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4. Erfahrungsbericht: 16.1. bis 13.3. Hallo ihr Lieben, ich versuche mir diesmal die Standard-Einleitung über das Fliegen der Zeit zu sparen und entschuldige mich lieber gleich für die Verspätung. Wieder einmal ist sehr viel passiert und ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wo ich anfangen soll. Der Unterschied diesmal ist allerdings, dass es mir neben Zeit auch schlichtweg an Lust und Motivation für diesen Erfahrungsbericht gefehlt hat. Normalerweise freute ich mich, wenn ich die Möglichkeit hatte, etwas mit euch aus meinem Leben hier zu teilen und zudem selber etwas für mich reflektieren zu können. Gerade sehe ich aber den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Mir kommt wirklich keine Ordnung in den Sinn. In den letzten Tagen und Wochen war mir nie nach Schreiben und Reflektieren zu Mute. Ich wollte vielmehr vor mich hin weiterleben und das ein oder andere in den Griff bekommen. Vielleicht lag dies auch darin begründet, dass zunehmend alles „normaler“ geworden ist und somit auch die Euphorie mit euch für mich aufregende Dinge zu teilen. Der Hauptgrund für die lange Verspätung ist allerdings, dass ich sehr viel nachgedacht habe. Einige Dinge aus der letzten Zeit haben mich stark zum Nachdenken angeregt und dafür brauchte und brauche ich einfach Zeit. Aber naja, ich möchte trotzdem versuchen, auch diesen Erfahrungsbericht irgendwie zum Abschluss zu bringen und Euch einen Eindruck zu vermitteln, auch wenn ich mich dafür nur semi-bereit fühle. Aber ein besserer Zeitpunkt wird wohl kaum kommen. Ich werde mich aber auf einige Aspekte und Erfahrungen beschränken müssen, weil es sonst simpel gesagt einfach zu viel wird. Am besten werde ich einfach chronologisch da anfangen, wo ich aufgehört habe und dann schauen was sich ergibt. Wie immer gilt: Alle folgenden Eindrücke kommen meistens nur von mir und dürfen somit nicht verallgemeinert werden. Sie sind rein subjektiv. Was ist eigentlich so passiert? Als ich von der Kaffee-Finca zurückgekommen bin und mich schon

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4. Erfahrungsbericht: 16.1. bis 13.3.Hallo ihr Lieben,

ich versuche mir diesmal die Standard-Einleitung über das Fliegen der Zeit zu sparen und entschuldige mich lieber gleich für die Verspätung. Wieder einmal ist sehr viel passiert und ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wo ich anfangen soll. Der Unterschied diesmal ist allerdings, dass es mir neben Zeit auch schlichtweg an Lust und Motivation für diesen Erfahrungsbericht gefehlt hat. Normalerweise freute ich mich, wenn ich die Möglichkeit hatte, etwas mit euch aus meinem Leben hier zu teilen und zudem selber etwas für mich reflektieren zu können. Gerade sehe ich aber den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Mir kommt wirklich keine Ordnung in den Sinn. In den letzten Tagen und Wochen war mir nie nach Schreiben und Reflektieren zu Mute. Ich wollte vielmehr vor mich hin weiterleben und das ein oder andere in den Griff bekommen. Vielleicht lag dies auch darin begründet, dass zunehmend alles „normaler“ geworden ist und somit auch die Euphorie mit euch für mich aufregende Dinge zu teilen. Der Hauptgrund für die lange Verspätung ist allerdings, dass ich sehr viel nachgedacht habe. Einige Dinge aus der letzten Zeit haben mich stark zum Nachdenken angeregt und dafür brauchte und brauche ich einfach Zeit. Aber naja, ich möchte trotzdem versuchen, auch diesen Erfahrungsbericht irgendwie zum Abschluss zu bringen und Euch einen Eindruck zu vermitteln, auch wenn ich mich dafür nur semi-bereit fühle. Aber ein besserer Zeitpunkt wird wohl kaum kommen. Ich werde mich aber auf einige Aspekte und Erfahrungen beschränken müssen, weil es sonst simpel gesagt einfach zu viel wird.

Am besten werde ich einfach chronologisch da anfangen, wo ich aufgehört habe und dann schauen was sich ergibt. Wie immer gilt: Alle folgenden Eindrücke kommen meistens nur von mir und dürfen somit nicht verallgemeinert werden. Sie sind rein subjektiv.

Was ist eigentlich so passiert?Als ich von der Kaffee-Finca zurückgekommen bin und mich schon auf die Vorbereitungen für Weihnachten konzentriert habe, haben Luka und ich am Abend telefoniert. Aufgrund ihrer nicht besser werdenden Krankheit und den Risiken, welche diese mit sich trägt, würde sie nach Deutschland zurückfliegen müssen. Sie war zwar aus dem Krankenhaus in Managua entlassen wurden, wurde aber von einer guten Seele in Managua, nämlich Tina Baum, gepflegt. Ich war schockiert und erstmal völlig überwältigt. Mit einem Nica-Freund gemeinsam räumte ich schweren Herzens ihr Zimmer leer und wir packten ihren Rucksack. Am Heiligen Abend bin ich zu ihr nach Managua gefahren. Mir wurde zunehmend bewusster, dass auch ich mich von Matagalpa nun für längere Zeit verabschieden muss und dass sich in so

kurzer Zeit so vieles so schnell verändert hatte. Luka, Anna, eine Freiwillige aus León und ich haben Weihnachten dann bei der sehr netten Tina Baum gemeinsam gefeiert. Tina wohnt seit einigen Jahren in Nicaragua und unterstützt alle Weltwärtsfreiwillige in Nicaragua bei der

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Visumsbeschaffung. Auch wenn es eigentlich nicht in dieser Form in ihren Aufgabenbereich fällt, hat sie Luka und mich enorm unterstützt, sodass ich gar nicht dankbar genug dafür sein kann. Sie hat Luka für mehrere Tage bei sich zuhause aufgenommen und Anna und mich für den Heiligen Abend eingeladen. Wenn auch ganz anders als geplant, war es ein schönes Weihnachten, an welchem Hilfe, Offenheit und Gastfreundschaft ganz oben stand. Danke Tina!

Wir haben alle in den Feiertagen versucht, Kraft zu tanken und zur Ruhe zu kommen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sehr ich das nötig hatte.

Von Managua sollte es für mich in den Urlaub gehen. Der Abschied zwischen Luka und mir, viel Keinem von uns Beiden leicht. Das Schuljahr endet hier im Dezember, weshalb die großen Ferien (entspricht unseren Sommerferien) in diesem Zeitraum liegen. Das Hormiguitas schließt ebenfalls für einen Teil der Ferien. Als Nica-Family haben fast alle Nica-Freiwilligen gemeinsam Urlaub auf Little Corn Island gemacht (eine äußerst touristische, wunderschöne Mini-Insel in der Karibik). Nach einer abenteuerlichen Hinreise zur Karabikküste, stand für mich fest, dass sich dieser Teil von Nicaragua, zumindest von dem mir bisher bekannten Gegenden, stark unterscheidet. Für mich war dies sehr interessant. Auf jeden Fall hatten wir einen sehr schönen Urlaub, der mir erneut unseren sehr starken, schon Familien-ähnlichen Zusammenhalt vor Augen führte. Diese Woche tat mir gut, auch wenn es mir zu Beginn alles zu schnell vor kam und ich einfach nicht begreifen konnte, was so richtig vorging.

Hier ein paar Eindrücke

Von dort aus erwartete mich etwas auf das ich mich schon sehr lange gefreut habe: Noah, Henriette, Jule (sehr gute Freunde aus der Schulzeit) und ich haben uns in Nicaragua getroffen und verreisten gemeinsam. Jule hatte wie zu Schulzeiten alles perfekt organisiert. Danke ihr hierfür.

An dieser Stelle möchte ich den Aspekt des Tourismus aufgreifen.

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TourismusTourismus – ein für mich sehr schwieriges Thema seitdem ich hier bin. Reisen ist hier ein großes Privileg und für viele Nicas - ganz im Gegensatz zu mir - keine Selbstverständlichkeit. Dies wurde mir zunehmend bewusst und regte mich zum Nachdenken an. Auf der einen Seite möchte ich mich so gut es geht anpassen. Andererseits möchte ich hingegen auch nicht die Chance verpassen, viel vom Land zu sehen. Die Mehrheit meiner Nica-Freunde und Bekannten oder Kollegen, war noch nie in León (eine Stadt an der Pazifikküste, etwa 2h mit dem Bus entfernt) und ich sollte mich schon nach 4 Monaten in Matagalpa auf die Reise begeben und in weniger als 1 Monat die Corn Islands, Ometepe, Granada, andere Orte und sogar Kolumbien besuchen. Wie ich damit umgehen soll, weiß ich bis heute nicht genau. Auf jeden Fall habe ich mich immer unwohl dabei gefühlt, auch nur annähernd vor meiner Gastfamilie, Projektmitarbeitern und Projektkindern über meine Reise zu sprechen. Ich schob es immer auf das Zwischenseminar, welches in Kolumbien bevorstand und versuchte so schnell es ging das Thema zu wechseln.

Mit dem Bewusstsein darüber im Hinterkopf, was für ein unglaubliches Privileg ich genießen darf, konnte ich den Urlaub und das Reisen dann doch sehr genießen. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt am Tourismus, der mich immer noch sehr beschäftigt. Und zwar habe ich an mir selbst in den letzten Monaten eine gewisse Arroganz gegenüber Touristen bemerkt, verbunden mit einem gewissen Stolz darüber, dass ich hier vorrübergehend lebe und arbeite. Vor allem aber meine Abneigung darüber, nicht in diese Schublade gesteckt werden zu wollen. Aber woher kommen dieser Stolz und die große Abneigung? Darüber habe ich mir während meiner Reise auf so mancher Busfahrt den Kopf zerbrochen. Ich habe mich selbst nie als Tourist gesehen und wollte es auch nicht. Trotzdem aber reise ich so lange und bin auch sonst übers Wochenende öfter mal weg. Mir wurde klar, dass ich mir in dieser Hinsicht mehr eingestehen muss und, dass die Arroganz und der Stolz gegenüber Touristen schlichtweg überheblich von mir sind. Ich glaube, was mich am meisten am (oberflächlichen) Tourismus stört, ist das Fehlen eines tieferen Blickes für Nicaragua und seiner besonderen, uns Deutschen doch fremden Kultur. Mein Eindruck ist, dass oftmals der Kontakt zwischen den Kulturen fehlt und (natürlich auch nachvollziehbar) vorwiegend die schönen Orte des Landes besucht werden. Wahrscheinlich möchte ich deswegen zumindest in Matagalpa auch nicht als Reisender abgestempelt werden. Hierbei darf man natürlich nicht von allen Touristen sprechen. Für mich hängt es immer von der Art und Weise des Tourismus ab. Ich bin gespannt darauf, wie sich meine Gedanken zu diesem Thema entwickeln werden. Ich möchte versuchen mir über meine Rolle und meine Position klarer zu werden.

Neben diesem Gedankenwirrwarr hatten wir 4 eine richtig coole Woche! Für mich war es nicht nur Urlaub, sonders ebenfalls eine wertvolle Erfahrung alte Freunde aus Bonn wiederzusehen. Anfangs war es schon komisch. Ich zumindest habe etwas Zeit gebraucht, aber nach dieser Woche blieben für mich eine Menge toller Momente in Erinnerung und einige wertvolle Erkenntnisse. Besonders bereichernd empfand ich es, durch meine sehr engen Freunde, Nicaragua nochmals aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen. Sei es die Perspektive von Noah, der gerade frisch aus

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Europa kam oder der Blickwinkel von Henriette, die aus Costa Rica kam. Jede Perspektive war wertvoll!

Kolumbien & Zwischenseminar

Nach einem 2. Abschied von meinen 3 lieben Freunden, ging es für uns Nicas nach Kolumbien. Dort sollte für uns gemeinsam mit den WI-Kolumbien-Freiwilligen das Zwischenseminar stattfinden. So einiges erschien mir daran noch sehr fern. Plötzlich Kolumbien? Schon Zwischenseminar? Auch wenn sich meine Begeisterung am Anfang noch in Grenzen

gehalten hat und ich Nicaragua nur ungern verlassen wollte, war ich trotzdem sehr gespannt und motiviert mich darauf einzulassen.

Nach einer äußerst aufregenden, 3-tägigen Reise mit dem Bus durch Costa Rica und Panama und einem Flug von Panama City nach Medellín wurden wir am Flughafen bereits sehr herzlich von 3 Kolo-Freiwilligen empfangen. Diese Reise wird mir noch sehr lange im Gedächtnis bleiben. Neben wunderschönen Landschaften, die ich aus einem Fenster die Panamarica entlang bestaunen durfte, hat mich besonders

Panama City sehr überrascht. Ich weiß nicht was ich mir vorgestellt habe oder ob ich überhaupt eine Vorstellung hatte, aber so ein Bild hatte ich wirklich nicht erwartet und es hat mich schlichtweg umgehauen. Nebenbei: In ganz Nicaragua gibt es 1 Hochhaus.

Abbildung 1: Nica-Familiy an der Bushaltestelle in Masaya, Nicaragua

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Über Kolumbien könnte ich Seite über Seite füllen und mein Tagebuch ist seit dieser Zeit voll. Ich kann es kaum in Worte fassen, was diese Zeit für mich bedeutet, wie ich mich gefühlt habe, wie ich sie beschreiben kann und wie sie mir in Erinnerung bleibt. Ich glaube das treffendste Wort für diese Zeit lautet intensiv. Intensive Eindrücke und Erfahrungen, intensive Gespräche, intensive Gedanken, intensiv emotional, intensiv lustig - intensiv intensiv.

Vor dem Seminar hatten wir noch 5 freie Tage in Medellín, eine Stadt, die mich zu tiefst beeindruckt und in ihren Bann gezogen hat. Wir hatten das große Glück, dass wir in den WGs der Kolumbien-Freiwilligen schlafen und sie uns deshalb so einiges zeigen konnten. Ich empfand es als große Bereicherung auf diese Weise einen Eindruck, wenn auch nur einen groben, von Kolumbien und einem Freiwilligendienst in Kolumbien zu bekommen. So durften wir die WGs in unterschiedlichen Barrios und das ein oder andere Projekt kennen lernen. Irgendwie ähnelt sich vieles und ist doch so anders. Ich weiß noch genau, dass ich eine Art Kultur-Schock hatte, als wir plötzlich in der Metro standen und nicht im Chickenbus. Das ging jedoch schnell vorbei und wir hatten sehr schöne Tage.

Besonders ein Moment wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Eines Nachts saßen Lorenz und ich auf dem Dach seiner WG in der Comuna 13. Von dort hat man einen unfassbaren Ausblick und wir redeten bis etwa 3 Uhr am Morgen. Er ist dann ins Bett gegangen und ich dachte mir, ich bleibe noch 5 Minuten. Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaute war es etwa halb 5 Uhr morgens und beinahe ging die Sonne auf. Ich hatte wieder einen dieser extremen Glücks-Gefühlsausbrüche, welche ich sonst nur aus Matagalpa kenne. Ich saß da, dachte nach, hörte Musik und fühlte mich erfüllt. Vieles hatte sich verändert und alles ging so schnell. Plötzlich saß ich bei Lori auf dem Dach in der Comuna 13.

Wie bereits gesagt hat mir Medellín einfach spitze gefallen. Ich habe für mich noch keine spannendere Stadt kennen gelernt. Ich bin nach wie vor sehr froh darüber in Matagalpa zu wohnen. Gleichwohl kann ich mir Medellín sehr gut für ein Auslandssemester vorstellen. Das alles mit der Nica-Family und den COLO-Freiwilligen zu erleben, machte es ganz besonders.

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Zwischenseminar Es sind so viele Dinge, die ich mit dieser Woche verbinde. Erstmal gab es ein wunderschönes Wiedersehen. Kurz vorher hatte ich schon gar nicht mehr im Kopf wie unfassbar wertvoll WI und so ein Seminar für mich sind. An dieser Stelle ist ein Dankeschön mehr als angebracht. Ein Dankeschön an WI und an diese wunderbare Truppe, in der ich jeden Moment sehr genieße. Diese eine Woche im Paradies tat mir unglaublich gut. Ich habe das Gefühl, ich bin etwas verändert aus dem Seminar rausgekommen, ähnlich wie beim Vorbereitungsseminar. Das Programm ist sicherlich lesenswert und für mich waren es vor allem die vielen intensiven Gespräche, eine sehr angenehme Gruppendynamik und jede Menge Spaß, die diese Woche so unvergesslich machten. Spätestens an diesem Punkt war ich froh darüber, in Kolumbien sein zu dürfen und Nicaragua für eine Weile zu verlassen. Meine anfänglichen Zweifel waren weggewischt. Neben vielen schönen Fotos und Erinnerungen nahm ich auch neue Ziele, Denkanstöße, Motivation und Perspektiven mit.

Voller Euphorie, etwas Abschiedsschmerz und Spannung auf die Zukunft traten wir die Heimreise an. Ich habe mich nach langer Zeit sehr auf mein Zuhause Matagalpa gefreut und konnte trotz manch schwieriger Momente mit großer Freude und Schmetterlingen im Bauch auf eine unglaubliche erste Hälfte zurückblicken. Vor lauter Glück schrie ich wortwörtlich: „Wie geil ist eigentlich das Leben?!“ als ich in Panama City aus dem Flugzeug stieg.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich mir noch kaum Gedanken darüber gemacht, dass die nächste Zeit allein in Matagalpa für mich sehr hart werden könnten.

Rückkehr und Leben in Matagalpa

Abbildung 2: Die ganze Freiwilligengruppe am letzten gemeinsamen Abend in Medellín

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Allgemein war die Rückkehr ein interessanter Prozess und gerade jetzt (2 Monate später) ist mir richtig bewusst wie wertvoll es war nach etwa 3 Wochen in Kolumbien, die etwas Abstand zu Nicaragua mit sich brachten, in unser so lieb gewonnenes Land zurückzukehren. Wenn auch nicht so stark, ist es vergleichbar mit unserer Ankunft im September. So fielen mir viele Dinge, an welche ich mich zuvor gewöhnt hatte und so kaum noch speziell wahrnahm, wieder ganz neu auf. Einiges erschien mir wieder in einem anderen Licht. Irgendwie hat dieser kurze Abstand (vor dem ich vorher Zweifel hatte) etwas Wertvolles mit sich gebracht. Ich ertappte mich öfters dabei, mitten im Alltag innezuhalten und Dinge zu beobachten, die ich doch eigentlich schon 5 Monate kannte. Ganz besonders viel mir dieses „Phänomen“ in Bezug auf die Armut auf. An die vielen ärmeren Viertel mit Häusern aus Wellblech an den Berghängen von Matagalpa hatte ich mich nach meiner Ankunft schnell gewöhnt und so machte ich sie mir von Tag zu Tag weniger bewusst. Nach meiner Zeit in Kolumbien vielen sie mir allerdings wieder direkt ins Auge. An solchen und an vielen anderen Geschehnissen fällt mir immer wieder auf, wie schnell man sich (zumindest ich) an vieles gewöhnen kann. Deswegen finde ich es für mich selbst wertvoll aus diesem „Gewöhnungs-Schlaf“ wachgerüttelt zu werden. Dabei halfen mir auch Besuche aus Deutschland wie von Freunden und zuletzt meinen Eltern. Darüber werde ich in meinem nächsten Bericht schreiben.

Nicht nur mein Blickwinkel auf so manche Dinge im Alltag hatte sich verändert, sondern auch mein WG-Leben. Ich war jetzt alleine und ohne Luka in Matagalpa und meine Gedanken, Erfahrungen und Gefühle über dieses alleine sein würde ich gerne mit euch teilen.

Besonders schwierig für mich waren die ersten 3 Tage. Die härtesten bis jetzt insgesamt. Von einem wunderschönen WI-Zwischenseminar mit ES IST LIEBE und bla bla bla war der Fall ins leere Haus umso tiefer. Auch wenn ich es eigentlich hätte erahnen können überraschte mich dieses plötzliche Problem. Ich glaube das liegt daran, dass ich Matagalpa einfach die ganze Zeit über anders in Erinnerung hatte. Versteht mich bitte nicht falsch. Auf der einen Seite war es schön wieder wirklich zuhause zu sein. Meine Gastfamilie, meine Chefin, meine Nachbarn zu begrüßen, Freunde zu treffen, im Hormiguitas arbeiten und viel mehr. Aber mein Gefühl der Einsamkeit überschattet(e) diese Dinge leider deutlich. Ich wohne nun das erste Mal in meinem Leben ganz alleine und es gefällt mir gar nicht gut. Gerade in diesen ersten 3 Tagen spürte ich eine tiefe Traurigkeit in mir, wenn ich alleine in der WG war. Lukas nun leeres Zimmer betrete ich so gut wie gar nicht. Luka ich vermisse Dich! Nun höre ich am Abend vor dem Einschlafen anstatt ein „ich hab dich lieb“ von der Mitbewohnerin nur den Kühlschrank vor sich hin brummen, von dem mir vorher gar nicht klar war, dass er Geräusche macht. Generell wurde mir jeden Tag aufs Neue bewusst, warum eine WG so wichtig ist und aus welchen Gründen wir das bei WI so machen. Es fängt schon beim alleine einschlafen und aufwachen und jemandem von seinem Tag erzählen an. Vor allem für einen Austausch zum Projekt und belastenden Dingen ist die WG entscheidend. Aber auch Kleinigkeiten wie gemeinsam kochen, essen und vor allem lachen fehlen mir sehr und mir wurde klar wie wichtig solche „Kleinigkeiten“ sein können. Es sind unzählige Dinge, die das Leben in einer (2er) WG vom alleine Wohnen unterscheiden bzw. für mich Gründe,

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warum mir ein WG Leben deutlich besser gefällt. Aber die möchte ich jetzt gar nicht alle aufzählen.

Nachdem ich so lange Zeit nicht in Matagalpa richtig aktiv war, fiel mir auch der Start nicht ganz leicht. Hinzu fühlte ich mich alleine kraftlos, während ich natürlich Luka, die Zwischenseminargruppe verbunden mit der Gemeinschaft und dem Gruppengefühl vermisste und ein Teil meines Herzens noch in Kolumbien steckte.

Im Projekt fühlte es sich auch gleich anders an. Wie bereits gesagt, fehlt mir vor allem ein Austausch, aber im Vergleich zu meiner Wohnsituation ist dies das geringere Problem, denn im Hormiguitas bin ich von vielen tollen Menschen umgeben. Außerdem habe ich ein paar Aufgaben von Luka übernommen und arbeite mehr. Doch das höhere Arbeitspensum tut mir gut. Allgemein läuft es zurzeit im Projekt spitze, aber darüber werde ich in meinem nächsten Erfahrungsbericht wieder ausführlicher schreiben.

Für mich am schlimmsten war das Gefühl der Perspektivlosigkeit. Die Einsamkeit macht mir zu schaffen und leider stand und steht noch nicht fest wann und ob sie ein Ende nehmen wird bzw. ob ich wieder in einer WG wohnen werde. Dieses Gefühl, dass kein klares Ende in Sicht ist, überschattete meine letzte Zeit.

Aber was konnte und kann ich aus dieser schwierigen Zeit mitnehmen?

Man sagt, dass man aus dem Schwierigen oft das Meiste mitnehmen und lernen kann. Ob das stimmt weiß ich nicht, aber ich glaube ich konnte eine ganze Menge daraus ziehen und für mich entdecken. Damit möchte ich das alleine sein überhaupt nicht rechtfertigen, aber ich sehe die letzten 2 Monate als lehrreiche Erfahrung an und hoffe dennoch das es aufhört.

Erstens habe ich gemerkt, dass mir das zu viel alleine sein zurzeit nicht guttut und das Haus deswegen anders als sonst eben nicht der positive Rückzugsort ist. Anstatt mich also zu isolieren, war ich so viel es geht draußen. Ich war gezwungen nochmal mehr auf mein Umfeld in Matagalpa zuzugehen und konnte z.B. einige Bekanntschaften weiter ausbauen. So habe ich zum Beispiel viel Zeit bei und mit meinen Nachbarn verbracht oder mit der Marktfrau Nubia bei mir zuhause gekocht. Öfter haben Nica-Freunde bei mir übernachtet und auch im Projekt bin ich nun stärker verankert. Ich glaube auch mein Spanisch profitiert davon, dass ich nun außer am Telefon so gut wie gar kein Deutsch mehr spreche.

Zweitens musste ich nun ob ich wollte oder nicht mehr Zeit mit mir selbst verbringen. So lernte ich mich selbst besser kennen. Jetzt weiß ich, dass mir das alleine leben gerade nicht liegt, ich eher ein Gruppenmensch bin und lieber in einer WG leben würde. Das ist doch schonmal eine Erkenntnis. Außerdem hoffe ich doch, dass mir ebenfalls einiges hinsichtlich meiner Persönlichkeit klarer geworden ist – angefangen bei dem, was ich brauche und was nicht, was mir guttut und was nicht bis hin zu dem, was mir wirklich wichtig ist im Leben und was ich daraus machen möchte. Wie ihr seht hatte ich so manch sehr nachdenkliche Phase. So freute ich mich über jede Meldung von meiner Familie und Freunden um so mehr. Womit ich beim für mich wichtigsten Punkt angekommen bin: Wertschätzung und Dankbarkeit.

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Jetzt wo ich alleine wohne, kann ich ein WG-Leben, den Austausch, Zweisamkeit und alles was mir vorher in der Form nicht gefehlt hat noch mehr wertschätzen. Vorher war es für mich beinahe selbstverständlich diese Dinge genießen zu können, aber sollte ich sie deshalb weniger wertschätzen oder weniger dankbar dafür sein? Absolut nicht. Dies gab mir den Anreiz, für vieles mehr dankbarer zu sein. Das klingt leichter als es ist, hat mir aber unglaublich geholfen. Auch wenn sich vieles verändert hat, mich die Einsamkeit bedrückt und Luka und ich schwierige Zeiten durchmachen mussten, gibt es auf der anderen Seite auch vieles Positives. Diesen Blick für die Dinge die man hat, möchte ich weiter ausprägen anstatt ständig daran zu denken was mir gerade fehlt. Auch so lerne ich die Dinge, die ich habe weiter wertzuschätzen. Mir wurde klar, dass es darauf ankommt was man aus dem macht was man hat. Hierbei spielt auch Umstellung und Flexibilität eine wichtige Rolle. Wenn es mir z.B. immer viel bedeutete Momente am Abend mit Luka zu teilen, so lerne ich jetzt, sie für mich selbst zu erleben. So ist es mit vielen Dingen. Auf diese Weise versuche ich mein positives Denken zu trainieren und zu verbessern. Mir ist nämlich aufgefallen wie vieles schlichtweg von der Einstellung und Herangehensweise abhängt. Die Zeit hier ist einfach zu wertvoll, um sie jetzt zu vergeuden und nicht zu genießen. Natürlich ist es auch voll in Ordnung mal traurig zu sein. Doch ich finde es gilt das gesunde und angemessene Maß zu finden.

Einiges war gerade in den letzten 2 Monaten nicht optimal und für mich waren es bis jetzt die schwierigsten Monate in Nicaragua. Doch wenn ich mir diesen Erfahrungsbericht mal so durchlese und mir die Bilder anschaue gibt es eine Menge wofür ich dankbar sein kann.

Liebe Grüße

Euer Vincent