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8/6/2019 Ständchen für Herbert http://slidepdf.com/reader/full/staendchen-fuer-herbert 1/2 DerWesten - 18.01.2008 http://www.derwesten.de/nachrichten/nachrichten/kultur/musik-und-konzerte/2008/1/18/news- 17208490/detail.html Ständchen für Herbert Musik u. Konzerte, 18.01.2008, Von Wolfgang Platzeck Foto: dpa  Karajan wäre in diesem Jahr 100 geworden. Plattenindustrie und Buchverlage feiern den erfolgreichsten Orchesterleiter aller Zeiten. Der Dirigent förderte junge Talente wie Anne-Sophie Mutter oder Jewgeni Kissin Essen. Eine Szene wie aus Carol Reeds Filmklassiker "Der dritte Mann" oder aus einem Roman von Graham Greene: Wien, Januar 1946. Der erste Nachkriegswinter. Ein Mann stapft die Stufen eines zerbombten Hauses hinauf - in der Tasche eine Flasche Whisky vom Schwarzmarkt. Nach einer langen Odyssee nähert er sich seinem Zielobjekt. Die nächsten Stunden müssen die Entscheidung bringen. Der Mann heißt Walter Legge. Er kommt aus England. Legge ist Musikproduzent. Er will einen jungen Dirigenten treffen, dem seit einigen Jahren der Ruf eines Jahrhundert-Genies vorauseilt: Herbert von Karajan. Den Vertrag, den die beiden schließen, ist einer der folgenreichsten der Schallplattengeschichte. Von 1946 bis 1984 hält Karajan der Firma EMI die Treue. In dieser Zeit nimmt er über 1000 Stunden Klassik auf, die zum Besten gehören, was bis dahin auf diesem Gebiet produziert worden ist. Der Dirigent entwickelt sich zum erfolgreichsten Orchesterleiter aller Zeiten und begeistert als Mythos-Maestro ein Milliardenpublikum. Nicht nur wegen seiner visionären, unnachahmlichen Kunst der Orchesterführung, sondern auch, weil er wie kein anderer die Chancen und Möglichkeiten von Fonografie und Neuen Medien erkennt und nutzt. Dank seiner Geschäftstüchtigkeit und Cleverness wird der Maestro - der zeitweilig zugleich künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper, der Salzburger Osterfestspiele, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, des Philharmonia Orchestra London und Quasi-Chef der Wiener Philharmoniker ist - einer der mächtigsten Männer im internationalen Musikgeschäft. Im Jubiläumsjahr - der am 16. Juli 1989 gestorbene Karajan wäre am 5. April 2008 100 Jahre alt geworden -, in diesem Jubiläumsjahr, das nach dem Willen seiner Witwe Eliette eher ein "Festjahr" werden soll, wartet die Deutsche Grammophon mit bislang unveröffentlichten Entdeckungen oder technisch überarbeiteten Wiederveröffentlichungen auf. EMI Classics würdigt den gebürtigen Salzburger - der wegen seiner Nähe zum NS-Regime mit den Jahren immer heftiger angegriffen und auch mit wenig schmeichelhaften Prädikaten wie "Diktator am Dirigentenpult" oder "der letzte der germanischen Titanen" bedacht wurde - mit fünf Großprojekten; allen voran "The Complete EMI Recordings" in zwei Boxen mit insgesamt 158 CDs. Den Schwerpunkt des Festjahres bilden Konzerte und Opernaufführungen auf drei Kontinenten - von Österreich über Deutschland, England, Frankreich und die Schweiz bis in die USA und nach Japan. Und im Zentrum stehen meist die beiden wichtigsten Klangkörper im Leben des Kosmopoliten: die Berliner und die Wiener Philharmoniker. So geben die Berliner am 23. Januar in der Philharmonie zu Ehren ihres früheren Chefdirigenten auf Lebenszeit (wenige Monate vor seinem Tod löste dieser nach einem Streit den "Ehe-Vertrag" auf) ein Benefiz-Konzert zugunsten der von Karajan gegründeten Orchester-Akademie. Mit Seiji Ozawa am Pult und der Geigerin Anne-Sophie Mutter ehren dabei zwei "Schüler" ihren alten Meister, der immer um die Förderung von Talenten (die Klarinettistin Sabine Meyer, der Pianist Jewgeni Kissin) bemüht war. Page 1 of 2 Druckansicht 19-01-2008 http://www.derwesten.de/nachrichten/kultur/musik-und-konzerte/2008/1/18/news-17...

Ständchen für Herbert

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DerWesten - 18.01.2008

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Ständchen für Herbert

Musik u. Konzerte, 18.01.2008, Von Wolfgang Platzeck Foto: dpa

 

Karajan wäre in diesem Jahr 100 geworden. Plattenindustrie und Buchverlage feiern den

erfolgreichsten Orchesterleiter aller Zeiten. Der Dirigent förderte junge Talente wie

Anne-Sophie Mutter oder Jewgeni Kissin

Essen. Eine Szene wie aus Carol Reeds Filmklassiker "Der dritte Mann" oder aus einemRoman von Graham Greene: Wien, Januar 1946. Der erste Nachkriegswinter. Ein Mann stapftdie Stufen eines zerbombten Hauses hinauf - in der Tasche eine Flasche Whisky vomSchwarzmarkt. Nach einer langen Odyssee nähert er sich seinem Zielobjekt. Die nächstenStunden müssen die Entscheidung bringen. Der Mann heißt Walter Legge. Er kommt ausEngland. Legge ist Musikproduzent. Er will einen jungen Dirigenten treffen, dem seit einigenJahren der Ruf eines Jahrhundert-Genies vorauseilt: Herbert von Karajan.

Den Vertrag, den die beiden schließen, ist einer der folgenreichsten der Schallplattengeschichte. Von 1946 bis 1984 hält Karajan der Firma EMI die Treue. In dieser Zeit nimmt er über 1000 Stunden Klassik auf, die zum Besten gehören, was bis dahin auf diesem Gebiet produziert worden ist. Der Dirigent entwickelt sich zum erfolgreichstenOrchesterleiter aller Zeiten und begeistert als Mythos-Maestro ein Milliardenpublikum. Nichtnur wegen seiner visionären, unnachahmlichen Kunst der Orchesterführung, sondern auch,weil er wie kein anderer die Chancen und Möglichkeiten von Fonografie und Neuen Medienerkennt und nutzt.

Dank seiner Geschäftstüchtigkeit und Cleverness wird der Maestro - der zeitweilig zugleichkünstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper, der Salzburger Osterfestspiele, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, des Philharmonia Orchestra London und Quasi-Chef der Wiener Philharmoniker ist - einer der mächtigsten Männer im internationalen Musikgeschäft.

Im Jubiläumsjahr - der am 16. Juli 1989 gestorbene Karajan wäre am 5. April 2008 100 Jahrealt geworden -, in diesem Jubiläumsjahr, das nach dem Willen seiner Witwe Eliette eher ein"Festjahr" werden soll, wartet die Deutsche Grammophon mit bislang unveröffentlichtenEntdeckungen oder technisch überarbeiteten Wiederveröffentlichungen auf. EMI Classicswürdigt den gebürtigen Salzburger - der wegen seiner Nähe zum NS-Regime mit den Jahrenimmer heftiger angegriffen und auch mit wenig schmeichelhaften Prädikaten wie "Diktator amDirigentenpult" oder "der letzte der germanischen Titanen" bedacht wurde - mit fünf Großprojekten; allen voran "The Complete EMI Recordings" in zwei Boxen mit insgesamt 158CDs.

Den Schwerpunkt des Festjahres bilden Konzerte und Opernaufführungen auf drei Kontinenten- von Österreich über Deutschland, England, Frankreich und die Schweiz bis in die USA undnach Japan. Und im Zentrum stehen meist die beiden wichtigsten Klangkörper im Leben desKosmopoliten: die Berliner und die Wiener Philharmoniker.

So geben die Berliner am 23. Januar in der Philharmonie zu Ehren ihres früherenChefdirigenten auf Lebenszeit (wenige Monate vor seinem Tod löste dieser nach einem Streitden "Ehe-Vertrag" auf) ein Benefiz-Konzert zugunsten der von Karajan gegründetenOrchester-Akademie.

Mit Seiji Ozawa am Pult und der Geigerin Anne-Sophie Mutter ehren dabei zwei "Schüler"ihren alten Meister, der immer um die Förderung von Talenten (die Klarinettistin Sabine Meyer,der Pianist Jewgeni Kissin) bemüht war.

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Am Tag vor dem Festkonzert stellt Eliette von Karajan in Berlin ihre Erinnerungen "Mein Lebenan seiner Seite" (Ullstein) und die gleichnamige CD vor. Das Doppelalbum enthältEinspielungen, "die zu den schönsten ihres Mannes gehören und mit denen die engsteVertraute seines Lebens viele persönliche Erinnerungen verbindet", wirbt die DeutscheGrammophon.

Zu den neuen Büchern anlässlich des 100. gehören u. a. Pierre-Henri Verlhacs Bildband

"Herbert von Karajan - Bilder eines Lebens" des Henschel Verlages und der für April beiBöhlau angekündigte Bildband "Herbert von Karajan" des österreichischen Fotografen ErichLessing. Lessing hatte Karajan 1957 ein Jahr lang begleitet. Roswin Finkenzeller betrachtet imSocietätsverlag "Das Phänomen Karajan"; das "Divertimento" erscheint, wie Eleonore BüningsBetrachtung "Karajan, Dirigent. Ein Interpret wird besichtigt" (Insel TB) im Februar. Wenn danndas ZDF ein neues Karajan-Porträt zeigt, bei dem neben Eliette, den Kindern Isabel undArabel, Seiji Ozawa und Simon Rattle mit Altkanzler Helmut Schmidt auch ein musikferner Freund der Karajan-Familie zu Wort kommt, dann ist es erst April. Und das Karajan-Jahr dauert noch acht Monate.

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