoffzufuhr abgeschaltet wird (Schubabschaltung), ergibt sich fol-gender zur Berechnung des Verbrauchs relevanter effektiver Leistungsbedarf :

P(v, v) = max [P0 + vF(v, v), 0] . (19.3)

Die Maximum-Bedingung in Gl. (19.3) bringt zum Ausdruck, dass beim Bremsenkeine Energie gespeichert werden kann. Allerdings können negative Beiträge vonFv (durch Gefälle oder Verzögerungen) ebenfalls den Beitrag P0 bestreiten, dennauch bei Einsatz der Motorbremse wird der Generator (bzw. die Lichtmaschine)angetrieben. Modifiziert man die Leistungsformel (19.3), können auch ältere undsehr moderne Formen des Energiemanagements modelliert werden. Bei alten Fahr-zeugen ohne Schubabschaltung fällt ein P0 entsprechender Verbrauch immer an.Dies wird abgebildet durch

P(v, v) = P0 + max [vF(v, v), 0] . (19.4)

Bei Elektro- oder Hybridfahrzeugen, die beim Bremsen die kinetische Energievollständig speichern können, gilt dagegen

P(v, v) = P0 + vF(v, v). (19.5)

Im Schleppbetrieb wird die Leistung nach Gl. (19.5) negativ, was eine Umkehrungdes Leistungsstroms in Richtung Batterie/Schwungrad etc. entspricht.

19.5 Verbrauchsrate

Bei einem Motor-Wirkungsgrad von 100%, also einer vollständigen Umwandlungder volumenbezogenen kalorischen Energiedichte wcal des Kraftstoffs in mechani-sche Energie ΔE , gelte für den Verbrauch ΔC (in Litern) die DefinitionsgleichungΔE = wcalΔC . Typische Werte der Energiedichte liegen für Benzin und Diesel bei39.6 × 106 J/l = 11 kWh/l.

Gegen diese ideale Beziehung spricht aber der zweite Hauptsatz der Thermody-namik. Reale Motoren haben einen vom Arbeitspunkt abhängigen Wirkungsgrad γ

in der Größenordnung von 0.25, welcher definiert ist durch

ΔE = γwcalΔC. (19.6)

1 Im Fahrtbetrieb kann die innere Reibung indirekt auch durch Motorkennfelder (Abschn. 19.6)berücksichtigt werden, im Stillstand bzw. Leerlauf ist dies aber problematisch.

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280 19 Treibstoffverbrauch und Emissionen

Der Arbeitspunkt ist durch den Leistungsbedarf P und die Motordrehzahl f be-stimmt, so dass sich mit P = dΔE

dt folgende Formel für die Verbrauchsrate C (Literpro Zeiteinheit) zur Bereitstellung der nach Gl. (19.3) benötigten Motorleistung er-gibt:

C = dC

dt= P

γ (P, f )wcal. (19.7)

Die Motordrehzahl f = f (v, g) hängt direkt von der gefahrenen Geschwindig-keit v, dem gewählten Gang g und den Übersetzungsfaktoren des Getriebes ab. Beigegebenen Getriebedaten und einer gegebenen Gangwahlstrategie (man kann z.B.immer den verbrauchsoptimalen Gang wählen) hängt der Wirkungsgrad γ nur vonder Leistung P und der Geschwindigkeit v ab. Setzt man nun die Leistung (19.3)mit Gl. (19.2) in den Ausdruck (19.7) ein, erhält man die (instantane) Verbrauchsrateallein als Funktion der Ausgangsgrößen der Verkehrssimulation – Geschwindigkeitund Beschleunigung – sowie des Motorkennfeldes. Letzteres wird nun näher be-trachtet.

19.6 Motorkennfeld und instantane Verbrauchsraten

Der Wirkungsgrad des Motors hängt im Wesentlichen vom „Arbeitspunkt“ des Mo-tors ab, also von der Drehzahl f und dem effektiven Mitteldruck (d.h. die Druck-differenz im Zylinder). Weitere Abhängigkeiten wie die von der Betriebstemperaturwerden hier nicht betrachtet. Diese Abhängigkeiten werden in Motorprüfständenermittelt und in Form sogenannter Motorkennfelder dargestellt. Folgende Darstel-lungsformen der Motorkennfelder sind üblich:

1. Die abhängige Variable kann angegeben werden als Wirkungsgrad γ (inAbb. 19.3), als spezifischer Verbrauch (in kg/kWh) bezüglich der Masse bzw.bezüglich des Volumens (in l/kWh, Abb. 19.2), oder als Effizienz (Kehrwert desspezifischen Verbrauchs). Für den volumenbezogenen spezifischen VerbrauchCspez gilt

1

γwcal= Cspez. (19.8)

Für den massenbezogenen spezifischen Verbrauch muss man Cspez mit der spe-zifischen Masse (z.B. bei Benzin etwa 0.8 kg/l) multiplizieren.

2. Die erste unabhängige Variable ist relativ einheitlich die Motordrehzahl. Diesekann allerdings auch normiert angegeben werden mit den Werten fnorm = 0 beider Leerlaufdrehzahl und fnorm = 1 bei der zur maximalen Leistung gehörigen(also nicht der maximalen) Drehzahl.

3. Die zweite unabhängige Variable kann definiert werden als Motorleistung P ,Motormoment M , effektiver Mitteldruck p oder Gaspedalstellung. Die ersten

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19.6 Motorkennfeld und instantane Verbrauchsraten 281

drei Größen sind elementar über die Drehzahl und das effektive ZylindervolumenVzyl umrechenbar über die Beziehungen

P = 2π f M, und p = 2M

Vzyl. (19.9)

Die zweite Beziehung gilt allerdings nur für Viertaktmotoren. Alle drei Grö-ßen steigen monoton mit der Gaspedalstellung: Ihre Werte sind umso höher, jestärker man das Gaspedal „runterdrückt“. In Abb. 19.2 wurde die Motorleistungdargestellt, da dieses die anschaulichste und auch direkt durch Gl. (19.3) mit derSimulation verbundene Größe ist.

VW Polo 1.4 Diesel (35 kW) 325 350 375 400 450 500 600 700

1000 2000 3000 4000 5000 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Spezif. VerbrauchM

otor

-Mitt

eldr

uck

(hP

a)VW Passat Synchro 1.8 (118 kW)

Spezif. VerbrauchCspec (ml/kWh) Cspec (ml/kWh)

375 400 450 500 600 700

1000 2000 3000 4000 5000 6000 0 2 4 6 8

10 12 14 16 18

Umdrehungszahl (min–1) Umdrehungszahl (min–1)

Mot

or-M

ittel

druc

k (h

Pa)

40 kW

20 kW

20 kW

40 kW

120 kW

Abb. 19.2 Aus Motorprüfständen gewonnene Motorkennfelder verschiedener PKW-Typen. Diehorizontale Achse stellt die Motordrehzahl f dar, während die auf der vertikalen Achse aufge-tragende Größe („effektiver Mitteldruck“, proportional zu P/ f ) mit dem Druck auf das Gaspedalsteigt. Die als Höhenschichtlinien dargestellte abhängige Variable ist hier der spezifische VerbrauchC in Einheiten von 1 ml Treibstoff pro kWh mechanischer Energie. Für Benzin mit dem Brennwertwcal = 11 kWh/kg gilt γ = 90 ml/kWh/C

VW Passat Synchro 1.8 (118 kW) Wirkungsgrad

0.28 0.26 0.24 0.22 0.2

0.16

1000 2000 3000 4000 5000 6000Umdrehungszahl (min–1)

0

20

40

60

80

100

120

140

Mec

h. M

otor

leis

tung

(kW

)

Abb. 19.3 Alternative Darstellung des Kennfeldes. Die zweite unabhängige Variable ist nun dieüber Gl. (19.9) aus der Drehzahl und dem effektiven Mitteldruck umgerechnete Leistung. Dieabhängige Variable ist der mit Gl. (19.8) aus dem spezifischen Verbrauch berechnete Wirkungsgrad

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282 19 Treibstoffverbrauch und Emissionen

Generell spiegelt sich in den Motorkennfeldern die „Kraftstoff-Sparregel“ wider,die fordert, dass man beim Beschleunigen bei möglichst geringer Drehzahl mög-lichst viel „Gas“ geben soll (linkes oder mittleres oberes Ende der Diagramme, jenach Leistungsanforderung) und danach ein möglichst hoher Gang gewählt wird, sodass man sich wieder möglichst weit „links“ im Diagramm befindet.

19.7 Auswertung

Mit Hilfe des vorgestellten Modells zur Berechnung des Treibstoffverbauchs lassensich anschauliche Größen wie der Verbrauch bezogen auf eine Strecke von 100 kmoder der Gesamtverbrauch aller Fahrzeuge in einer Simulation ermitteln. Außerdemkönnen neben dem Kraftstoffverbrauch auch Emissionen sekundärer Größen wiez.B. Kohlendioxid berechnet werden.

19.7.1 Verbrauch bezogen auf 100 km

Aus der Verbrauchsrate (19.7) lässt sich die Größe „Kraftstoffverbrauch pro 100 km“berechnen. Mit der Kettenregel

dC

dt= dC

dx

dx

dt= v

dC

dx(19.10)

ergibt sich der hochgerechnete instantane „100 km“-Verbrauch zu

C100 = 100 kmdC

dx= 100 km

v

dC

dt= 100 000 m

wcal

P

vγ (P, f (v, g)). (19.11)

Diese Größe hängt vom Kennfeld, der Geschwindigkeit, der Gangwahl und, überdie Leistungsformel (19.3), von der Beschleunigung ab. Sie wird in manchen Fahr-zeugen direkt (tiefpassgefiltert) im Cockpit angezeigt.

Die Abb. 19.4 und 19.5 zeigen mit Hilfe der Motorkennfelder aus Abb. 19.2die aus Gl. (19.11) berechnete Fahrzeug-Verbrauchscharakteristik unter Berück-sichtigung des jeweils verbrauchsoptimalen Gangs. Bildlich geprochen „baut“ manden Motor beim Übergang vom Motorkennfeld zur Verbrauchscharakteristik „inein Fahrzeug ein“. Diese Verbrauchscharakteristik entspricht der Verbrauchsmatrix,welche bei tabellenbasierten mikroskopischen Modellen durch Fahrtests bestimmtwird. Sie wird manchmal auch als Jante-Diagramm bezeichnet. Typische Parameterzusammen mit typischen Werten für die Berechnung der Verbrauchscharakteristikensind in der Tabelle 19.1 zusammengefasst.

In den Abb. 19.4 und 19.5 wird die bereits erwähnte Kraftstoff-Sparregel direktsichtbar: Man sollte generell einen möglichst hohen Gang wählen und nur bei er-höhtem Leistungsbedarf (Beschleunigung oder Steigung) „herunterschalten“.

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19.7 Auswertung 283

Geschwindigkeit (km/h)Bes

chleu

nigun

g (m

/s2 )

Besch

leunig

ung

(m/s2 )

VW Passat Synchro 1.8 (118 kW) Gang 1Gang 2Gang 3Gang 4Gang 5

unerreichbar

Gang 1Gang 2Gang 3Gang 4Gang 5

unerreichbar

0 20

40 60

80 100

120 140 –1

–0.5 0

0.5

1

1.5

2

0

10

20

30

Cx(l/100 km)

Cx(l/100 km)

Geschwindigkeit (km/h)

VW Polo 1.4 Diesel (35 kW)

0 20

40 60

80 100

120 140 –1

–0.5

0

0.5

1

1.5

2

0

10

20

30

Abb. 19.4 Aus den Motorkennfeldern 19.2 bzw. 19.3 unter Verwendung von Gl. (19.11) und denjeweiligen Fahrzeuggrößen berechnete Verbrauchscharakteristik. Gezeigt ist jeweils der hochge-rechnete 100-km-Verbrauch C100 als Funktion von Geschwindigkeit und Beschleunigung

051015202530

VW Passat Synchro 1.8 (118 kW) Verbrauch(l/100 km)Gang 1

Gang 2Gang 3Gang 4Gang 5

0 20 40 60 80 100 120 140 160Geschwindigkeit (km/h)

–1

–0.5

0

0.5

1

1.5

2

Bes

chle

unig

ung

(m

/s2 )

0

10

20

30

40

50

60

0 50 100 150 200

Ver

brau

ch (

Lite

r/10

0 km

)

Geschwindigkeit (km/h)

VW Passat Synchro 1.8 (118 kW)

Gang 1Gang 2Gang 3Gang 4Gang 5

Abb. 19.5 Links: Alterative Darstellung des hochgerechneten 100-km-Verbrauchs C100 eines VWPassat (118 kW). Rechts: Konstantfahrt (d.h. Beschleunigung v = 0) jeweils im verbrauchsopti-malen Gang

Tabelle 19.1 Beeinflussungsfaktoren mit typischen Werten für die Berechnung des Treibstoffver-brauchs

Einflussgröße Symbol Wert

Grundleistung P0 3 kWFahrzeugmasse m 1 500 kgReibungskoeffizient μ 0.02cw-Wert cw 0.3Querschnitts- oder Stirnfläche A 2 m2

Dichte der Luft ρ 1.3 kg/m3

Gravitationskonstante g 9.81 m/s2

Brennwert des Treibstoffs wcal 39.6 106 J/l ≈ 11 kWh/lDynamischer Reifenradius rdyn 0.286 mÜbersetzungsverhältnisse1. bis 5. Gang (Beispiele) 13.90, 7.80, 5.26, 3.79, 3.09

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284 19 Treibstoffverbrauch und Emissionen

19.7.2 Berechnung des Gesamt-Treibstoffverbrauchs

Intuitiv vermutet man, dass sich der Treibstoffverbrauch durch Stau stark erhöht.Mit dem vorgestellten Modell kann man in mikroskopischen Verkehrssimulationendie Antwort auf diese Frage quantifizieren. Für die Simulation benötigt man (i) dieZusammensetzung der Fahrzeugflotte, (ii) die Motorkennfelder für repräsentativeVertreter der Flotte und alle zur Ermittlung der Fahrzeug-VerbrauchskennfelderCα(v, v, g) benötigten Fahrzeugparameter und (iii) eine Regel, wie man die Gängegα(t) wählt (z.B. verbrauchsoptimal).

Aus einem realitätsnahen Mikromodell (z.B. dem IDM) kann man dann für allein der Simulation beteiligten Fahrzeuge α die Geschwindigkeiten vα(t) und Be-schleunigungen vα(t) erhalten. Der Gesamt-Kraftstoffverbrauch der mikroskopi-schen Verkehrssimulation im raumzeitlichen Gebiet [tstart, tend]× [x1, x2] berechnetsich dann durch

Ctot =tend∫

tstart

dtα2(t)∑

α=α1(t)

Cα(vα(t), vα(t), gα(t)). (19.12)

Die unteren und oberen Grenzen α1(t) und α2(t) geben die Indizes der zur Zeit tstromaufwärtigsten bzw. stromabwärtigsten Fahrzeuge an. Abbildung 20.5 im Ka-pitel „Verkehrsoptimierung“ zeigt ein Beispiel für die Anwendung der Gl. (19.12)zur Bestimmung des Mehrverbrauchs durch Staus.

19.7.3 Kohlendioxid- und andere Schadstoffemissionen

Mit Hilfe von Motorkennfeldern kann man nicht nur den Treibstoffverbrauch be-rechnen, sondern auch verschiedene Emissionen wie Kohlendioxide, Stickoxide,Rußpartikel etc. ermitteln. Die Emission an CO2 ist beispielsweise direkt propor-tional zum Kraftstoffverbrauch. Für „Super Plus“ mit einer Oktanzahl von 98 ROZgilt z.B. das Verhältnis von 2.32 kg/l, während es für Diesel bei 2.68 kg/l liegt. ZurBerechnung anderer Emissionen mit komplexeren Abhängigkeiten sind spezielleKennfelder nötig.

19.8 Ermittlung des Treibstoffverbrauchs mit Makromodellen

Analog zum Fahrzeugkennfeld bei Mikromodellen hängt in Makromodellen derTreibstoffverbrauch von Geschwindigkeit, Beschleunigung und natürlich vom Fahr-zeugtyp ab. Sinnvollerweise mittelt man über alle Fahrzeugtypen, um ein makrosko-pisches Fahrzeugkennfeld

C(V, V ) = ⟨Cα(V, V , g)

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19.8 Ermittlung des Treibstoffverbrauchs mit Makromodellen 285

zu erhalten. Die Mittelung 〈·〉 erfolgt dabei über die Fahrzeuge α und die Gangwahl-Strategien g bei fester (makroskopischer) Geschwindigkeit V und BeschleunigungV (vgl. Kap. 9).

Den Gesamtverbrauch (bzw. die Gesamtemissionen) bei einer makroskopischenSimulation über ein raumzeitliches Gebiet [tstart, tend] × [x1, x2] erhält man dannaus

Ctot =tend∫

tstart

dt

x2∫

x1

dx ρ(x, t)C [V (x, t), A(x, t)] (19.13)

mit der makroskopischen Beschleunigung A (siehe Gl. (9.1)).

Übungsaufgaben

19.1 Lesen eines Drehzahl-Leistungs-MotorkennfeldesWie hoch ist bei einem Kennfeld gemäß Abb. 19.3 die Motorleistung bei 3 000Umdrehungen/min und Vollgas? Bei welcher Drehzahl wird die in einer gewissenFahrsituation benötigte Leistung von 60 kW verbrauchsoptimal bereitgestellt?

19.2 Lesen eines Drehzahl-Mitteldruck-MotorkennfeldesBetrachten Sie nun einen Motor mit Kennfeld gemäß Abb. 19.2. (i) Welche Leistungerhält man bei 2 600 Umdrehungen pro Minute, wenn man Vollgas gibt? (ii) Istes bergauf bei einer benötigten Leistung von 40 kW besser, bei niedriger Drehzahl(2 600/min) viel Gas oder bei höherer Drehzahl (4 000/min) entsprechend wenigerGas zu geben?

19.3 Stauvermeidung=Kraftstoffersparnis?Warum ist die Reduktion des Verbrauchs bei Vermeidung eines Staus weniger deut-lich, wenn bei freiem Verkehr mit hohen Geschwindigkeiten gefahren wird?

19.4 Einflussfaktoren auf den TreibstoffverbrauchDiskutieren Sie, welche der folgenden Aussagen bezüglich des Kraftstoffverbrauchskorrekt sind und welche nicht. Begründen Sie das Ergebnis, indem Sie zeigen, anwelcher Formel und an welcher Stelle sich der Inhalt der Aussage auswirkt. RechnenSie ggf. explizit die Änderungen mit Tabelle 19.1 und der Annahme eines konstan-ten spezifischen Verbrauchs (300 g/kWh) aus.

1. Der Mehrverbrauch durch Klimaanlagen wirkt sich vor allem in der Stadt aus.2. Der Mehrverbrauch durch Dachgepäckträger wirkt sich vor allem in der Stadt

aus. (Der cw-Wert erhöhe sich durch den Dachgepäckträger auf 0.38.)3. Fährt man bergab im Leerlauf statt mit Motorbremse, schadet das zwar den

Bremsen, führt aber zu geringerem Verbrauch.4. Auf Autobahnen (Geschwindigkeit 144 km/h) kann man wesentlich, d.h. mehr

als 2%, Benzin sparen, wenn man nicht volltankt, sondern den Tank nur zurHälfte füllt und dafür häufiger auftankt (Tankfüllung 60 l).

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286 19 Treibstoffverbrauch und Emissionen

5. Tempo 30-Zonen statt „Tempo 50“ reduzieren den Kraftstoffverbrauch.6. Tempo 130 statt Tempo 150 reduziert den Kraftstoffverbrauch.

19.5 Treibstoffverbrauch „Autobahn gegenüber Pass-Straße“Unter welchen Bedingungen verbraucht man im Mittel mehr Treibstoff pro Kilome-ter:

1. Bei einer Konstantfahrt mit 150 km/h auf einer ebenen Autobahn oder2. auf einer Pass-Straße mit Steigung β = 8%, die man im Aufstieg mit 72 km/h

sowie bei der Abfahrt mit Motorbremse fährt?

Nehmen Sie einen konstanten spezifischen Verbrauch von 300 g/kWh an.

19.6 Treibstoff- und CO2-Verbrauch bei Kreuzungen mit AnhaltepflichtIn Amerika und Australien gibt es häufig Four-way-Stop-Kreuzungen, bei denenman prinzipiell anhalten muss. Wie groß wäre die Ersparnis an Treibstoff und CO2,wenn man diese Stopp-Regelung durch eine Vorfahrtsstraße (welche man ohneBremsen durchfahren kann) ersetzen würde?

L = 500 m

Zur Modellierung werden folgende Annahmen getroffen: (i) Die freie Geschwin-digkeit zwischen den Kreuzungen beträgt v0 = 16 m/s. (ii) Vor bzw. nach jederKreuzung wird mit 2 m/s2 verzögert bzw. beschleunigt. (iii) Da kein Kreuzungsver-kehr herrscht, kann man nach jedem Stopp sofort wieder anfahren. Als Kenngrößenfür das Treibstoffmodell dienen die Werte in der Tabelle 19.1.

19.7 Treibstoffverbrauch mit dem Optimal-Velocity-ModellBetrachten Sie ein einzelnes Fahrzeug, welches gemäß des Optimal-Velocity-Modells (Abschn. 10.5) auf freier Strecke beschleunigt.

1. Bestimmen Sie τ für eine Wunschgeschwindigkeit v0 von 120 km/h und einerMaximalbeschleunigung von 2 m/s2.

2. Berechnen Sie die benötigte Motorleistung während des Beschleunigungsvor-gangs für die Parameter aus Tabelle 19.1. Drücken Sie das Ergebnis in der FormA0 + A1v+ A2v

2 + A3v3 aus und geben Sie die Koeffizienten Ai an. Für welche

Geschwindigkeit wird die maximale Motorleistung benötigt und wie hoch istsie?

19.8 LKW an SteigungsstreckenUm zu langsame LKW an Steigungsstrecken zu verhindern, ist die Steigung aufAutobahnen im Allgemeinen auf β = 4% begrenzt (in Sonderfällen β = 5%).

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19.8 Ermittlung des Treibstoffverbrauchs mit Makromodellen 287

Allerdings hängt die Behinderung, d.h. die minimale Geschwindigkeit der LKWam Ende der Steigung auch von der Länge L der Steigungsstrecke ab.

β

L

Zur Modellierung wird als Worst Case ein LKW betrachtet, welcher vollbela-den auf ebener Strecke gerade die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/herreicht und dessen Motor unabhängig von der Geschwindigkeit eine konstante Ma-ximalleistung abgeben kann. Die relevanten Parameter sind: Fahrzeugmasse 38 t,Reibungskoeffizient 0.03, ein cw-Wert von 0.8 und eine Stirnfläche von 10 m2. Neh-men Sie außerdem für die Gravitationskonstante g = 10 m/s2 und für die Dichteder Luft 1.3 kg/m3 an.

1. Wie groß ist die für den Antrieb benötigte Leistung?2. Der LKW fährt nun mit seiner Maximalgeschwindigkeit von 80 km/h in eine

Steigung mit 4 bzw. 5% hinein. Wie groß sind jeweils die anfänglichen Verzö-gerungen bei unveränderter Motorleistung? Berechnen Sie außerdem die End-geschwindigkeiten, wenn die beiden Steigungen hinreichend lang sind. Da dieEndgeschwindigkeiten sehr niedrig sind, können Sie bei ihrer Berechnung denLuftwiderstand vernachlässigen.

3. Der Verzögerungsvorgang an der Steigung soll nun mit dem Optimal-Velocity-Modell (OVM) für eine freie Strecke nachgebildet werden:

dv

dt= v0 − v

τ.

Ermitteln Sie für die beiden Steigungsstrecken jeweils die zwei Modellparameterv0 und τ unter folgenden Vorgaben:

• Die Geschwindigkeit nähert sich für hinreichend lange Steigungen den End-geschwindigkeiten 37 km/h (5%-Steigung) bzw. 42 km/h (4%-Steigung).

• Die anfängliche Verzögerung bei Beginn der Steigung beträgt 0.5 m/s2 (5%-Steigung) bzw. 0.4 m/s2 (4%-Steigung).

4. Ermitteln Sie nun die Geschwindigkeit und die zurückgelegte Wegstrecke alsFunktion der Zeit, indem Sie das obige Mikromodell lösen. Dabei soll der LKWzur Zeit t = 0 den Beginn der Steigung passieren. Geben Sie das Ergebnis all-gemein an.

5. Werden die LKW auf einer 5%-igen Steigung von 500 m Länge oder auf einer1 km langen 4%-igen Steigung langsamer? Gehen Sie dabei von den Zahlen-werten v0 = 37 km/h, τ = 24 s (Steigung 5%) bzw. v0 = 42 km/h, τ = 26 s(Steigung 4%) aus. Nehmen Sie außerdem an, dass das Ende der 5%-igen Stei-

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288 19 Treibstoffverbrauch und Emissionen

gung nach 29.1 s und das Ende der 4%-igen Steigung nach 64.2 s erreicht wird(diese Zeiten sind nicht elementar ausrechenbar).

Literaturhinweise

Mitschke, M., Wallentowitz, H.: Dynamik der Kraftfahrzeuge. Springer, New York, NY (2004)Barth, M., An, F., Norbeck, J., Ross, M.: Modal emissions modeling: a physical approach. Transp.

Res. Rec. 1520, 81–88 (1996)Panis, L., Broekx, S., Liu, R.: Modelling instantaneous traffic emission and the influence of traffic

speed limits. Sci. Total Environ. 371, 270–285 (2006)Cappiello, A., Chabini, I., Nam, E., Lue, A., Abou Zeid, M.: A statistical model of vehicle emissi-

ons and fuel consumption. Proceedings of the IEEE 5th international conference on intelligenttransportation systems, 801–809 (2002)

Ahn, K., Rakha, H., Trani, A., Aerde, M.V.: Estimating vehicle fuel consumption and emissionsbased on instantaneous speed and acceleration levels. J. Transp. Eng. 128, 182–190 (2002)

Treiber, M., Kesting, A., Thiemann, C.: How much does traffic congestion increase fuel consumpti-on and emissions? Applying a fuel consumption model to the NGSIM trajectory data. In: TRBannual meeting 2008 CD-ROM, Transportation Research Board of the National Academies,Washington, DC (2008)

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Kapitel 20Modellgestützte Optimierung desVerkehrsflusses

Das Entscheidende am Wissen ist, dass man es beherzigt undanwendet.

Konfuzius

20.1 Grundprinzipien

Aus der Analyse der raumzeitlichen Staudynamik auf Autobahnen in Kap. 17 ergibtsich, dass die meisten Staus durch das gemeinsame Zusammentreffen folgender drei„Zutaten“ entstehen:

(A) Hohes Verkehrsaufkommen,(B) eine die Kapazität reduzierende Streckeninhomogenität (Engstelle) sowie(C) lokale Störungen im Verkehrsfluss als „Auslöser“.

Daraus folgt das

Grundprinzip der Optimierung des Verkehrs:Homogenisiere den Verkehrsfluss (i) zeitlich, (ii) räumlich und (iii) bezüglichder Geschwindigkeiten so gut wie möglich.

Für eine Umsetzung des Prinzips durch Verkehrsbeeinflussungsmaßnahmen gibtes verschiedene Möglichkeiten. Sie wirken auf unterschiedliche Aspekte der Homo-genität und außerdem auf unterschiedlich großen raumzeitlichen Skalen.

Verkehrsplanerische Maßnahmen wirken v.a. auf den „Stau-Faktor“ (A), d.h. dasVerkehrsaufkommen. Durch den Ausbau, Neubau und Rückbau von Strecken lässtsich die globale Verkehrsnachfrage beeinflussen.1 Die Nachfrage lässt sich auch

1 Die Effekte können dabei durchaus gegenintuitiv sein. Zum Beispiel kann ein Neubau einerStrecke im „Nutzergleichgewicht“ zu einer Verlängerung der Reisezeiten für alle Nutzer führen(Braess’sches Paradoxon).

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6_20, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

289

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290 20 Modellgestützte Optimierung des Verkehrsflusses

durch politische Maßnahmen wie z.B. eine (zeitabhängige) Maut beeinflussen. Dar-über hinaus können Änderungen in der Verkehrsregelung das Verkehrsaufkommenreduzieren. Als Beispiel seien die in den USA üblichen HOV-Lanes (HOV steht fürHigh Occupancy Vehicles), die nur von mit mindestens zwei Personen besetztenAutos benutzt werden dürfen, angeführt. Weiterhin kann durch eine Förderung desöffentlichen Verkehrs (z.B. durch eine Verringerung der Taktzeiten, die Einrichtungneuer Linien, aber auch durch eine ÖV-Priorisierung an Kreuzungspunkten) dieVerkehrsmittelwahl beeinflusst werden. Durch Ausbaumaßnahmen können schließ-lich auch infrastrukturelle Engstellen beseitigt bzw. in ihrer kapazitätsreduzieren-den Wirkung abgeschwächt werden (Staufaktor (B)). Üblicherweise erfordern derleiMaßnahmen große Zeiträume (von bis zu mehreren Jahren) für ihre Umsetzung.

Dynamische, verkehrsabhängige Verkehrsführungen beeinflussen ebenfalls denStaufaktor (A), wirken aber auf mittleren räumlichen und zeitlichen Skalen. EineUmleitung infolge eines Staus auf der Autobahn kann beispielsweise das nachgeord-nete Streckennetz in einem Bereich von 5–50 km über mehrere Stunden beeinflus-sen. Ein verkehrsabhängiges Verkehrs- und Baustellenmanagement kann dagegenwesentlich zur Vermeidung derartiger Situationen beitragen.

Lokale, adaptive Verkehrsbeeinflussung wirkt auf kleinen räumlichen (< 5 km)und zeitlichen (< 10 min) Skalen. Als Beispiele gelten (i) Geschwindigkeitsbe-schränkungen zur Reduzierung der Störungen im Verkehrsfluss, (ii) Zuflussdo-sierungen an Autobahnauffahrten, die den Verkehrsfluss zeitlich homogenisieren,(iii) Verkehrsführungen an und vor Baustellen und, last but not least, (iv) derEinfluss des Fahrverhaltens. Im folgenden werden einige Maßnahmen der lokalenVerkehrsbeeinflussung näher betrachtet.

20.2 Geschwindigkeitsbeschränkungen

Tempolimits homogenisieren den Verkehr vor allem bezüglich der Geschwindig-keiten. Bei einem Tempolimit von z.B. 80 km/h ist die erlaubte Geschwindigkeitvon PKWs und LKWs dieselbe und außerdem gleich oder kleiner als die Wunsch-geschwindigkeit der Fahrer oder als die Höchstgeschwindigkeit des Fahrzeugs (vgl.Abschn. 4.2). Damit hat die tatsächliche Geschwindigkeit im freien Verkehr, die imWesentlichen gleich dem Minimum aus allen obigen Geschwindigkeiten ist, einegeringere Varianz. Dadurch reduzieren sich die lokalen Störungen, weil ein Großteilder Bremsmanöver vermieden wird (Staufaktor (C)).

Damit am Beginn von „Langsamfahrpassagen“ (mit einem Tempolimit von z.B.60 km/h) keine zu starken Bremsmanöver entstehen, leitet man derartige Zonendurch sogenannte Geschwindigkeitstrichter, also gestaffelte Tempolimits von z.B.120 → 100 → 80 → 60 km/h, ein.

Mit Hilfe von mikroskopischen Modellen lassen sich die Wirkungen vonGeschwindigkeitsbeschränkungen simulieren (vgl. das Beispiel in Abb. 20.1).Die durch das Tempolimit hervorgerufene Homogenisierung der Geschwindigkeiterleichtert die notwendigen Fahrstreifenwechsel und reduziert damit potenziell

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20.2 Geschwindigkeitsbeschränkungen 291

Abb. 20.1 Auswirkung einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf die Staubildung vor einer (z.B.durch eine Baustelle hervorgerufenen) Fahrstreifenreduktion. Die dargestellte Simulation kann in-teraktiv auf der Webseite www.traffic-simulation.de durchgeführt werden

stauverursachende abrupte Fahrmanöver. Dadurch wird ein Verkehrszusammen-bruch verhindert bzw. verzögert, so dass man trotz Tempolimits letztendlich schnel-ler vorankommt.

Bei geringem Verkehrsaufkommen (Staufaktor (A) ist nicht gegeben) führenauch hohe Geschwindigkeitsunterschiede nicht zu kritischen Störungen im Ver-kehrsfluss, so dass in diesem Fall Tempolimits nicht zur Verkehrsflussoptimierungbeitragen. Selbverständlich können sie aber aus anderen Gründen, z.B. für die Ver-kehrssicherheit oder Lärmschutz, sinnvoll sein.

Auswirkung von Tempolimits:„Langsamer ist manchmal schneller.“

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292 20 Modellgestützte Optimierung des Verkehrsflusses

20.3 Zuflussdosierung an Auffahrten

Zufluss-Dosierung, auch als Zuflussregelung oder englisch ramp metering bezeich-net, sind vor allem in den USA eine verbreitete Verkehrsbeeinflussungs-Maß-nahme:2 Kommt ein Verkehrsfluss-Peak bzw. „Fahrzeugschwall“ auf der Haupt-fahrbahn mit hohem Verkehrsaufkommen auf einer Autobahn-Zufahrt zusammen,werden die Fahrzeuge auf der Zufahrt durch eine „Pförtnerampel“ kurzzeitig amEinfahren auf die Autobahn gehindert, bis die Belastungsspitze vorbei ist. Dadurchwird der zeitliche Verlauf des Verkehrsflusses homogenisiert und gleichzeitig dieStärke der durch die Einfahrt bewirkten Streckeninhomogenität verringert. Damitnach Freigabe der Auffahrt kein neuer Fahrzeugschwall durch die auffahrendenFahrzeuge entsteht, werden durch kurze Grünphasen jeweils nur eines oder wenigeFahrzeuge auf die Autobahn gelassen.

Verschiedene Regelungsstrategien für die Zuflussdosierung lassen sich im Rah-men von mikroskopischen Verkehrssimulationen untersuchen und bewerten. Eineeinfache Strategie z.B. lautet: „Reduziere den Zufluss Qrmp so, dass die SummeQmain + Qrmp aus Verkehrsfluss auf Hauptstrecke und Rampe einen kritischen WertQc nicht überschreitet“. Diese Regel wird in der Abb. 20.2 illustriert.

Abbildung 20.3 zeigt eine Simulation, in der diese Regelung angewandt wurde.Als Randbedingung für die Verkehrsnachfrage wurden in der Simulation empirischeVerkehrsflussdaten verwendet. Die Parameter des Intelligent-Driver-Modells (vgl.Abschn. 11.3) sind so kalibriert worden, dass die Simulation zu einer ähnlichenStaubildung führte wie sie tatsächlich beobachtet wurde (linkes oberes Bild). DasDiagramm 20.3 rechts oben zeigt die Verkehrssituation bei optimal eingestelltem

Qc

nmax

Regelkurve

Nachfrage

Wartende Fahrzeuge

Verkehrsfluss

t

t

Abb. 20.2 Einfache Regelstrategie für eine Zuflussdosierung. Oben: Der Gesamtfluss auf derHauptstrecke wird durch eine Pförtnerampel auf der Zufahrt auf Qc beschränkt und dadurch dieVerkehrsnachfrage auf die Regelkurve transformiert. Die Flächen zwischen der Nachfragekurveund der Regelkurve geben die Maximalzahl von wartenden Fahrzeugen an. Oben: Zeitlicher Ver-lauf der wartenden Fahrzeuge. Falls diese Fahrzeugzahl die Pufferkapazität nmax überschreitet,drohen Beeinträchtigungen des untergeordneten Straßennetzes

2 In den letzten Jahren nimmt ihre Anwendung aber auch in Deutschland zu.

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20.3 Zuflussdosierung an Auffahrten 293

x (km)

x (km)

Zeit (h)

34 36

38 40

42 17 18

19 20

0

40

80ρ(Fz/km)

ρ(Fz/km)

Zeit (h)

34 36

38 40

42 17 18

19 20

0

40

80

0

10

20

30

40

17 18 19 20War

te-

bzw

. Rei

seze

it (m

in)

Zeit (h)

Qc=1530 Fz/h

ReisezeitWartezeit

0

100

200

300

400

500

17 18 19 20

Anz

ahl d

er F

ahrz

euge

Zeit (h)

Qc=1530 Fz/h

Fz auf HauptfahrbahnWartende Fahrzeuge

Gewichtete

WartendeFahrzeugeWartezeit

Ohne Zuflussregelung Mit Zuflussregelung

Zeit ohne ...

Regelung... und mit Regelung

mit

ohne

Abb. 20.3 Stauvermeidung durch Zuflussregelung

Regelparameter Qc. Dieser Parameter der Zuflussregelung muss durch eine nicht-lineare Optimierung bestimmt werden (siehe Abschn. 20.6). Die Zeitreihen linksunten zeigen Reisezeiten ohne und mit Zuflussregelung sowie die bei Zuflussrege-lung an der Zufahrt vor der Ampel entstehenden Wartezeiten.

Die Simulation zeigt, dass nicht nur die Fahrer auf der Hauptstrecke profitieren,sondern, abgesehen von einem sehr kleinen Zeitintervall um 17:00 Uhr, auch diean der Zufahrt auffahrenden Fahrzeuge: Die notwendige Wartezeit ist kleiner alsdie anschließende Reisezeitersparnis auf der Hauptstrecke durch den ausbleibendenVerkehrszusammenbruch.

Bei der Umsetzung in die Praxis ist eine Regelung der Zuflussdosierung meistkomplizierter und hängt regelbasiert u.a. von Zeitreihen benachbarter stationärerDetektoren sowie der Tageszeit ab. Beispielsweise muss man vemeiden, dass eindurch die Pförtnerampel verursachter Rückstau in das Nebennetz gelangt und diesesdadurch beeinträchtigt. Droht die Warteschlange der gestauten Fahrzeuge deshalbdie von der Infrastruktur vorgegebene Aufnahmefähigkeit zu überschreiten, wirddie Regelung im Allgemeinen wieder deaktiviert.

Auswirkung von Zuflussdosierungen:„Weniger ist manchmal mehr.“

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294 20 Modellgestützte Optimierung des Verkehrsflusses

20.4 Effizientes Fahrverhalten und ACC-Systeme

Der wichtigste kapazitätsbestimmende Faktor ist die Zeitlücke T (vgl. Abschn. 4.3).Dies legt nahe, den kapazitätsmindernden Einfluss von Streckeninhomogenitätenwie z.B. Baustellen, Steigungen oder Auffahrten durch eine etwas verkürzte Folge-zeit beim Durchfahren dieser Streckeninhomogenitäten zu mindern (vgl. Abb. 20.4).Damit diese dynamische Reduzierung der Engstellen-Stärke nicht auf Kosten derVerkehrssicherheit geht, ist natürlich erhöhte Aufmerksamkeit nötig. Damit bietetsich diese Art der Effizienzsteigerung vor allen in Kombination mit dem Einsatzvon adaptiven Beschleunigungsreglern (Adaptive Cruise Control, ACC) an.

Im Rahmen von mikroskopischen Verkehrssimulationen kann man untersuchen,wie eine verkehrseffiziente Fahrweise im Bereich von Engstellen aussehen könn-te. Die Herausforderung bei einem Eingriff in das individuelle Fahrverhalten be-steht dabei – unter Berücksichtigung von Sicherheits-, Akzeptanz- und rechtlichenAspekten – im Ausgleich der Gegensätze Fahrkomfort und Verkehrseffizienz. Wäh-rend sich ein komfortables Fahren durch große Abstände bei geringen Fahrzeugbe-schleunigungen auszeichnet, erfordert ein verkehrsoptimierendes Verhalten kleinereAbstände und eine schnellere Anpassung an Geschwindigkeitsänderungen der um-gebenden Fahrzeuge.

Diese gegensätzlichen Ziele können durch eine verkehrsadaptive Fahrstrategiemiteinander vereinbart werden und durch ein ACC-System mittels Anpassung derdas Fahrverhalten charakterisierenden Parameter umgesetzt werden. Die Wahl derParameter erfolgt in Abhängigkeit von der lokalen Verkehrssituation, die auf der Ba-sis der im Fahrzeug zur Verfügung stehenden Informationen bestimmt wird.3 Durchdie Unterscheidung verschiedener Verkehrssituationen wird lediglich ein kurzzeiti-ger Wechsel in ein verkehrseffizientes Fahrregime (zum Beispiel beim Herausfahrenaus einem Stau) ermöglicht. Formal entspricht dies einem ACC- bzw. Fahrzeug-folgemodell (vgl. Kap. 11) mit einer automatischen, ereignisgesteuerten Wahl derModellparameter.

Kapazität K

Baustelle

Effizientes Fahrverhalten

x

Abb. 20.4 Homogenisierung der Streckenkapazität und Abschwächung der Engstelle durch eineortsabhängige effiziente Fahrweise bzw. ACC-Regelung

3 Fahrerinformations- sind ebenso wie Fahrerassistenzsysteme ein aktuelles Forschungsfeld. In-formationen über die Infrastruktur und die lokale Verkehrslage können über verschiedenste Kanäleerfasst werden und in das Fahrzeug gelangen. Beispiele sind dynamische digitale Karten, die Kom-munikation zwischen Fahrzeugen (car-to-car communication), die Kommunikation mit stationärenSendern am Straßenrand (vehicle-infrastructure integration) oder die Nutzung von Mobilfunkdaten(Floating-Phone-Daten) zur Lageschätzung.

Page 295: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

20.4 Effizientes Fahrverhalten und ACC-Systeme 295

Eine situationsabhängige Fahrstrategie kann beispielsweise folgende fünfVerkehrszustände mit unterschiedlichen Zielsetzungen unterscheiden: (i) FreierVerkehr, (ii) Annäherung an einen Stau, (iii) Stau, (iv) Ausfahrt aus dem Stau und(v) Engstelle. Während z.B. im Zustand „Freien Verkehr“ ein komfortabler Fahr-stil angestrebt wird, kommt es bei der „Ausfahrt aus dem Stau“ darauf an, dassdie Fahrzeuge rechtzeitig und zügig beschleunigen, um den Ausfluss aus dem Stau(d.h. die dynamische Kapazität) zu erhöhen. Besonders wichtig für die Stauver-meidung ist die Fahrstrategie an „Engstellen“. Da eine lokale Kapazitätsreduktion

3234

3638

4042 17

1819

20

204060

3234

3638

4042

1718

1920

204060

3234

3638

4042

1718

1920

204060

0

200

400

600

800

1000

1200

16 17 18 19 20

Ges

amtz

eit (

h)

Uhrzeit (h)

0% ACC10% ACC20% ACC

10

15

20

25

16 17 18 19 20

Rei

seze

it (m

in)

Uhrzeit (h)

0% ACC Fz10% ACC Fz20% ACC Fz

0.3

0.4

0.5

0.6

0.7

16 17 18 19 20

Ver

brau

chsr

ate

(Lite

r/s)

Uhrzeit (h)

0% ACC10% ACC20% ACC

0

1000

2000

3000

4000

5000

6000

7000

16 17 18 19 20

Kum

ulie

rter

Ver

brau

ch (

Lite

r)

Uhrzeit (h)

0% ACC10% ACC20% ACC

ρ (1/km)

ρ (1/km)

ρ (1/km)

Aktuelle Reisezeit auf der simulierten Strecke

t(h)

t(h)

t(h)

x(km)

x(km)

x(km)

0% ACC

10% ACC

20% ACC

Gesamte Reisezeit auf der simulierten Strecke

Verbrauchsrate auf der simulierten Strecke

Gesamtverbrauch auf der simulierten Strecke

Abb. 20.5 Reduktion des Staus und damit einhergehende Reduktion der Reisezeiten und desTreibstoffverbrauchs durch eine verkehrsadaptive Fahrstrategie von ACC-Fahrzeugen anhand einernachsimulierten Verkehrssituation auf der A8-Ost (Salzburg-München mit dem Irschenberg alsEngstelle)

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296 20 Modellgestützte Optimierung des Verkehrsflusses

das gemeinsame Merkmal dieser Engstellen ist (siehe Abb. 20.4), ist das Ziel indiesem Verkehrszustand, das „Kapazitätsloch“ durch ein aufmerksames Fahren beikleineren Abständen zum Vordermann „aufzufüllen“. Denn – wie die Simulatio-nen in Abb. 20.5 zeigen – bereits eine geringe Abschwächung des Engpasses durchwenige Prozent effizienter Fahrer bzw. Fahrzeuge kann einen Verkehrszusammen-bruch hinauszögern und damit die Zeitverluste infolge des Staus deutlich verringern.

Die Umsetzung dieser Fahrstrategien erfolgt durch die situationsangepasste Än-derung der das Fahrverhalten beeinflussenden ACC-Parameter. So kann z.B. diegewünschte Zeitlücke innerhalb einer Engstelle in einem gewissen Rahmen redu-ziert oder die Agilität des Fahrzeugs bei der Ausfahrt aus dem Stau erhöht werden.Bei der Verwendung des Intelligent-Driver-Modells (IDM, vgl. Abschn. 11.3) bietensich hierfür die Parameter T (Folgezeit), a (maximale Beschleunigung) und b (kom-fortable Verzögerung) an. So wird für jeden der fünf Verkehrszustände ein Satz vonIDM-Parametern hinterlegt (siehe Tabelle 20.1). Diese „Strategiematrix“ ist durchMultiplikationsfaktoren relativ formuliert, so dass individuelle Grundeinstellungendes Fahrers erhalten bleiben.

Tabelle 20.1 Fahrstrategie mit situationsabhängigen Parametrisierungen für das Intelligent-Driver-Modell. Die relativen Faktoren λT , λa und λb bewirken eine Veränderung der ACC-Parameter für die gewünschte Zeitlücke T , der maximalen Beschleunigung a und der komfortablenVerzögerung b eines ausgestatteten Fahrzeugs

Verkehrssituation λT λa λb Fahrverhalten

Freier Verkehr 1 1 1 StandardeinstellungenAnnäherung an Stau 1 1 0.7 Erhöhung der (kollektiven) SicherheitStau 1 1 1 StandardeinstellungenAusfahrt aus dem Stau 0.5 2 1 Erhöhung der dynamischen KapazitätEngstelle 0.7 1.5 1 Verhinderung des Verkehrszusammenbruchs

In der Abb. 20.5 wurde der Anteil an ACC-Fahrzeugen mit dieser verkehrsad-aptiven Fahrstrategie variiert. Die Simulationsergebnisse zeigen eine Reduktion desStaus für einen Ausstattungsanteil von bereits 10% der Fahrzeuge mit der situations-abhängigen Fahrstrategie. Zum einen wirkt die lokal erhöhte Kapazität durch dieFahrstrategie „Engstelle“ stauverzögernd – in dem Simulationsbeispiel bei einemAnteil von 20% sogar vollkommen stauvermeidend. Zum anderen bewirkt ein agi-leres Beschleunigen am Staukopf einen höheren Ausfluss und verringert damit dencapacity drop, mit dem die Abnahme der Verkehrsstärke im Stau bezeichnet wird.Als Folge kann der Stau nicht mehr so stark wie im Referenzszenario wachsen.Die drastischen Wirkungen eines Staus zeigen sich auch in den aktuellen und ku-mulierten Reisezeiten (vgl. Abschn. 18.2). Die Reisezeiten der Fahrer erhöhen sichzwischen 16:00 und 18:00 Uhr auf etwa das Dreifache. Die staubedingten Gesamt-zeitverluste betragen ca. 400 Stunden und damit über 50% in diesem Simulations-szenario. Mit dem Modell für den Treibstoffverbrauch (vgl. Kap. 19) lässt sich auchdie Verbrauchsrate und der Gesamtverbrauch berechnen. Der Mehrverbrauch anTreibstoff durch einen Stau fällt mit ca. 15% erwartungsgemäß aber niedriger aus(vgl. Abschn. 19.7.2).

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20.5 LKW-Überholverbot und weitere lokale Verkehrsregeln 297

Solche Simulationen zeigen des Weiteren, dass auch „menschliche“ Fahrer dieAuflösung eines bereits entstandenen Staus fördern können, ohne den Vorschriftenwidersprechende zu geringe Folgezeiten zu fahren oder die Verkehrssicherheit zugefährden.4

Beitrag des Fahrers zur Verkehrsoptimierung:(i) Bei Engstellen keine zu großen Abstände lassen und (ii) am Ende einesStaus oder einer Engstelle zügig beschleunigen.

20.5 LKW-Überholverbot und weitere lokale Verkehrsregeln

Weitere geeignete Maßnahmen zur Verkehrshomogenisierung werden nun am Bei-spiel einer dreistreifigen Autobahn diskutiert.

LKW-Überholverbote, vor allem an Steigungs- oder Gefällestrecken, verhindern„Jumborennen“, bei denen LKWs auf dem mittleren Fahrstreifen z.B. nur 50 km/hoder noch langsamer fahren. Damit werden gefährliche Geschwindigkeitsdifferen-zen zwischen mittleren und rechten Fahrstreifen reduziert.

Mindestgeschwindigkeiten auf dem rechten und mittleren Fahrstreifen und gleich-zeitig Höchstgeschwindigkeiten auf Steigungsstrecken vermeiden gefährlich ho-he Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen mittleren und linken Fahrstreifen. EineKombination mit LKW-Überholverboten ist offensichtlich sinnvoll.

Empfehlungen, den Fahrstreifen so selten wie möglich zu wechseln (Stay-in-Lane-Recommendation), um so die Zahl der Störungen so gering wie möglich zu halten.

Fahrstreifenwechselverbote „Rechts-Mitte“ vor größeren Einfahrten können denStörfaktor vor Einfahrten, der durch ein Wechseln auf die linken Fahrstreifen ent-steht, reduzieren. Diese Regelung erfordert u.a. lange Beschleunigungsstreifen, sodass nach etwa einem Drittel der Länge der Beschleunigungsstreifen ein Fahr-streifenwechselverbot wieder aufgehoben wird, um allen auffahrenden Fahrzeugeneinen störungsfreien Fahrstreifenwechsel auf die Hauptfahrbahnen zu ermöglichen(vgl. Abb. 20.6). Als Gesamteffekt bewirkt diese Maßnahme, dass lange Beschleu-nigungsstreifen bei Bedarf auch genutzt werden und damit die Stärke der Engstelle„Auffahrt“ reduziert wird. Andernfalls würden die meisten Fahrer bereits am An-fang auf die Hauptfahrbahn auffahren, so dass die Verkehrsdynamik de facto wiebei einer den Verkehrsfluss stärker störenden kurzen Auffahrt wäre. Außerdem wirddynamisch ein ähnlicher Effekt wie bei der Zuflussdosierung erreicht.

4 Die gesetzliche Vorgabe „Abstand gleich halber Tacho“ entspricht einer Zeitlücke von T = 1.8 s.Auf deutschen Autobahnen werden aber als wahrscheinlichste Folgezeiten Werte um 0.9 s beob-achtet (vgl. Abschn. 4.3).

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298 20 Modellgestützte Optimierung des Verkehrsflusses

Abb. 20.6 Lokales Wechselverbot vom rechten auf den mittleren Fahrstreifen im Vorfeld von grö-ßeren Ausfahrten. Die Länge des Wechselverbots ist verkürzt gezeichnet

Einfädeln nach dem „Reißverschlussprinzip“ steigert ebenfalls die Effektivität, dabei Fahrstreifensperrungen (und dadurch verursachten Staus) der voraus gesperrteFahrstreifen bis zum Ende genutzt wird.

20.6 Zielfunktionen für die Verkehrsoptimierung

Die Aufgabe bei der Verkehrsoptimierung besteht in der Minimierung der auf einemraumzeitlichen Gebiet G = [x1, x2] × [tstart, tend] definierten Zielfunktion F durcheine oder mehrere der in diesem Kapitel besprochenen Optimierungsmaßnahmen.Die Nebenbedingung in einer Verkehrssimulation besteht aus einer vorgegebenenVerkehrsnachfrage-Ganglinie Qin(t) auf der Hauptstrecke und ggf. einer Zufahrts-Ganglinie Qzu(t). Das Gebiet G muss dabei so gewählt werden, dass es weder anden räumlichen Rändern x1 und x2 noch an den zeitlichen Rändern tstart und tend zuStaus kommt. Andernfalls ist nicht gewährleistet, dass die ganze VerkehrsnachfrageQin(t) und Qzu(t) im Optimierungszeitraum „abgefertigt“ wird, so dass verschie-dene Simulationsläufe nicht miteinander verglichen werden können.

Für eine Verkehrsoptimierung werden geeignete Zielfunktionen bzw. Zielfunk-tionale benötigt.5 Mögliche Zielvorgaben einer Optimierung sind z.B. die Mini-mierung der Zeitverluste, die Minimierung der Emissionen oder die Maximierungdes Fahrkomforts. Im Folgenden werden für diese Größen geeignete Zielfunktio-nen diskutiert und dabei gleich für ein ganzes Netzwerk von Verkehrsverbindungenformuliert.

Minimierung der Gesamtreisezeiten. Die dimensionslose Gesamtreisezeit in einerMikrosimulation berechnet sich gemäß

Fτ = 1

T0

tend∫

tstart

dt∑

{i j}ni j (t) . (20.1)

5 Eine Funktion ist eine Abbildung von Zahlen auf andere Zahlen, während ein Funktional ganzeFunktionen auf Zahlen abbildet wie z.B. ein bestimmtes Integral.

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20.6 Zielfunktionen für die Verkehrsoptimierung 299

Hierbei ist ni j (t) die Fahrzeugzahl auf der Strecke von Knoten i nach Knoten j unddie Summe geht über alle Knotenkombinationen {i j}, für die im Untersuchungs-gebiet direkte Streckenanbindungen bestehen. Die Normierungskonstante T0 ist zu-nächst beliebig und dient dazu, die Zielfunktion dimensionslos zu machen sowie diePrioritäten gegenüber anderen Zielkriterien festzulegen. Sie wird später gleich derGesamtreisezeit des nichtoptimierten Systems gewählt.

In einer makroskopischen Simulation lautet die entsprechende Zielfunktion fürdie Gesamtreisezeit

Fτ = 1

T0

tend∫

tstart

dt∫

alle Strecken

dx ρ(x, t) . (20.2)

Für die Optimierung eines kompletten Netzwerks geht das Ortsintegral über alleStrecken des Netzwerks. Als Nebenbedingung der Optimierung hat man u.a. ei-ne vorgegebene Verkehrsnachfrage, oder, bei Netzwerken, eine Nachfragematrix.Im Fall von Streckenbeeinflussungsanlagen (Tempolimits etc.) wird in der Regelnur eine Strecke betrachtet. Im Falle von Beeinflussungsmaßnahmen, die auch Zu-fahrten betreffen (z.B. Zuflussdosierung), schließt die Summe über alle Streckenbzw. das Ortsintegral auch die Zufahrten mit ein. Für eine Zuflussdosierung ist dieZielfunktion z.B. proportional zu der Summe der Flächen unter den Kurven derFahrzeuganzahl auf der Hauptstrecke und der Zufahrt (vgl. Abb. 20.3).

Maximierung des Fahrkomforts. Der Fahrkomfort wird im Wesentlichen durchBeschleunigungen a = v und durch abrupte Änderungen der Beschleunigungen,J = a = v bestimmt. Die zeitlich Änderung der Beschleunigung bewirkt imFahrzeug einen „Ruck“ (jerk). Besonders anschaulich wird der Fahrkomfort bzw.sein Fehlen durch die Dynamik einer schwappenden Kaffeetasse („Coffeemeter“)repräsentiert (vgl. Abb. 20.7). Für die Optimierung wird der zu minimierende „Dis-komfort“ Fcomf in einer mikroskopischen Simulation z.B. durch

Fcomf = 1

T0 a0

tend∫

tstart

dt∑

α

(v2α + τ 2

0 v2α

)(20.3)

ausgedrückt. Die Summe läuft über alle Fahrzeuge α auf den relevanten Strecken.In einer makroskopischen Simulation lautet die entsprechende Formulierung

Fcomf = 1

T0 a0

tend∫

tstart

dt

x2∫

x1

dx ρ(x, t)[

A2(x, t) + τ 20 A2(x, t)

]. (20.4)

Die Zeitkonstante τ0 (mit Werten in der Größenordnung von 1 s) gibt die relativeGewichtung des Rucks gegenüber der Beschleunigung an, während die Beschleu-nigung a0 (Werte in der Größenordnung der Fahrzeugbeschleunigungen, also um

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300 20 Modellgestützte Optimierung des Verkehrsflusses

Abb. 20.7 Fahrerperspektive in einer Mikrosimulation. Das Coffeemeter visualisiert die Fahrzeug-beschleunigung und deren Zeitableitung (Ruck, engl. jerk)

1 m/s2) die relative Gewichtung des Fahrkomforts gegenüber der Reisezeit angibt.Die im Bezugssystem des Fahrers bestimmte „makroskopische Beschleunigung“A(x, t) ist durch Gl. (9.1) gegeben.

Minimierung des Gesamt-Treibstoffverbrauchs. In der Mikro-Simulation lautet dieZielfunktion

Fc = 1

T0 C0

tend∫

tstart

dt∑

α

Cα(vα(t), vα(t), gα(t)) . (20.5)

In der Makro-Simulation lässt sich der gesamte Treibstoffverbrauch durch den Aus-druck

Fc = 1

T0 C0

tend∫

tstart

dt

x2∫

x1

dx ρ(x, t)C(V (x, t), A(x, t)) (20.6)

berechnen. Die Konstante C gibt die relative Gewichtung des Treibstoffverbrauchsgegenüber dem Zeitaufwand an. Ein Wert C0 = 10 l/h bedeutet zum Beispiel, dassein Zeitverlust von einer Stunde so hoch gewichtet wird wie 10 Liter an zusätzlichverbrauchtem Treibstoff.

Für eine multikriterielle Optimierung wird die Zielfunktion hinsichtlich der ver-schiedenen Kriterien betrachtet:

F = Fτ + Fcomf + Fc . (20.7)

Die Prioritäten in dieser Zielfunktion werden durch die Wahl der Parameter a0, τ0,und C0 festgelegt. Den Wert von T0 könnte man im Prinzip gleich Eins setzen,

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Literaturhinweise 301

da er in den Summanden von F als gemeinsamer Faktor vorkommt. Ein bessererVergleich des Optimierungserfolgs bei verschiedenen raumzeitlichen Gebieten Gsowie verschiedenen Verkehrsnachfrage-Ganglinien wird jedoch ermöglicht, indemman T0 gleich der Gesamtreisezeit vor der Optimierung setzt. In diesem Fall ist dieZielfunktion F immer dimensionslos und hat einen Wert in der Größenordnung vonEins.

Bei der vorgestellten Optimierungsaufgabe handelt es sich um eine nichtlineareOptimierung mit einer nur relativ aufwändig zu errechnenden, bezüglich der Pa-rameter der Optimierungsmaßnahmen nicht differenzierbaren Zielfunktion F . DieErmittlung eines Wertes von F erfordert jeweils einen kompletten Simulationslauf.Bei der Optimierung sollte man daher darauf achten, dass die Zielfunktion seltenberechnet wird und dass man bei der Suche möglichst nicht in Nebenminima gerät.

Literaturhinweise

Papageorgiou, M., Hadj-Salem, H., Blosseville, J.: ALINE A: a local feedback control law foron-ramp metering. Transp. Res. Rec. 1320, 58–64 (1991)

Treiber, M., Helbing, D.: Microsimulations of freeway traffic including control measures. Auto-matisierungstechnik 49, 478–484 (2001)

Kesting, A., Treiber, M., Schönhof, M., Helbing, D.: Adaptive cruise control design for activecongestion avoidance. Transp. Res. C Emerg. Technol. 16, 668–683 (2008)

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Anhang ALösungen zu den Übungsaufgaben

Aufgaben aus Kap. 2

2.1 Floating-Car-Daten. GPS-Daten enthalten Orts- und Zeitinformationen, au-ßerdem (anonymisiert) eine ID des absendenden Fahrzeugs. Durch Verbinden derOrts-Zeit-Koordinaten kann man für diese Fahrzeuge Trajektorien konstruieren unddurch die Steigung im Raum-Zeit-Diagramm auch Geschwindigkeiten ermitteln.Niedrige Geschwindigkeiten (z.B. 30 km/h) auf der Autobahn kann man im Allge-meinen als Indiz für einen Stau werten. Da Orte und Zeiten bekannt sind, erhält manauch (zumindest bei hinreichendem Ausstattungsgrad) die Länge von Staus sowiedie Lage der Staufronten. Da die Genauigkeit der Positionsbestimmung etwa 20 mbeträgt, muss man durch Plausibilitätsbetrachtungen Fehlsignale durch z.B. auf Sei-tenstreifen bzw. Rastplätzen haltende Fahrzeuge oder von Fahrzeugen auf parallelenStraßen ausschließen. Wegen dieser Ungenauigkeit sind keine Fahrstreifenwechseldetektierbar. Da auch der Ausstattungsgrad (der Anteil von sendenden Fahrzeugen)nicht bekannt ist, kann man anhand der Trajektorien weder Verkehrsdichte nochVerkehrsfluss bestimmen.

2.2 Trajektoriendaten

1. Lokale Verkehrsflussgrößen: Beispiel für freien Verkehr [10 s, 30 s] × [20 m,

80 m]:1. Fluss Q = 11 Fz/20 s = 1 980 Fz/h2. Dichte ρ = 3 Fz/50 m = 60 Fz/km3. Geschwindigkeit V = 60 m/5 s = 12 m/s = 43.2 km/h

Geschwindigkeit aus der hydrodynamischen Beziehung:

V = Q

ρ= 39.6 km/h,

was im Rahmen der Ablesegenauigkeit in Ordnung ist. (Man könnte beim Flussauch 12 Fahrzeuge in 20 s zählen, käme dann auf Q = 2 160 Fz/h und damit Q/ρ =43.2 km/h.) Beispiel für gestauten Verkehr [50 s, 60 s] × [40 m, 100 m]:

M. Treiber, A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation, Springer-Lehrbuch,DOI 10.1007/978-3-642-05228-6, C© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

303

Page 303: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

304 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

1. Fluss Q = 2 Fz/10 s = 720 Fz/h2. Dichte ρ = 6 Fz/60 m = 100 Fz/km3. Geschwindigkeit V = 20 m/10 s = 2 m/s = 7.2 km/h

Geschwindigkeit aus der hydrodynamischen Beziehung:

V = Q

ρ= 7.2 km/h.

Eine Abweichung von bis zu ±20% wäre wegen der geringen Anzahl an Trajek-torien im Messintervall (z.B. 5 anstatt 6) und der Heterogenität innerhalb diesesBereichs ebenfalls in Ordnung.

2. Ausbreitungsgeschwindigkeit des Staubereichs: Der Staubereich ist durch nahe-zu waagerechte Trajektorien definiert. Die stromaufwärtige Staufront (dort, wo dieFahrzeuge in den Stau einfahren) tritt zur Zeit t = 33 s beim Ort x = 140 m in dendurch die Trajektorien erfassten Bereich ein und verlässt diesen bei x = 0 zur Zeitt = 60 s wieder. Die Staufront propagiert daher entgegen der Fahrtrichtung mit derGeschwindigkeit

c ≈ − 140 m

(60 − 33) s= −5.2 m/s = −19 km/h .

Die stromabwärtige Staufront (dort, wo die Fahrzeuge aus der Stockung heraus-fahren) breitet sich im Trajektoriendiagramm nahezu parallel zur stromaufwärtigenStaufront aus und besitzt daher ebenfalls eine Geschwindigkeit von etwa −19 km/h.

3. Zeitverlust des zur Zeit t = 50 s einfahrenden Fahrzeugs: Dieses Fahrzeug fährtzur Zeit t ≈ 86 s aus dem Messbereich heraus, so dass die Reisezeit 36 s beträgt.Die Reisezeit ohne die Stockung ergibt sich durch lineare Extrapolation der erstenSekunden der Trajektorie vor der Staueinfahrt. Dies ergibt eine theoretische Aus-fahrtszeit t ≈ 66, s, entsprechend einem Zeitverlust von 20 s.

4. Fahrstreifenwechselrate im raumzeitlichen Bereich [0 s, 80 s] × [0 m, 140 m]:

r ≈ 6 Wechsel

80 s 140 m= 0.00054

Wechsel

m s≈ 1 900

Wechsel

km h.

Hier wurden sowohl die Wechsel auf den Fahrstreifen (beginnende Trajektorien) alsauch Wechsel auf andere Fahrstreifen (vor Ende des Messbereichs endende Trajek-torien) gezählt.

2.3 Trajektoriendaten eines Verkehrsflusses mit „Störung“

1. Stopp an einer roten Ampel. Der horizontale Balken stellt die Ampelposition zurZeit der Rotphase dar.

2. Zufluss Qin = 5 Linien pro 20 s = 0.25 Fz/s = 900 Fz/h.

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Aufgaben aus Kap. 3 305

3. Betrachten Sie für die Geschwindigkeit z.B. die Linie, welche bei x = −80 mzur Zeit t = −16 s beginnt und bei (x, t) = (80 m, 0 s) endet:

vin = 160 m

16 s= 10 m/s = 36 km/h .

Dichte: entweder 1 Strich pro 40 m oder mittels ρ = Q/v. Beides führt aufρ = 25 Fz/km.

4. Dichte im gestauten Bereich: 8 horizontale Striche/40 m ⇒ ρjam = 200 Fz/km.5. Ausfluss nach Aufhebung der Behinderung: Am besten Zahl der Striche in einem

20 s-Kasten oberhalb der blauen „Ende der Beschleunigungsphase“-Punkte aus-werten: 10 Striche/20 s ⇒ Qout = 0.5 Fz/s = 1 800 Fz/h. Geschwindigkeit wiebeim freien Verkehr stromaufwärts, da Linien zu jenen parallel: V = 36 km/h.Dichte durch Strichezählen (2 Striche pro 40 m) oder via hydrodynamischerRelation: ρ = 50 Fz/km.

6. Front-Ausbreitungsgeschwindigkeiten entweder durch Steigung der Front-Linien (bzw. der „Punkteketten“) oder durch die Kontinuitätsgleichung (vgl.Kap. 7):

Frei → Stau: vupg = ΔQ

Δρ= −900 Fz/h

175 Fz/km= −5.14 km/h,

Stau → Frei: vdowng = ΔQ

Δρ= 1 800 Fz/h

−150 Fz/km= −12 km/h .

7. Ohne Verzögerung wäre das bei x = −80 m zur Zeit t = 20 s einfahrende Fahr-zeug zur Zeit tend = 38 s am „Ende“ des Diagramms bei x = 100 m. Tatsächlichist es erst zur Zeit t = 69 s dort, also mit 31 s Verzögerung.

8. Bremsweg: sb = 25 m; Beschleunigungsweg: sa = 50 m, also

b = v2

2sb= 2 m/s2, a = v2

2sa= 1 m/s2.

Man kann den Bremsweg auch direkt aus der Definition der Beschleunigung überdie Dauer der Beschleunigungs- bzw. Bremsphase Δt berechnen:

b = −Δv

Δt= −−10 m/s

10 s= 2 m/s2, a = Δv

Δt= 10 m/s

10 s= 1 m/s2 .

Aufgaben aus Kap. 3

3.1 Daten-Aggregierung an einem Querschnitt

1. Aggregierung: Flüsse (n1 = 6, n2 = 4,Δt = 30 s):

Q1 = n1

Δt= 0.2 Fz/s = 720 Fz/h, Q2 = n2

Δt= 0.133 Fz/s = 480 Fz/h .

Page 305: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

306 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Geschwindigkeiten:

V1 = 1

n1

α

v1α = 25.8 m/s, V2 = 1

n2

α

v2α = 34.0 m/s.

2. Dichte: Da der Korrelationskoeffizient nach Annahme gleich Null ist, ist auchdie Kovarianz Cov(vα,Δtα) = 0 und damit

ρ1 = Q1

V1= 7.74 Fz/km, ρ2 = Q2

V2= 3.92 Fz/km .

3. Gesamte Richtungsfahrbahn: Dichte und Fluss durch einfache Summation:

ρ = ρ1 + ρ2 = 11.66 Fz/km, Q = Q1 + Q2 = 1 200 Fz/h .

Die Geschwindigkeit entweder mit der hydrodynamischen Beziehung oder durchdas gewichtete harmonische Mittel (diese beiden Berechnungsarten sind identisch!):

V = Q

ρ= Q

Q1/V1 + Q2/V2= 28.5 m/s = 102.9 km/h.

4. LKW-Anteil: Anteil 2/6 = 1/3 auf dem rechten Fahrstreifen, 0 auf dem linken,2/10 = 1/5 insgesamt.

3.2 Bestimmung makroskopischer Größen aus Einzelfahrzeug-Daten. Auf bei-den Fahrstreifen ist der Bruttoabstand Δxα = 60 m konstant. Die Fahrzeuge habenalle die gleiche Fahrzeuglänge l = 5 m. Die Geschwindigkeiten betragen

vlα = 144 km/h = 40 m/s, vr

α = 72 km/h = 20 m/s .

1. Zeitlücken: Die Brutto-Zeitlücken Δtα = Δxα/vα betragen

Δt lα = 60 m

40 m/s= 1.5 s, Δt r

α = 60 m

20 m/s= 3.0 s .

Die Netto-Zeitlücken Tα ergeben sich daraus, indem man die Zeit für die Überfahrtder Eigenlänge des Vordermanns lα−1 abzieht,

Tα = Δtα − lα−1

vα−1.

Da die Fahrzeuglängen identisch sind, ergibt sich

T lα = 60 − 5

40= 1.375 s, T r

α = 60 − 5

20= 2.75 s .

Page 306: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Aufgaben aus Kap. 3 307

2. Makrogrößen: Zunächst Berechnung der makroskopischen Größen Fluss Q, Be-legung O und Geschwindigkeit V für jeden Fahrstreifen. Das Aggregationsintervallbetrage Δt = 60 s. Aufgrund der stationären und homogenen Verkehrsverhältnissefür beide Fahrstreifen Q = ΔN

Δt = 1Δtα

beträgt der Fluss

Ql = 1

Δt lα

= 1

1.5 s= 2 400 Fz/h, Qr = 1

Δt rα

= 1

3 s= 1 200 Fz/h .

Für die Belegung gilt analog wegen der stationären und homogenen Verhältnisse fürbeide Fahrstreifen:

O = ΔN (Δtα − Tα)

Δt= Δtα − Tα

Δtα,

also

O l = 0.125

1.5= 0.083 = 8.3%, O r = 0.25

3.0= 0.083 = 8.3% .

Das arithmetische Geschwindigkeitsmittel ist

V l = 1

ΔN l

α

vlα = 144 km/h, V r = 1

ΔN r

α

vrα = 72 km/h.

Wegen der homogenen Verhältnisse kann man das auch direkt aus den konstan-ten Einzelgeschwindigkeiten schließen. Außerdem ist das arithmetische Mittel hiergleich dem harmonischen.

Gesamtwerte und Mittelwerte über beide Fahrstreifen: Hierbei muss man exten-sive Größen unterscheiden, welche sich mit den Fahrstreifen summieren (wie Flussund Dichte) und bei denen daher Gesamtgrößen (mit Index „tot“) und fahrstreifen-gemittelte Größen (ohne Index) sinnvoll sind, und intensive Größen, bei denen nurmit extensiven Größen gewichtete Mittelwerte über die Fahrstreifen sinnvoll sind(Geschwindigkeit, Belegung).

Fluss:

Qtot = ΔN

Δt= ΔN l + ΔN r

Δt= 3 600 Fz/h, Q = Qtot

2= 1 800 Fz/h.

Belegung:

O = O l = O r = 0.083.

Arithmetisches Geschwindigkeitsmittel:

V = 1

ΔN

α

vα = 40 · 40 + 20 · 20

60= 120 km/h.

Page 307: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

308 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Harmonisches Geschwindigkeitsmittel:

VH = ΔN∑1/vα

= 604040 + 20

20

= 108 km/h.

Das harmonische Mittel ist also das arithmetische Mittel der Geschwindigkeitenauf den einzelnen Fahrstreifen. Das arithmetische Mittel liegt höher, weil in einemAggregierungsintervall Δt mehr schnelle Fahrzeuge den Querschnitt überfahren.Dieser statistische Effekt der Zeitmittelung führt zu einer systematischen Verschie-bung.

3. Geschwindigkeitsvarianz zwischen den Fahrstreifen: Die Geschwindigkeitsvari-anz zwischen dem linken und rechten Fahrstreifen beträgt

σ 2V =

⟨(vα − 〈vα〉)2

= 1

60

(40[40 − 33.3]2 + 20[20 − 33.3]2

)

= 88.9 m2/s2 .

4. Gesamtvarianz: Geschwindigkeitsvarianz

σ 2V = 1

ΔN

α

(vα − V )2

aufteilen in Summen über rechten bzw. linken Fahrstreifen. Auswertung der Aus-drücke unter Verwendung von σ 2

V = ⟨v2α

⟩− 〈vα〉2 führt auf

σ 2V = ΔN1

ΔN

[σ 2

V 1 + (V1 − V )2]

+ ΔN2

ΔN

[σ 2

V 2 + (V2 − V )2], q.e.d.

Mit p1 = p2 = 1/2 gilt V = (V1 + V2)/2 und damit

σ 2V = 1

2

[σ 2

V 1 + σ 2V 2 + (V1 − V2)

2]

.

Aufgaben aus Kap. 4

4.1 Analytisches Fundamentaldiagramm. Es sind zwei Fälle zu unterscheiden:(i) freier, ungestörter Verkehr und (ii) gebundener Verkehr.

Freier Verkehr:

V free(ρ) = V0 = const .

Fluss aus hydrodynamischer Beziehung:

Page 308: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Aufgaben aus Kap. 4 309

Qfree(ρ) = ρV free(ρ) = ρV0 .

Gebundener Verkehr: Aus dem von der Geschwindigkeit abhängigen Gleichge-wichtsabstand der Kolonne, s(v) = s0 + vT , ergibt sich die Gleichgewichtsge-schwindigkeit V geb(s) bei gegebenem Abstand zu

V geb(s) = s − s0

T.

Umrechung des Abstandes s in Dichte ρ durch Anwendung der Definition derDichte:

ρ = Fahrzeugzahl

Strecke= ein Fahrzeug

ein Bruttoabstand= 1

Fahrzeuglänge+Nettoabstand= 1

l + s.

Also gilt s(ρ) = 1ρ

− l und damit

V geb(ρ) = s − s0

T= 1

T

[1

ρ− (l + s0)

].

Fluss-Dichte-Beziehung wieder durch Multiplikation mit der Dichte (hydrodynami-sche Beziehung):

Qgeb(ρ) = ρV geb(ρ) = 1

T[1 − ρ(l + s0)] .

Man sieht, dass die Summe leff = l + s0 aus Fahrzeuglänge und Mindestabstandso etwas wie eine effektive Fahrzeuglänge darstellt (in der Stadt typischerweise umdie 7 m, auf Autobahnen etwas mehr). Dementsprechend hat die maximal möglicheDichte,

ρmax = 1

l + s0= 1

leff,

Werte zwischen 120 Fz/km und 150 Fz/km, bei hohem LKW-Anteil auch weniger.Nun bestimmt man die Grenzdichte ρc zwischen freiem und gebundenem

Verkehr:

Qgeb(ρ) = Qfree(ρ) ⇒ ρV0T = 1 − ρ(l + s0) ⇒ ρc = 1

V0T + leff.

Da dies der „Spitze“ des dreieckigen Fundamentaldiagramms entspricht, ist derdazugehörige Fluss der maximal mögliche, also gleich der Kapazität K :

K = Qgeb(ρc) = Qfree(ρc) = 1

T

(1

1 + leffV0T

). (A.1)

Page 309: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

310 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Die Kapazität K hat also die Größenordnung der inversen Folgezeit T , ist aberimmer etwas kleiner. Je geringer die freie Geschwindigkeit V0, desto stärker weichtdie Kapazität vom „Idealwert“ 1/T nach unten ab. Zahlenwerte:

ρmax = 143 Fz/km, ρc = 16.6 Fz/km, K = 0.552 Fz/s = 1 990 Fz/h.

4.2 Fundamentaldiagramme aus empirischen Daten. Die freie Geschwindigkeitwird aus dem Geschwindigkeits-Dichte-Diagramm bei sehr kleinen Dichten abge-lesen:

V freeA8 = 125 km/h, V free

A9 = 110 km/h.

(In Holland wird das Tempolimit durch Kennzeichen-Erfassung kontrolliert. Des-halb fährt kaum ein Fahrer über 110 km/h.)

Aus dem Fluss-Dichte-Diagramm kann man direkt die maximale Dichte (rech-ter Achsenabschnitt der ρ-Achse) sowie die Kapazität (maximaler Fluss-Wert des„Dreiecks“) ablesen:

ρmaxA8 = 80 Fz/km , ρmax

A9 = 110 Fz/km ,

KA8 = 1 700 Fz/h , KA9 = 2 400 Fz/h .

Die Folgezeiten erhält man durch Auflösen der Kapazitätsformel (A.1) nach T :

T = 1 − leff KV0

K= 1 − K

V0ρmax

K

und damit die mittleren Folgezeiten

TA8 = 1.91 s, TA9 = 1.27 s.

Aufgaben aus Kap. 5

5.1 Rekonstruktion der Verkehrslage mit einem Unfall

Teilaufgabe 1: Raum-Zeit-Diagramm (eindeutig freier Verkehr ist in folgendemDiagramm jeweils grün mit dünnen Linien gekennzeichnet, alle anderen Informa-tionen mit anderen Farben und dickeren Strichstärken).

Teilaufgabe 2: Durch das erste Floating Car (FC1) ist die Geschwindigkeit im frei-en Verkehr mit 120 km/h=2 km/min bekannt. Durch das zweite Floating Car (FC2)wissen wir, dass eine stromaufwärtige Staufront um 16:19 Uhr den Ort x = 5 kmpassiert.

Anhand der stationären Detektoren D1 bei 4 km und D2 bei 8 km kann man beiverschwindendem Fluss nicht entscheiden, ob die Fahrbahn „leer“ ist oder ob Stau

Page 310: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Aufgaben aus Kap. 5 311

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Min

uten

nac

h 16

:00

Uhr

x (km)

FC1+FC2 freiFC2 Stau

D1, kein FlussD2, kein FlussMobil 1 (Stau)

Mobil 2 (Kein Fluss)

herrscht (dies gilt selbst für Detektoren mit Geschwindigkeitsmessung). Der vonFC2 stromabwärts von D1 gemeldete Stau ist ein starkes Indiz dafür, dass D1 einenStau detektiert. Die Staufront kommt also um 16:25 Uhr am Ort x = 4 km vorbei.Damit ist die Geschwindigkeit der stromaufwärtigen Staufront durch

cup = −1 km

6 min= −10 km/h

gegeben (vgl. folgende Abbildung).Das an D2 bei x = 8 km um 16:14 Uhr detektierte Verschwinden des Flusses

ist nicht konsistent mit dem Passieren der stromaufwärtigen Staufront, da dieseden Ort von D2 bereits um 16:01 Uhr passiert haben müsste. Selbst wenn man vonder Annahme einer konstanten Geschwindigkeit cup der stromaufwärtigen Staufrontabrückte, ist die negativste mögliche Geschwindigkeit cup (bei Maximalzufluss, derauf eine Vollsperrung trifft) betragsmäßig kaum größer als |cdown|. Insbesondere istein Wert von −4 km/5 min nicht möglich. Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass D2ab 16:14 Uhr einen leeren Streckenabschnitt detektiert, die Streckensperrung alsoweiter stromaufwärts liegt.

Der Ort und der Zeitpunkt der Streckensperrung liegt damit auf dem Schnitt-punkt der Gleichung der stromaufwärtigen Staufront (x in km und t in Minuten ab16:00 Uhr)

xup(t) = 4 + cup(t − 25) = 4 − (t − 25)/6

mit der Trajektorie xlast(t) des letzten vor der Sperrung durchkommenden Fahr-zeugs, welche im Ort-Zeit-Diagramm parallel zu FC1 liegt. Dieses kommt offen-sichtlich zur Zeit 16:14 Uhr bei x = 8 km an und hat damit die Trajektorienglei-chung

Page 311: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

312 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

xlast(t) = 8 + v0(t − 14) = 8 + 2(t − 14) .

Mit xup(t) = xlast(t) ergeben sich Ort und Zeitpunkt der Sperrung:

xcrash = 6 km, tcrash = 16:13 Uhr .

Teilaufgabe 3: Nach der Aufhebung der Streckensperrung bewegt sich eine strom-abwärtige Staufront gegen die Fahrtrichtung mit der universellen Geschwindigkeitvon cdown = −15 km/h = −1 km/4 min. Da der Detektor bei x = 4 km um16:58 Uhr wieder einen Verkehrsfluss misst, lautet die Gleichung

xdown(t) = 4 + cdown(t − 58).

Der Unfallort bei xcrash = 6 km ergibt damit eine Aufhebung der Sperrung um

taufl = 16:50 Uhr.

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Min

uten

nac

h 16

:00

Uhr

x (km)

FC1+FC2 freiFC2 Stau

D1, kein FlussD2, kein FlussMobil 1 (Stau)

Mobil 2 (Kein Fluss)Staugrenzen

Crash!

Hinweis: Da wir eine konstante stromaufwärtige Ausbreitungsgeschwindigkeit cup

angenommen haben (was konstanten Zufluss impliziert), ist Detektor D2 hier fürdie Aufklärung gar nicht nötig. Lässt man aber variable Werte von cup zu, ist dieInformation von D2 zur Bestimmung des Unfallortes notwendig.

5.2 Behandlung inkonsistenter Informationen. Mit Gleichgewichtung, V =12 (V1 + V2), ergibt sich bei verschwindenden systematischen Fehlern und unab-hängigen zufälligen Fehlern die Fehlervarianz

σ 2V = 1

4

(σ 2

1 + σ 22

)= 1

4

(σ 2

1 + 4σ 21

)= 5

4σ 2

1 .

Page 312: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Aufgaben aus Kap. 7 313

Der Fehler vergrößert sich also durch Hinzunahme der FCD um den Faktor√

5/4.Bei der optimalen Gewichtung

Vopt = 1

5(4V1 + V2)

ergibt sich die Fehlervarianz

(σ 2V )opt = 1

25

(16σ 2

1 + σ 22

)= 1

25

(16σ 2

1 + 4σ 21

)= 4

5σ 2

1 .

Der Fehler verändert sich also durch Hinzunahme der FCD um den Faktor√

4/5, erverkleinert sich also.

Aufgaben aus Kap. 6

6.1 Tempolimit auf Autobahnen? Die Sicherheitswirkung kann man mit Ver-kehrsflussmodellen nicht seriös beurteilen, da diese Modelle für Normalsituationen(einschließlich Stau) entwickelt werden und nicht für eine Verkettung unglücklicherUmstände, welche typischerweise zum Unfall führt. Die Verkehrsauswirkung kannmit Mikromodellen und die Umweltauswirkung (Kraftstoffverbrauch und Emissio-nen) sowohl mit Mikro- als auch mit Makromodellen beschrieben werden. Fürdie Beurteilung der makroökonomischen Auswirkung benötigt man zunächst eineNachfrage- und Routenwahlmodellierung, also Konzepte aus der Verkehrsplanung.Für eine detaillierte Auswertung einiger volkswirtschaftlicher Aspekte (Verkehrs-und Umweltauswirkung) können danach Verkehrsflussmodelle herangezogenwerden.

Aufgaben aus Kap. 7

7.1 Fluss-Dichte-Geschwindigkeitsbeziehungen. Es soll

Qtot =∑

i

Qi =∑

i

ρi Vi = ρtotV

gelten. Diese Bedingung ist erfüllt, falls das Geschwindigkeitsmittel V über alleRichtungsfahrbahnen definiert ist wie in Gl. (7.6), also

V =∑

i

ρi

ρtotVi =

i

wi Vi .

7.2 Fahrzeugerhaltung. Die Fahrzeugzahl im Ring ist das geschlossene Integralder Dichte ρtot = I (x)ρ über den gesamten Umfang. Damit gilt mit Gl. (7.15) für

Page 313: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

314 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

νrmp = 0 sowie der Beziehung ρV = Q:

dn

dt= −

∮ (I (x)

∂ Q(x, t)

∂x+ Q(x, t)

dI

dx

)dx = −

∮∂ I Q

∂xdx = I Q|xe

xa.

Falls die Strecke geschlossen ist (xe = xa), ist das Integral und damit die Ände-rungsrate dn

dt = 0, die Fahrzeugzahl n also konstant.

7.3 Kontinuitätsgleichung I. (i) Die Kontinuitätsgleichung im Bereich (x < 0oder x > L = 300 m) ohne Quellen lautet

∂ρ

∂t+ ∂ Q

∂x= 0.

Im Zufahrtsbereich gibt es auf der rechten Seite eine zusätzliche Quelle νrmp(x, t),die im Allgemeinen von Ort und Zeit abhängt:

∂ρ

∂t+ ∂ Q

∂x= νrmp(x, t).

Wir nehmen an, dass der Quellterm konstant über die Länge L ist (νrmp(x) = νrmp).Der Zusammenhang von νrmp mit dem Rampenfluss Qrmp erfolgt durch Integrationüber die Länge der Zufahrt. Da fahrstreifengemittelte Größen betrachten werden,muss zusätzlich die Fahrstreifenzahl I berücksichtigt werden:

Qrmp = I

L∫

0

νrmp dx = Iνrmp

L∫

0

dx = Iνrmp L . (A.2)

Damit ergibt sich

νrmp = Qrmp

I L= 1

I

600 Fz/h

300 m= 2

I

Fz

m h. (A.3)

(ii) Der Quellterm νrmp(x) kann auf beliebige Zu- und Abgangsverteilungen verall-gemeinert werden:

νrmp(x, t) = Qrmp(t)

If (x).

Hier ist f (x) die Wahrscheinlichkeitsdichte der Positionen x , bei denen dieBeschleunigungsfahrstreifen bzw. die Hauptfahrbahn verlassen werden. Liegen dieBeschleunigungs- bzw. Verzögerungsstreifen im Streckenabschnitt a ≤ x ≤ b =a + L , so erhält man Gl. (A.3) durch die Dichte der Gleichverteilung:

Page 314: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Aufgaben aus Kap. 7 315

f (x) = fG(x) ={

1L falls a ≤ x ≤ b = a + L ,

0 sonst.

Wird bevorzugt am Anfang gewechselt, so ersetzt man fG(x) durch die Dichte einerunsymmetrischen Verteilung, z.B der Dreiecksverteilung

fΔ(x) ={ 2(b−x)

L2 falls a ≤ x ≤ b = a + L ,

0 sonst.

Bemerkung: Eine zeitliche Abhängigkeit des Zuflusses kann direkt durch Qrmp =Qrmp(t) berücksichtigt werden.

7.4 Kontinuitätsgleichung II

Teilaufgabe 1: Wir wollen den Verkehrsfluss Q(x) für stationäre Verhältnisse be-stimmen. In diesem Fall ändert sich das System nicht mehr zeitlich und alle Zeitab-leitungen verschwinden. Insbesondere gilt

∂ρ

∂t= 0.

Damit vereinfacht sich die Kontinuitätsgleichung (7.15) (für fahrstreifengemittelteGrößen) mit einer variablen Fahrstreifenzahl zu

d Q

dx= − Q(x)

I (x)

d I

dx+ νrmp(x). (A.4)

Bemerkung: Es handelt sich nun um eine gewöhnliche Differentialgleichung (DGL)für die Variable x . Das fahrstreifengemittelte Verkehrsaufkommen sei konstant mitQ(x = 0, t) = Q0.(i) Die DGL (A.4) kann durch Trennung der Variablen gelöst werden:

dQ

Q= −dI

I

dx

dx= −dI

I.

Integration von∫

dx/x = ln x liefert ln Q = − ln I + C mit der Integrationskon-stanten C . Damit folgt durch Anwenden der Exponentialfunktion die Lösung

Q(x) = C

I (x).

Die Integrationskonstante bestimmen wir durch C = I (x = 0)Q(x = 0) = I0 Q0,wobei I0 die anfängliche Zahl der Fahrstreifen bei x = 0 ist. Damit ist die räumlicheAbhängigkeit des Flusses festgelegt:

Page 315: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

316 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Q(x) = I0 Q0

I (x). (A.5)

(ii) Zur Beschreibung einer Zu- bzw. Abfahrt (mit Qzu bzw. Qab) auf einer Haupt-strecke mit I Fahrstreifen betrachten wir den zweiten Quellterm der Gl. (A.4), wobeiwir eine gleichmäßige Verteilung der Fahrstreifenwechsel voraussetzen:

νrmp = Qrmp

I L= const.

Nun lautet die zu lösende (gewöhnliche) DGL

dQ

dx={

0 ausserhalb der Zu- und Abfahrt,νrmp auf Höhe der Zu- bzw. Abfahrt

mit den Ab- bzw. Zuflüssen Qab und Qzu für Abfahrt und Zufahrt. Die allgemeineLösung der DGL lautet

Q(x) ={

C ausserhalb der Zu- und Abfahrt,νrmpx + C auf Höhe der Zu- bzw. Abfahrt.

Die Integrationskonstante ergibt sich vor der Abfahrt zu

Q(x = 0) = Q0 = C1,

nach der Abfahrt zu

Q(x = 500) = Q0 − Qab

I= C2

und nach der Auffahrt zu

Q(x = 1000) = Q0 − Qab

I+ Qzu

I= C3.

Auf der Höhe der Abfahrt bzw. Auffahrt lautet der Fluss also

Q(x) ={

Q0 − QabI L x falls 300 m ≤ x ≤ 500 m,

Q0 − QabI + Qzu

I L x falls 700 m ≤ x ≤ 1 000 m.

Dazwischen ist der Fluss konstant.

Teilaufgabe 2: Gegeben ist eine anfänglich dreistreifige Autobahn (I0 = 3) miteinem Gesamtzufluss von Qtot = 3 600 Fz/h, die sich auf einem Abschnitt derLänge L auf I = 2 Fahrstreifen reduziert:

Page 316: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Aufgaben aus Kap. 7 317

I (x) =⎧⎨

3 x < 0,(3 − x

L

)0 ≤ x ≤ L ,

2 x > L .

Da das Gesamtverkehrsaufkommen konstant ist und es keine weitere explizite Zeit-abhängigkeit gibt (konstante Fahrzeuganteile, keine Heterogenität etc.), ist das (of-fene) System stationär. Die Kontinuitätsgleichung vereinfacht sich damit wiederauf die Ortsabhängigkeit von Q (vgl. die vorherige Teilaufgabe):

dQ

dx= − Q(x)

I (x)

dI

dx.

Die Lösung (vgl. Gl. (A.5)) lautet für den Abschnitt mit variablem I (x)

Q(x) = I0 Q0

I (x)= Qtot

I (x).

Vor und nach der Fahrstreifensperrung ist I (x) konstant und wir haben den einfa-chen Fall

Q(x) = Qtot

I.

Damit ergeben sich die folgenden fahrstreifengemittelten Größen

Q(x) =⎧⎨

1 200 /h x < 0,3 6003− x

L

1h 0 ≤ x ≤ L ,

1 800 /h x > L .

Die Dichte ergibt sich durch die hydrodynamische Beziehung Q = ρV mit V =108 km/h zu

ρ(x) = Q

V=⎧⎨

11.11 /km x < 0,33.333− x

L

1km 0 ≤ x ≤ L ,

16.67 /km x > L .

Teilaufgabe 3: Wir setzen die Terme I (x) = 3 − x/L , d I/dx = −1/L undQ(x) = 3 600

3− xL

in den Term für die Fahrstreifensperrung auf der rechten Seite der

Kontinuitätsgleichung (A.4) ein:

d Q

dx= − Q(x)

I (x)

d I

dx= + 1

L

3 600(3 − x

L

)2.

Die rechte Seite ist mit dem gesuchten Rampenterm zu identifizieren:

Page 317: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

318 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

νrmp = + 1

L

3 600(3 − x

L

)2.

Durch diesen – nun von x abhängigen – Rampenquellterm νrmp erhalten wir analogzu Gl. (A.2) den Rampenfluss

Qrmp = 23 600

L

L∫

0

dx(3 − x

L

)2= 7 200

(1

3 − xL

)∣∣∣∣L

0

= 1 200,

wobei das Integral

∫dx

(3 − x

L

)2= L

3 − xL

verwendet wurde.

7.5 Parabolisches Fundamentaldiagramm

1. Fundamentaldiagramm:

Q(ρ) = ρV (ρ) = ρV0

(1 − ρ

ρmax

).

2. Maximaler Fluss bei Dichte ρK , definiert durch

Q′(ρK ) = V0 − 2V0ρK

ρmax= 0 ⇒ ρK = 1

2ρmax.

Damit der maximale Fluss (statische Kapazität):

Qmax = Q(ρK ) = ρmaxV0

4.

Aufgaben aus Kap. 8

8.1 Ausbreitungsgeschwindigkeiten des Übergangs frei → gestaut. Das drei-eckige Fundamentaldiagramm Qe(ρ) ist eine konkave Funktion, d.h. eine Ver-bindungsgerade beliebiger Punkte (ρ1, Qe(ρ1)) und (ρ2, Qe(ρ2)) mit ρ1, ρ2 ∈[0, ρmax] liegt immer unterhalb oder höchstens auf der Kurve Qe(ρ). Damit ist dieSteigung c12 = (Q2 − Q1)/(ρ2 −ρ1) dieser Verbindungsgerade (mit Qi = Qe(ρi ))immer größer oder gleich der minimalen Steigung c und kleiner oder gleich dermaximalen Steigung V0 des Fundamentaldiagramms. Da c12 die Schockwellen-Geschwindigkeit bezeichnet, ist die Behauptung bewiesen. Sie gilt nicht nur für

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Aufgaben aus Kap. 8 319

das dreieckige Fundamentaldiagramm, sondern für alle konkaven (z.B. umgekehrtparabelförmigen) Fundamentaldiagramme. Statt auf konkaven Funktionen kannman das Argument auch auf der äquivalenten Eigenschaft einer monoton fallendenAbleitung Q′

e(ρ) aufbauen.

8.2 Ausbreitungsgeschwindigkeiten bei freiem Verkehr. Es gibt keinerleiWechselwirkungen. Ansonsten würden die hinteren Fahrer auf die jeweiligen Vor-derfahrzeuge reagieren, was einer Ausbreitung von Geschwindigkeits- oder Dich-teänderungen mit einer Geschwindigkeit unterhalb der Fahrzeuggeschwindigkeitentsprechen würde.

8.3 Ausbreitungsgeschwindigkeiten des Übergangs gestaut → frei. Eine Ge-schwindigkeit von c = leff/T bedeutet bei einer Warteschlangen-Verkehrsdichtevon ρmax = 1/ leff, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit in jedem Zeitintervall Tgenau ein Auto passiert. Jeder Fahrer fährt also um ein Zeitintervall T später anals sein/ihr Vorgänger. Assoziiert man diesen Anfahrvorgang mit Fahrzeugen, wel-che unendlich schnell auf die Wunschgeschwindigkeit beschleunigen (Abb. 8.12),entspricht T genau der Reaktionszeit.

Es sei aber ausdrücklich bemerkt, dass das LWR-Modell eine Reaktionszeitgleich Null beinhaltet. Auch in einem Mikromodell ohne Reaktionszeit, in dem dieGeschwindigkeit instantan auf die dem dreieckigen Fundamentaldiagramm entspre-chenden Wert „Nettoabstand geteilt durch T “ angepasst werden würde, ändert sichdie Ausbreitungsgeschwindigkeit c nicht, die Front würde allerdings aufweichen.Grundsätzlich gilt:

Die Tatsache, dass an einer Ampel nicht die ganze Warteschlange gleichzei-tig anfährt, ist eine Folge der notwendigen Sicherheitsabstände und nicht derReaktionszeiten.

8.4 Gesamt-Wartezeit hinter einer LSA während eines Umlaufes. Gesamt-Wartezeit:

τtot = 1

2Qinτ

2 K

K − Qin.

8.5 Staudynamik I: Unfall

Teilaufgabe 1: Mit leff = l + s0 = 8 m und den sonstigen Größen aus der Aufga-benstellung ergibt sich die fahrstreifenbezogene Kapazität

Qmax = V0

V0T + leff= 2 016 Fz/h

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320 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

und damit die Kapazität der gesamten Richtungsfahrbahn

K = 2Qmax = 4 032 Fz/h.

Dies ist größer als die Nachfrage von 3 024 Fz/h, also ausreichend. Der fahrstrei-fenbezogene Fluss ist gleich dem Zufluss dividiert durch zwei Fahrstreifen, wäh-rend man die fahrstreifenbezogene Dichte aus der Inversion des freien Zweigs desFundamentaldiagramms erhält:

Q1 = Qin/2 = 1 512 Fz/h, ρ1 = Q1

V0= 15 Fz/km.

Die Reisezeit für die L = 10 km lange Strecke ergibt sich durch Konstantfahrt mitV0:

ttrav = L

V0= 357 s ≈ 6 min .

Teilaufgabe 2: An der Stelle des Unfalls ist nur noch ein Fahrstreifen befahrbar, sodass an dieser Stelle die Kapazität der Richtungsfahrbahn

KUnfall = Qmax = 2 016 Fz/h

geringer als die Nachfrage Qin = 3 024 Fz/h ist. Damit wirkt die unfallbedingteSperrung des zweiten Fahrstreifens als stauverursachende Engstelle. Zur Berech-nung der fahrstreifenbezogenen Größen Q2 und ρ2 im Bereich des entstehendenStaus ist die Engstellenkapazität K , d.h. der Durchfluss durch die Engstelle, ent-scheidend. Da stromaufwärts des Unfalls beide Fahrstreifen verfügbar sind, gilt

Q2 = KUnfall

2= 1 008 Fz/h.

Die Verkehrsdichte ergibt sich wieder aus der Umkehrfunktion des gestautenZweigs des Fundamentaldiagramms:

ρ2 = ρcong(Q2) = 1 − Q2T

leff= 72.5 Fz/km.

Teilaufgabe 3: Mit der Stoßwellenformel ergibt sich die Ausbreitungsgeschwindig-keit der stromaufwärtigen Staufront zu

cup = Q2 − Q1

ρ2 − ρ1= −8.77 km/h.

Teilaufgabe 4: Nach Aufhebung der unfallbedingten Fahrstreifensperrung ist dieKapazität wieder überall durch K = 2Qmax = 4 032 Fz/h gegeben. In den hierbetrachteten Modellen erster Ordnung (LWR-Modelle) ist auch der Ausfluss aus

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Aufgaben aus Kap. 8 321

gestautem Verkehr durch K gegeben, pro Fahrstreifen also Q3 = Qmax. Mit derSchockwellenformel und Q3 = ρ3V0 erhält man die Ausbreitungsgeschwindigkeitder stromaufwärtigen Staufront

c = Q3 − Q2

ρ3 − ρ2= Q3 − Q2

Qmax/V0 − ρ2= −8.77 km/h = −19.2 km/h.

Der Stau löst sich auf, wenn sich die beiden Staufronten treffen. Setzt man die Zeit tgleich der Zeit nach 15:00 Uhr und L = 10 km gleich der Position des Unfalls, erhältman aus den Ausbreitungsgeschwindigkeiten folgende Bewegungsgleichungen:

xup(t) = L + cup t,

xdown(t) = L + c(t − 1 800 s).

Gleichsetzen ergibt den Zeitpunkt der vollständigen Stauauflösung:

tdissolve = 1 800 sc

c − cup = 3 312 s.

Teilaufgabe 5: Die gestaute Region hat im raumzeitlichen Diagramm folgende dreiGrenzbereiche:

• Einen stationären stromabwärtigen Grenzbereich am Ort des Unfalls während derZeit der aktiven Fahrstreifensperrung („Staukopf“),

• einen sich stromaufwärts mit der Geschwindigkeit c bewegenden stromabwärti-gen Grenzbereich, welcher sich aus der stationären Front nach Aufhebung derSperrung entwickelt („Ablösen der Staufront“)

• und der sich ebenfalls stromaufwärts mit der Geschwindigkeit cup fortpflanzen-den stromaufwärtigen Grenze des Staus.

Zum Zeichnen benötigt man noch den Ort der Stauauflösung, in dem sich die lau-fenden stromaufwärtigen und stromabwärtigen Fronten treffen:

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

0 400 800 1200 1600 2000 2400 2800 3200 3600

x (k

m)

Zeit seit 15 h in Sekunden

Stau

Ausfluss aus Stau

Zufluss (freier Verkehr)

xDown(t)xUp(t)

Trajektorie

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322 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

xdissolve = xup(tdissolve) = 1 936 m.

Teilaufgabe 6: Hier wird das Fahrzeug einfach abschnittsweise auf seiner Trajek-torie durch den Stau verfolgt (vgl. Diagramm) und alle Zeiten ab 15:00 Uhr gemes-sen.

1. Bereich stromaufwärts des Staus: Einfahrt bei t0 = 1 800 s, Geschwindigkeit v0,Trajektorie x(t) = v0(t − t0).

2. Durchfahrt durch den Stau: Die Zeit tup der Einfahrt in den Stau ergibt sich durchVergleich von x(t) = v0(t − t0) mit der Bewegungsgleichung xup(t) = L +cup t :

tup = L + V0t0V0 − cup = 1984 s.

Der Ort der Staueinfahrt ergibt sich durch Einsetzen in die Trajektorie:

xup = v0(tup − t0) = 5 168 m.

Die Trajektorie im Staubereich ergibt sich damit zu

x(t) = xup + vcong(t − tup), vcong = Q2

ρ2= 3.86 m/s.

3. Ausfahrt aus dem Stau und freie Fahrt danach: Da zur Zeit tup der Stau sich be-reits auflöst, werden Ort und Zeit der Fahrzeugausfahrt aus dem Stau durch Ver-gleich der Trajektorie mit der laufenden stromabwärtigen Staufront bestimmt:

tdown = L − xup − ct0 + vcongtup

vcong − c= 2 403 s,

xdown = xup + ccong(tdown − tup) = 6 783 m.

Schließlich fährt das Fahrzeug bis zum Ende des betrachteten Streckenabschnittswieder mit der Geschwindigkeit V0, so dass sich die Austrittszeit ergibt durch

tend = tdown + L − xdown

V0= 2 518 s.

Die gesamte Reisezeit ist somit

τ = tend − t0 = 718.1 s.

8.6 Staudynamik II: Steigung und Reduktion der Fahrstreifenzahl

Teilaufgabe 1: Die maximale Kapazität Qmax pro Fahrstreifen wird durch das Ma-ximum der Fluss-Dichte Relation im Gleichgewicht bestimmt (leff = 1/ρmax):

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Aufgaben aus Kap. 8 323

Qe(ρ) = ρVe(ρ) ={

V0ρ falls ρ ≤ ρc,1T [1 − ρleff] falls ρc < ρ ≤ ρmax.

Das Maximum wird offensichtlich bei der Dichte ρc erreicht, wo beide „Zweige“den gleichen Fluss liefern:

Qmax = ρcV0(ρ) = 1

T(1 − ρcleff) .

Daraus ergibt sich

ρc = 1

V0T + leff, Qmax = V0

V0T + leff,

und außerhalb der Steigung Qmax = 2 000 Fz/h pro Fahrstreifen, während sich imBereich der Steigung die fahrstreifenbezogene Kapazität auf 1 440 Fz/h reduziert.

Teilaufgabe 2: Konstanter Zufluss über alle Fahrstreifen: Qin = 2 000 Fz/h. Wegender stationären Verhältnisse (also ∂

∂t = 0) gilt für die auf die gesamte Richtungs-fahrbahn bezogenen Größen

∂ρtot

∂t+ ∂ Qtot

∂x= ∂ Qtot

∂x= 0

und damit überall Qtot = Qin = const.Außerdem herrscht in jedem der Bereiche freier Verkehr (Ve = V0). Damit (und

mit der hydrodynamischen Beziehung ρ = Q/V ) erhält man für die vier Bereichefolgende, auf jeweils einen Fahrstreifen bezogene Größen:

Bereich I: Q = Qin3 = 667 Fz/h, V = V0 = 120 km/h, ρ = 5.56 Fz/km,

Bereiche II/IV: Q = Qin2 = 1 000 Fz/h, V = V0 = 120 km/h, ρ = 8.83 Fz/km,

Bereich III: Q = Qin2 = 1 000 Fz/h, V = V0 = 60 km/h, ρ = 16.67 Fz/km.

Teilaufgabe 3: Der Ort des Zusammenbruchs liegt dort, wo erstmals die neue Nach-frage von 3 600 Fz/h die Kapazität überschreitet. Die Kapazität K der verschiedenenBereiche ist gegeben durch

K = I Qmax =⎧⎨

6 000 Fz/h Bereich I,4 000 Fz/h Bereiche II und IV,2 880 Fz/h Bereich III.

Also bricht der Verkehr am Beginn des Bereiches III bei x = 3 km zusammen.Der Zeitpunkt des Zusammenbruchs ist dann erreicht, wenn die plötzliche Fluss-

erhöhung den Beginn der Engstelle bei x = 3 km erreicht hat. Mit der Schockaus-breitungsformel (8.6) und ρ = Q/V ergibt sich die Ausbreitungsgeschwindigkeitc zu

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324 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

c = QI − QII

ρI − ρII= 667 − 1 200

5.56 − 10km/h = 120 km/h = 2 km/min.

Die Geschwindigkeit der Schockfront ist im freien Verkehr gleich der Fahrzeugge-schwindigkeit. Damit erreicht die Flussänderung den Beginn der Engstelle 90 s nach16:00 Uhr, also zum Zeitpunkt

tbreakdown = 16:01:30 Uhr.

Teilaufgabe 4: Der Verkehrsfluss stromabwärts der stauverursachenden Engstelleist auf die Kapazität der Engstelle beschränkt:

QtotIII = Qtot

IV = 2 880 Fz/h, QIII = QIV = 1 440 Fz/h.

Da es keine Zu- oder Abfahrten gibt, gilt derselbe Gesamtfluss auch im Bereichdes gestauten Verkehrs stromaufwärts der Engstelle, xc < x < 3 km (xc ist derÜbergang des freien Verkehrs in den Stau), ansonsten gilt der Verkehrsfluss derNachfrage am Zufluss:

QtotI =

{3 600 Fz/h x < xc,

2 880 Fz/h x ≥ xc.

Falls xc > 2 km, gilt dieselbe Gleichung auch für QII. Daraus folgt für die fahrstrei-fenbezogenen Größen mit I = 3 bzw. 2 Fahrstreifen in den Bereichen I und II:

QI, free = 1 200 Fz/h, QII, free = 1 800 Fz/h,

QI, cong = 960 Fz/h, QII, cong = 1 440 Fz/h.

Stromabwärts des Beginns der Engstelle bei x = 3 km herrscht nach den Prinzi-pien der Verkehrsdynamik freier Verkehr. Damit erhält man für die fahrstreifenbe-zogenen Größen die Dichten

ρIII = QIII

V III0

= 24 Fz/km, ρIV = QIV

V IV0

= 12 Fz/km.

Stromaufwärts des Staus (x < xc) erhält man für die Bereiche I und II die Dichten:

ρI, free = QI

V I0

= 10 Fz/km, ρII, free = QII

V II0

= 15 Fz/km.

Stromabwärts des Staus, x > xc, erhält man die fahrstreifenbezogene Dichte ausder Inversion des „gestauten Zweigs“ des Fundamentaldiagramms:

ρcong(Q) = 1 − T Q

l.

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Aufgaben aus Kap. 8 325

Mit T = 1.5 s, l = 10 m und Qcong = Qtot/I (I = 3 im Bereich I und I = 2 imBereich II):

ρI, cong = 60 Fz/km, ρII, cong = 40 Fz/km.

Teilaufgabe 5: Für die Ausbreitungsgeschwindigkeit gilt nach der Schockwellen-formel

c12 = Q2 − Q1

ρ2 − ρ1

wobei der Index 1 für den (freien) Verkehr stromaufwärts der Staufront und derIndex 2 für den (gestauten) Verkehr stromabwärts steht. Einsetzen ergibt

Bereich I: cI12 = −4.8 km/h, Bereich II: cII

12 = −14.4 km/h.

Falls ein Fahrzeug genau bei xc = 1 km in die Staufront einfährt, beträgt die Reise-zeit für die ersten 4 km (einschließlich des ersten Kilometers):

τ = xc

V Ifree

+ 2 km − xc

V Icong

+ 1 km

V IIcong

+ 1 km

V III = 415 s.

Der erste Summand beschreibt die freie Fahrt im Abschnitt I, der zweite den Stauim Abschnitt I, der dritte den Stau im Abschnitt II und der vierte die Fahrt an derGrenze von freiem Verkehr zum Stau im Bereich der Steigung. Die Reisezeit beträgtalso 6 min und 55 s.

8.7 Diffusions-Transport-Gleichung. Einsetzen der Anfangsbedingungen inGl. (8.44) ergibt

ρ(x, t) = ρ0

L∫

0

dx ′ 1√4π Dt

exp

[−(x − x ′ − ct)2

4Dt

].

Da der Integrand der Dichtefunktion fN (x) einer (μ, σ 2)-Gaußverteilung entspricht(mit von der Zeit abhängigem Erwartungswert μ(t) = ct und Varianz σ 2(t) =2Dt), kann man dies auch schreiben als

ρ(x, t) = ρ0

L∫

0

dx ′ f (μ,σ 2)N (x − x ′).

Beim Integrieren ist zu beachten, dass über x ′ und nicht über x integriert wird.Substitution x ′ = −y, dx ′ = −dy ergibt

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326 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

ρ(x, t) = −ρ0

−L∫

0

dy f (μ,σ 2)N (y + x) = ρ0

0∫

−L

dy f (μ,σ 2)N (y + x).

Das Integral kann durch die (kumulierte) Verteilungsfunktion der Gaußverteilung

FN (x) =x∫

−∞fN (x ′)dx ′

ausgedrückt werden, also

ρ(x, t) = ρ0

[F (μ,σ 2)

N (x) − F (μ,σ 2)N (x − L)

].

Schließlich drückt man dieses Ergebnis am besten mit Hilfe der tabellierten Stan-dardnormalverteilung Φ(x) = F (0,1)

N (x) aus, indem man die bekannte BeziehungF(x) = Φ((x − μ)/σ) anwendet:

ρ(x, t) = ρ0

(x − μ

σ

)− Φ

(x − L − μ

σ

)]

= ρ0

(x − ct√

2Dt

)− Φ

(x − L − ct√

2Dt

)].

Im Grenzfall verschwindender Diffusion entarten die beiden kumulierten Standard-normalverteilungen zu Sprungfunktionen an den Stellen ct und L + ct und manerhält die bereits aus der analytischen Untersuchung des Section-Based-Modellsbekannte Lösung ρ(x, t) = ρ0(x − ct), wobei ρ0(x) die in der Aufgabenstellunggegebene Anfangsdichte bezeichnet. Für endliche Diffusionsstärken D verschmie-ren die Dichteverläufe mit der Zeit.

Aufgaben aus Kap. 9

9.1 Rampenterm der Geschwindigkeitsgleichung. Eine effektive makroskopi-sche „Beschleunigung“ durch Rampenzuflüsse findet dann statt, wenn die Rampen-flüsse die mittlere Geschwindigkeit im Rampenbereich verändern, ohne dass einEinzelfahrzeug beschleunigt oder bremst. Wir betrachten ein kleines, mit der Ge-schwindigkeit auf der Hauptstrecke mitbewegtes Streckenelement dx parallel zurZufahrt mit Fahrzeugzahl n = ρ I dx . Solange das Streckenelement auf Höhe derRampe ist, gilt für den Zuwachs an Fahrzeugen der anteilige Rampenfluss

dn

dt= q = Qrmp

L rmpdx . (A.6)

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Aufgaben aus Kap. 9 327

Falls die Fahrzeuge auf der Hauptfahrbahn (einschließlich der bereits aufgefahrenenRampenfahrzeuge) auf dem betrachteten Element im Mittel die Geschwindigkeit Vund die im Element auffahrenden Fahrzeuge die Geschwindigkeit Vrmp haben (undauch nach der Einfahrt zunächst nach Voraussetzung nicht beschleunigen), gilt

Armp = d〈V 〉dt

= d

dt

(1

n

α

).

Da die variable Anzahl n = n(t) sowohl in der Summe als auch im Nenner vor-kommt, muss die Quotientenregel beachten werden:

d

dt

∑vα = qVrmp und

dn

dt= q.

Damit ergibt sich unter Verwendung von Gl. (A.6)

d〈V 〉dt

= qVrmpn − qnV

n2

= q(Vrmp − V )

n

= Qrmpdx(Vrmp − V )

nL rmp

= Qrmp(Vrmp − V )

IρL rmp.

9.2 Kinematische Dispersion

Teilaufgabe 1: Die mittlere, fahrstreifengemittelte Geschwindigkeit ist

〈V 〉 = 1

ρ1 + ρ2(ρ1V1 + ρ2V2)

= V1 + V2

2= 108 km/h.

Die Varianz zum Zeitpunkt t = 0 ist (mit Fahrstreifenindex k = 1 für den rechtenund k = 2 für den linken Fahrstreifen) gegeben durch

θ(x, 0) = ⟨(V (x, 0) − 〈V 〉)2

= ρ1(V1 − 〈V 〉)2 + ρ2(V2 − 〈V 〉)2

ρ1 + ρ2.

Mit ρ1 = ρ2 ergibt sich damit

θ(x, 0) = (V1 − V2)2

4= 100 (m/s)2.

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328 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Man beachte, dass es sich hier um Erwartungswerte von echten räumlichen Grö-ßen handelt. Würde man die Varianz direkt aus stationären Detektordaten bestim-men, indem man als Gesamtheit für den Erwartungswert 〈·〉 alle gemessenen, denQuerschnitt passierenden Fahrzeuge annimmt, bekäme man z.B. für den Fahrstrei-fen 1 den Gewichtungsfaktor Q1/(Q1 + Q2) = 1/3 statt des korrekten Faktorsρ1/(ρ1 + ρ2) = 1/2.

Teilaufgabe 2: Der hier betrachtete kinematische Druckanteil der allgemeinen Ge-schwindigkeitsgleichung (9.8) für Makromodelle ergibt sich zu Pθ = ρθ (vgl. Ab-schn. 9.3).1 Der Beschleunigungsanteil Aθ (x, t) durch den Druckanteil Pθ ergibtsich aus der allgemeinen Geschwindigkeitsgleichung zu

Aθ =(

d

dt+ V

d

dx

)V = − 1

ρ

dP

dx= − θ

ρ

∂ρ

∂x={

0.01 s−2

ρ0 ≤ x ≤ 100 m,

0 sonst.

Der Faktor 0.01 ergibt sich aus der Umrechung der Längen von km nach m in x undρ. Damit folgt aus dem negativen Dichtegradienten ∂ρ

∂x effektiv ein positiver Beitragzur makroskopischen Beschleunigung dV

dt (vgl. das folgende Diagramm).

0 0.2 0.4 0.6 0.8

1 1.2 1.4 1.6 1.8

2

–50 0 50 100 150 200

a θ (

m/s

2 )

x (m)

–θ/ρ dρ/dx

Teilaufgabe 3: Gibt es eine Geschwindigkeitsvarianz θ und einen Dichtegradienten∂ρ∂x , z.B. bei einem Übergang von dichtem Verkehr auf eine geringe Verkehrsdich-te, so fahren die schnellsten Fahrzeuge aus dem Bereich dichten Verkehrs in denBereich geringer Verkehrsdichte hinein und erhöhen dort die Dichte und den An-teil der schnelleren Fahrzeuge. Im mitbewegten System (auf der linken Seite derGeschwindigkeitsgleichung steht ja die konvektive Ableitung) fahren die Fahrzeugeauf dem linken Fahrstreifen mit 10 m/s vorwärts, die auf der rechten mit 10 m/s rück-wärts, d.h. die Gesamtdichte bleibt in erster Ordnung konstant, aber der Anteil derschnellen Fahrzeuge wird im mittleren Teil der Strecke stark erhöht. Dadurch erhöht

1 Er ist von dem in der Aufgabe 9.3 behandelten Antizipationsanteil zu unterscheiden, denn hierbeschleunigt kein einziges einzelnes Fahrzeug.

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Aufgaben aus Kap. 9 329

sich die makroskopische Geschwindigkeit. Man erhält also eine makroskopischeBeschleunigung A(x, t), ohne dass ein einziges Fahrzeug beschleunigt oder bremst.Die folgenden Abbildungen, eine im Ruhesystem und eine im mit V mitbewegtenSystem, verdeutlichen dies:

x = 0 x = 100 m

144 km/h

72 km/h

x = V0t + 100 mx = V0t

−36 km/h

36 km/h

Teilaufgabe 4: Durch den in Teilaufgabe 3 beschriebenen Effekt findet eine „Ent-mischung“ der Verteilung der verschiedenen Wunschgeschwindigkeiten statt. ImStadtverkehr sind z.B. stromabwärts nach Grünwerden einer Ampel die ersten Fahr-zeuge mit hoher Wahrscheinlichkeit diejenigen mit einer hohen Wunschgeschwin-digkeit. Neben der Dynamik der Geschwindigkeiten findet also auch bezüglich derraumzeitlichen Verteilung der Wunschgeschwindigkeiten ein dynamischer Prozessstatt, der eigentlich durch eine eigene dynamische Gleichung beschrieben werdenmüsste. Dies wird in allen gängigen Makromodellen ignoriert.

9.3 Modellierung der Antizipation durch den Druckterm

Teilaufgabe 1: Da die Verkehrsdichte per Definition die Zahl der Fahrzeuge proStreckeneinheit ist, ist sie insbesondere gleich dem Kehrwert des Bruttoabstandes,also

d = 1

ρ((x + xa)/2, t)≈ 1

ρ(x, t).

Der erste Ausdruck nach dem Gleichheitszeichen ist dabei „in zweiter Ordnung“genau, der zweite in erster Ordnung, was aber im Weiteren ausreichend ist.

Teilaufgabe 2: Hierzu wird der nichtlokale Teil Ve(ρ(x + d, t)) des antizipiertenGeschwindigkeitsanpassungsterms,

(dV

dt

)

relax= Ve(ρ(x + d, t)) − V (x, t)

τ,

bezüglich x ′ = x + d um x in erster Ordnung Taylor-entwickelt:

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330 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Ve(ρ(x + d, t)) = Ve(ρ(x, t)) + dVe(ρ(x, t))

dxd.

Durch Einsetzen in den Anpassungsterm erhält man

(dV

dt

)

relax= Ve(ρ(x, t)) − V (x, t)

τ+ 1

ρτ

dVe(ρ(x, t))

dx

!= Ve(ρ(x, t)) − V (x, t)

τ− 1

ρ

dP(x, t)

dx,

wobei im letzten Schritt der Druckterm der allgemeinen Geschwindigkeitsgleichungeingesetzt wurde. Vergleich mit der Taylorentwicklung liefert damit

P(x, t) = − Ve(ρ(x, t))

τ.

Teilaufgabe 3: Die Verkehrsdichte gehorcht nach Aufgabenstellung der Funktion(mit ρ0 = 20 Fz/km = 0.02 Fz/m, c = 100 Fz/km2 = 10−4 Fz/m2 und x in m)

ρ(x, t) =⎧⎨

ρ0 x < 0,

ρ0 + cx 0 < x ≤ 200,

2ρ0 x > 200.

(A.7)

(i) Beschleunigungsunterschied durch Antizipation unter Verwendung desursprünglichen Anpassungsterms:

ΔV = Ve(ρ(x + 1/ρ(x, t), t)) − Ve(ρ(x, t))

τ,

wobei Ve(ρ) = V0(1 − ρ/ρmax) in der Aufgabenstellung gegeben ist (diese Gleich-gewichtsrelation ist eher unrealistisch, sie veranschaulicht aber auf einfachste Weisedas Prinzip). Setzt man Gl. (A.7) ein, ergibt sich

ΔV =

⎧⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎨

⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎩

0 x ≤ −1/ρ0 oder x > 200,

−V0cτρmax

(1ρ0

+ x)

− 1ρ0

< x ≤ 0,

−V0cτρmaxρ

0 < x ≤ 200 − 12ρ0

,

−V0τρmax

(2ρ0 − ρ) 200 − 12ρ0

< x ≤ 200,

wobei die letzten beiden Bereichsabgrenzungen nur „ungefähr“ gelten.(ii) Drückt man den Beschleunigungsunterschied angenähert durch den Drucktermaus, erhält man

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Aufgaben aus Kap. 9 331

ΔV ={

0 x ≤ 0 oder x > 200,−V0c

τρmaxρ0 < x ≤ 200 − 1

2ρ0.

Bis auf die Übergangsbereiche am Anfang und Ende des Dichtegradients sind dieErgebnisse dieselben. Im Gegensatz zur Druckterm-Näherung liefert aber der nicht-lokale Anpassungsterm „echte“ Antizipation, z.B. im Bereich −1/ρ0 ≤ x < 0, wodie lokale Näherung „noch nichts sieht“. Daher sind nichtlokale Terme, obwohl siezunächst komplizierter erscheinen, im Allgemeinen numerisch stabiler.

9.4 Gleichgewichtsgeschwindigkeit des GKT-Modells. Bei homogen-stationä-ren Verhältnissen verschwinden alle Ableitungen. Die GKT-Geschwindigkeitsglei-chung (9.19) reduziert sich daher auf V = V ∗

e . Ferner folgt aus der HomogenitätVa = V sowie ρa = ρ und damit der Boltzmann-Faktor B(0) = 1. Mit Gl. (9.22)wird damit die Bedingung V = V ∗

e zu

V

V0= 1 − α(ρ)

α(ρmax)

(ρa V T

1 − ρa/ρmax

)2

.

Dies ist eine quadratische Gleichung in V mit der Lösung

V = Ve(ρ) = V 2

2V0

⎝−1 +√

1 + 4V 20

V 2

und der Abkürzung

V =√

α(ρmax)

α(ρ)

1 − ρ/ρmax

ρT.

Für Dichten nahe der maximalen Dichte gilt V � V0 sowie α(ρ) ≈ α(ρmax) unddamit

Ve(ρ) ≈ V =≈ 1 − ρ/ρmax

ρT= s

T

wobei die Mikro-Makro-Beziehung s = 1/ρ −1/ρmax verwendet wurde. Damit hatT die Bedeutung einer Folgezeit.

9.5 Herleitung der flusserhaltenden Form der Makromodelle. Zunächst kannman in der Kontinuitätsgleichung direkt V = Q/ρ setzen:

∂ρ

∂t+ ∂ Q

∂x= − Q

I

dI

dx+ νrmp.

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332 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Multiplikation der Geschwindigkeitsgleichung (9.8) mit ρ und direktes Ersetzenvon V = Q/ρ ergibt zunächst

ρ∂V

∂t+ Q

∂V

∂x= ρV ∗

e − Q

τ− ∂ P

∂x+ ∂

∂x

(η∂(Q/ρ)

∂x

)+ ρ Armp.

Nun wird die Zeitableitung der Geschwindigkeit mit Hilfe der Kontinuitätsglei-chung in eine Zeitableitung des Flusses transformiert. Die linke Seite obiger Glei-chung ergibt dann

ρ∂V

∂t+ Q

∂V

∂x= ∂ Q

∂t− V

∂ρ

∂t+ Q

∂V

∂x

= ∂ Q

∂t+ V

∂ Q

∂x+ V

Q

I

dI

dx− V νrmp + Q

∂V

∂x

= ∂ Q

∂t+ ∂(QV )

∂x+ V

Q

I

dI

dx− V νrmp.

Ersetzt man nun wieder V durch Q/ρ und fasst die Ortsableitungen zusammmen,ergibt sich das Endergebnis

∂ Q

∂t+ ∂

∂x

[Q2

ρ+ P − η

∂x

(Q

ρ

)]= ρV ∗

e − Q

τ+ Q2

ρ I

dI

dx− Qνrmp

ρ+ ρ Armp.

9.6 Simulation des GKT-Modells. Vernachlässigt man den im GKT-Modell sehrkleinen Druckterm (sein relativer Einfluss ist maximal von der Größenordnung√

α = 10%), so lautet die Bedingung (9.33):

Δt <Δx

V0= 1.5 s .

Da das GKT-Modell keine Diffusionen enthält, entfällt die entsprechende Bedin-gung (9.34). Hingegen muss man die Bedingung (9.35) testen. Die charakteristischeGleichung det(L − λ1) = 0 zur Bestimmung der Eigenwerte λ der Anpassungsma-trix L der linearen Gleichung (9.30) lautet:

−λ

[−λ + 1

τ

(−1 + ρ

∂ Ve(ρ, Q)

∂ Q

)]= 0

und damit

λ1 = 0, λ2 = − 1

τ

(1 − ρ

∂ Ve(ρ, Q)

∂ Q

).

Der erste Eigenwert besagt, dass ohne Rampenterme oder Spurzahländerungen dieKontinuitätsgleichung keinerlei Quell- und damit Anpassungsterme hat. Dieser Ei-genwert entspricht Δt → ∞ und ist damit irrelevant. Der zweite Eigenwert ergibtsich nach Durchführung der partiellen Ableitung zu

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Aufgaben aus Kap. 10 333

λ2 = − 1

τ

(1 + 2Ve(ρ)

V (ρ)

)

mit der bereits bei der Ermittlung des Fundamentaldiagramms verwendeten Abkür-zung

V (ρ) =2α(ρmax)

(1 − ρ

ρmax

)2

α(ρ)V0ρ2T 2.

Die Gleichgewichtsgeschwindigkeit wurde bereits in Aufgabe 9.4 berechnet:

Ve(ρ) = − V (ρ)

2+√

V 2(ρ)

4+ V0V (ρ).

Der zweite Eigenwert ist am kritischsten (d.h. negativsten) bei der maximal in derSimulation vorkommenden Dichte von ρ = ρmax,sim = 0.1 Fz/m (am besten inSI-Einheiten rechnen). Einsetzen ergibt

Ve(ρmax,sim) = 4.14 m/s, λ2(ρmax,sim) = −0.756 s−1

und damit

Δt <1

|λ2| = 1.32 s. (A.8)

Die schärfere der beiden Bedingungen muss natürlich zutreffen, also letztendlichΔt < 1.32 s.

Die numerische Diffusion bei V = 20 m/s und einer Aktualisierungsschrittweitevon Δt = 1 s (also innerhalb der Stabilitätslimits) beträgt in beiden Gleichungen(wenn man wieder den wesentlich kleineren Druckterm außer Acht lässt)

Dnum = VΔx

2

(1 − V

Δt

Δx

)= 300 m/s2.

Dies ist nur 1/30 der typischerweise verwendeten „echten“ Diffusion des KK-Modells und damit vernachlässigbar.

Aufgaben aus Kap. 10

10.1 Beschleunigen und Bremsen zwischen zwei Lichtsignalanlagen

Teilaufgabe 1 (Modellparameter). Die freie Beschleunigung ist wie beim OVM:v0 ist die Wunschgeschwindigkeit und τ die Geschwindigkeitsanpassungszeit. Ge-bremst wird, falls die Annäherungsrate hinreichend groß ist. Dabei ist b die Brems-

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334 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

verzögerung. Aus der Kinematik folgt, dass beim Abstand s0 die Annäherungsrategleich Null wird, zumindest wenn das Vorderfahrzeug steht oder nicht beschleunigt.Also ist s0 der Mindestabstand. Das Modell berücksichtigt keine Folgezeit (undauch keine Reaktionszeit). Eine Folgefahrt im Abstand s0 ist daher bei beliebigenGeschwindigkeiten stabil. (Das Modell ist allerdings nicht unfallfrei.)

Teilaufgabe 2 (Beschleunigungsvorgang). Es gilt die erste Bedingung des Modells.Zu lösen ist die Differentialgleichung

dv

dt= v0 − v

τmit v(0) = 0.

Geschwindigkeit. Die Lösung ergibt sich aus der allgemeinen Lösung der homo-genen Gleichung vH (t) und einer speziellen Lösung der vollen inhomogenen Glei-chung, z.B. vI (t) = v0. Mit dem Exponentialansatz eλt ergibt sich die Bedingungλ = 1/τ , also die allgemeine Lösung

v(t) = vH (t) + vI (t) = Ae−t/τ + v0.

Aus der Anfangsbedingung v(0) = 0 ergibt sich die Integrationskonstante zu A =−v0 und damit

v(t) = v0

(1 − e− t

τ

).

Ort. Einfache Integration mit x(0) = 0:

x(t) =t∫

0

v(t ′)dt ′ = v0

t∫

0

(1 − e− t ′

τ

)dt ′

= v0

[t ′ + τe− t ′

τ

]t ′=t

t ′=0= v0t + v0τ

(e− t

τ − 1)

.

Durch Einsetzen der Lösung v(t) kann man dies schreiben als

x(t) = v0t − v(t)τ.

Beschleunigung. Diese erhält man direkt durch Ableiten von v(t) oder auch durchEinsetzen von v(t) in die Differentialgleichung: v = (v0 − v)/τ = v0/τ e−1/τ .

Teilaufgabe 3 (Abbremsvorgang). Die Ampel stellt ein „stehendes Hindernis“ dar,also Δv = v. Es wird mit Bremsen begonnen, wenn die Grenze der Ungleichungerreicht ist: Δv = v = √

2b(s − s0). Löst man dies nach s auf und berücksichtigtv ≈ v0, erhält man für den Abstand s = sc bei Bremsbeginn

s = sc = s0 + v2

2b= 50.2 m.

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Aufgaben aus Kap. 10 335

Die Bremsverzögerung ist gleich − dvdt = b. Da der Bremsweg bei konstanter Verzö-

gerung b durch Δx = v2/(2b) gegeben ist, kommt das Fahrzeug im Abstand s = s0zum Stehen.

Teilaufgabe 4 (Trajektorie). Für den Ort des Bremsbeginns gilt

xc = L − sc = L − s0 − v2

2b≈ 450 m.

Nun wird aus der Trajektorie der Beschleunigungsphase, x(t) = v0t − v(t)τ , dieZeit tc bei Beginn der Bremsphase bestimmt:

xc(tc) = v0tc − v(tc)τ ≈ v0(tc − τ) ⇒ tc = xc

v0+ τ = 32.4 s + 5.0 s = 37.4 s.

Damit ist auch die Zeit bekannt, bei der das Fahrzeug wieder stoppt:

tstop = tc + v0

b= 44.3 s.

Aus diesen Angaben ergibt sich der Geschwindigkeitsverlauf (siehe Diagramme) zu

v(t) =

⎧⎪⎨

⎪⎩

v0

(1 − e− t

τ

)0 ≤ t < tc,

v0 − b(t − tc) tc ≤ t ≤ tstop,

0 sonst.

0

10

20

30

40

50

0 5 10 15 20 25 30 35 40

v (k

m/h

)

t (s)

BeschleunigungsphaseBremsphase

0

10

20

30

40

50

0 100 200 300 400 500

v (k

m/h

)

x (m)

BeschleunigungsphaseBremsphase

10.2 OVM-Beschleunigung auf freier Strecke. Die maximale Beschleunigung

findet zur Zeit t = 0 statt: amax = v0 − v(0)

τ= v0

τ. Mit amax = 2 m/s2 und

v0 = 120 km/h ergibt sich eine Relaxationszeit von

τ = v0

amax= 16.7 s.

Die Bedingung für die Zeit t100 lautet

v(t100) = v100 = v0

(1 − e− t100

τ

).

Page 335: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

336 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Damit ergibt sich

v100

v0= 1 − e− t100

τ ⇒ t100 = −τ ln

(1 − 100

120

)≈ 29.9 s.

10.3 Beschleunigen mit dem Optimal-Velocity-Modell. Auf einer Ringstraßemit identischen Fahrzeugen α, die zum Zeitpunkt t = 0 im gleichen Nettoabstandsα(0) = s(0) voneinander stehen, herrschen zwar keine stationären, wohl aber ho-mogene Verhältnisse: Die Abstände bleiben konstant, sα(t) = s(0). Damit lautetdas OVM für jedes Fahrzeug (Index weggelassen)

dv

dt= vopt(s(0)) − v

τ.

Die Lösung ist analog zu der Lösung der Aufgabe 10.2, nur dass die Wunsch-geschwindigkeit v0 durch die Gleichgewichtsgeschwindigkeit bzw. optimale Ge-schwindigkeit ve = vopt(s(0)) ersetzt wird.

10.4 Full-Velocity-Difference-Modell. Hinreichend weit entfernt vom stehendenHindernis gilt vopt(s) → v0, unabhängig von der verwendeten Funktion für vopt(s).Für vl = 0 bzw. Δv = v lautet damit die Beschleunigungsgleichung des FVDM

v = v0 − v

τ− λv = v0

τ−(

1

τ+ λ

)v.

Dies ist eine lineare gewöhnliche Differentialgleichung. Insbesondere wird die Be-schleunigung bei der Geschwindigkeit

v∗ = v0

1 + λτ

gleich Null. Für ein anfangs stehendes Fahrzeug stellt v∗ die maximale Geschwin-digkeit dar. Für die angegebenen Parameterwerte ergibt sich v∗ = 13.5 km/h, inÜbereinstimmung mit Abb. 10.5.

10.5 Einfaches Modell für eine Notbremsung

Teilaufgabe 1 (Modellparameter). Tr = Reaktionszeit, bmax = maximal möglicheBremsverzögerung (Verzögerung bei Notbremsung).

Teilaufgabe 2 (Anhalte- und Bremsweg). Bremsweg sB(v) und AnhaltewegsA(v) = vTr + sB(v) sind nach elementarer Integration der konstanten Verzögerunggegeben durch

sB(v) = v2

2b, sA(v) = vTr + sB(v).

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Aufgaben aus Kap. 11 337

Zahlenwerte:

v = 50 km/h : sB(v) = 12.1 m, sA(v) = 25.9 m,

v = 70 km/h : sB(v) = 23.6 m, sA(v) = 43.1 m.

Teilaufgabe 3 (Notbremsung). Zunächst wird aus der Situation mit v1 = 50 km/hder anfängliche Abstand ermittelt:

s(0) = sA(v1) = 25.95 m.

Am Ende der Reaktionszeit wäre bei der Situation mit v2 = 70 km/h das Kind nurnoch

s(Tr ) = s(0) − v2Tr = 6.50 m

von der Stossstange des Fahrzeugs entfernt. Nun bräuchte der Fahrer noch dieStrecke sB(v2) = 23.6 m zum Bremsen, hat aber nur s(Tr ) = 6.5 m zur Verfügung.Ohne Kollision würde das Fahrzeug also eine zusätzliche Strecke Δs = 17.13 m biszum Stillstand benötigen. Daraus ergibt sich die Kollisionsgeschwindigkeit durchUmstellen der Bremsweggleichung zu2

vcoll = √2bΔs = 16.56 m/s = 59.6 km/h.

Setzt man alle Zahlenwerte erst zum Schluss ein, bekommt man

s(Tr ) = v1Tr + v21

2b− v2Tr ,

Δs = v22

2b− s(Tr ) = (v2 − v1)

(v1 + v2

2b+ Tr

)

und damit den allgemeinen Ausdruck

vcoll = √2bΔs = √

(v2 − v1)(v2 + v1 + 2bTr ) .

Aufgaben aus Kap. 11

11.1 Bedingungen an das mikroskopische Fundamentaldiagramm. Die Bedin-gung (11.4) gilt insbesondere für vl = 0, also amic(s, 0, 0) = 0 für s ≤ s0. Diesentspricht ve(s) = 0 für s ≤ s0, also insbesondere für s = 0.

Die Bedingungen (11.1) und (11.2) gelten insbesondere für v = vl . Für die Be-schleunigungsfunktion a folgt daraus

2 Die „offizielle“ Antwort bei der Führerscheinprüfung lautet 60 km/h.

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338 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

∂ a(s, v, 0)

∂s≥ 0,

∂ a(s, v, 0)

∂v< 0.

Längs der Gleichgewichtskurve ve(s) muss das Differential von a bei gleichzeitigerVariation von s und v (bei Δv = 0) verschwinden:

da = ∂ a(s, v, 0)

∂sds + ∂ a(s, v, 0)

∂vdv =

(∂ a(s, v, 0)

∂s+ ∂ a(s, v, 0)

∂vv′

e(s)

)ds = 0.

Hierbei wurde die Definition der Gleichgewichtskurve, dv = v′e(s)ds, angewandt,

also

v′e(s) = −∂ a(s, v, 0)/∂s

∂ a(s, v, 0)/∂v≥ 0.

Es gilt v′e(s) = 0, falls das Vorderfahrzeug aufgrund der Entfernung die eigene

Fahrweise nicht beeinflusst (zweiter Ausdruck in (11.2)).Schließlich folgt die Bedingung lims→∞ ve(s) = v0 direkt aus dem zweiten Teil

der Bedingung (11.1).

11.2 Faustregeln für Abstand und Bremsweg

Teilaufgabe 1. Gemäß der „Abstand gleich halber Tacho“-Regel ist der Abstandproportional zur Geschwindigkeit. Damit ist der Quotient T = s/v, also die ge-suchte Folgezeit, unabhängig von der Geschwindigkeit. Den Zahlenwert erhält mandurch einfaches Einsetzen, wobei man aber sorgfältig auf die Einheiten achten muss:

Abstand in m = 1

2

(Geschwindigkeit in km/h

)

s

m= 1

2

( v

km/h

),

also

T = s

v=

12 m

(v

km/h

)

v=

12 m

km/h= 0.5 h

1 000= 1 800 s

1 000= 1.8 s.

Teilaufgabe 2. Eine Meile entspricht etwa 1.6 km. Es ist aber nicht eindeutig, wielang das „car“ sein soll. Wir nehmen einen USA-Straßenkreuzer mit l = 5 m an.Mit der üblichen Bezeichnung mph für miles per hour erhält man

T = s

v= l

5 mph= 5 m

5 mph 1.6 km/hmph

1 m/s3.6 km/h

= 10 m · 3.6 s/m

16= 2.25 s.

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Aufgaben aus Kap. 11 339

Die „aggressivere“ Variante mit 10 mph pro Fahrzeuglänge entspräche T = 1.13 s.Dies ist zwar konsistent mit realen Zeitabständen (vgl. Abb. 4.8), aber als Regeldoch zu wenig sicher.

Teilaufgabe 3. Die Faustformel „Bremsweg gleich Quadrat der Geschwindigkeitdurch 100“ für den Bremsweg s in Abhängigkeit der Geschwindigkeit v lautet unterBerücksichtigung der Einheiten:

s

m= 0.01

( v

km/h

)2.

Ein Vergleich mit der kinematischen Bremswegformel sB = v2/(2s) liefert

b = v2

2s= v2

0.02 m

(km

h v

)2

= 50

3.62m/s2 = 3.86 m/s2.

Zum Vergleich: Komfortable Verzögerungen liegen um 2 m/s2, während eine Voll-bremsung auf trockener Straße etwa 8 bis 10 m/s2 entspricht. Auf feuchter Straßewerden noch etwa 4 bis 6 m/s2 erreicht. Mit der Bremswegregel liegt man auchbei nasser Fahrbahn noch auf der sicheren Seite, nicht jedoch bei verschneiter odervereister Fahrbahn.

11.3 Reaktion auf einscherende Fahrzeuge

Reaktion beim IDM. Der Gleichgewichtsabstand als Funktion der Geschwindigkeitbeträgt

s = se(v) = s0 + vT√

1 −(

vv0

)δ.

Der wesentliche Anteil ist der geschwindigkeitsabhängige Abstand vT = v0T/2.(Für s0 = 2 m und δ = 4 machen die restlichen Anteile etwa 10% aus.) NachEinscheren des neuen Vorderfahrzeugs reduziert sich nach Aufgabenstellung derAbstand von se auf se/2, aber die Geschwindigkeitsdifferenz zum Vorderfahrzeugbleibt (nach Voraussetzung) gleich Null. Damit ergibt sich als IDM-Reaktion (mita = 1 m/s2 und δ = 4):

vIDM = a

[1 −

(v

v0

−(

s0 + vT

s

)2]

(v=v0/2, s=se/2)= a

[1 −

(1

2

−(

s0 + v0T/2

se/2

)2]

se(v)=se(v0/2)= −3a

[1 −

(1

2

)δ]

= −45

16m/s2 = −2.81 m/s2.

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340 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Reaktion beim vereinfachten Gipps-Modell. Für den Gleichgewichts-Nettoabstandgilt se(v) = vΔt . Vor dem Einscheren gilt v = v0/2 und s = (v0Δt)/2. Genau zumZeitpunkt t werde nun eingeschert, so dass der Abstand zum Berechnen der neuenGeschwindigkeit zum Zeitpunkt t + Δt durch den halben Gleichgewichtsabstands = (v0Δt)/4 gegeben ist. Die neue Geschwindigkeit ist durch vsafe begrenzt:

v(t + Δt) = vsafe = −bΔt +√

b2(Δt)2 +(v0

2

)2 + bv0Δt

2= 19.07 m/s.

Damit ergibt sich eine effektive Beschleunigung von

(dv

dt

)

Gipps= v(t + Δt) − v(t)

Δt≈ −0.93 m/s2.

Das Gipps-Modell modelliert also eine eher entspannte Fahrer-Reaktion auf dennur noch halben Sicherheitsabstand. Sowohl das Gipps-Modell als auch das IDMwürden deutlich höhere Verzögerungen erzeugen für den Fall, dass das einscherendeFahrzeug langsamer wäre. Dann wäre „Gefahr im Verzug“.

11.4 IDM-Bremsstrategie. Hier muss man die Quotienten- und Kettenregeln an-wenden und danach s = −v und v = −b2

kin/b = −v4/(4bs2) setzen:

dbkin

dt= d

dt

(v2

2s

)= 4vsv − 2v2s

4s2

= v3

2s2

(1 − v2

2sb

)= v bkin

s b

(b − bkin

).

11.5 Analyse eines Mikromodells

Teilaufgabe 1. Bei Beschleunigung auf freier Strecke ist vsafe > v0; vsafe spielt alsokeine Rolle. Daher bedeuten v0 die Wunschgeschwindigkeit und a die Beschleuni-gung falls v < v0, aber auch die Verzögerung im Fall v > v0.

Das Folgeverhalten bei konstantem Abstand und konstanter Geschwindigkeit istgegeben durch

v = min(v0, vsafe).

Entweder gilt vsafe > v0 und damit v = v0, oder es gilt v = vsafe und wegen derBedingung gleichbleibenden Abstands auch vl = v = vsafe. Aus der Gleichung fürvsafe mit v = vl ,

v = −aT +√

a2T 2 + v2 + 2a(s − s0),

folgt

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Aufgaben aus Kap. 11 341

s = s0 + vT .

Damit ist s0 der Mindestabstand und T die gewünschte minimale Folgezeitlücke.Falls v > v0 oder v > vsafe ist, wird mit der Beschleunigung −a abgebremst.

Also gibt a nicht nur die Wunsch-Beschleunigung, sondern auch die einheitlicheBremsverzögerung an. Das Modell ist symmetrisch bezüglich Beschleunigen undBremsen.

Teilaufgabe 2. Die Gleichgewichtsgeschwindigkeit als Funktion des Abstandes(mikroskopisches Fundamentaldiagramm) ist gegeben durch

ve(s) = min

(v0,

s − s0

T

).

Damit erhält man das dreieckige Fundamentaldiagramm

Qe(ρ) = min

(v0ρ,

1 − ρleff

T

)

mit dem Flussmaximum Qmax = (T + leff/v0)−1 = 1 800 Fz/h bei einer Dichte

ρK = 1/(leff + v0T ) = 25 /km. Für eine weitere Diskussion der Eigenschaftensiehe Abschn. 8.4.

Teilaufgabe 3. Die Strecken zum Beschleunigen von Null auf v0 = 20 m/s und derBremsweg von v0 zum Stillstand sind gleich groß und betragen

sa = sb = v20

2a= 200 m.

Bei einem Mindestabstand von 3 m und einer Haltelinien-Position bei 603 m wirdalso von x = 0 bis x1 = 200 m beschleunigt und von x2 = 400 m bis x3 = 600 mverzögert. Beschleunigungs- und Abbremszeit betragen je v0/a = 20 s und die Zeitfür das Zurücklegen der 200 m langen Reststrecke mit der Wunschgeschwindigkeitbeträgt 10 s. Damit ergibt sich die vollständige Trajektorie zu

x(t) =⎧⎨

12 at2 t ≤ t1 = 20 s,x1 + v0(t − t1) t1 < t ≤ t2 = 30 s,x2 + v0(t − t2) − 1

2 a(t − t2)2 t2 < t ≤ t3 = 50 s.

11.6 Heterogener Verkehr. Bei einer Kombination aus heterogenem Verkehrund mehreren Fahrstreifen ergibt sich auch bei dreieckigen Fundamentaldiagram-men eine Absenkung der mittleren Geschwindigkeit vor dem Kapazitätsmaxi-mum. Zunächst ist bereits das flottengemittelte Fundamentaldiagramm gekrümmt,da die Dichte ρK beim Flussmaximum für die verschiedenen Fahrzeugklassenan unterschiedlichen Stellen liegt und bei hinreichend hoher Dichte einige

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342 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Fundamentaldiagramme bereits abfallen. Ohne Überholmöglichkeit würde sich aberdennoch keine Geschwindigkeitsabsenkung ergeben, da sich alle Fahrzeuge hinterden langsamsten Fahrzeugen stauen und damit nur das Fundamentaldiagramm derlangsamsten Fahrzeugklasse relevant ist.

Nimmt man dagegen mehrere Fahrstreifen, aber mit wachsender Verkehrsdichteabnehmende Wechsel- und Überholmöglichkeiten an, ergibt sich bei geringer Dichtedie flottengemittelte Geschwindigkeit. Nahe der Kapazität und wenigen Überhol-möglichkeiten erhält man aber nahezu die Geschwindigkeit der langsamsten Fahr-zeuge. Das Ergebnis ist eine Geschwindigkeitsabsenkung mit der Dichte bereits beifreiem Verkehr.

11.7 Stadtverker mit dem modifizierten IDM

1. Die Kapazität K ist durch den maximal möglichen stationären Fluss ohne Hin-dernisse (hier Ampeln) definiert. In der Abbildung ist der maximale Fluss durchdie dynamische Kapazität gegeben. Durch Ablesen (horizontaler Doppelpfeil inder Mitte) ergibt sich:

K = Qmax ≈ 9 Fz

20 s= 1 620 Fz/h.

2. Die Zahl n(τ ) der Fahrzeuge bei verschiedenen Grünzeiten τ sind die Fahrzeugezwischen den schwarzen Punkten: n(5) = 1, n(15) = 5, n(40) = 15. Der Wertβ ist gleich dem Kehrwert der Kapazität,

β = 1

K= 40 s − 15 s

15 − 5= 2.5 s/Fz,

–100

0

100

200

300

Pos

ition

[m]

rote LSATrajektorien

Ausgew. Trajektorien

0 10 20 30 40 50 60 70 80

–5 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60

v [k

m/h

]

Zeit [s]

erstes Kfz5. Kfz

72 km/h = 20 m/s

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Aufgaben aus Kap. 12 343

und stimmt mit K im Rahmen der „Messgenauigkeit“ von einem Fahrzeug über-ein. (Man hätte β auch aus der kleinsten und mittleren Grünzeit berechnen kön-nen, was zum selben Ergebnis führt.) Daraus ergibt sich die Zusatzzeit für daserste Fahrzeug zu τ0 = 15 s − 5β = 2.5 s.

3. Steigung des stromabwärtigen Übergangs Warteschlange → anfahrende Fahr-zeuge:

ccong = −100 m

20 s= −5 m/s = −18 km/h.

4. Wunschgeschwindigkeit als Maximalgeschwindigkeit auf leerer Strecke: v0 =15 m/s = 54 km/h. Die effektive Länge ergibt sich aus der Verkehrsdichteim Stau (linker Markierungs-Doppelpfeil): ρmax = 1/ leff = 10 Fz/100 m =100 Fz/km ⇒ leff = 10 m. Folgezeit: T = 1/(ρmaxccong) = 2 s. Bestimmungder Beschleunigungen aus maximaler bzw. minimaler Tangentensteigung desersten Fahrzeugs im unteren Diagramm:

a = 20 m/s

10 s= 2 m/s2, b = 20 m/s

7 s= 2.9 m/s2.

Aufgaben aus Kap. 12

12.1 Statistische Eigenschaften des Wiener-Prozesses. Zur Bestimmung desErwartungswertes

⟨w(t)w(t ′)

⟩wird die angegebene formale Lösung w(t) der sto-

chastischen Differentialgleichung eingesetzt und es wird dabei ausgenutzt, dass dieReihenfolge von Erwartungsbildung und Integration unerheblich ist (man unter-scheide sorgfältig die Argumente t und t ′ von den Integrations-Laufvariablen t1und t2):

⟨w(t)w(t ′)

⟩ = 2

τ

t∫

t1=−∞

t ′∫

t2=−∞e−(t−t1+t ′−t2)/τ 〈ξ(t1)ξ(t2)〉 dt1dt2.

Setzt man 〈ξ(t1)ξ(t2)〉 = δ(t1 − t2) und nutzt die Integrationseigenschaft∫f (t)δ(t)dt = f (0) des δ-Funktionals zur Eliminierung des Integrals über t1 aus,3

erhält man ein Einfachintegral

⟨w(t)w(t ′)

⟩ = 2

τ

t ′∫

t2=−∞e(2t2−t−t ′)/τ dt2.

3 Da nach Voraussetzung t ≥ t ′ und ferner die Integrationseigenschaft des δ-Funktionals nur gilt,falls das Argument der δ-Funktion an einer Stelle innerhalb des Integrationsintervalls gleich Nullwird bzw. t1 = t2 gilt, kann die δ-Funktion nicht zur Eliminierung des Integrals über t2 verwendetwerden. Dann würde nämlich die andere Integrationsvariable t1 als Parameter wirken und für t1 imBereich ]t ′, t] würde das Integral über t2 nicht den Wert t1 enthalten.

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344 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Dies kann elementar integriert werden und ergibt

⟨w(t)w(t ′)

⟩ = e−(t−t ′)/τ .

Für den Fall t < t ′ verläuft die Rechnung analog mit dem Ergebnis⟨w(t)w(t ′)

⟩ =e−(t ′−t)/τ . Insgesamt ergibt sich also

⟨w(t)w(t ′)

⟩ = e−|t−t ′|/τ .

Als Sonderfall ergibt sich⟨w2(t)

⟩ = 1. Außerdem ergibt sich direkt aus der formalenLösung 〈w〉 = 0 und damit die Bedingungen (12.7).

12.2 Auswirkung von Schätzfehlern. Wird der Abstand systematisch um 10%bzw. den Faktor 1.1 überschätzt, verkleinert sich der tatsächliche Abstand im Fließ-gleichgewicht. Mit den angegebenen Zahlenwerten ergibt sich

1.1se = s0 + vT ⇒ se = s0 + vT

1.1= 28.3 m

anstelle des Abstandes se = 31.1 m ohne Schätzfehler. Bei einer konstanten Zusatz-beschleunigung az = 0.4 m/s2 gilt im Fließgleichgewicht bei der durch den LKWvorgegebener Geschwindigkeit

v = az +se−s0

T − v

τ

!= 0,

also mit den angegebenen Zahlenwerten se = s0 + vT − τaz = 30.9 m.

12.3 Multiantizipation beim IDM. Für das IDM spezialisiert sich Gl. (12.17) zu

cna∑

j=1

a

(s0 + vT

js

)2

= a

(s0 + vT

s

)2

,

woraus c = 1/(∑na

j=11j2 ), also Gl. (12.18) folgt. Anstelle der Einführung von c

kann man offensichtlich auch die Parameter s0 und T durch Multiplikation miteinem gemeinsamen Faktor „renormieren“. Dazu wird die linke Seite der obigenGleichung geschrieben als

na∑

j=1

a

(√cs0 + v

√cT

js

)2

und der im Aufgabentext angegebene Faktor√

c ist offensichtlich. Übrigens liegt√c im Wertebereich [√6/π, 1] = [0.78, 1]. Die Parameter werden also nur gering-

fügig verändert.

Page 344: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Aufgaben aus Kap. 13 345

Aufgaben aus Kap. 13

13.1 Dynamische Eigenschaften des Nagel-Schreckenberg-Modells. DieWunschgeschwindigkeit v

phys0 = v0 Δx/Δt in physikalischen Einheiten beträgt

135 km/h für v0 = 5 (Autobahn) und 54 km/h für v0 = 2 (Stadtverkehr).Im deterministischen Modell ist die Beschleunigung gleich adet = Δx/(Δt)2 =

7.5 m/s2 und damit

τ0→100 = vphys

adet= 3.7 s.

Im stochastischen Modell wird bei freier Beschleunigung pro Zeitschritt nur mit derWahrscheinlichkeit (1 − p) die nächste Geschwindigkeitsstufe erreicht. Im Mittelreduziert sich also die Beschleunigung um den Faktor 1 − p. Damit vergrößert sichdie Beschleunigungszeit im Mittel um den Faktor (1 − p)−1 auf 6.2 s.

13.2 Annäherung des NSM an eine rote Ampel. Die Annäherung geschieht mitmaximaler Geschwindigkeit, bis der „Aktionspunkt“ im Abstand g = v0 von derHaltelinie überfahren wird. Danach erfolgt das Bremsmanöver in ein oder in zweiSchritten: in einem Schritt v0 → 0, falls nach Überquerung des Aktionspunktes derAbstand bereits Null beträgt oder in zwei Schritten v0 → v1 < v0 → 0, falls derAbstand nach Überquerung des Aktionspunktes v1 Zellen beträgt.

13.3 Fundamentaldiagramm des deterministischen NSM. Ohne stochastischenAnteil ist ein Fließgleichgewicht wohldefiniert und durch die Gleichgewichtsge-schwindigkeit

ve(g) = max(v0, g)

gegeben. Das Fundamentaldiagramm ist also das bereits bekannte dreieckige Fun-damentaldiagramm

Qe(ρ) = min

[V0ρ,

1

T

(1 − ρ

ρmax

)],

welches (im physikalischen Raum) durch die drei makroskopischen Parameter

V phys0 = v0Δx/Δt, T phys = Δt, ρ

physmax = 1

Δx.

charakterisiert ist. Die Folgezeit ist also 1 s und die Ausbreitungsgeschwindigkeit imStau ccong = −Δx/Δt = −27 km/h. Im stochastischen Modell liegen die mittlerenFlüsse 〈Q(ρ)〉 in Abhängigkeit der globalen Dichte ρ darunter. Das Diagramm istnicht mehr dreieckig und auch die Tangentensteigungen an den Extrempunkten sindunterschiedlich (siehe die folgenden beiden Aufgaben):

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346 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

V ′e(0) = (v0 − p)

Δx

Δt, ccong(ρmax) = V ′

e(ρmax) = −(1 − p)Δx

Δt.

13.4 Makroskopische Wunschgeschwindigkeit. Ohne Wechselwirkung fällt beider Geschwindigkeitsgleichung (13.3) die Begrenzung durch den Abstand g weg.Für v < v0 kann die Geschwindigkeit im nächsten Schritt nur steigen oder (fallsfür diesen Schritt „Trödeln“ zutrifft) gleich bleiben und für v = v0 nur gleichbleiben oder durch das „Trödeln“ um eine Stufe abnehmen. Die Geschwindigkeitist also nach hinreichend langer Zeit entweder gleich v0 − 1 oder gleich v0: fallsv = v0, wird die Geschwindigkeit im nächsten Zeitschritt mit Wahrscheinlichkeit pauf v0 −1 herabgesetzt oder falls v = v0 −1, wird die Geschwindigkeit im nächstenZeitschritt mit Wahrscheinlichkeit 1 − p auf v0 erhöht.

Bei im stochastischen Sinn stationären Verhältnissen ist der Erwartungswert derGeschwindigkeiten konstant.4 Setzt man θ gleich der Wahrscheinlichkeit dafür, dassv = v0 ist, ergibt dies

〈v(t + 1) − v(t)〉 = −θp + (1 − θ)(1 − p)!= 0 ⇒ θ = 1 − p

und damit

〈v〉 = θv0 + (1 − θ)(v0 − 1) = v0 − p,

also in physikalischen Einheiten die Formel in der Aufgabenstellung.

13.5 Stau-Ausbreitungsgeschwindigkeit. Ausgangspunkt ist eine Warteschlangevon Fahrzeugen mit vα = 0 und gα = 0 für α > 1, aber gα > 0 für α = 1.Es hat also nur der Fahrer des ersten Fahrzeugs eine Lücke vor sich und kannbeschleunigen, was mit der Wahrscheinlichkeit 1 − p auch tatsächlich geschieht.Dadurch kann das nächste Fahrzeug im darauffolgenden Zeitschritt beschleunigen,was wieder mit der Wahrscheinlichkeit 1− p realisiert wird, und so fort. Der Ort deserstmaligen Beschleunigens pflanzt sich also mit der Ausbreitungsgeschwindigkeitccong = −(1 − p)Δx/Δt fort.

Aufgaben aus Kap. 14

14.1 Das Stau-Paradoxon. Wir nehmen jeweils zwei versetzte Bereiche derselbenLänge L an (vgl. Abbildung in der Aufgabenstellung):

• einen „langsameren“ Bereich 1 mit höherer Dichte,• einen „schnelleren“ Bereich 2 mit geringerer Dichte, also ρ1 > ρ2, aber V1 < V2.

4 Diesen Sachverhalt kann man auch als Master-Gleichung ausdrücken: Die Bilanz der Wahr-scheinlichkeitsströme der Übergänge v0 − 1 → v0 und v0 → v0 − 1 muss gleich Null sein.

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Aufgaben aus Kap. 14 347

Beide Bereiche sind nach Voraussetzung im „gebundenen“ Teil des Fundamental-diagramms, also ρ2 > ρc = 1/(l + v0T ) bzw. V2 < V0. Dann gilt, dass dieBereichsgrenzen abrupte Übergänge (Fronten) darstellen, deren Fortpflanzungsge-schwindigkeit durch die Formel (8.6) gegeben ist,

c = Q2 − Q1

ρ2 − ρ1= − l

T= −5 m/s,

wobei die „Staugerade“ Q(ρ) = (1 − lρ)/T verwendet wurde. Der Zeitanteil, indem man sich – unabhängig vom Fahrstreifenindex – auf dem jeweils „langsame-ren“ Fahrstreifen befindet, ist offensichtlich gleich dem Zeitanteil, in dem man sichin Bereichen vom Typ 1 befindet:

plangsamer = p1 = τ1

τ1 + τ2.

Hier gibt τi die Zeit an, welche man braucht, um einen der sich – entgegen derFahrtrichtung – bewegenden Bereiche vom Typ i zu durchqueren. Die Relativge-schwindigkeit zu den Übergängen ist also Vi + |c|. Damit gilt

p1 =L

V1+|c|L

V1+|c| + LV2+|c|

= V2 + |c|V2 + V1 + 2|c| .

Zum Beispiel gilt für V1 = 0 und V2 = 10 m/s:

p1 = 10 + 5

10 + 10= 3

4.

Mit einer Wahrscheinlichkeit von 75% befindet man sich in diesem Fall auf demlangsameren Fahrstreifen – egal, ob man nun wechselt oder nicht!

Alternativ kann man diese Aufgabe auch lösen, indem man die Wahrscheinlich-keit dafür bestimmt, dass ein beliebig herausgepicktes Auto im Bereich 1 fährt. Diesist offensichtlich proportional zum Anteil der Fahrzeuge im Bereich 1, welcher – dadie beiden Bereiche dieselbe Ausdehnung L haben – durch den Dichtequotientengegeben ist:

p1 = ρ1

ρ1 + ρ2= 200

200 + 200/3= 3

4.

14.2 Bremsen vor Lichtsignalanlagen. Zwei Fälle werden unterschieden: (i) Pas-sieren der Ampel während der Gelbphase ist bei unveränderter Geschwindigkeitmöglich. Die Bedingung dafür lautet

s < s1 = vτg.

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348 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

(ii) Passieren der Ampel während der Gelbphase ist nicht möglich. In diesem Fallwird nach der Reaktionszeit Tr mit konstanter Verzögerung b so gebremst, dass mangerade vor der roten Ampel zum Stehen kommt:

s = vTr + v2

2b.

Der Worst Case für den Abstand s bei Gelbwerden der Ampel ist offensichtlich s =s1, denn in diesem Fall würde man bei der Entscheidung „Weiterfahren“ die Ampelgerade beim Umschalten auf Rot passieren. Die resultierende Bremsverzögerungerhält man durch Gleichsetzen:

vτg = vTr + v2

2b.

Nach Kürzen von v erhält man damit

b = v

2(τg − Tr )= 3.47 m/s2.

Dies ist eine „ganz ordentliche“ Verzögerung, die etwas unterhalb der Verzögerungvon 3.86 m/s2 gemäß der Bremswegregel „Tacho2 durch 100“, aber oberhalb derkomfortablen Verzögerung von etwa 2 m/s2 liegt. Die Fahrschulregel und die Min-destgelbzeit sind also konsistent.

14.3 Baustelleneinfahrt. In dieser Situation kann man sowohl das Sicherheitskri-terium (14.4) des allgemeinen Spurwechselmodells als auch direkt das Sicherheits-kriterium (14.18) des Entscheidungsmodells beim Einfahren auf eine vorfahrtsbe-rechtigte Straße anwenden. Mit den Bezeichnungen von Abb. 14.6 ergibt sich fürbsafe = 0

sh > ssafe(vh, v) = sopt(vh) = vh T = 20 m.

Im kritischsten Fall wird also angefahren, wenn das Fahrzeug auf der Autobahnnur sc = 20 m entfernt ist. Danach beschleunigt es nach Aufgabenstellung mita = 2 m/s2. Um in dieser Situation einen Auffahrunfall zu vermeiden, muss dasFahrzeug auf der Hauptfahrbahn im Mittel mit der kinematischen Verzögerung

bkin = v2h

2sc− a = 8 m/s2

bremsen. (Dies ergibt sich durch Anwendung der Bremswegformel sBrems(v, b) =v2/(2b) auf die Beschleunigungssumme b = bkin + a und Auflösen nach bkin.)Der Wert von bkin ist unrealistisch hoch (er entspricht einer Vollbremsung), obwohldas Sicherheitskriterium mit bsafe = 0 extrem konservativ angesetzt wurde. Daran

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Aufgaben aus Kap. 15 349

sieht man, dass bei Spurwechsel-Entscheidungen die hier nicht berücksichtigteGeschwindigkeitsdifferenz eine wesentliche Einflussgröße ist.

14.4 Einfahren auf eine vorfahrtsberechtigte Straße. In dieser Situation(Abb. 14.6 mit v = 0) lautet das Sicherheitskriterium (14.18) für das IDM

sh > sIDMsafe (vh, 0) =

s0 + vh T + v2h

2√

ab√afree(vh)

a + bsafea

,

bzw. mit s0 = 0 sowie vh = v0 und a = b = bsafe (dann ist die Wurzel gleich 1)

sh > sIDMsafe = vh T + v2

h

2bsafe.

Der Mindestabstand entspricht also dem Anhalteweg (Bremsweg zuzüglich des inder Reaktionszeit zurückgelegten Weges) des Fahrzeugs h auf der Hauptfahrbahn,wenn man die Reaktionszeit Tr = T setzt und wenn dieses Fahrzeug mit bsafeverzögern würde. Das Sicherheitskriterium ist also konsistent. Als Zahlenwert fürT = 1 s, bsafe = 2 m/s2 und v0 = 50 km/h erhält man sIDM

safe = 31 m.

Aufgaben aus Kap. 15

15.1 Charakterisierung von Instabilitätsmustern. Die Fahrdynamik ist lokalstabil, da jedes Fahrzeug zum Gleichgewicht zurückfindet (es hält maximal einmalan), aber kolonneninstabil, da sich die Schwingungen von Fahrzeug zu Fahrzeugaufschaukeln. Die Instabilität ist eine konvektive (eine einzige rückwärtslaufendeStauwelle bildet sich), die durch eine große Störung, also nichtlinear, hervorgerufenwurde.

15.2 Ausbreitungsgeschwindigkeit der Stauwellen in Mikromodellen. Zunächstwird die im mitbewegten System gegebene Geschwindigkeit in ein ortsfestesSystem transformiert:

c = ve + crel = ve − (se + l)v′e(se) = ve − v′

e(se)

ρe.

Nun wird die mikroskopische Größe v′e(s) durch den makroskopischen Gradienten

V ′e(ρ) ausgedrückt. Mit ve(s) = Ve(ρ(s)) gilt

v′e(s) = dve

ds= dVe

ds= − V ′

e(ρ)

(s + l)2= −ρ2V ′

e(ρ). (A.9)

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350 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Also

c = ve − v′e(se)

ρe= Ve + ρeV ′

e(ρe) = d

dρe(ρeVe) = Q′

e(ρe).

15.3 Stabilitätsgrenzen beim Velocity-Difference-Modell

Teilaufgabe 1: Die lokale Stabilität ist gegeben, falls

av + aΔv = − 1

τ− γ ≤ 0 ⇒ γ ≥ − 1

τ= −0.2 s−1.

Diese Bedingung ist selbst für geringfügig negative Werte von γ erfüllt, obwohldies nicht sinnvoll ist. Dann würde man nämlich bei Annäherungen beschleunigen.Insofern reflektiert dieses Ergebnis die allgemeine Erkenntnis, dass als Differential-gleichungen formulierte Modelle bei sinnvoller Parametrisierung immer lokal stabilsind.

Teilaufgabe 2: Für v < v0 (sonst herrscht freier Verkehr und es gibt keinerleiSchwingungen bzw. Instabilitäten) gilt v′

e(s) = 1/T und außerdem av = −1/τ

sowie aΔv = −γ . Die Bedingung (15.22) für Schwingungsfreiheit ergibt also

1

T≤ 1

4τ(1 + γ τ)2 .

Dies liefert eine quadratische (Un-)gleichung für γ mit den Lösungen

γ = − 1

τ± 2√

T τ= 0.69 s−1.

Hier wurde berücksichtigt, dass wegen der Bedingung γ ≥ 0 für sinnvolle Modellenur das positive Vorzeichen relevant ist.

Teilaufgabe 3: Für das Kriterium der Kolonnenstabilität kann man direktGl. (15.64) verwenden. Umstellen ergibt

γ >1

T− 1

2τ= 0.9 s−1.

Selbst Fahrstrategien, die bei einer Folgefahrt völlig schwingungsfrei sind, könnenalso kolonneninstabil sein (hier im Parameterbereich 0.69 s−1 < γ ≤ 0.9 s−1)!

15.4 Stabilität des Optimal-Velocity-Modells im Vergleich zum Payne-Modell.Das OVM-Kriterium lautet v′

e(s) ≤ 1/(2τ) und das Payne-Kriterium −V ′e(ρ) ≤

1/(2ρ2τ). Mit der bereits in Aufgabe 15.2 benötigten Relation (A.9) zwischen v′e(s)

und V ′e(ρ) kann man direkt durch Einsetzen zeigen, dass die Payne- und OVM-

Kriterien äquivalent sind:

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Aufgaben aus Kap. 15 351

1

2τ≥ v′

e(se) = −ρ2e V ′

e(ρe(se)) ⇒ −V ′e(ρ) ≤ 1

2ρ2τ, q.e.d.

15.5 Stabilitätsbereiche im Payne- und im Kerner-Konhäuser-Modell

Teilaufgabe 1: Das Kriterium für Stabilität beim Payne-Modell lautet |V ′e(ρ)| <

1/(2τρ2). Aus der gegebenen Gleichgewichtsrelation bekommt man zunächstVe(ρ) = Qe(ρ)/ρ und daraus die Ableitung

V ′e(ρ) =

{0 ρ ≤ ρK,

− 1ρ2T

ρ > ρK,

mit ρK = 1/(V0T + leff) = 20 Fz/km. Damit erhält man wegen V ′e(ρ) = 0 unein-

geschränkte Stabilität für ρ < ρK, während für ρ ≥ ρK die Bedingung

τ <T

2

gültig ist. Das Modell ist also für hinreichend (unrealistisch) kleine Anpassungszei-ten stabil.

Teilaufgabe 2: Das Stabilitätskriterium für das KK-Modell lautet (ρV ′e(ρ))2 < θ0.

Einsetzen der obigen Gleichgewichtsrelation Ve(ρ) ergibt hier wieder uneinge-schränkte Stabilität für ρ < ρc = 20 /km. Die Bedingung für die untere Grenzedes Instabilitätsbereichs ist damit für alle Werte von θ erfüllt. Für ρ > ρK gilt

1

ρ2T 2< θ0.

Daraus ergibt sich als Bedingung an die Geschwindigkeitsvarianz θ0 für die Dichteρ4 = 50 /km, oberhalb derer das Modell ebenfalls stabil sein soll (T = 1.1 s):

θ0 = 1

ρ24 T 2

= 331m2

s2.

ρcrit ρc4

Kerner−Konhäuser−Modell

instabil

stabil

stabil

ρ

Ve

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352 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

15.6 Stabilität des GKT-Modells. Für hohe Dichten gilt Qe ≈ 1/T (1 − ρ/ρmax)

und damit V ′e(ρ) = −1/(Tρ2). Ohne Antizipation folgt daher aus dem Stabilitäts-

kriterium (15.63)

(ρeV ′e)

2 − P ′e = 1

T 2ρ2e

− σ 2V (ρe) ≤ 0.

Hierbei wurde berücksichtigt, dass wegen des konstanten Variationskoeffizientendie Geschwindigkeit P ′

e = σ 2V (ρe) gilt. Da (Tρ)−2 für ρ → ρmax gegen die

quadrierte Ausbreitungsgeschwindigkeit c2 strebt, die Geschwindigkeitsvarianz σ 2V

aber dann gegen Null geht, kann die Bedingung nicht erfüllt werden. Das GKT istsomit ohne Antizipation kolonneninstabil.

Bei endlicher Antizipationsreichweite sa sorgt hingegen die negative eckigeKlammer des Stabilitätskriteriums (15.63) dafür, dass die Bedingung für hinrei-chend hohe Dichten erfüllt wird. Die Klammer divergiert nämlich für ρ → ρmaxgegen minus unendlich, während der Vorfaktor der Klammer endlich und positivbleibt.

15.7 Stabilitätsklassen-Diagramm des IDM für andere Werte von b und s0.Im Folgenden werden die skalierten einheitenlosen Variablen und Parameter miteiner Tilde gekennzeichnet. Aus der Aufgabenstellung gilt für den Übergang vonunskalierten zu skalierten Orts- und Zeitvariablen sowie den daraus abgeleitetenGrößen:

t =√

s0

bt, x = s0 x, v = √

bs0v,dv

dt= b

dv

dt.

Setzt man dies in die IDM-Gleichungen ein, erhält man

dv

dt= a

b

[1 −

(√bs0v

v0

)4

−(

s∗

s

)2]

,

s∗ = s∗

s0= 1 +

√b

s0T v −

√b

a

vΔv

2.

Die Vorfaktoren dieser Gleichungen sind konsequenterweise auch einheitenlos undkommen nur in drei Kombinationen vor. Diese kann man zu drei neuen einheitenlo-sen Parametern zusammenfassen:

v0 = v0√bs0

, a = a

b, T = T

√b

s0.

Damit werden die skalierten IDM-Gleichungen

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Aufgaben aus Kap. 15 353

dv

dt= a

[1 −

(v

v0

)4

−(

s∗

s

)2]

, s∗ = 1 + vT − vΔv

2√

a.

Ändert man die IDM-Parameter so, dass v0, a und T unverändert bleiben, so ändernsich die skalierten IDM-Gleichungen nicht und die Dynamik bleibt dementspre-chend identisch. Damit hat man das zweidimensionale Stabilitätsklassendiagrammin Abb. 15.11 ohne weitere Berechnungen auf ein Vierdimensionales erweitert undes gelten die Aussagen der Aufgabenstellung, die zu beweisen waren.

Nur der fünfte IDM-Parameter, die Wunschgeschwindigkeit, kann nicht unab-hängig geändert werden. Da die Stabilitätsklassen auch vom makroskopischen Fun-damentaldiagramm Qe(ρ) abhängen, muss man zusätzlich die Fahrzeuglänge mits0 skalieren. Nur dann bleibt das skalierte Fundamentaldiagramm unverändert. Dasmikroskopische Fundamentaldiagramm se(v) hingegen hängt nicht von der Fahr-zeuglänge ab.

15.8 Fundamentaldiagramm mit Hysterese

Teilaufgabe 1: Maximaler Fluss bei freiem Verkehr

Qfreemax = v0ρ

freemax = 2 400 Fz/h.

Teilaufgabe 2: Der gestaute Zweig entspricht dem gestauten Zweig des dreieckigenFundamentaldiagramms des Section-Based-Modells: Qcong(ρ) = 1/T (1 − ρleff)

mit leff = l + s0 = 6.6 m. Der freie Zweig wird an derselben Stelle geschnitten wiebei einem dreieckigen Fundamentaldiagramm ohne Hysterese, also bei

ρcongmin = ρout = 1

v0T + leff= 16.67 Fz/km.

Teilaufgaben 3 und 4: Ausfluss aus dem Stau Qout = v0ρout = 2 000 Fz/h. Dercapacity drop ist damit gegeben durch

ΔQ = Qmax − Qout = 400 Fz/h bzw. 16.7%.

Die Dichte des Ausflussbereiches ist dieselbe wie die minimale Dichte des gebun-denen Verkehrs, also 16.67 Fz/h. Im Dichtebereich ρ ∈ [ρout, ρ

freemax], also innerhalb

x

t17:0016:3016:00

D1

D2Streckeleere

Ausflussaus Stau

Zufluss

konstanter

Ausflussaus Stau

x

t17:0016:3016:00

D1

D2

Zufluss

konstanter

Stau

Stau

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354 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

[16.67 Fz/h, 20 Fz/h] können zwei Werte des Flusses auftreten, die dem freien bzw.gestauten Zweig entsprechen.

Aufgaben aus Kap. 18

18.1 Reisezeit aus kumulierten Zähldaten. Die Methode der N-Curves funk-tioniert exakt auf einer Richtungsfahrbahn ohne Zu- und Abfahrten, wenn die De-tektoren fehlerfrei zählen und es weder Fahrstreifenwechsel noch Überholvorgängegibt. Ohne FC-Daten kann man heuristisch vorgehen: Sprechen andere Indizien (Ge-schwindigkeitsdaten) für freien Verkehr und bauen sich Unterschiede zwischen denN -Werten der verschiedenen Querschnitte nur langsam im Rahmen der Messfehlerauf, werden die Unterschiede fortlaufend, beispielsweise mittels Gl. (18.9) unterAnnahme einer zu freiem Verkehr gehörigen Dichte Q/V zurückgesetzt. Ändernsich die Unterschiede Ni − Ni+1 jedoch rapide, baut sich ein Stau auf und man hatbis zum Stauende keinerlei Korrekturmöglichkeit.

18.2 Reisezeitbestimmung aus aggregierten Detektordaten

Teilaufgabe 1: Die folgende Abbildung verdeutlicht die alternativen Verkehrssi-tuationen: Der fehlende Fluss an Detektor D2 zwischen 16:00 und 16:30 Uhr kannentweder durch eine „leere“ Fahrbahn als Folge einer unfallbedingten Totalsperrungstromaufwärts von D2 (links) oder durch Stillstand der Fahrzeuge in Folge einerTotalsperrung stromabwärts von D2 (rechts) entstehen.

0

500

1000

1500

2000

2500

0 25 50 75 100 125 150

Flu

ss (

Kfz

/h/S

pur)

Verkehrsdichte (Kfz/km/Spur)

Teilaufgabe 2: Für das Durchfahren des 4 km langen Abschnitts zwischen D1 undD2 mit Geschwindigkeit von 120 km/h werden τ12 = 2 min = 120 s benötigt. Indiesem Zeitintervall sind an D1 Δn = 60 Fahrzeuge vorbeigefahren. Setzt man tgleich der Zeit in Sekunden seit 16:00 Uhr und die kumulierte Fahrzeugzahl an D1zu dieser Zeit = 0, N1(0) = 0, gilt N2(0) = 60. Die Bestimmung von N1(t) undN2(t) als Funktion der Zeit geschieht durch stückweise Integration der jeweiligenFlüsse. Damit gilt für D1

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Aufgaben aus Kap. 18 355

N1(t) =

⎧⎪⎪⎨

⎪⎪⎩

60 + 0.5 t t < 2 520,

1 320 2 520 ≤ t < 3 000 ,

1 320 + (t − 3 000) = t − 1 680 3 000 ≤ t < 3 480 ,

1 800 + 0.5 (t − 3 480) = 60 + 0.5 t t ≥ 3 480 .

Die kumulierte Fahrzeugzahl für D2 ist gegeben durch

N2(t) =

⎧⎪⎪⎨

⎪⎪⎩

0.5 t t < 0 ,

0 0 ≤ t < 1 800 ,

t − 1 800 1 800 ≤ t < 3 600 ,

0.5 t t ≥ 3 600 .

Teilaufgabe 3: Skizze der kumulierten Fahrzeugzahlen:

0

500

1000

1500

2000

−600 0 600 1200 1800 2400 3000 3600 4200

Kum

ulie

rte

Fah

rzeu

gzah

l

t (Sekunden seit 16:00)

N1(t)N2(t)

Die Zeit τ12(t) der zur Zeit t = 2 400 am Streckenende ankommenden Fahrzeugeist gleich dem horizontalen Abstand der beiden N-curves für N2(2 400) = 600:τ12(t) ≈ 1 300 (genau: 1 320, siehe unten). Die Zeit τ12(t) der zur Zeit t = 2 400 indas Streckenintervall einfahrenden Fahrzeuge ist gleich dem horizontalen Abstandder beiden N-curves für N1(2 400) = 1 250: τ12(t) ≈ 600 (genau: 660).

Teilaufgabe 4: Der Abbildung mit den N-curves entnimmt man, dass für die Be-rechnung von τ12(t) im Intervall −120 s ≤ t < 2 520 s für N1(t) der erste Bereichund für N2(t) der dritte Bereich genommen werden muss:

N1(t) = N2(t + τ12)

60 + t

2= (t + τ12) − 1 800 ⇒ τ12 = 1 860 − t

2.

Für t < −120 s ist τ12 gleich der Reisezeit für freien Verkehr, also 2 Minuten bzw.τ12 = 120. Bei t = −120 gibt es also einen Sprung von 120 auf 1 920, also um1 800 s bzw. 30 min. Das entspricht dem letzten Fahrzeug, welches gerade noch derBlockade entkommen ist und dem ersten danach, welches die vollen 30 min derSperrung warten muss.

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356 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

Für τ12(t) im Intervall 1 800 ≤ t < 3 120 gilt ebenfalls für N1(t) der ersteBereich und für N2(t) der dritte Bereich:

N1(t − τ12) = N2(t)

60 + 1

2(t − τ12) = t − 1 800 ⇒ τ12 = 3 720 s − t .

Aufgaben aus Kap. 19

19.1 Lesen eines Drehzahl-Leistungs-Motorkennfeldes. Vollgas entspricht ange-nähert der obersten „Höhenlinie“ konstanten Wirkungsgrades, also 70 kW bei 3 000Umdrehungen. Bei einer Leistungsanforderung von 60 kW sind 3 300 Umdrehun-gen (bzw. der daran am nächsten liegende Gang) verbrauchsoptimal.

19.2 Lesen eines Drehzahl-Mitteldruck-Motorkennfeldes. (i) 60 kW; (ii) Ei-ne Drehzahl von 2 600 min−1 ergibt einen spezifischen Verbrauch unterhalb von375 ml/kWh, während er bei 4 000 min−1 oberhalb von 400 ml/kWh liegt. Ersteresist also besser.

19.3 Stauvermeidung=Kraftstoffersparnis? Bei hohen Geschwindigkeiten steigtder Verbrauch nahezu quadratisch an, so dass die Ersparnis bei Stauvermeidunggeringer wird und sogar nahe Null gehen kann.

19.4 Einflussfaktoren auf den Treibstoffverbrauch. Geht man von einem kon-stanten Wirkungsgrad aus, erhält man aus (19.11) mit (19.8), (19.3) und (19.2) fürden streckenbezogenen Verbrauch:

Cx = dC

dx= Cspez max

[0,

(P0

v+ mv + (μ + β)mg + 1

2cwρ Av2

)]. (A.10)

1. Klimaanlagen: Ja, denn die durch die Klimaanlage zusätzlich benötigte LeistungΔP0 wird zur Grundleistung P0 addiert, so dass die Verbrauchserhöhung ΔCx =CspezΔP0/v umso höher wird, je niedriger die Geschwindigkeit ist. (Zahlenwertebei ΔP0 = 4 kW: 3 l/100 km bei 40 km/h und 1.5 l/100 km bei 80 km/h)

2. Dachgepäckträger: Nein, denn der Dachträger erhöht den cw Wert und diestreckenbezogene Verbrauchserhöhung ΔCx = CspezΔcwρ Av2/2 wächst mitdem Quadrat der Geschwindigkeit. (Zahlenwerte 0.4 l/100 km bei 80 km/h und1.6 l/100 km bei 160 km/h)

3. Bergab-Fahrt: Nein, denn mit eingelegtem Gang ist die Schubabschaltung ak-tiv und es wird weniger Kraftstoff verbraucht, sobald F < 0 und kein Kraftstoff,wenn F < −P0/v. Bei Leerlauf kann die Schubabschaltung nicht wirken und derVerbrauch pro Streckeneinheit ist ΔCx = Cspez P0/v. (Zahlenwerte bei 50 km/h:

Page 356: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Aufgaben aus Kap. 19 357

Leerlaufverbrauch 1.6 l/100 km; Gefälle, bei dem der Fahrwiderstand=0 ist: −2.5%;Gefälle, ab dem die Schubabschaltung voll wirksam ist und der Verbrauch gegenNull geht: −4.0%)

4. Tankfüllung: Nein. Die mittlere Massen-Ersparnis bei Fahrt zwischen halberTankfüllung und leerem Tank (mittlere Tankfüllung also ein Viertel, 15 l) und Aus-nutzen des ganzen Tanks (im Mittel halbe Tankfüllung, 30 l) entspricht einer mittle-ren Massen-Ersparnis Δm von weniger als 15 kg (da die spezifische Masse kleinerals 1 kg/l ist). Die resultierende Verringerung des mittleren Verbrauchs bei Konstant-fahrt beträgt ΔCx = −CspezΔmgμ < 0.024 l/100 km, ist also unabhängig von derGeschwindigkeit vernachlässigbar.

5. Tempo 30- bzw. Tempo 50-Zonen: Nein, bei derart niedrigen Geschwindigkei-ten steigt Cx schon wieder. Mit Gl. (A.10) erhält man (vgl. die Abbildung) beiTempo 30 einen Verbrauch von 5.7 l/100 km und bei 50 km/h einen Verbrauch von4.9 l/100 km. Bei Tempo 30 verbraucht man also bereits wieder mehr, nicht wenigerTreibstoff.

0 2 4 6 8

10 12 14 16 18 20

20 40 60 80 100 120 140

Ver

brau

ch (

Lite

r/10

0 km

)

v (km/h)

ebene Strecke, Konstantfahrt5% Steigung, Konstantfahrt

5% Gefälle, Konstantfahrt

6. Tempo 130 statt Tempo 150: Ja, da der Luftwiderstand quadratisch eingeht(vgl. die Abbildung): Verbrauch bei 130 km/h: 7.4 l/100 km, und bei 150 km/h:8.7 l/100 km.

19.5 Treibstoffverbrauch „Autobahn gegenüber Pass-Straße“. Auf der Auto-bahn werden bei einer konstanten Geschwindigkeit von 150 km/h (vgl. Lösung 19.4)8.7 l/100 km verbraucht.

Auf der Pass-Straße wird nur während der Fahrt bergauf Treibstoff verbraucht.Mit Gl. (A.10) erhält man für die Bergauffahrt (β = 0.08) einen Verbrauch von14.8 l/100 km. Der Abbildung in der Lösung von Aufgabe 19.4 entnimmt man, dass8% Steigung bei weitem für eine Motorbremse ausreicht, so dass sich der Gesamt-verbrauch bei kompletter Passbefahrung halbiert auf 7.4 l/100 km. Trotz der durch-aus beträchtlichen Steigung wird also am Pass weniger Treibstoff verbraucht! (DieVerhältnisse kehren sich ab 10% Steigung oder bei langsameren Geschwindigkeitenauf der Autobahn um.)

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358 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

19.6 Treibstoff- und CO2-Ersparnis durch Entfernen von Stoppschildern. Zu-nächst einmal wird mit der Gleichung in Aufgabe 19.4 der Verbrauch auf der L =500 m langen Strecke zwischen zwei Kreuzungen ohne Stoppschilder, also bei freierFahrt mit v0 = 16 m/s errechnet:

Cfrei = LCx = 26.5 ml.

Für den Fall von Stopp-Kreuzungen wird die Verbrauchsberechnung in drei Etap-pen vorgenommen: Beschleunigen von 0 auf v0, Konstantfahrt und Abbremsen zumStillstand.

Etappe 1: Beschleunigen. Mit v = a = 2 m/s2 beträgt die Beschleunigungszeitta = 8 s und die Beschleunigungsstrecke La = v2

0/2a = 64 m. Zur Verbrauchs-berechnung muss man auf jeden Fall explizit integrieren. Da man sinnvollerweiseüber die Zeit und nicht über die Strecke integriert, kommt Gl. (A.10) nicht alsIntegrand in Frage, sondern direkt die Verbrauchsrate (19.7). Setzt man wiederGln. (19.3) und (19.2) ein, erhält man in Abhängigkeit der Geschwindigkeit und derBeschleunigung

dC

dt= C(v, v) = Cspez

(P0 + mvv + (μ + β)mgv + 1

2cwρ Av3

). (A.11)

Für das Integral über die Beschleunigungszeit von ta muss man berücksichtigen,dass sich v = at mit der Zeit ändert:

Cacc =ta∫

0

C(v(t), v(t))dt =ta∫

0

C(at, a)dt

= Cspez

⎣P0 ta +ta∫

0

(ma2t + μmgat + 1

2cwρL Aa2t2

)dt

= Cspez

[P0 ta + 1

2ma(a + μg)t2

a + 1

8cwρL Aa3t4

a

].

Mit ta = v0/a und La = 12 at2

a vereinfacht sich der Ausdruck zu

Cacc = Cspez

[P0 ta + 1

2mv2

0 + mμgLa + 1

4cwρL Av2

0 La

]= 20.6 ml .

Die Terme in den eckigen Klammern haben folgende Bedeutungen: (i) P0ta ist dieArbeit („Leistung·Zeit“) durch die konstante Grundleistung, (ii) 1

2 mv20 ist die durch

das Beschleunigen gewonnene kinetische Energie, (iii) mμgLa ist die durch dieFestkörper- und Rollreibung „verbrauchte“ Arbeit („Kraft mal Weg“ mit der Rei-bungskraft mgμ), (iv) 1

4 cwρL Av20 La ist die durch den Luftwiderstand aufzuwen-

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Aufgaben aus Kap. 19 359

dende Arbeit, welche gleich der Hälfte der Arbeit bei konstanter Geschwindigkeitv0 ist („Kraft mal Weg“ mit der Luftwiderstandskraft 1

2 cwρL Av20).

Etappe 2: Konstantfahrt. Diese findet auf einer Strecke L − La − Lb = 372 m statt,da die Bremsverzögerung betragsmäßig gleich der Beschleunigung ist und damit derBremsweg ebenfalls Lb = La = 64 m. Auf dieser Etappe beträgt der Verbrauch also

Cconst = (L − La − Lb)Cx (v0, v = 0) = 19.7 ml.

Etappe 3: Abbremsen. Hier wird keinerlei Treibstoff verbraucht, Cbrake = 0.

Ergebnis: Insgesamt verbraucht man also während eines Stop&Go-Zyklus zwi-schen zwei Kreuzungen die Menge Cacc + Cconst + Cbrake = 40.2 ml, währendbei freier Fahrt der Verbrauch Cfree = 26.5 ml betragen würde. Die Ersparnis (etwa35%) ist also enorm.

19.7 Treibstoffverbrauch mit dem OVM

Teilaufgabe 1: Die Beschleunigung des OVM auf freier Strecke beträgt v =(v0 − v)/τ , hat also den maximalen Wert bei v = 0. Bei vorgegebener maximalerBeschleunigung a = 2 m/s2 ergibt sich also τ = v0/a = 16.67 s. (Bei diesen hohenWerten ist das OVM allerdings extrem instabil und kann nicht zur Modellierung vonFolgefahrten verwendet werden.)

Teilaufgabe 2: Die momentane Antriebsleistung P(v) = P0 + vF(v) wird di-rekt mit (19.3) und (19.2) berechnet, wobei bei Beschleunigung die Maximums-Bedingung wegfällt:

P(v, v) = C(v, v)

Cspez= P0 + mvv + (μ + β)mgv + 1

2cwρ Av3.

Setzt man aus dem OVM die freie Beschleunigung v = (v0 − v)/τ ein, erhält manP(v)OVM = A0 + A1v + A2v

2 + A3v3 mit

A0 = P0 = 3 kW, A1 = m(

gμ + v0

τ

)= 3 294 W s/m ,

A2 = −mτ

= −90 W (s/m)2 , A3 = 1

2cwρL A = 0.39 W (s/m)3 .

Die maximale Leistung und die Geschwindigkeit, bei der diese notwendig ist, erhältman durch Ableiten der Antriebsleistung nach der Geschwindigkeit:

dPa

dv= A1 + 2A2v + 3A3v

2 != 0 .

Diese quadratische Gleichung hat zwei positive Lösungen mit den dazugehörigenLeistungen Pa(v):

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360 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

v1 = 132.6 m/s = 477.4 km/h, Pa(v∗1) = −233 kW,

v2 = 21.2 m/s = 76.4 km/h, Pa(v∗2) = 36.1 kW.

Hier ist die zweite Lösung die richtige, da die erste wegen der negativen Leistungoffensichtlich unphysikalisch ist. Die maximale Leistung wird also während desBeschleunigungsvorgangs bei 76 km/h erreicht und beträgt 36.1 kW.

0

10

20

30

40

50

60

20 40 60 80 100 120Leis

tung

(kW

), V

erbr

auch

(l/1

00 k

m)

v (km/h)

Leistung (kW)Vergleich: Leistung ohne Beschleunigung

Instantaner Verbrauch (l/100 km)Vergleich: Verbrauch ohne Beschleunigung

19.8 LKW an Steigungsstrecken

1. Ebene Strecke. Mit (19.3) und (19.2) gilt für das Tempolimit v = vlimit =80 km/h

Pa = P − P0 = vF(v) = μmgv + 1

2cwρL Av3 = 253.3 kW + 57.1 kW = 310 kW.

2. Anfangsverzögerung. Beim Fahrwiderstand F muss nun auch noch die Träg-keitskraft mv und die Hangabtriebskraft mgβ berücksichtigt werden. Nach (19.3)und (19.2) gilt daher nun

Pa = (μg + βg + v)mv + 1

2cwρL Av3.

Am Anfang der Steigung ist der Wert der Geschwindigkeit derselbe wie im erstenAufgabenteil. Außerdem ist nach der Aufgabenstellung die Antriebsleistung Pa un-verändert. Damit erhält man

βg + v = 0 ⇒ v = −βg ={−0.5 m/s2 bei 5% Steigung,

−0.4 m/s2 bei 4% Steigung.

Die Endgeschwindigkeit berechnet sich mit derselben Formel für Pa , indem manv = 0 setzt und, wegen des zu vernachlässigenden Luftwiderstandes, cw = 0,

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Aufgaben aus Kap. 19 361

Pa = (μ + β)gmv ⇒ v∞ = Pa

(μ + β)gm={

10.2 m/s bei 5% Steigung,11.7 m/s bei 4% Steigung.

3. Endgeschwindigkeit und OVM-Parameter. Da die Geschwindigkeit des OVMsich bei leerer Strecke der „Wunschgeschwindigkeit“ v0 annähert, ist v0 = vinfty.Die anfängliche Beschleunigung bei t = 0 des OVM ist gegeben durch v =(v0 − vlimit)/τ , also τ = (v0 − vlimit)/v. Dies ergibt

τ ={

24.0 s bei 5% Steigung,26.4 s bei 4% Steigung.

Teilaufgabe 4: Zu lösen ist die inhomogene Differentialgleichung v = (v0 − v)/τ

mit den Anfangsbedingungen v(0) = vlimit Die Vorgehensweise beim Lösen dieserDifferentialgleichung wurde bereits in Aufgabe 10.1 gezeigt. Der einzige Unter-schied hier ist eine endliche Anfangsgeschwindigkeit, was zu anderen Integrations-konstanten führt. Man erhält (vgl. auch die folgende Abbildung)

v(t) = v0 + (v(0) − v0) e−t/τ ,

x(t) = v0(t − τ) + v(0)τ − (v(0) − v0) τe−t/τ .

30

40

50

60

70

80

0 20 40 60 80 100 120

Ges

chw

indi

gkei

t (km

/h)

Zeit (s)

5% Steigung4% Steigung

0

500

1000

1500

2000

0 20 40 60 80 100 120

Pos

ition

(m

)

Zeit (s)

OVM, 5% SteigungOVM, 4% Steigung

500 mAsymptoten 1000 m

Teilaufgabe 5: Steigung 5%, Länge L = 500 m. Mit den angegebenen Modellpa-rametern ergibt sich zur Zeit t = t1 = 29.1 s:

v(t1) = 13.8 m/s = 49.8 km/h.

Probe zurückgelegte Strecke: x(t1) = 500.5 m. Analog ergibt sich für Steigung 2bei t = t2 = 64.2 s:

v(t2) = 12.6 m/s = 45.2 km/h.

Probe zurückgelegte Strecke: x(t2) = 1000.2 m.

Diskussion: Obwohl die 500 m lange Steigung steiler ist, werden auf ihr die LKWnicht so langsam wie auf der flacheren 1 000 m langen Steigung. Deshalb ist es

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362 A Lösungen zu den Übungsaufgaben

sinnvoll, die Obergrenzen von Steigungen auf hinreichend lange gleitende Mittelzu beziehen. In der Tat wurde im Jahre 2008 im Handbuch für die Bemessung vonStraßenverkehrsanlagen (HBS) diese Länge von 500 m auf 1 000 m heraufgesetzt.

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Sachverzeichnis

AAbfluss, 64Abstand, 9, 140

Brutto-, 14Netto-, 15, 143, 168

Abstandsregel, 170Abszisse, 8Adaptive Cruise Control (ACC), 54, 162, 173,

294Adaptive Smoothing Method (ASM), 40, 257,

262Aggregierung, 54Aktualisierungsvorschrift, siehe Lösungsver-

fahren, numerischesAktualisierungszeitschritt, 90, 125, 131,

149–150, 159, 175Ampel, siehe LichtsignalanlageAmpelsteuerung, 3Anfangsbedingungen, 77, 109, 215, 272Angebot, 52, 90, 95, 99Anhalten, 206Anhalteweg, 153, 157Anpassungsterm, 120, 133, 226Anpassungszeit, 123, 144, 159, 163, 230Anreizkriterium, 199

MOBIL-, 202Antizipation, 54, 120

räumliche, 174zeitliche, 173

Antriebsleistung, 287, 359Arbeit, 358arithmetisches Mittel, 16Auffahrt, 65, 258, 292Aufmerksamkeitsspanne, 175Autokorrelationsfunktion, 178Automat

zellulärer, siehe ModellAverage-speed model, 275

BBando-Modell, siehe Optimal-Velocity-Modell

(OVM)Belegungsgrad, 15, 23Beschleunigungsrauschen, 179, 183, 185, 199Betriebsleistung, 278Bewegungsgleichung, 89, 99, 272Boltzmann, Ludwig, 128Bottleneck, siehe Engstelle

moving, 27Bottleneck strength, siehe EngstellenstärkeBraess, Paradoxon von, 289Bremswegregel, 348

CCAN-Bus, 8Capacity drop, 25, 31, 33, 167, 215, 243, 258Capacity restraint (CR-) Funktion, 56Car-to-car communication, 294Cell-Transmission-Modell (CTM), siehe

ModellCellular automaton (CA), siehe ModellCoffeemeter, 299Cole-Hopf-Transformation, 109Conservation equation, siehe flusserhaltende

FormControl parameter, siehe SteuerparameterCoupled map, siehe iterierte AbbildungCourant-Friedrichs-Lewy- (CFL-) Stabilitäts-

bedingungen, 133cw-Wert, 278

DDaten

aggregierte, 15makroskopische, 15

Datenfusion, 45Deltafunktion, Diracsche, 178, 343Detektor

363

Page 363: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

364 Sachverzeichnis

Querschnitts-, 16stationärer, 20virtueller, 54, 125, 146, 271

Dichte, siehe VerkehrsdichteDifferentialgleichung

hyperbolische partielle, 129Delay-, 175gewöhnliche, 55, 140partielle, 55, 98, 115stochastische, 178

Differenzengleichung, 73Diffusion

numerische, 90, 134, 230Diffusionskonstante, 109, 119Diffusionsterm, 109, 119, 133Disaggregierung, 54Dispersion, 81, 123, 135, 236Dispersion fan, 76Downwind-Verfahren, 132Drei-Phasen-Theorie, 192, 249

EEinbiegen, 207Einstein, Albert, 119Emission-factor model, siehe Verbrauchsmo-

dell, makroskopischesEmissionsfaktor, 275Engstelle, 81, 89–90, 243

aktivierte, 247, 257–258flusserhaltende, 90klassische, 91permanente, 26, 258temporäre, 26, 80, 258, 264verhaltensinduzierte, 91, 258

Engstellenstärke, 91, 93, 244Erwartungswert, 16Eulersche Darstellung, 68, 116

FFahrer-Fahrzeug-Einheit, 2, 58, 139Fahrer-Kollektiv, 28, 116Fahrerassistenzsystem, 294Fahrerinformationssystem, 294Fahrstrategie, 294Fahrstreifensperrung, 66, 91, 174, 258, 291Fahrstreifenwechselrate, 10Fahrwiderstand, 278Fahrzeug

virtuelles, 146, 171Fahrzeug-Fahrzeug-Kommunikation, 294Fahrzeug-Infrastruktur-Kommunikation, 294Fahrzeugdynamik, 3, 197Fahrzeugfolgemodell, siehe ModellFahrzeuglänge, 13, 181

effektive, 83, 112, 188mittlere, 23, 33

Faltung, 37finite Differenzen, 128Finite-size effects, 237First-order model, siehe ModellFließgleichgewicht, 142, 147, 168, 191Floating-Car-Daten (FCD), 7, 45, 269Floating-Phone-Daten, 45, 294Flow-conserving bottleneck, siehe Engstelle,

flusserhaltendeFluss, siehe Verkehrsflussflusserhaltende Form, 130Folgezeit, 88, 145, 159, 163, 225, 294

Brutto-, 9, 20, 31Netto-, 33, 84

Fouriertransformation, 234Freigabezeit, 94Full-Velocity-Difference-Modell (FVDM),

siehe ModellFundamentaldiagramm, 32, 73

dreieckiges, 82freier Zweig, 83gestauter Zweig, 83, 243mikroskopisches, 143

Funktional, 178, 298Fußgänger, 58, 83, 194

GGap-Acceptance-Modell, 203Gaskinetic-Based-Traffic-Modell (GKT), siehe

ModellGeschwindigkeit

Ausbreitungs-, 41, 82, 132, 190, 222, 262freie, 28optimale, 144Stauwellen-, 41, 265synchronisierte, 30Verteilung, 29Wunsch-, 28, 32, 85, 144, 155

Geschwindigkeits-Dichte-Diagramm, 28Geschwindigkeitsanpassungszeit, siehe

AnpassungszeitGeschwindigkeitsmittel

arithmetisches, 15harmonisches, 16

Geschwindigkeitstrichter, 290Geschwindigkeitsvarianz, 16getriebene Teilchen, 142Gipps-Modell, siehe ModellGKT-Modell, siehe ModellGlättungsverfahren, 40Gleichgewichtsannahme, 73

Page 364: [Springer-Lehrbuch] Verkehrsdynamik und -simulation ||

Sachverzeichnis 365

Godunov-Verfahren, 132Grüne Welle, 105Gravitationskonstante, 287Greens-Funktion, 110Größe

extensive, 62intensive, 62

HHeuristik, 180Höflichkeitsfaktor, 202Homo Oeconomicus, 199Homogeneous Congested Traffic (HCT), 247,

252Homogeneous Synchronized Traffic (HST),

248, 252HOV-Lane, 290Hysterese, 33, 84, 167, 215

IImproved-Intelligent-Driver-Modell (IIDM),

siehe ModellIndividuum, 1Induktionsschleife, 13

Doppel-, 13Einfach-, 13

Inhomogenität, siehe EngstelleInstabilität, 88

diffusive, 133große Wellenlängen, 217kleine Wellenlängen, 217konvektive, 132, 216, 266nichtlineare, 134, 214

Integrationsschrittweite, siehe Aktualisierungs-zeitschritt

Intelligent-Driver-Modell (IDM), siehe ModellInter-driver variability, 58Interpolation

isotrope, 39lineare, 131, 175raumzeitliche, 37, 41verkehrsadaptive, 42

Intra-driver variability, 58Inverse-λ-Form, 34, 166, 215, 243Iterated map, siehe iterierte AbbildungIterationsverfahren, siehe Lösungsverfahren,

numerischesiterierte Abbildung, siehe Modell

JJante-Diagramm, 282Jerk, siehe RuckJumborennen, 260, 297

KKaffeetasse, 299Kalibrierung, 1, 43, 100Kapazität, 33, 84

dynamische, 215, 243, 265statische, 215, 243

Kapazitätsabfall, siehe Capacity dropKapazitätsloch, 101, 296Kapazitätsreduktion, siehe EngstelleKerner-Konhäuser- (KK-) Modell, siehe

ModellKKW-Modell, siehe Modell,KKW-Kollektivphänomene, 2Konsistenzordnung, 132Kooperation, 198Korrelationskoeffizient, 18Kovarianz, 18Kraft, 277

elektrostatische, 181Gravitations-, 181Hangabtriebs-, 278Luftwiderstands-, 359Trägheits-, 278

Kreisstrecke, siehe RingstraßeKreuzung, 207

Four-way-Stop-, 286kumulierte Fahrzeugzahl, 268

LLängsdynamik, 58, 139Lagrange-Multiplikator, 47Lagrangesche Darstellung, 68, 116Leistung, 277Lichtsignalanlage (LSA), 94, 146, 171, 209Lighthill-Whitham-Richards- (LWR-) Modell,

siehe ModellLKW-Überholverbot, 297Lösungsverfahren

explizites, 129implizites, 129numerisches, 128, 141

Luftdichte, 287Luftwiderstand, 278

MMaster-Gleichung, 54, 346Maximalflusszustand, 86McCormack

Korrektor, 131Prädiktor, 131Verfahren, 130

Memory-Effekt, 184Metastabilität, 215, 237Mikro-Makro-Beziehung, 143

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366 Sachverzeichnis

Mindestabstand, 139Mindestgelbzeit, 348Minimalmodell, 139, 155MOBIL, 202

Parameter, 201Mobilität, 3Modal-consumption model, 276Modalwert, 31Modell

Cell-Transmission-, 82, 129, 194, 264Cellular Automaton, siehe Modell,zellulärer Automatdeterministisches, 57effektives, 66erster Ordnung, 74, 116Fahrzeugfolge-, 53First-Principles-, 57, 140, 161Full-Velocity-Difference-, 147, 204Fußgänger-, 58gaskinetisches, 54GKT-, 126heuristisches, 57, 140hydrodynamisches, 52Improved-Intelligent-Driver-, 169Intelligent-Driver-, 161, 204Iterierte Abbildung, 55, 64Kerner-Konhäuser-, 125KKW-, 192Lighthill-Whitham-Richards-, 74Longitudinal-, 139makroskopisches, 52, 116mesoskopisches, 54mikroskopisches, 53Newell-, 148nichtlokales, 116Optimal-Velocity-, 144, 203Payne-, 123Robustheit, 45, 128, 147, 159, 194Section-Based-, 82Spurwechsel-, 58, 139, 197stochastisches, 57Traffic-Stream-, 56vollständiges, 148Wiedemann-, 184zellulärer Automat, 56, 59, 187zweiter Ordnung, 115

Motordrehzahl, 280Motorkennfeld, 276, 280Moving Localized Cluster (MLC), 247, 251Multiantizipation, 174, 181

IDM-, 185Multinomial-Logit-Modell, 199

NNachfrage, 2, 25, 52, 90Nachfragematrix, 299Naturwissenschaft, 1N-curves, siehe kumulierte FahrzeugzahlNewell-Modell, siehe ModellNewton, Isaac, 1Nichtgleichgewicht, 34numerische Genauigkeit, 132Nutzen, 199Nutzenfunktion, 198Nutzenmaximierung, 199

OOptimal-Velocity-Modell (OVM), siehe

ModellOptimierung

multikriterielle, 300nichtlineare, 301

Optimierungsproblemrestringiertes, 47

Ordinate, 8Oscillating Congested Traffic (OCT), 247, 252

PPayne-Modell, siehe ModellPhase, 245Phasendiagramm, 245, 250Pinch-Effekt, 160Pinned Localized Cluster (PLC), 247, 251

QQuellterm, 67, 119Querdynamik, 58, 197Querschnittsfläche, 278

RRamp metering, 292Rampenfluss, 64Rampenterm, 64Randbedingungen, 57, 82, 97, 98, 100, 292Random Walk, 119Raum-Zeit-Diagramm, 8Reaktionszeit, 2, 84, 124, 149, 159, 173, 174

effektive, 176, 182Regelungstechnik, 175Reißverschlussprinzip, 198, 298Relaxationsterm, 120Resignationseffekt, 184Restabilisierung, 233, 247, 249Ringstraße, 237Robustheit, siehe Modell, siehe Modell, siehe

Modell, siehe ModellRollreibung, 278

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Sachverzeichnis 367

Routenwahl, 197Ruck, 161, 299Runge-Kutta-Verfahren, 141

SSchätzfehler, 57, 173

Abstands-, 177Geschwindigkeits-, 177Zeitabhängigkeit, 178

Schleppbetrieb, 279Schockwellen, 78, 100, 119, 212

Ausbreitungsgeschwindigkeit, 79, 97Schubabschaltung, 279Second-order model, siehe ModellSection-Based-Modell, siehe ModellSelbstorganisation, 247Selbstregulierung, 164Sicherheitskriterium, 198, 199Simulation, 3, 54, 97, 125, 202, 237, 291Simulationssoftware, 139, 198Slow-to-start-Regel, 192soziales Kräftemodell, 59Sperrzeit, 94Spursperrung, siehe FahrstreifensperrungSpurwechselmodell, siehe ModellStabilität, 115

absolute, 215Kolonnen-, 214lineare, 214lokale, 213nichtlineare, 214numerische, 125, 132

Stabilitätsbedingung, 228, 229Stabilitätsdiagramm, 237, 243Stabilitätsklasse, 239Standardabweichung, 16Stationarität, 248Stau aus dem Nichts, 212, 263Stauanfang, 27Stauende, 27Stauentstehung, 257Staufront, 99, 115

stromabwärtige, 26, 69, 262stromaufwärtige, 26, 262

Staukonstanten, 265Staukopf, 216, 262, 296Staumuster, 213, 244, 262Stauwelle, 10, 39, 115, 190, 211, 251, 262

stehende, 69, 247, 251Steuerparameter, 237, 244Stirnfläche, 287stochastischer Prozess, 178Stop-and-Go-Mechanismus, 212

Stop-and-Go-Welle, siehe StauwelleStreckeninhomogenität, siehe EngstelleString stability, siehe Stabilität, Kolonnen-Supply-Demand-Methode, 94, 102Synchronized traffic, 248System

ausgedehntes, 217geschlossenes, 244offenes, 216, 244

TTagesganglinie, 25Taylor-Reihe, 223Taylorentwicklung, 136, 218Thermodynamik, 2Tiefpass-Filter, 39Time-to-Collision (TTC), 177, 207Totzeit, 175Toy system, 237Traffic-Stream-Modell, siehe ModellTrajektorie, 7, 69, 146

virtuelle, 272Trajektorien-Diagramm, 8Trajektoriendaten, 7Transportplanung, 3Triggered Stop-and-Go (TSG), 246, 251

UÜbergangszeit, 94Update time, siehe AktualisierungszeitschrittUpwind-Verfahren, 130, 132Utility, siehe Nutzen

VVarianz, 16Variationskoeffizient, 16, 126, 177Vehicle-infrastructure integration, siehe

Fahrzeug-Infrastruktur-KommunikationVerbrauchscharakteristik, 282Verbrauchsmodell

makroskopisches, 275mikroskopisches, 276phänomenologisches, 276physik-basiertes, 276

Verkehrheterogener, 30, 58, 126, 143nichtmotorisierter, 58

Verkehrsbeeinflussungsanlage, 30Verkehrsdichte, 17Verkehrsdruck, 121, 228Verkehrsdynamik, 51, 52, 264

hysteretische, 33, 167, 215raumzeitliche, 40, 262

Verkehrsfluss, 9, 15

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368 Sachverzeichnis

Verkehrsflussdynamik, siehe VerkehrsdynamikVerkehrsinstabilität, siehe InstabilitätVerkehrslage-Rekonstruktion, 40Verkehrsleistung, 275Verkehrsmittelwahl, 197Verkehrsplanung, 3, 51Verkehrstelematik, 3, 264Verkehrswissenschaften, 2Verkehrszusammenbruch, 25, 88, 257Vielteilchensystem, 3Vorfahrt, 207

WWardrop-Formel, 19Wardrop-Gleichgewicht, 19Wechselverbot, 297Wechselwirkung, 2, 85, 111, 139, 156, 252,

261Wechselwirkungsanteil, 181Wellengleichung

nichtlineare, 75Wellenzahl, 227

Wiedemann-Modell, siehe ModellWiener-Prozess, 178Wunschabstand, 162, 211Wunschgeschwindigkeit, siehe Geschwindig-

keitWunschrichtung, 59

ZZeitlücke, 161, 296

Brutto-, 14, 268Netto-, 14, 30, 85, 239Verteilung, 30Wunsch-, 34

Zeitreihe, 8, 25Zellulärer Automat, siehe ModellZentraler Grenzwertsatz, 179Zielfunktion, 298Zielwahl, 197Zufallsbeschleunigung, 179, 183, 185, 199Zufluss, 64Zuflussregelung, 292