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Stellungnahme der Herausgeber und Herausgeberinnen: Aktuelle Entwicklungen und Empfehlungen

Stellungnahme der Herausgeber und Herausgeberinnen ... · felt hatte, musste einsehen, dass das nicht reicht. Die Bundesre-gierung räumte ein, dass die Gemeinschaftswährung nicht

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Stellungnahme der Herausgeber undHerausgeberinnen:

Aktuelle Entwicklungen undEmpfehlungen

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STELLUNGNAHME

1. Der revolutionäre Aufbruch in derarabischen Welt

Eine historische Zäsur

Wer vor einem halben Jahr revolutionäre Aufbrüche in der arabi-schen Welt vorausgesagt hätte, wäre belächelt worden. Im Rück-blick scheint es, als sei die Zeit reif gewesen. Sprengstoff hattesich zur Genüge angesammelt: Repressive Autokraten, seit Jahr-zehnten an der Macht, waren weder fähig noch willens, ihre Län-der zu modernisieren. Eine junge Bevölkerung hatte Zugang zuInformationen, dass ein anderes Leben möglich ist, blieb abertrotz Ausbildung ohne Zukunftschancen. Nun forderten Hundert-tausende wochenlang lautstark, was der berühmte Platz in Kairo Ziel:

Befreiungverheißt: Befreiung.Das Fanal setzte die Selbstverbrennung des jungen Hoch-

schulabsolventen Mohamed Bouazizi aus Sidi Bouzid in Tunesi-en. Sie löste die Massenproteste aus, die den verhassten Macht-haber Ben Ali schließlich in die Flucht trieben. Das beflügel-te regimekritische Bewegungen, die bis heute nicht abbrechen,von Marokko bis Bahrein und Syrien. Sie könnten sogar denNahost-Friedensprozess neu beleben, nachdem Fatah und Hamasdie Forderung der Palästinenser nach Überwindung der Spaltungnicht länger ignorieren wollen.

In Tunesien und Ägypten ließ das Militär die Demonstrantengewähren und trug so dazu bei, dass die Machthaber an der Spit-ze aufgaben. In Tunesien besteht die Chance für eine neue politi-sche Ordnung mit mehr Partizipation und individuellen Freihei-ten. Dass der Hohe Rat der Streitkräfte in Ägypten der revolutio-nären Bewegung nachgab und Mubarak vor Gericht stellte, lässthoffen, dass er die Öffnung des Landes zu Meinungsfreiheit undRechtsstaatlichkeit freigibt.

In Syrien und Saudi-Arabien aber erzeugte der Druck derStraße Gegendruck, beide verstärkten die Repression. In Bahreineilte Saudi-Arabien dem Regime mit Soldaten zu Hilfe. Paralleldazu versuchen die verschreckten Potentaten, mit der Ankündi-gung sozialer Leistungen, finanzieller Wohltaten und politischer Druck und

Gegen-druck

Reformen den Protesten die Spitze zu nehmen. Doch konnten siebisher die aufbegehrenden Menschen nicht ruhigstellen. Noch

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

ist das Ende der arabischen Autokratien ungewiss: Entmachtetsind weder die Sicherheitsapparate noch die alten Eliten. Den-noch bilden die revolutionären Aufbrüche eine Zäsur. „Ein sol-ches Phänomen in der Menschengeschichte vergisst sich nichtmehr“, schrieb Immanuel Kant nach der Französischen Revolu-tion, und selbst bei Rückschlägen werde die Erinnerung daran„zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt“.

Faszination und Breitenwirkung der Freiheitsbewegungen inMacht desVolkes Tunesien und Ägypten gründen darin, dass sie die reale Macht

des Volkes erfahrbar machten. Es gelang ihnen, übermächtigscheinende Autokraten aus dem Amt zu jagen. Diese Erfahrungvermittelte sich – auch dank der neuen Medien – weit über Nord-afrika hinaus.

Viele von uns hatten den Arabern nicht zugetraut, die Mau-ern der Angst niederzureißen. Doch die revolutionären Massenstrafen die Mär vom Islamismus als der einzig relevanten Op-position in den arabischen Ländern ebenso Lügen wie die Be-hauptung, der Islam vertrage sich nicht mit individuellen Frei-heitsrechten. Sie zwingen Staaten wie gesellschaftliche Akteureim Westen, ihre Politik gegenüber den arabischen Gesellschaf-ten von Grund auf neu zu bestimmen. Stabilität ist à la longuenicht durch Kumpanei mit repressiven Autokraten zu erreichen.Wir ent-

scheidenmit

Gewiss birgt jede Revolution die Gefahr, ihre Kinder zu fressen;doch wir sind mehr als Beobachter, wir entscheiden mit unsererPolitik mit darüber, ob es dazu kommt oder nicht. Die Angst vorDestabilisierung und Flüchtlingsströmen ist kein kluger Ratge-ber. Die hoffnungsvollen Aufbruchsbewegungen verdienen jedeUnterstützung.

Die Intervention in Libyen

In Libyen mündete der friedliche Protest in einen blutigen Bür-gerkrieg, sein Ausgang ist ungewiss. Militärisch den Bewaff-neten Gaddafis dramatisch unterlegen, riefen die Rebellen dieUNO zu Hilfe. Weil der libysche Staat seine Bevölkerung nichtZivilbevöl-

kerungschützen

schützte, sondern mit Militärgewalt gegen sie vorging, ermäch-tigte der UN-Sicherheitsrat unter Berufung auf Kapitel VII derUN-Charta mit der Resolution 1973 vom 17. März 2011 die Mit-glieder der Weltorganisation, „alle notwendigen Maßnahmen“zu ergreifen, um die Zivilbevölkerung zu schützen, „unter Aus-

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schluss ausländischer Besatzungstruppen jeder Art“. Es gab kei-ne Gegenstimme; allerdings enthielten sich Russland, China, In-dien, Brasilien – und die Bundesrepublik. Zwei Tage später be-gann eine „Koalition der Willigen“, angeführt von Frankreich,Großbritannien und den USA, Stellungen der libyschen Armeezu bombardieren. Am 31. März übernahm die NATO die Füh-rung. Schon zuvor hatte der UN-Sicherheitsrat ein Waffenem-bargo gegen Libyen verhängt und dazu aufgefordert, Vermögens-werte von Muammar al-Gaddafi und seiner Familie einzufrieren;zudem hatte er dem Internationalen Strafgerichtshof aufgetragen,wegen des Verdachts von Verbrechen gegen die Menschlichkeitzu ermitteln.

Ziel der Intervention war es, Massaker durch Gaddafis bru-tal vorgehende Sicherheitskräfte und Söldner zu verhindern. Dasist mit dem Schutz der Stadt Benghasi auch gelungen. Dochwirft der nur schwer überschaubare Fortgang der Kämpfe kom-plizierte Fragen auf. Der angestrebte Regimewechsel überdehntdas Prinzip des Schutzes der Zivilbevölkerung. Was passiert,wenn eine unkalkulierbare Eskalation ihn nicht mehr gewähr-leisten kann? Wir warnen vor den Risiken einer Entgrenzung desKrieges. Die Resolution verbietet Besatzungstruppen, aber wann Keine

Besatzungs-truppen

werden andere Interventionskräfte, etwa Bodentruppen, zu Be-satzungstruppen? Solche besorgten Fragen stellen auch die an-sonsten kompromisslos auf die NATO-Unterstützung setzendenlibyschen Rebellen; Vertreter des Nationalen Übergangsrats ausBenghasi warnten bei einem Besuch in Dublin Mitte April dieEU davor, humanitäre Hilfe mit Bodentruppen abzusichern. Daskönnte die Opposition spalten, die arabische Unterstützung ge-fährden und so Gaddafi in die Hände spielen. Eine militärischeAbsicherung von Hilfsmaßnahmen bedürfte zudem einer Anfra-ge durch das UN-Koordinationsbüro für Humanitäre Angelegen-heiten (OCHA).

Die Militärintervention zeigt von Woche zu Woche deutli-cher, dass sich das Ziel der UN-Resolution und die Absicht derInterventen, das Regime zu stürzen, schwer in Einklang bringenlassen. Resolution 1973 verlangt eine sofortige Waffenruhe. Dasist ernst zu nehmen und die Konfliktparteien müssen dazu be-wegt werden, darüber Verhandlungen aufzunehmen, und zwar,

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da der Schutz der Zivilbevölkerung Vorrang hat, ohne politischeVorbedingungen.

Mitverantwortung Europas

In erster Linie sind die autokratischen Herrscher und ihre Si-VerfehlteMittelmeer-politik

cherheitsapparate für Unterdrückung, Rechtlosigkeit, Kleptokra-tie sowie gesellschaftliche und politische Stagnation in den ara-bischen Ländern verantwortlich. Doch haben sowohl die inter-nationalen Wirtschafts- und Finanzorganisationen als auch dieeuropäischen Staaten Anteil an der Misere: Der InternationaleWährungsfonds und die Weltbank erzwangen neoliberal inspi-rierte Wirtschaftsreformen, die traditionelle Subsistenzwirtschaftim Agrarsektor, Kleinhandel und Handwerk zerstörten und Ar-beitsplätze vernichteten. Dasselbe bewirkten die Agrar- und Fi-schereipolitik der EU sowie die Export- und Investitionspraxiseuropäischer Unternehmen, in den arabischen Ländern eine klei-ne Wirtschaftselite zu stützen, die sich keinen Deut um die ver-breitete Armut kümmerte. Die ausgrenzende Migrationspolitikder EU-Staaten verbaut jungen Menschen, die in der Heimatkeine Zukunftschancen sehen, eine Lebensperspektive. Die EU-Staaten haben sich mit politischen Tauschgeschäften, bei denenAutokraten und Diktatoren Erdöl und Erdgas liefern, FlüchtlingeEuropäi-

scheKomplizen

abfangen und dafür günstige Kredite sowie Waffen erhalten, zuKomplizen repressiver Regime gemacht. Es gibt mithin auch mo-ralische Gründe für eine Kehrtwende. Sie gebietet eine neue, amWohl der Menschen orientierte Mittelmeerpolitik sowie eine derMenschenrechtscharta verpflichtete Asyl- und Einwanderungs-politik.

2. Europa in der Krise

Die Krise des Euro ist weit mehr als eine Währungsfrage. MitEuro-Krisedem Zusammenbruch der Lehman Brothers Holdings Inc. stürz-te im September 2008 ein entfesselter Finanzmarktkapitalismusdie Weltwirtschaft in eine schwere Krise: Plötzlich waren Ban-ken auf massive staatliche Unterstützung angewiesen. Das Ver-trauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes war ebenso er-schüttert wie der Ruf der Finanzbranche. Dass der Steuerzahler

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zuvor gut verdienende Banken vor dem Bankrott retten musste,beschädigte die Legitimation unseres Gesellschaftssystems. Inseine Schranken verwiesen wurde der hochspekulative Finanz-sektor aber nicht. Fast alle Bemühungen, seine Deregulierung zukorrigieren, scheiterten.

Krise des Euro stärkt Desintegrationstendenzen

In Europa zeigt die Währungs- und Wirtschaftsunion tiefe Ris-se. Griechenland, Irland und Portugal mussten mithilfe eines 750Mrd. Euro starken Rettungsschirms vor dem Staatsbankrott ge-rettet werden. Der nach viel zu langem Zögern geschaffene Not- Zu langes

Zögernfallfonds aus Garantien und Bürgschaften ist bis 2013 begrenztund verpflichtet die „Nehmerländer“ zu drakonischem Sozialab-bau, Kürzungen im öffentlichen Dienst und bei staatlichen Inves-titionen. Die EU nimmt damit eine Rezession in den notleiden-den Mitgliedsländern in Kauf.

Die Lasten der Finanzkrise haben nicht ihre Verursacher,Banken und Kreditgeber, zu tragen, sondern die Bevölkerun-gen; Ohnmachtsgefühle und Entsolidarisierung fördern Skepsisund Ablehnung der europäischen Integration. Nationale Egois-men nehmen Überhand und begünstigen Populisten; augenfäl- Nationale

EgoismenverhindernLösung

lig ist der europaweite Aufschwung der Rechtsextremen. Stattalle Energie auf die Vollendung der Währungsunion durch ei-ne koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik zu richten, lassendie europäischen Staatschefs zu, dass nationalstaatliche Interes-sen eine ernsthafte Diskussion über kreative Rettungsinstrumen-te verhindern, etwa effektive Finanzmarktregulierung, das Verbotbestimmter Finanzmarktprodukte, eine Transaktionssteuer oderEurobonds. Mit gemeinsamen Anleihen und gemeinsamer Haf-tung könnten die finanzschwachen Staaten wieder zu erträgli-chen Konditionen Zugang zum Kapitalmarkt erhalten und fürihre langwierige Gesundung Atem schöpfen, ohne den sozialenFrieden vollends aufs Spiel zu setzen.

Die in der Euro-Krise wiedergekehrten nationalen Ressen- Ausstiegs-phantasientiments und Ausstiegsphantasien verführten dazu, auf das Aus-

einanderbrechen der gemeinsamen Währung zu spekulieren. Po-litisch steht aber mehr auf dem Spiel: Ein Scheitern des Eurokönnte die Europäische Union in ihrer Existenz gefährden; ihre

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

Rückabwicklung zu einer Freihandelszone wäre mit unabsehba-ren Risiken verknüpft.

Der Geburtsfehler des Euro gründete in dem Ehrgeiz, einegemeinsame Währung ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitikzu schaffen – ein folgenschweres Versäumnis des MaastrichterVertrags. Man ging davon aus, dass alle Mitglieder die rote Liniedes Stabilitätspakts einhalten würden, der Defizit und Staatsver-schuldung begrenzen sollte. Einen wirksamen Mechanismus, dasdurchzusetzen, schuf man nicht. So geriet die Gemeinschafts-währung in Widerstreit mit nationalen Haushalts-, Finanz- undSozialpolitiken und höchst unterschiedlicher Wettbewerbsfähig-keit.

Ein Scheitern des Euro würde Ansätze zu einer europäischenEU inGefahr Sozial- und Beschäftigungspolitik untergraben, zöge die Wieder-

einführung schwankender Wechselkurse und eine Rückkehr zuProtektionismus nach sich und würde nationale Gegensätze undZentrifugalkräfte verstärken. Eine allgemeine Entsolidarisierungwürde das Ringen um Einflusssphären wiederbeleben und dieohnehin noch rudimentäre gemeinsame Außenpolitik endgültigbegraben. Wir appellieren deshalb an Parteien, aber auch an ge-sellschaftliche Kräfte, Gewerkschaften und Wissenschaftler, dasEngagement für die Integration wieder zu verstärken. Deutsch-land soll, heißt es nicht ohne Grund an prominenter Stelle imGrundgesetz, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Eu-ropa dem Frieden in der Welt dienen.

Abkehr vom bewährten Multilateralismus

Monatelang agierten Bundesregierung und Parteien ohne europa-RegierungohneEuropa-Perspektive

politische Perspektive, obwohl Deutschland und seine Exportin-dustrie – die zu fast zwei Dritteln EU-Länder beliefert – massivvon Euro und Integration profitieren. Die Kehrseite der Über-schuldung und Leistungsbilanzdefizite einiger südlicher Euro-Länder sind die eigenen Export- und Leistungsbilanzüberschüs-se. In der Bundesregierung traute sich so gut wie niemand,das auch deutlich zu sagen. Mit Blick auf die nächsten Land-tagswahlen suchte sie der Öffentlichkeit weiszumachen, es rei-Wählerfangche aus, den hochverschuldeten Ländern der Euro-Zone Wasserstatt Wein zu predigen und Deutschland als Vorbild zu empfeh-len. Kredithilfen stilisierte man zum nationalen Opfer der Deut-

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schen. Der probate europäische Multilateralismus war nationalerSelbstbezogenheit und Selbsttäuschung gewichen.

Späte Wende: europäische Solidarität gegen Solidität

Erst Ende 2010 kam die Wende. Wer sich lange an die No-bail-out-Klausel geklammert und jegliche „Transferunion“ verteu-felt hatte, musste einsehen, dass das nicht reicht. Die Bundesre-gierung räumte ein, dass die Gemeinschaftswährung nicht ohneEingriffe in Souveränitätsrechte zu stabilisieren ist. Berlin undParis schlugen einen „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ vor, derdann zum „Pakt für den Euro“ mutierte. Nun erheischt die ge- „Pakt für

Euro“meinsame Währung europäisches Handeln in barer Münze: Dieeinen haften für die anderen mit, denen man dafür eine rigoroseHaushalts- und Sozialpolitik abverlangt. Contre coeur verpflich-teten sich die einen zur europäischen Solidarität, die anderen zurSolidität.

Das ist weniger als eine gemeinsame Wirtschaftsregierung,läutet aber das Ende jener souveränen Finanz- und Haushaltspo-litik ein, die gerade die Bundesregierung zuvor hartnäckig vertei-digt hatte. Doch wie sollen Ländern, die kaum den Staatsbankrottabwenden konnten, in nur zwei Jahren die ihnen abverlangtendrastischen Reformen gelingen? Auch nach dem EU-Gipfel vomMärz 2011 fehlen effektive Mechanismen der Bankenkontrol-le, Frühwarnsysteme und eine staatliche Investitions-, Zins- undSteuerpolitik, um die Sparzwänge der Schwächeren wirkungs-voll auszubalancieren. Die europäischen Regierungen müssendas notwendige Gleichgewicht zwischen reicheren und ärmeren Integration

nützt allenLändern offensiv als gemeinsames Interesse begründen und umpolitische Unterstützung dafür werben. Solidarität ist nicht nureine Last: Die europäische Integration kommt allen zugute.

Der Integrationsschub verlangt mehr Demokratie

Der „Pakt für den Euro“ stellt insofern einen von den Finanz-märkten erzwungenen Integrationsschub dar, als künftig staatli-che Haushalts-, Finanz- und Sozialpolitiken europäischer Steue-rung unterliegen. Allerdings wird diese als „offene Koordinie-rung“ vom Europäischen Rat, sprich: von den Staats- und Re-gierungschefs, vorgenommen. Eine derart weitreichende Neue-

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

rung zu beschließen, ohne das vorgesehene Prozedere der dop-pelten Legitimation indirekt durch den Rat und direkt durch dasEuropäische Parlament einzuhalten, verschärft das Demokratie-defizit in der EU. Dass den nationalen Parlamenten kein Hand-Demokra-

tiedefizitverschärft

lungsspielraum gegenüber andernorts gefassten Entscheidungenbleibt, „muss jede demokratische Glaubwürdigkeit zerfressen“(Jürgen Habermas) und ohnehin vorhandene Vorbehalte gegendie Brüsseler „Bürokratie“ stärken.

Während man in Brüssel an jeder Ecke Lobbyisten aus 27Mitgliedstaaten begegnet, sind umgekehrt auf der Ebene derNationalstaaten pro-europäische Einrichtungen, Assoziationenund Pressure Groups schwach. Interessenverbände, Parteien,Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Umwelt-, Frauen- und Frie-Europäi-

schenWillenstärken

densgruppen sollten dem europapolitischen Versagen der Regie-renden mit eigenen Initiativen begegnen, um den gemeinsameneuropäischen Willen wieder zu stärken.

Das alte Elitenprojekt der EU ist gescheitert. Damit die Bür-gerinnen und Bürger die EU nicht länger als einen lästigenoder gar bedrohlichen Moloch wahrnehmen, müssen sich künf-tige Europawahlen mit den Themen befassen, die tatsächlichgemeinsam zur Entscheidung anstehen: Arbeitsmarkt-, Sozial-,Gesundheits- und Rentenpolitik, Energiewende, Zuwanderungund internationale Zusammenarbeit.

Das Friedensprojekt Europa braucht einen glaubwürdigenneuen Einsatz

Berlin scheint einen Grundsatz bundesdeutscher Außenpolitikvergessen zu haben, der zuvor parteienübergreifend galt: dasnach 1945 aus Verantwortung für die Vergangenheit begründe-te Engagement für die europäische Integration. Es bildete jahr-zehntelang eine unverrückbare Leitplanke – von den KanzlernKonrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und HelmutKohl bis hin zu Gerhard Schröders Außenminister Joschka Fi-scher. Deutsche Europapolitik muss für die Nachbarn verlässlichDeutsch-

landsVerantwor-tung

sein, das war die Lehre aus der historischen Katastrophe, in diedeutsches Großmachtstreben im 20. Jahrhundert geführt hatte.Wir erwarten von Parteien und Regierung, populistischen Versu-chungen zu widerstehen und das europäische Projekt in der Öf-

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fentlichkeit offensiv zu vertreten. Deutschland muss zur Schritt-macherrolle für ein geeintes Europa zurückfinden.

Die europäischen Einwanderungsgesellschaften

Parallel zur Euro-Krise schwappte eine Welle von Fremdenfeind-lichkeit durch Europa. In vielen europäischen Gesellschaften er-zielten rassistisch, oft anti-muslimisch argumentierende Populis-ten Wahlerfolge mit der Stigmatisierung von Einwanderern. InDeutschland erklärte Thilo Sarrazin mit seinem Verschnitt ausbiologistischen und kulturalistischen Behauptungen den Islamzum Integrationshindernis schlechthin; das diskriminierende Eti-kett „bildungsunwillige und gewaltbereite junge Türken“ bliebmit seiner giftigen Wirkung haften. Die pseudo-wissenschaftlichverbrämten Ressentiments vereisen das soziale Klima und lassengesellschaftliche Normen wie Toleranz, Gerechtigkeit und Soli-darität erodieren. Während Brüssel kluge Papiere über die Not-wendigkeit von Einwanderung verabschiedet und der Lissabon-Vertrag die Vergemeinschaftung der Migration vollendete, hin-ken die europäischen Staaten mit deren kreativer Umsetzung hin-terher.

Für viele EU-Staaten ist Einwanderung nicht zuletzt eine Einwande-rungerforderlich

wirtschaftliche Notwendigkeit gegen die Überalterung ihrer Ge-sellschaften. Doch die Realität, dass Deutschland seit 2006 ei-ne negative Wanderungsbilanz vor allem qualifizierter Menschen(brain drain) aufweist und seit 1994 über eine halbe Million Bür-ger und Bürgerinnen mehr aus- als eingewandert sind, ist weit-hin unbekannt. Der vielfach reibungslose Alltag in den Einwan-derungsgesellschaften macht ebenfalls keine Schlagzeilen; statt-dessen dominiert das Bild eines vermeintlichen Ansturms von„Fremden“. Wenn der neue Bundesinnenminister als erste Amts-handlung dem Bundespräsidenten mit der Bemerkung wider-spricht, der Islam sei kein Bestandteil Deutschlands, und wennRegierungschefs in Berlin, Paris und London gleichzeitig kund-tun, „Multikulti“ sei gescheitert, fragen wir uns, wie es um ih- Multikulti

ist Realitätren Kontakt zur Wirklichkeit bestellt ist. Der Islam ist ein TeilDeutschlands, „Multikulti“ ist gesellschaftliche Realität. GanzeWirtschaftszweige brächen ohne die Leistungen von Immigran-ten zusammen, ganz davon abgesehen, dass ohne sie Kultur, Ga-stronomie, Sport und Unterhaltung ärmer wären.

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

Zur europäischen Identität gehören nationale und gesell-Diversitätist Gewinn schaftliche Vielfalt. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass kul-

turelle Diversität und Recht auf Differenz als Normalität, jaGewinn gelten. Wir schlagen vor, eine Brain-gain-für-alle-Strategie, die sowohl Benachteiligte mit und ohne Migrations-hintergrund fördert als auch Immigranten mit qualifizierten Ab-schlüssen Arbeitsmarktchancen bei uns und in ihrer Heimat er-öffnet, politisch offensiv zu begründen und mit geeigneten In-strumenten voranzutreiben. Bildungs- und Ausbildungspolitiksind hierfür die zentralen Adressaten. Dazu gehören die verstärk-brain gain

für alle te Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund im Bil-dungssystem, angefangen mit dem energischen Ausbau von Ki-tas und der Weiterqualifizierung sowie besseren Bezahlung vonErzieherinnen und Erziehern, und eine vereinfachte Anerken-nung von im Ausland erworbenen Studien- und Berufsabschlüs-sen. Neue Anwerbestrategien und Bemühungen, ausländischeStudienabsolventen zum Bleiben zu veranlassen, sind mit ent-wicklungspolitischen Impulsen zu verbinden, um die beruflichenChancen in den Herkunftsländern nachhaltig zu verbessern. Wirfordern eine Reform des Einbürgerungsrechts bzw. der Gewäh-rung von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen. Gegen aus-Aufklärung

gegenPopulismus

länderfeindlichen Populismus und Wählerfang am rechten Randbrauchen wir entschieden mehr aufklärerische Stimmen aus Zi-vilgesellschaft, Wirtschaft, Kirchen, Gewerkschaften und Regie-rung, aber auch eine entschlossene Politik zur Umsetzung der inder EU gemeinsam beschlossenen Ziele.

EU-Dissonanzen vis-à-vis Libyen

In der Kakophonie der EU-Staaten angesichts der libyschen Kri-NationaleAlleingänge se wurden die Defizite europäischer Außenpolitik überdeutlich.

Innenpolitische Parameter bestimmten das außenpolitische Han-deln der EU-Staaten, noch immer dominieren nationale Allein-gänge. Renationalisierung und Populismus, die schon die Euro-Krise prägten, setzen sich fort: Nicolas Sarkozy träumt von neuerGrandeur, Angela Merkel und Guido Westerwelle bedienen dieAbneigung der meisten Deutschen gegen Militäreinsätze.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich im UN-Sicher-DeutscheEnthaltung heitsrat bei der Abstimmung über die Resolution 1973 enthal-

ten. Wir kritisieren das Verhalten der Regierung als schweren au-

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ßenpolitischen Fehler, begründen dies aber unterschiedlich: Dieeinen monieren, dass Berlin damit die UNO nicht gestärkt hatund namentlich dem Schutz der Zivilbevölkerung nicht das ge-bührende Gewicht beimaß; außerdem stellte sich Deutschlandgegen seine Verbündeten im Westen und nährte den Irrglauben,es könne jenseits der europäischen eine nationale Außen- undSicherheitspolitik verfolgen. So stärkt man weder europäischeGeschlossenheit noch kollektive Sicherheit, was den Eindruckunterstreicht, deutsche Außenpolitik sei derzeit beratungsresis-tent und breche mit jahrzehntelangen Kontinuitäten. Andere vonuns teilen die Warnung, die Libyen-Intervention könnte auf die„schiefe Ebene“ geraten, eine unkalkulierbare militärische Eska-lation nach sich ziehen und den Schutz von Zivilisten, das Haupt-ziel der Intervention, verfehlen. So gesehen erscheint wenigerdie Enthaltung Deutschlands als Fehler, als vielmehr das Fehlenjeder proaktiven Diplomatie, sei es für einen raschen Waffen-stillstand in Libyen oder sei es für das hohe Ziel europäischerGeschlossenheit.

So macht man keine friedensgerichtete Außenpolitik. Wirteilen nicht die Befürchtung, dass Deutschland durch militäri-sche Zurückhaltung, für die es durchaus gute Gründe hat, an Gute

Gründe fürmilitärischeZurückhal-tung

„politischer Größe“ oder Einfluss einbüßt. Es sollte nicht ver-suchen, Frankreich und Großbritannien nachzueifern. Deutsch-land kann und soll sich durch aktive Diplomatie, wirtschaftlicheKooperationsanreize und militärische Zurückhaltung hervortun,zu der auch die strikte Einhaltung des rechtsverbindlichen, aberleider nur zu oft unterlaufenen Verbots gehört, Waffen in Span-nungsgebiete zu exportieren oder an Staaten zu liefern, die Men-schenrechte verletzen.

Diplomatischer Dilettantismus

Brüssel zeigte sich im Falle Libyens unfähig, an den diplomati-schen Erfolg von 2003/04 anzuknüpfen, der zu einer Reintegrati-on des teilgeläuterten Despoten Gaddafi – Ausscheiden aus demTerrorgeschäft und Verzicht auf Atomwaffen – in die Staatenge-meinschaft geführt hatte. Die Vermittlungsinitiativen der Türkeietwa hätten mehr Unterstützung verdient. Das von der HohenVertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Cather-ine Ashton, mit Libyen im Oktober 2010 eingefädelte Kooperati-

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

onsabkommen über 50 Mio. Euro, mit dem sich die EU von Gad-dafi den Grenzschutz und das „Management“ von Migrations-strömen organisieren lassen wollte, ist kaum weniger skandalösKumpanei

mitDespoten

als das Angebot der inzwischen zurückgetretenen französischenAußenministerin Michèle Alliot-Marie, dem tunesischen Dikta-tor mit Know-how französischer Sicherheitskräfte gegen die Pro-testierenden zu Hilfe zu eilen. Das Abkommen spricht Bändeüber die falschen Prioritäten der europäischen Mittelmeerpolitik.

Während die UNO in Libyen auf die militärische Karte setz-te, herrscht nun in allen westlichen Hauptstädten Ratlosigkeit,wie der Gewalteskalation in Syrien zu begegnen ist. Die von derEU verhängten Sanktionen sind ein richtiger Schritt. Deutsch-land könnte und sollte seine guten Kontakte zu Damaskus, des-sen Wirtschafts- und Verwaltungsreformen es unterstützte, nut-zen, um das Regime davon abzubringen, auf friedliche Demons-tranten zu schießen. Es wäre klug, dafür die Türkei als Partnerzu gewinnen. Echte Reformbereitschaft ist vom syrischen Re-gime und seinem Repressionsapparat, dessen Stärke sich auchdem eingefrorenen Nahost-Konflikt verdankt, kaum zu erwarten.Aber eine Deeskalation wäre bereits ein Erfolg.

Für eine neue Mittelmeerpolitik

„Die EU macht Sicherheitspolitik und betrachtet das MeerLampedusa:SkandalundSchande

als Verbündeten. Das Meer ist das „ex“ der Grenzschutzagen-tur FRONTEX . . . “ Heribert Prantls sarkastischer Kommentarbrachte es auf den Punkt: Der in Lissabon beschworene europäi-sche „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ schließtdie Menschen draußen aus – der European Dream ist nicht füralle da. Das auf Abschottung ausgerichtete Grenzschutzsystembricht zusammen, wenn die Vertragspartner auf der anderen Sei-te des Mittelmeers nicht mehr zur Zusammenarbeit bereit oder inder Lage sind. Der Jubel Europas über das Freiheitsstreben undden Mut der Aufständischen kontrastiert auf beschämende Wei-se mit der Panikmache, die 26.000 Flüchtlinge – einer auf 20.000EU-Bürger! – auf Lampedusa auslösten. Allein Tunesien nahm160.000 Flüchtlinge aus Libyen auf.

Bisher bleiben die Frontex-Praktiken weitgehend unkontrol-liert. Wir fordern, die Grenzschutzbehörde, die mit einem Budgetvon 88 Millionen Euro und 265 Mitarbeitern in allen EU-Staaten

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STELLUNGNAHME

vertreten ist, endlich unter die Kontrolle des Europäischen Par-laments zu stellen. Ihm räumt der Vertrag von Lissabon mehrMitspracherecht ein; das gilt es jetzt im Interesse der Flücht- Frontex

kontrollie-ren

linge zu nutzen. Die Abgeordneten müssen Einblick in die Ar-beit der Grenzschutzagentur bekommen. Gleichzeitig ist die EU-Migrationspolitik im Konsens mit den künftigen nordafrikani-schen Regierungen neu zu gestalten. Jedem Asylsuchenden stehtdie ernsthafte Prüfung seines Antrags zu. Die Praxis, Schutzsu-chende mithilfe bilateraler Abkommen in ihre Heimatländer ab-zuschieben, unterläuft die EU-Grundrechte- und die Menschen-rechtscharta.

Wenn Silvio Berlusconi sich dazu versteigt, Flüchtlinge mit RevisionvonSchengenverhindern

Tsunamis zu vergleichen oder Nicolas Sarkozy zu ihrer Ab-wehr das Schengen-Abkommen außer Kraft setzen will, ist drin-gend die Rückkehr zu Vernunft und Humanität geboten: Visa-Erleichterungen und eine Umverteilung von Einwanderung in-nerhalb der EU, wie es die Rats-Verordnung von 2001 für Notsi-tuationen vorsieht. Wir appellieren an den deutschen Innenmi-nister, dies in Brüssel zu vertreten und sich der Revision vonSchengen zu widersetzen. Politische Moral endet weder an dennationalen noch an den europäischen Außengrenzen.

Solidarität der Tat

Nicht Abschottung, sondern Solidarität ist das Gebot der Stunde. ArabischeGesellschaf-ten unter-stützen

Der angekündigten Unterstützung für die arabischen Freiheits-bewegungen müssen rasch Taten folgen. Europa kann den ara-bischen Gesellschaften eigene Transitionserfahrungen zur Verfü-gung stellen: Beratung bei der Ausarbeitung neuer Verfassungen,der Gestaltung staatlicher Schlüsselinstitutionen und bei der Re-form des Sicherheitssektors, gezielte Unterstützung im Bereichökonomischer Infrastruktur und beim Aufbau freier Gewerk-schaften, bei der Reform des Bildungswesens, von der Alpha-betisierung bis zur Errichtung freier Universitäten, und bei derFrauenförderung. Mit seinen politischen Stiftungen und zahlrei-chen Nichtregierungsorganisationen verfügen Deutschland undandere europäische Staaten über probate Instrumente und erfah-rene Leute in den betroffenen Ländern.

Es gilt, mit verzerrten Bedrohungsszenarien aufzuräumen.Die jahrelange Fixierung auf den transnationalen Terrorismus

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

bewirkte, dass man auf die prekäre Stabilität bestehender Au-tokratien setzte. Doch gerade deren brutale Unterdrückung al-ler Emanzipationsbestrebungen bildete für militant-islamistischeTendenzen und Terrororganisationen wie al-Qaida den idealenNährboden. Die arabischen Umbrüche können neue internatio-nale Wirtschaftsbeziehungen einläuten und sind eine Chance fürWirt-

schaftsbe-ziehungenneugestalten

gemeinsame Entwicklung menschlicher Sicherheit. So sind dieeuropäischen Rohstoffstrategien so anzupassen, dass Stabilitätund Entwicklung in den Staaten gestärkt werden, die extremabhängig von Rohstoffexporten sind, statt eigene wirtschaftli-che Interessen über alles zu stellen. Die EU sollte eine Vor-reiterrolle bei der Einführung und Einhaltung von Unterneh-mensstandards anstreben, die den Rohstoffexportländern und ih-ren Bevölkerungen zugute kommen. Auch sind endlich die EU-Agrarsubventionen zurückzufahren: Die EU muss ihre Agrar-märkte öffnen, damit in den südlichen Mittelmeeranrainerstaatendringend erforderliche Arbeitsplätze entstehen. Wir wiederholenzudem die alte Forderung: Keine Waffenlieferungen an autokra-tische Regime!

Krisenmanagement à la GSVP: Kein Mangel anStrukturen, aber an gemeinsamer Politik

Der Versuch der EU, mit ihrer Gemeinsamen Außen-, Sicher-heits- und Verteidigungspolitik (GASP/GSVP) Instrumente fürziviles und militärisches Krisenmanagement zu schaffen, hat seit1999 Konturen gewonnen. Das Labyrinth von Strukturen, Stäbenund Zellen wurde im Dezember 2010 im Europäischen Auswär-tigen Dienst (EAD) gebündelt. Hat diese Entwicklung die EUauch als „Friedensmacht“ profiliert? Unsere Bilanz fällt gemischtEU als Frie-

densmacht? aus.Im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidi-

gungspolitik (ESVP), im letzten Jahr in die GSVP überführt, en-gagierte sich die EU seit 2003 in 24 Zivil-, Polizei- und Militär-missionen: auf dem Balkan, im südlichen Kaukasus, im Nahenund Mittleren Osten, in Afrika und Asien. Die meisten Einsätzedienten der Polizeiausbildung, der Reform des Sicherheitssek-tors und der Justiz. Hinzu kam die Überwachung von Grenzenund Waffenstillständen. Originär militärische Aufgaben nahmen

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STELLUNGNAHME

Missionen in der DR Kongo, im Tschad, am Horn von Afrika so-wie in Bosnien-Herzegowina wahr; am umfangreichsten war dieOperation EUFOR Althea in Bosnien mit zeitweise bis zu 7.000Einsatzkräften.

Die EU hat sich mit ihren Missionen als ernstzunehmen- Missionenevaluierender sicherheitspolitischer Akteur etabliert. Einsätze auf dem

westlichen Balkan, aber auch die Aceh Monitoring Mission(2005/2006) sowie die Präsenz in Georgien nach dem Krieg von2008 haben zu Stabilisierung und Vertrauensbildung beigetra-gen. Im Kosovo vermochten die EU-Missionen zur Förderungvon Rechtstaatlichkeit gegen die verbreitete organisierte Krimi-nalität jedoch wenig auszurichten.

Leider finden diese Aktivitäten weniger politische Aufmerk-samkeit als Militäroperationen, die in der Regel die Lage nurkurzfristig beruhigen konnten, so etwa im Osten des Kongo (Ar-temis, 2003) oder zur Absicherung der Wahlen in Kinshasa (EU-FOR, 2006). Im Tschad (EUFOR, 2008/9) trat die ESVP primärals Agentin Frankreichs auf. Bedenken, ob die Operation Atalan-ta vor den Küsten Somalias (seit Dezember 2008) zum Schutzvon Handelsschiffen durch Bundeswehrsoldaten vom Grundge-setz gedeckt ist, sind nicht ausgeräumt. Wir kritisieren, dass diemilitärische Bekämpfung der Piraterie nichts zur Beseitigung ih-rer Ursachen beiträgt.

Vorrang für eine zivile Außenpolitik

Die mit dem rapiden Aufstieg neuer Großmächte verbundenenVerschiebungen in der internationalen Machtkonstellation habenauch in Europa den Ruf lauter werden lassen, die EU müsse sichzum eigenständigen Machtfaktor fortentwickeln, um mithaltenzu können. Doch gibt es strukturelle Gründe, warum sie keineeuropäische Supermacht werden kann. Auf militärischem Gebietsetzen ihr die fehlende Staatlichkeit und der Zwang zum Kom-promiss enge Grenzen. Zudem gibt es gute normative Gründedafür, diese Zielsetzung abzulehnen. Sie würde, statt die von derUN-Charta vorgesehene Friedensordnung voranzubringen, zu-rück in das Mächtekonzert vergangener Zeiten führen. Keine

Supermacht,sondernsoft power

Die EU sollte sich auf das konzentrieren, was sie am bestenkann: soft power mit Entwicklungspolitik, wirtschaftlicher In-tegration, Diplomatie, Krisenprävention und Konfliktnachsorge.

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

Ihre Strategie, Frieden nicht durch Stärke, Gleichgewichtspoli-tik und Streben nach Überlegenheit, sondern durch zwischen-staatliche Kooperation und Übertragung nationaler Souveräni-tät zu sichern, ist eine Erfolgsgeschichte. Sie gilt auch über dieEU-Grenzen hinaus. Deutschland sollte sein ganzes europapoli-tisches Gewicht in diesem Sinne nutzen.

Die EU und die Türkei – Partner oder Konkurrenten?

Ein besonders trauriges Kapitel ist die seit 2005 praktisch stor-nierte Beitrittsperspektive der Türkei. Angela Merkel und Ni-colas Sarkozy misstrauen der Demokratisierung und beargwöh-nen die dynamische Wirtschaftsentwicklung unter Ministerprä-sident Recep Tayyip Erdogan, zudem spielen beide mit innenpo-litischen Ressentiments gegenüber Türken. Die Türkei ihrerseitswendet sich selbstbewusst anderen Partnern in der Region zu.

Will die EU mehr Einfluss im Nahen und Mittleren Osten ge-winnen, muss sie zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit derTürkei zurückkehren. Das verlangt, an deren Beitrittskandidaturfestzuhalten. Die in Berlin propagierte Formel von der „privile-Pacta sunt

servanda gierten Partnerschaft“ tut das nicht. Diese Abfuhr verstößt nichtnur gegen bestehende Verträge und Beschlüsse der EU, sondernist Kirchturmpolitik.

Die Perspektive eines EU-Beitritts hat in Ankara nachweis-lich die Demokratisierung befördert. Mit ihrer geopolitischenLage, ihrer multidimensionalen Diplomatie und als stärkste re-gionale Macht mit islamischer Tradition kann die Türkei alsBrücke zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Ostenfungieren. Für manche arabischen Freiheitsbewegungen ist dieVerbindung von Islam und Demokratie in der Türkei ein Vorbild.Deshalb erscheint uns ein Kurswechsel in der EU-Türkeipolitikdringend geboten: zurück auf den vertraglich vereinbarten Pfadund vorwärts in Richtung auf eine neue Mittelmeerpolitik.

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STELLUNGNAHME

3. Interventionen ohne Ende?

Konkrete Abzugsperspektive für Afghanistan

Die Kriege in Afghanistan und im Irak bestimmten die friedens-und sicherheitspolitische Debatte auch im zurückliegenden Jahr.Die International Security Assistance Force (ISAF) hat inzwi-schen die Strategie der Counterinsurgency (COIN) übernommen,die in die Bekämpfung der Aufständischen auch politische, di-plomatische und Entwicklungsaspekte integriert.

Diese Strategie fordert einen hohen Preis. 2009 sprach die Mehr Totein Afgha-nistan

UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) angesichts von 2.412 To-ten bereits vom „schlimmsten Jahr für die Zivilisten“, doch stieg2010 die Zahl auf 2.777 Todesopfer. COIN ordnet zivile undgesellschaftliche Handlungsoptionen militärischen Zielen unter.Obwohl viele Afghanen fürchten, der Abzug der ISAF könntemanche Fortschritte vor allem in den Städten zunichtemachen,lehnt inzwischen die Mehrheit die fremden Truppen als Besatzerab. Auch Ansehen und Legitimität der Regierung Karzai verbes-serten sich nicht, im Gegenteil. Bei den Parlamentswahlen vomOktober 2010 erklärte die Wahlkommission fast ein Viertel al-ler abgegebenen Stimmen für gefälscht. Bisherige Verhandlungs-initiativen binden Gewaltakteure ein, nicht aber Kräfte, die sichdurch ziviles Engagement oder ihren Beitrag zur Entwicklungauszeichnen.

Die USA haben ihre hoch gesteckten normativen Ansprüchein Afghanistan aufgegeben. Barack Obama hat den Beginn desAbzugs der US-Truppen für Juni 2011 angekündigt; die USAkonzentrieren sich nun darauf, die afghanische Regierung mitGeld und Militär zu stärken und lokale Machthaber zu margi-nalisieren oder zu kooptieren. Gleichzeitig führen sie in den pa-kistanischen Grenzregionen, dem Rückzugsgebiet der Aufstän-dischen in Afghanistan, einen völkerrechtlich kaum zu rechtfer-tigenden Krieg mittels Drohnen. Die Machthaber in Islamabadkritisieren das öffentlich, signalisieren aber unter der Hand ihrEinverständnis.

Die politische Instabilität in Pakistan ist, worauf wir schon ExplosiveLage inPakistan

vor zwei Jahren eindringlich aufmerksam machten, noch gefähr-licher als die in Afghanistan. Seitdem hat Pakistans explosiveUnberechenbarkeit noch zugenommen. Das bezeugte die Ermor-

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

dung des Gouverneurs des Punjab im Februar sowie des Minder-heitenministers Shahbaz Bhatti im März 2011 durch islamisti-sche Gewalttäter. Beide hatten sich gegen das Blasphemiegesetzgewandt, das für Verunglimpfung des Propheten oder des Ko-ran die Todesstrafe vorsieht. Noch erschreckender als die beidenMorde selbst ist, dass sie kaum auf Kritik stießen, sondern weit-hin Jubel auslösten, Zeugnis der fortgeschrittenen Islamisierung.Obwohl Pakistan – eine Nuklearmacht, mit Indien verfeindet undvon Konflikten im Punjab und in Belutschistan, aber auch vonder massiv zunehmenden Gewalt der Taliban erschüttert – aufder internationalen Prioritätenliste ganz nach oben gehört, stehteine überzeugende Strategie in den Sternen. Unsummen ameri-kanischer Militärhilfe können diese Lücke nicht stopfen, sie ver-stärken vielmehr die Instabilität. Wir erwarten, dass nach demTod Bin Ladens die Chance zu einer diplomatischen Offensivegegenüber den Taliban genutzt wird, um den Krieg in Afghanis-tan zu beenden.

Die Bundesregierung hat ihre Ziele in Afghanistan nie klarKrieg ohneklares Ziel definiert und die Situation der Afghaninnen und Afghanen nie

zum Fokus der Debatte gemacht. Längst ist der Einsatz der Bun-deswehr von Friedensperspektiven für Afghanistan entkoppelt –wenn er denn je mit ihnen verbunden war. Diente er anfangsder uneingeschränkten Solidarität mit den USA, kompensierteer nach 2003 die Ablehnung des Irak-Kriegs durch Deutschland.Dieses Muster setzt sich nach dem Libyen-Einsatz fort: Als dieEnthaltung zur UN-Resolution 1973 auf heftige Kritik im Westenstieß, stellte die Bundesregierung der NATO AWACS-Flugzeugein Afghanistan in Aussicht. Opportunismus statt Strategie! Wirkritisieren dies als dilettantisch und inkonsequent, denn den mi-litärischen Sinn des Einsatzes in Afghanistan kann die Bundes-regierung nach wie vor nicht schlüssig erklären.

Auch Deutschland teilt inzwischen das Ziel eines Abzugs al-Abzug kon-kretisieren ler internationalen Kampftruppen. Dass die Bundesregierung im

Dezember 2010 erstmals einen umfangreichen „Fortschrittsbe-richt Afghanistan“ vorlegte, begrüßen wir. Damit kam sie einerseit Langem erhobenen Forderung nach – fast zehn Jahre nachBeginn des Einsatzes! Es bleibt freilich ihr Geheimnis, was denTitel rechtfertigte. Zudem bleibt der Bericht ein konkretes Datumfür den Abzug schuldig. Wir fordern eine öffentlich zugängliche

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STELLUNGNAHME

Evaluation des Afghanistan-Einsatzes sowie seiner Teilkompo-nenten durch unabhängige Fachleute und halten einen raschenAbzug der Bundeswehr für unausweichlich.

Zugleich sollte Deutschland neue diplomatische Initiativenzur Befriedung Afghanistans ergreifen. Da der Krieg in Afgha-nistan nicht ohne Einbindung der Nachbarländer zu beenden seinwird, wiederholen wir unseren Vorschlag einer internationalenKonferenzdiplomatie. Diese muss ernsthafte Initiativen für re-gionale Waffenstillstandsvereinbarungen einschließen, um eineAbzugsperspektive mit dem Ziel der Beendigung militärischer Regionale

Waffenstill-ständeinitiieren

Gewalt glaubhaft zu verbinden. Die Erfahrung der KSZE in Eu-ropa lehrt, dass es trotz gegensätzlicher Interessen möglich ist,sich für gemeinsame Sicherheit auf Regeln und Verfahren zu ver-ständigen.

Nachlassende Gewalt im Irak, aber anhaltendeFragmentierung

Die „imperiale Intervention“ im Irak hat das Regime gestürzt,alle anderen Ziele aber verfehlt. Sie hat politische Instabilität,ethno-regionale und religiöse Konflikte sowie den islamistischenTerrorismus in der Region angeheizt. Der Krieg forderte einenhohen Tribut. Schätzungen der Opfer schwanken zwischen hun-derttausend und mehreren hunderttausend Menschen. Von An-fang 2007 bis Anfang 2011 verringerte sich aber die Gewalt im Hypothe-

ken desKrieges

Irak um mehr als 90 Prozent. Diese Trendwende gelang, weilsich Dschihadisten und al-Qaida isolierten, nachdem sich ge-walttätige Milizen aufgelöst und in politische Akteure verwan-delt hatten. Es war gelungen, den Aufständischen ihre sozialeBasis zu nehmen. Ministerpräsident Maliki stärkte vorüberge-hend nationale Elemente auf Kosten ethno-konfessioneller Posi-tionen. Doch nach den Parlamentswahlen von 2010 intensivierteer die Kooperation mit schiitischen Parteien wieder, um an derMacht zu bleiben, was zu einer Re-Ethnisierung führte. Die Hy-pothek der ethno-religiösen Fragmentierung des Landes konnteweder der Abzug der US-Kampftruppen bis August 2010 nochdie darauf folgende Umbenennung der Intervention in Operati-on New Dawn abtragen.

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

Stabilisierung durch die UNO und Responsibility toProtect

Im Schatten der Aufmerksamkeit dieser beiden von den USA ge-führten Militärinterventionen stehen zahlreiche Stabilisierungs-einsätze der UNO. Sie markieren ein Comeback der UN-Frie-denssicherung, die nach dem spektakulären Scheitern der Mis-sionen in Somalia, Ruanda und Bosnien in den 1990er Jahrenbedeutungslos zu werden schien. Die UNO war aber unter ih-rem Generalsekretär Kofi Annan nicht willens, Bürgerkriege undinnerstaatliche Gewaltkonflikte sich selbst zu überlassen. EinSchutzver-

antwortungder UNO

maßgeblicher Faktor dafür war der Konsens, der sich 2005 un-ter dem Namen Responsibility to Protect (R2P) herausgebildethat – als Reaktion auf das Versagen der Staatengemeinschaftbeim Genozid in Ruanda und in Srebrenica. Begeht ein StaatVölkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Ver-brechen gegen die Menschlichkeit, ist die Staatengemeinschaftaufgerufen, die Verantwortung zu übernehmen und seine Bür-ger zu schützen. Das Novum ist, dass in einem solchen Fallder Schutz der Menschenrechte über dem Schutz der staatlichenSouveränität steht. Deutschland kann im UN-Sicherheitsrat dazubeitragen, diese im Werden begriffene Norm der Schutzverant-wortung zu stärken, die neben Diplomatie und humanitärer Hil-fe auch Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta, ein-schließlich Militärinterventionen, zulässt. Es ist ein zivilisato-rischer Fortschritt, wenn blutige Unterdrückungspraktiken vonDiktatoren nicht mehr durch die Immunität staatlicher Souverä-nität geschützt sind. Wird diese Norm indes willkürlich ange-Norm nicht

willkürlichanwenden

wendet, büßt sie ihre Glaubwürdigkeit ein. Wir fordern deshalbdie Bundesregierung auf, Kriterien für ihr Abstimmungsverhal-ten in der UNO über Militärinterventionen sowie für eine Betei-ligung Deutschlands zu entwickeln.

Mehr als 100.000 Blauhelme – doch eine ernüchterndeBilanz

Die Zahl der weltweit eingesetzten Blauhelme hat sich im Zu-ge der Responsibility to Protect, aber auch der Debatte um fai-led states, von 38.000 im Jahr 2000 auf nahezu 100.000 im Jahr2011 erhöht. Gegenwärtig sind drei Viertel der weltweit einge-

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STELLUNGNAHME

setzten UN-Soldaten im Sudan (Darfur und Südsudan), in derCôte d’Ivoire, in der DR Kongo sowie in Haiti stationiert. Allefünf Einsätze sind mit einem robusten Mandat ausgestattet; dieeuropäischen Staaten sind an diesen UN-Missionen nur marginalbeteiligt.

Die United Nations Mission in Sudan (UNMIS) überwachte Bescheide-ner Erfolgvon UN-Missionen

die Umsetzung des Friedensabkommens von 2005 und beson-ders das Referendum vom Januar 2011. Obgleich sie nur mühe-voll in Gang kam und nicht als besonders effektiv gilt, konntesie die Lage beruhigen. Dagegen hat die African Union/UnitedNations Hybrid Operation in Darfur (UNAMID, seit 2007) we-nig zum Schutz der Menschenrechte und zur Eindämmung vonGewalt beigetragen. Auch die Mission de l’Organisation des Na-tions Unies en République Démocratique du Congo (MONUC,seit 1999) hat die Menschenrechtslage im Osten des Landes nichtmerklich verbessert.

Der Einsatz der United Nations Operation in Côte d’Ivoire(UNOCI, seit 2004) bleibt umstritten. Sie verhinderte nicht,dass es nach den von ihr zertifizierten Wahlen zu Krieg undMassakern kam. Als die Truppen mit Unterstützung französi-scher Kampfeinheiten in den Machtkampf zwischen Amtsinha-ber Gbagbo und dem gewählten Präsidenten Ouattara eingriffen,taten sie dies in extensiver Auslegung ihres Auftrags, Zivilistenzu schützen. In der Karibik wiederum konnte die United Nati-ons Stabilization Mission in Haiti (MINUSTAH, seit 2004) nachschwachem Start die Sicherheitslage verbessern, sah sich jedochwegen ihrer Übergriffe und Überforderung nach dem Erdbebenvom Januar 2010 harscher Kritik aus der Bevölkerung ausge-setzt.

So stehen dem Comeback von UN-Friedensmissionen nurbescheidene Erfolge gegenüber, eine ernüchternde Bilanz. VierFaktoren sind dafür ausschlaggebend. Erstens waren die Kon-fliktparteien nicht willens, sich an politische und militärischeVereinbarungen zu halten. Zweitens erfolgt die Entsendung vonBlauhelmen meist mit erheblicher Verzögerung: Der Manda-tierungsprozess zieht sich hin, Truppen stellende Regierungenscheuen hohe Risiken für das Leben ihrer Soldaten, zum Teilfehlt ihnen die Logistik. Die UN-Truppen sind ohnehin insge-samt schlecht ausgestattet. So wartete z.B. UNAMID in Darfur

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

zwei Jahre auf 18 Hubschrauber. Drittens sind die Mandate häu-fig unscharf oder unangemessen. In Haiti vermochte ein konven-tioneller Ansatz zu Entwaffnung, Demobilisierung und Reinte-gration nicht viel auszurichten gegen die eigentlichen Gewaltak-teure: bewaffnete kriminelle Gruppen. Schließlich haben UN-Fehlverhal-

ten von UN-Soldaten

Blauhelme durch unverhältnismäßige Gewalt und Fehlverhaltenwie sexuellen Missbrauch, Zwangsprostitution und Menschen-handel die Autorität der Weltorganisation beschädigt.

Wir fordern die Bundesregierung auf, dazu beizutragen, dassdie Kapazitäten der UN-Friedensmissionen ihren Anforderungenbesser entsprechen. Trotz aller UN-freundlichen Rhetorik kom-men weniger als 300 Bundeswehrsoldaten in den Stabilisierungs-missionen der UNO zum Einsatz; der Großteil der etwa 6.900deutschen Soldaten im Ausland agiert unter dem Kommando derNATO. Die nordatlantische Militärallianz aber ist von AuftragNATO kann

UNO nichtersetzen

und Fähigkeiten her kein Ersatz für die UN-Friedenssicherung.Das gilt insbesondere für Subsahara-Afrika. Eine „WeltpolizeiNATO“, in der frühere Kolonialmächte vertreten sind, stößt hierauf viel Misstrauen. Bei der United Nations Interim Force inLebanon stellte die EU europäische Truppenkontingente auf.Auch sind bei der Maritime Task Force unter italienischer Füh-rung seit 2008 unter anderem Kontingente der European Mari-time Force (EUROMARFOR) einbezogen. Die Bundesregierungsollte dafür eintreten, dass solche EU-Kontingente verstärkt imUN-Rahmen eingesetzt werden. Deutschland kann sich im UN-Sicherheitsrat dafür einsetzen, Defizite gerade bei den mit einemMandat nach Kapitel VII ausgestatteten Missionen abzubauen.Es gilt, auf unzweideutigen Mandaten zu bestehen und Verfah-ren bei ihrer Umsetzung zu beschleunigen. Der „Entsendelücke“,d.h. der mühevollen Suche nach Blauhelmkontingenten in ausrei-chender Zahl, ließe sich durch ein zweistufiges Mandatierungs-Zweistufige

Mandatie-rung

verfahren begegnen: In einer ersten Stufe würde auf Basis einesvorläufigen Mandats geprüft, welche Ressourcen zur Verfügungstehen; die zweite Stufe bildete dann die herkömmliche Manda-tierung durch den UN-Sicherheitsrat.

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STELLUNGNAHME

Zivile Krisenprävention, smart sanctions undFriedenskonsolidierung

Die notwendigen Diskussionen über militärische UN-Einsätzedürfen die Instrumente der zivilen Krisenprävention, Sanktionenund Friedenskonsolidierung nicht in den Hintergrund drängen.Hier kann die Bundesregierung an frühere Initiativen anknüpfen.Ende der 1990er Jahre etwa stießen Deutschland, die Schweizund Schweden eine internationale Debatte über smart sanctionsan. Das Signal, das sie senden, wirkt oft, wenn auch nicht sehr Überprüf-

barkeit vonSanktionenverbessern

stark sowie eher mittel- und langfristig. Sie werfen zudem eineReihe völker- und europarechtlicher Probleme auf. Negativerfah-rungen müssen ausgewertet werden. Zudem sind die Möglich-keiten von Betroffenen, sich vor internationalen und nationalenGerichten Rechtsschutz zu verschaffen, auszuweiten.

Deutschland hat maßgeblich die Errichtung des Internationa- Strafge-richtshofunterstüt-zen

len Strafgerichtshofs vorangetrieben. Dass der UN-Sicherheits-rat den sudanesischen Präsidenten Al-Bashir an ihn überwies,bezeugt, dass die Staatengemeinschaft heute Kriegsverbrechen,Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord nichtmehr toleriert. Der Fall zeigt freilich auch, dass die politischeWirkung kurzfristig ausbleibt. Wir fordern die Bundesregierungauf, den Internationalen Strafgerichtshof gegen Kritik zu vertei-digen und ihn ideell, materiell sowie personell tatkräftig zu un-terstützen. Er ist eine historische Errungenschaft auf dem Weg,in der internationalen Politik das Recht des Stärkeren durch die Recht statt

GewaltStärkung des Rechts zu ersetzen. Dieses zivilisatorische Zielmuss die maßgebliche Richtschnur deutscher Außenpolitik blei-ben.

Bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus konn-ten die USA einen wichtigen Erfolg erzielen, als sie Osama binLaden in seinem Versteck ausfindig machten. Allerdings wur-de die Chance verpasst, den Anführer von al-Qaida gefangen zunehmen und vor ein Gericht zu stellen. Das hätte dem rechtsstaat-lichen Prinzip Genüge getan und zivilisatorisch gewirkt, nach-dem der Kampf gegen den Terrorismus über eine Dekade langmit „Krieg“ konnotiert und von den Folterpraktiken von Abu-Ghraib und Guantanamo überschattet war.

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

4. Militär Macht Rüstung

Die NATO nach Lissabon: alter Wein in neuenSchläuchen?

In der neuen multipolaren Welt stößt die NATO an ihre Gren-zen. Die will sie erweitern. Aber ihr neues Strategisches Kon-zept zeugt von Orientierungslosigkeit und fehlender Zukunftsfä-higkeit. Im Kernbereich Verteidigung und Abschreckung führtdas Dokument neben klassischer Territorialverteidigung auchden internationalen Terrorismus, Cyberkrieg und Energiesicher-heit auf. Damit übernimmt sich das Bündnis. Als Krisenmana-NATO

übernimmtsich

gement versteht es ohne zu differenzieren Stabilisierungseinsät-ze wie auch Interventionen. Unter dem Begriff „umfassende Si-cherheit“ beansprucht die NATO Zuständigkeit für Bereiche, diein die Entwicklungspolitik und Diplomatie gehören.

Wir kritisieren, dass die UNO für die NATO neben der EU,Russland und anderen als einer von vielen „Partnern“ figuriert.Diese Beliebigkeit wird der Weltorganisation nicht gerecht. Sieist die übergeordnete Instanz und allein befugt, militärische Ein-sätze der NATO, die über Selbstverteidigung hinausgehen, zu au-torisieren. Zwar bekennt sich die Atlantische Allianz zu den Zie-len der UN-Charta und zur Zuständigkeit des UN-Sicherheitsratsfür den Weltfrieden. Doch fehlen konkrete Vorschläge, wie sieKapazitä-

ten zurStärkungder UNOeinsetzen

ihre Kapazitäten einsetzen kann, um die UNO zu stärken. Dasneue NATO-Konzept rückt die kollektive Verteidigung in denMittelpunkt, entgrenzt aber gleichzeitig deren Bedeutung. Denmöglichen Sicherheitsgewinn, den die Allianz mit einer europäi-schen Raketenabwehr zu erreichen hofft, machen neue Gefahrenzunichte: Das immerhin rhetorisch umworbene Moskau könntedie Raketenabwehr der NATO mit eigenen neuen Raketen kom-pensieren wollen – eine Neuauflage des alten Paradoxons derstrategischen Verteidigung aus den 1980er Jahren. Dass die rus-sische Führung dieses Thema zur innenpolitischen Profilierungnutzt, entlastet die NATO nicht von ihrer Verantwortung.

Wir halten die vorgesehene Stationierung der Raketenab-Raketen-abwehrfalschesSignal

wehrsysteme für ein falsches Signal, weil es die Vertrauensbil-dung mit den Nachbarregionen Europas konterkariert. Russlandgehört zum „gemeinsamen Haus Europa“; obsolete Sicherheits-dilemmata dürfen nicht wiederkehren. Die Raketenabwehr bleibt

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STELLUNGNAHME

darum ein überflüssiger Stolperstein auf dem Weg zu mehr Si-cherheit, die sich nur gemeinsam erreichen lässt.

Auch bei der nuklearen und konventionellen Rüstungskon-trolle und Abrüstung sowie bei der Nichtverbreitung fehlen demBündnis Einigkeit und Willen, politische Impulse zu setzen. Diejapanische Atomkatastrophe mahnt uns, alles zu tun, um die Ri-siken jedweder Nutzung von Kernenergie von der Erde zu ver-bannen. Viel mehr noch als für deren zivile Nutzung gilt das fürNuklearwaffen, denen die Absicht zur Massenvernichtung einge-schrieben ist. Wir fordern die Politiker der NATO und besondersder EU-Staaten auf, die Vision von Global Zero mit ernsthaften Global Zero

umsetzenSchritten der atomaren Abrüstung umzusetzen. Den wirksamstenBeitrag zur Abrüstung könnte die NATO leisten, indem sie ihreeigenen militärischen Fähigkeiten begrenzt; angesichts ihrer mi-litärischen Überlegenheit wäre eine solche Selbstbeschränkungohnehin geboten. Die EU-Staaten Frankreich und Großbritanni-en sollten, statt sich in überholten Machtprojektionen zu gefal-len, mit gutem Beispiel vorangehen und ihre nuklearen Poten-ziale zur Disposition stellen.

Bundeswehrreform: unzureichend

Die Abschaffung der Wehrpflicht, für die wir im Friedensgut- Wehrpflichtachten seit Langem plädiert haben, ist für die BundesrepublikDeutschland ein historischer Schritt. Die geplanten Strukturver-änderungen, die den Anpassungsprozess an laufende NATO-Planungen und militärische Aufgaben im Rahmen der EU vollen-den sollen, sind es hingegen nicht.

Den von der Strukturkommission vorgelegten Bericht „VomEinsatz her denken. Konzentration, Flexibilität und Effizienz“kritisieren wir als zu technokratisch und ungenügend für eineNeuausrichtung der Bundeswehr. Die Diagnose – Überdimen-sionierung und Fehlstrukturierung der Bundeswehr – trifft zwarim Kern zu. Wir mahnen seit Langem Kürzungen im Rüstungs-etat sowie eine öffentliche und parlamentarische Verständigungüber militärische Aufgaben an. Dass jetzt der Truppenbestandauf 180.000 Soldaten reduziert werden soll, von denen bis zu15.000 gleichzeitig eingesetzt werden können, behebt freilichdas gegenwärtige Missverhältnis zwischen einer Mannschafts-stärke von 250.000, von denen höchstens 7.000 Soldaten gleich-

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DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

zeitig für Missionen im Ausland einsatzbereit sind, nur kosme-tisch.

Wider den Tabubruch

Zur Begleitmusik der Bundeswehrreform gehört, nationale In-KeinMilitär fürHandels-interessen

teressen wie Energie- und Ressourcensicherung zur Begründungmilitärischer Handlungsfähigkeit geltend zu machen. Gestütztauf Vorschläge aus Wirtschaftskreisen, die Bundeswehr künftigauch zum Wohl deutscher Unternehmen einzusetzen, plädierteder ehemalige Verteidigungsminister zu Guttenberg dafür, „of-fen“ und „ohne Verklemmung“ den Zusammenhang von Han-delsinteressen und Militäreinsätzen zu thematisieren. Wir for-dern eine klare Distanzierung der Bundesregierung von diesemTabubruch. Mit einer Parlamentsarmee, die Ziele und Manda-te militärischer Einsätze dem Bundestag unterstellt, ist das nichtvereinbar.

Für inakzeptabel halten wir die Praxis, Jugendoffiziere sys-Keine Bun-deswehr-werbung inSchulen

tematisch im politischen Unterricht an Schulen und in der Aus-bildung der Referendare einzusetzen. Baden-Württemberg, Bay-ern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen,Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen haben entsprechendeKooperationen vertraglich vereinbart. Diese neue Praxis zieltdarauf, die öffentliche Akzeptanz für Auslandseinsätze undStreitkräfte insgesamt zu erhöhen – ein Erfordernis, das sichbei der Rekrutierung einer Freiwilligenarmee unweigerlich stellt.Doch die Bundeswehr gehört zwar als Thema von Friedenserzie-hung, keinesfalls aber als Akteur in den Unterricht.

Die Bundesrepublik ist mit dem Grundsatz der „Inneren Füh-ErprobteKonzepteerhalten

rung“, dem Konzept des „Staatsbürgers in Uniform“ sowie mitihrer Tradition der militärischen Zurückhaltung gut gefahren.Alle drei haben Anteil an der gesellschaftlichen Akzeptanz derBundeswehr. Wir bezweifeln, dass sie sich mit den neuen Ambi-tionen der Reform vereinbaren lassen, solange die sich vor allemvon Bündnisanforderungen ableiten, die aus den Interventionender letzten Jahre erwachsen sind.

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STELLUNGNAHME

Sicherheit – militärisch vernetzt, aber unsicher

Die Entgrenzung militärischer Aufgaben hat viel mit einem er-weiterten Sicherheitsverständnis zu tun, das zwischen Risiken,Gefahren und Bedrohungen nicht präzise unterscheidet. Die Er-weiterung des Sicherheitsbegriffs hatte ursprünglich eine ganzandere Absicht: Sie rückte den Schutz vor physischer und sozia-ler Versehrung – eben die menschliche Sicherheit – ins Zentrum,statt Unsicherheit nur im Kontext von Krieg und Gewaltkonflik-ten zu sehen. Diese Begriffserweiterung hat indes eine nicht in-tendierte Kehrseite: Da das Militär oft über mehr und bessereRessourcen verfügt, scheint sein Einsatz auch dort vernünftig, jamitunter unabwendbar, wo zivile Aufgaben zu bewältigen sind, Militär für

zivileAufgaben?

z.B. bei der Absicherung humanitärer Aufgaben in Krisen undKonflikten.

So schärfte die Debatte über die Bandbreite von Sicherheitdas Verständnis für die begrenzte Eignung und Wirksamkeit mi-litärischer Maßnahmen, dynamisierte aber auch die militärischeSicherheitspolitik. Aus der erweiterten Sicherheit wurde im deut-schen Weißbuch von 2006 „vernetzte Sicherheit“, im NATO-Jargon der comprehensive approach. Die Komplementarität mi-litärischer und ziviler Rollen ist aber nicht unschuldig: Es ist au-ßerordentlich schwierig, militärische und zivile Ansätze zur Kri-senbearbeitung und Friedenskonsolidierung – Streitkräfte, Di-plomatie und Entwicklungshilfe – auf einen Nenner zu bringenund zugleich die nötige Trennschärfe zu behalten. Das zeigt dieAufstandsbekämpfung in Afghanistan exemplarisch, wo die be-hauptete Komplementarität die Tür öffnete zur Instrumentalisie-rung ziviler Aufgaben und Tätigkeiten für militärische Ziele. Wirkritisieren deshalb die seit 2010 im Bundesministerium für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beobachtbare Po-litik, in Afghanistan die Förderung von Projekten verstärkt aufEinsatzgebiete der Bundeswehr auszurichten und an die Bereit-schaft zu zivil-militärischer Kooperation zu binden.

Das Konzept des comprehensive approach gehört auf den VernetzteSicherheitauf denPrüfstand

Prüfstand. Wir fordern dazu auf, im Rahmen der vielbeschwore-nen Kohärenz unterschiedlicher Ansätze und Politikressorts zi-vile und militärische Aufgaben und Mandate bei der Krisen-und Konfliktbearbeitung wieder klar zu trennen, im Interessevon local ownership in Krisenregionen Überdehnungen externer

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Page 30: Stellungnahme der Herausgeber und Herausgeberinnen ... · felt hatte, musste einsehen, dass das nicht reicht. Die Bundesre-gierung räumte ein, dass die Gemeinschaftswährung nicht

DIE HERAUSGEBER UND HERAUSGEBERINNEN

Intervention zurückzufahren und auch beim Wiederaufbau vonNachkriegs- und Nachbürgerkriegsgesellschaften die lokalen zi-vilgesellschaftlichen Kapazitäten mit Nachdruck zu stärken. DerExport des westlichen Demokratiemodells mithilfe militärischerInterventionen kann nicht gelingen, wie die Erfahrungen in Af-ghanistan zeigen.

Wir lehnen die seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vonKeineInterventi-onsarmee

1994 schleichend begonnene Umformung der Bundeswehr in ei-ne Interventionsarmee, die jetzt institutionalisiert werden soll,ab. Wir beharren darauf, dass Einsätze der Bundeswehr überdie Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung hinaus einMandat des UN-Sicherheitsrates voraussetzen. Die Entgrenzungder „erweiterten Landes- und Bündnisverteidigung“ darf nichtdie Tür zur Selbstermächtigung von Militäreinsätzen öffnen. DerEinsatz der Bundeswehr hat sich am Völkerrecht zu orientieren;bündnispolitische Loyalität darf das Monopol der UNO, mili-Debatte

über Bun-deswehrführen

tärische Gewaltanwendung zu autorisieren, nicht unterminieren.Nachdem die öffentliche Diskussion über den Krieg in Afghanis-tan endlich Fahrt aufgenommen hat, muss diese Debatte ausge-weitet werden auf die künftige Rolle, auf Aufgaben und Gestaltder Bundeswehr. Diese Debatte ist überfällig. Sie ist die Vor-aussetzung dafür, über Personalumfang, Ausrüstung und Finanz-rahmen der Bundeswehr seriös und demokratisch entscheiden zukönnen.

Margret JohannsenBruno SchochCorinna HauswedellTobias DebielChristiane Fröhlich

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