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Stout, Maria - Der Soziopath Von Nebenan

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Martha Stout Der Soziopath von nebenan Die Skrupellosen: ihre Lügen,

Taktiken und Tricks Übersetzt von Karsten Petersen Für meinen Bruder Steve Stout -der Erste, an den ich denke, wenn

es um Charakterstärke gehtDie Stärke eines Volkes ist sein

Gewissen. —John Dryden inhalt

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Danksagungen / xi Vorbemerkung/ xiii Einführung: EinGedankenspiel / 1

EINSDer siebte Sinn / 23 ZWEIMenschen aus Eis: Die

Soziopathen / 45 DREIWenn das normale Gewissen

schläft / 65 VIERDer netteste Mensch der Welt / 87

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FÜNFWarum das Gewissen

Scheuklappen trägt / 107 SECHSWie man die Erbarmungslosen

erkennt / 129 SIEBENDie Wurzeln der

Selbstgerechtigkeit: Was verursachtSoziopathie? / 149

ACHTDer Soziopath von nebenan / 175

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NEUNDie Ursprünge des Gewissens /

205 ZEHNBernies Entscheidung: Warum ein

Leben mit Gewissen besser ist / 227 ELF

Der Tag des Murmeltiers / 247 ZWÖLFDas Gewissen in seiner reinsten

Form: Die Wissenschaft plädiert fürdie Moral / 261

Anmerkungen / 273 Index / 285

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danksagungen Es ist eine fesselnde Aufgabe, ein

Buch zu schreiben. Häufig fühltman sich dabei weniger als Autordenn als Medium, das mit Hilfeseiner Finger und der Tastatur dieLehren und Anregungen zahlloserMenschen zu Papier bringt - weiserFreunde seit langen Jahren undRatgebern in Person von Studenten,Patienten und Kollegen. Ichwünschte, ich könnte in dieVergangenheit reisen, um ihnenallen zu danken. Gerne ergreife ichdiese Gelegenheit, mich bei denenzu bedanken, die mir während des

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Jahres, in dem ich Der Soziopathvon nebenan geschrieben habe,geholfen und mich unterstützthaben.

Für ihre Kritik, schiereUnentbehrlichkeit und ihre Gedulddanke ich meiner Freundin undKollegin Carol Kauffman mit ihrersagenhaften Kreativität beim Lösenvon Problemen. Sie hat mich nie imStich gelassen, obwohl sieg l e i c h z e i t i g Pivot Pointsgeschrieben hat.

Ohne das unermüdlicheEngagement meiner Agentin undgeschätzten Freundin Susan LeeCohen wäre dies alles nicht möglich

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gewesen. Sie hat stets ein offenesOhr, viel Verständnis und eingroßes Herz inmitten der Einödefür mich gehabt, und dafür dankeich ihr.

Hätte ich versuchen wollen, diebeste Lektorin der Welt zuerschaffen, hätte das Ergebnis dochnie so überragend sein können, wieKristine Puopolo bei BroadwayBooks es ist. Ich danke ihr für ihreIntelligenz, ihre Genauigkeit undihre außergewöhnliche Fähigkeit,leise Recht zu behalten, immer,ohne aber jemals aufdringlich zusein.

Ein Fallbeispiel, das ich

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beschrieben habe, beruht auf einerAnregung von Diane Wemyss; dafürdanke ich ihr, und auch für ihreFürsorge und Organisation. Ichdanke Elizabeth Haymaker für ihrefreundschaftliche Begleitungentlang des Weges.

Ich danke Steve Stout und DarcyWakefield dafür, dass sie mir denGlauben an die Liebewiedergegeben haben.

Wieder einmal - und immerwieder - danke ich meinenwundervollen Eltern, Eva DeatonStout und Adrian Phillip Stout. Ichdanke ihnen dafür, mir gezeigt zuhaben, wie viel Liebe und Licht zwei

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Menschen mit makellosemGewissen der Welt schenkenkönnen.

Und mit Ehrfurcht und mehrLiebe, als ich mir hätte vorstellenkönnen, bevor sie in mein Lebengetreten ist, möchte ich meinerTochter Amanda danken, meinerersten und klügsten Leserin. Nebenso vielen anderen Dingen hat siemich gelehrt, dass Güte undRedlichkeit aus der Seele kommen.

Vorbemerkung I n Der Soziopath von nebenan

werden keine bestimmten Personen

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beschrieben. Eine derGrundvoraussetzungen derPsychotherapie ist Vertraulichkeit.Gemäß üblicher Praxis habe ichsorgfältig die Privatsphäre allertatsächlich existierenden Personengeschützt. Alle Namen sind fiktiv,und alle anderen erkennbarenPersönlichkeitsmerkmale sindverändert worden. Einige derPersonen, die in diesem Buchvorkommen, haben bereitwilligzugestimmt, anonym beschriebenzu werden; jedoch werden inkeinem Fall Informationengegeben, die Rückschlüsse auf dieIdentität der jeweiligen Person

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zulassen würden.Die Geschichte im Kapitel "Der

Tag des Murmeltiers" ist erfunden.Alle anderen beschriebenenPersonen, Ereignisse undGespräche entstammen meinen 25Jahren psychologischer Praxis. Umabsolute Vertraulichkeit zu wahren,sind allerdings die auf diesen Seitengeschilderten Personen undUmstände Konglomerate; das heißt,dass jeder Fall mehrere Individuenrepräsentiert, deren Eigenschaftenund Erlebnisse zurVeranschaulichung adaptiertwurden. Die Einzelheiten sindsorgfältig verändert worden, bevor

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ich sie zu beispielhaftenPersönlichkeiten kombiniert habe.Jede Ähnlichkeit zwischen einersolchen fiktiven und einertatsächlich existierenden Personwäre rein zufällig.

EINFÜHRUNG ein gedankenspiel Die Seelen sind noch

unterschiedlicher als die Gesichter.— Voltaire Bitte versuchen Sie, sich

vorzustellen, kein Gewissen zu

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haben. Sie haben nicht die geringsteSpur eines Gewissens und keineGefühle von Schuld oder Reue -ganz egal, was Sie anstellen, plagenSie keine lästigen Skrupel über dasWohlbefinden von Fremden,Freunden oder gar Verwandten.Stellen Sie sich vor, es gäbe keinleidiges Hadern mit IhremSchamgefühl, kein einziges Mal inIhrem ganzen Leben, unabhängigdavon, ob Sie sich egoistisch, faul,rücksichtslos oder unmoralischverhalten. Und stellen Sie sichweiterhin vor, dass der Begriff"Verantwortung" Ihnen fremd wäre,außer vielleicht als eine Bürde, die

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andere Menschen offenbar wiegutmütige Trottel blind auf sichnehmen. Und nun erweitern Siedieses seltsame Gedankenspiel umdie Fähigkeit, Ihre so überaussonderbare psychische Dispositionvor anderen Menschen zuverbergen. Da jedermann wieselbstverständlich annimmt, dassdas Gewissen eine universellemenschliche Qualität ist, fällt esIhnen leicht, zu verheimlichen, dassSie kein Gewissen haben. KeinSchuld- oder Schamgefühl hemmtdie Erfüllung Ihrer Wünsche, undSie werden von niemandem wegenIhrer Gefühlskälte zur Rede

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gestellt. Die eisige Flüssigkeit, diein Ihren Adern fließt, ist sofremdartig, so abseits normalermenschlicher Erfahrungen, dasskaum einem Menschen derVerdacht kommt, dass mit Ihnenetwas nicht stimmen könnte.

Mit anderen Worten: Sie sindvöllig frei von internen Kontrollen,und Ihre ungehemmte Freiheit,ohne Skrupel alles das zu tun, wasSie wollen, ist bequemerweise fürden Rest der Welt nicht erkennbar.Sie können tun, was Sie wollen -und doch wird Ihr geheimnisvollerVorteil vor den meisten IhrerMitmenschen, die durch ihr

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Gewissen gelenkt werden, sehrwahrscheinlich verborgen bleiben.

Wie werden Sie Ihr Leben führen?Wie werden Sie Ihren gewaltigen,heimlichen Vorteil nutzen,angesichts der korrespondierendenSchwäche der anderen Menschen(dem Gewissen)? Die Antwort wirdweitgehend von Ihren Neigungenund Bedürfnissen abhängen, da dieMenschen unterschiedlich sind.Selbst die völlig Skrupellosengleichen sich nicht. EinigeMenschen - ob sie nun einGewissen haben oder nicht - neigenzur Bequemlichkeit, währendandere voller Träume und

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ungezügeltem Ehrgeiz sind.Manche Menschen sind brillantund begabt, andere sind einfältig,und die meisten liegen irgendwodazwischen, haben sie nun einGewissen oder nicht. Es gibtgewalttätige und friedfertigeMenschen, blutrünstige Individuenund andere, die keine solchenGelüste haben.

Vielleicht sind Sie jemand, den esnach Macht und Geld gelüstet, undwenn Sie auch keine Spur einesGewissens haben, so sind Sie dochmit überragender Intelligenzausgestattet. Sie haben den Drangund die geistigen Fähigkeiten, nach

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großem Wohlstand und Einfluss zustreben, und Sie werden in keinerWeise gehemmt durch die nagendeStimme des Gewissens, die andereMenschen daran hindert,rücksichtslos für ihren Erfolg zuleben. Sie entscheiden sich für eineLaufbahn in der Wirtschaft, Politik,Justiz, im Bankwesen, ininternationalen Projekten odereinem beliebigen anderenvielversprechenden Metier, und Siebetreiben Ihre Karriere mit einerkalten Leidenschaft, die keinen deralltäglichen moralischen oderrechtlichen Einwände gelten lässt.Wenn es nützlich erscheint,

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fälschen Sie Dokumente undvernichten Beweise, fallen IhrenAngestellten und Ihren Kunden(oder Ihrer Wählerschaft) in denRücken, heiraten aus materiellenGründen, belügen vorsätzlichMenschen, die Ihnen vertrauen,versuchen, einflussreiche odereloquente Kollegen zu ruinierenund walzen abhängige undschutzlose Mitmenschenrücksichtslos nieder. Und das allestun Sie mit der exquisiten Freiheit,die völliger Gewissenlosigkeitentspringt.

Sie werden unvorstellbarerfolgreich, vielleicht sogar im

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globalen Maßstab, undunangreifbar. Warum auch nicht?Mit Ihren hervorragendenFähigkeiten und ohne einGewissen, das Sie einschränkt,können Sie alles erreichen.

Aber nein - nehmen wir an, Siesind anders. Sie sind ehrgeizig, ja,und für den Erfolg würden Sievieles tun, was Menschen miteinem Gewissen nicht einmal inErwägung ziehen würden, aber Siesind nicht besonders intelligent.Vielleicht sind Sie etwasintelligenter als der Durchschnitt,und vielleicht hält man Sie fürclever, womöglich sogar für sehr

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clever. Aber in der Tiefe IhresHerzens wissen Sie, dass Sie wederdie geistigen Fähigkeiten noch dieKreativität haben, um dieschwindelerregenden Höhen derMacht zu erreichen, von denen Sieinsgeheim träumen. Und daserzeugt einen Groll auf die Welt ansich, und Neid auf IhreMitmenschen.

In diesem Falle würden Sie sich ineiner Nische einrichten odervielleicht einer Reihe von Nischen,in denen Sie eine gewisse Machtüber einige wenige Menschenausüben könnten. Vielleichtkönnten Sie so Ihren Machthunger

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zum Teil befriedigen, obwohl Siefortwährend unzufrieden darüberwären, nicht mehr Macht zubesitzen. Es ist aufreibend, so freivon dieser lächerlichen innerenStimme zu sein, die andere amErreichen von Macht hindert, ohneselbst begabt genug zu sein, diehöchsten Stufen des Erfolgeserklimmen zu können. Gelegentlichverfallen Sie in mürrische, reizbareLaunen, aus einer Frustrationheraus, die nur Sie selbst verstehen.

Aber Sie mögen Jobs, die Ihneneine gewisse, kaum beaufsichtigteMacht über einige wenigeEinzelpersonen oder kleine

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Gruppen verleihen, vorzugsweiseüber Menschen oder Gruppen, dierelativ hilflos oder in gewisserHinsicht verletzlich sind. Sie sindLehrer oder Psychotherapeut,Scheidungsanwalt oder Trainer imSchulsport. Oder vielleicht sind Sieeine Art Berater, ein Makler,Inhaber einer Galerie oder in einergehobenen Position in einemsozialen Beruf tätig. Oder vielleichtgehen Sie gar keiner bezahltenTätigkeit nach, sondern sindVorsitzender Ihres Gemeinderates,ehrenamtlich in einemKrankenhaus tätig oder Sie sind einErziehungsberechtigter.

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Was immer auch Ihr Job seinmag: Sie manipulieren undschikanieren die Menschen unterIhrem Einfluss, so oft und soniederträchtig Sie können, ohnegefeuert oder zur Verantwortunggezogen zu werden. Sie tun das ausSelbstzweck, ohne besonderenGrund, außer vielleicht, um sicheinen Nervenkitzel zu verschaffen.Menschen nach Ihrer Pfeife tanzenzu lassen, bedeutet, dass Sie Machthaben - oder zumindest empfindenSie das so -, und andere zuschikanieren verschafft Ihnen einenAdrenalinstoß. Es macht Spaß.

Vielleicht reicht es nicht, um

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Vorstandsvorsitzender einesmultinationalen Konzerns zuwerden, aber Sie können ein paarLeuten Angst einjagen oder sie wiekopflose Hühner umherscheuchenoder sie bestehlen oder - und das istvielleicht der größte Spaß - sie dazubringen, sich zu schämen. Und dasist Macht, und zwar gerade dann,wenn die manipulierten PersonenIhnen auf die eine oder andere Artüberlegen sind. Am spannendstenist es, Menschen zu demütigen, dieklüger oder qualifizierter sind alsSie, oder vielleicht kultivierter,attraktiver, beliebter odertugendhafter. Das macht nicht nur

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großen Spaß; es ist existenzielleVergeltung. Und ohne ein Gewissenist es verblüffend einfach in die Tatumzusetzen. Sie servieren IhremChef - oder dessen Chef - einekleine Lüge, vergießen ein paarKrokodilstränen oder sabotierendas Projekt eines Kollegen odertäuschen einen Patienten (oder einKind), ködern Menschen mitVersprechungen oder streuen einfalsches Gerücht, das man nicht zuIhnen zurückverfolgen kann.

Oder nehmen wir an, dass Sie einMensch sind, der zu Gewalttätigkeitoder Gewaltdarstellungen neigt. Siekönnen einfach Ihren Kollegen

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umbringen oder ihn umbringenlassen - oder Ihren Chef, Ihren Ex-Mann oder den Mann Ihrerwohlhabenden Geliebten odereinen beliebigen anderenMenschen, der Ihnen im Wegesteht. Sie müssen vorsichtig sein,denn falls Sie einen Fehler machen,könnten Sie gefasst und durch dasSystem bestraft werden. Aber Siewerden nie von Ihrem Gewissen zurRechenschaft gezogen werden, daSie kein Gewissen haben. Falls Sieeinen Mord begehen, werden Sielediglich mit den externenSchwierigkeiten fertig werdenmüssen. Nichts innerhalb Ihrer

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Persönlichkeit wird jemals Protesterheben.

Falls Sie nicht aufgehaltenwerden, können Sie buchstäblichalles tun. Wenn Sie zur passendenZeit geboren werden, Zugang zueinem Familienvermögen habenund besonders begabt dafür sind,den Hass und das Gefühl derBenachteiligung IhrerMitmenschen zu schüren, könnenSie es erreichen, eine große Zahlargloser Menschen ins Jenseits zubefördern. Mit genug Geld könnenSie das aus der Ferne arrangieren,sich in Sicherheit wiegen undzufrieden Ihr Werk betrachten. In

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der Tat ist (ferngesteuerter)Terrorismus die idealeBeschäftigung für blutrünstige undgewissenlose Menschen - stellt manes richtig an, kann man eine ganzeNation in Aufruhr versetzen. Wenndas nicht Macht ist, was dann?

Oder lassen Sie uns dasentgegengesetzte Extremannehmen: Sie sind nicht an Machtinteressiert. Im Gegenteil, Sie sindein Mensch, der kaum echteInteressen hat. Ihr einzigeswirkliches Anliegen ist es, sichnicht allzu sehr anstrengen zumüssen, um durchs Leben zukommen. Sie wollen nicht arbeiten

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wie alle anderen. Ohne einGewissen können Sie dösen oderIhren Hobbies nachgehen oder denganzen Tag fernsehen oder einfachnur den lieben langen Tag irgendwoherumhängen. Wenn Sie etwas amRande der Gesellschaft leben undvon Verwandten und Freundengesponsert werden, können Sie dasbeliebig lange so treiben. Vielleichtwürde man sich zuflüstern, dass Sienichts leisten, depressiv sind, eintrauriger Fall, oder andererseits,falls man sich über Sie ärgert,könnte man grummeln, dass Siefaul sind. Lernt man Sie besserkennen und ärgert sich wirklich

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über Sie, würde man Sie vielleichtanschreien und einen Verlierer oderPenner nennen. Aber man würdeniemals auf die Idee kommen, dassSie buchstäblich kein Gewissenhaben und dass daher Ihre ganzePsyche fundamental von der Normabweicht.

Nie bedrückt Sie das panischeGefühl eines schlechten Gewissensoder lässt Sie mitten in der Nachthochschrecken. Trotz IhresMüßiggangs sind Ihnen Gefühlevon Verantwortungslosigkeit,Nachlässigkeit oder Peinlichkeitvöllig fremd, wenn Sie auchgelegentlich um des schönen

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Scheins willen solche Gefühlevortäuschen. Wenn Sie zumBeispiel ein guter Beobachter vonMenschen und ihren Reaktionensind, könnten Sie ein bekümmertesGesicht aufsetzen und behaupten,Sie würden sich für IhrenLebenswandel schämen und davonsprechen, wie schlecht Sie sichfühlen. Das tun Sie aber nur, weil esfür Sie bequemer ist, wenn IhreMitmenschen Sie für depressivhalten, als wenn sie Sie ständiganschreien oder dazu drängenwürden, sich eine Arbeit zu suchen.

Sie stellen fest, dass Menschen,die ein Gewissen haben, sich

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schuldig fühlen, wenn siejemandem Vorhaltungen machen,den sie für "depressiv" oder"gestört" halten. Tatsächlich fühltman sich oft - zu Ihremzusätzlichen Vorteil - verpflichtet,einer solchen Person zu helfen.Falls es Ihnen, obwohl Sievergleichsweise mittellos sind,gelingen sollte, eine sexuelleBeziehung zu jemandemherzustellen, könnte sich diesePerson - ohne zu ahnen, wie Siewirklich sind - besondersverpflichtet fühlen. Und da Sielediglich vermeiden wollen zuarbeiten, muss Ihr Sponsor nicht

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einmal sonderlich begütert sein - esgenügt, wenn er oder sieeinigermaßen anständig ist.

Ich vertraue darauf, dass dieVorstellung, ein solcher Mensch zusein, Ihnen verrückt vorkommt,denn solche Menschen sindverrückt - und zwar gefährlichverrückt. Verrückt, aber real - esgibt sogar eine Bezeichnung für sie.Viele Psychologen bezeichnen daspartielle oder völlige Fehlen einesGewissens als "antisozialePersönlichkeitsstörung". Dabeihandelt es sich um eine unheilbareDeformation des Charakters, vonder nach heutigem Wissensstand

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wahrscheinlich vier Prozent derBevölkerung betroffen sind - alsoeiner von 25 Menschen.1 Für dasFehlen eines Gewissens gibt esauch andere Bezeichnungen; amhäufigsten wird "Soziopathie"verwendet oder der etwasgeläufigere BegriffPsychopathie.2Das Fehlen vonSchuldgefühlen war die erste derPsychiatrie bekanntePersönlichkeitsstörung; im Laufedes vergangenen Jahrhundertswurde sie auch als manie sansdelire, psychopathischeMinderwertigkeit ("psychopafhicinferiority") und moralischer

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Schwachsinn ("moral insanity" oder"moral imbecility") bezeichnet.

Nach der aktuellen"Diagnosebibel" der Psychiatrie,d e m Diagnostic and StatisticalManual of Mental Disorders der"American Psychiatric Association"(APA), sollte die klinische Diagnoseeiner "antisozialenPersönlichkeitsstörung" in Betrachtgezogen werden, wenn eine Personmindestens drei der folgendensieben Eigenschaften aufweist: (1)abweichendes Sozialverhalten; (2)hinterlistiges, manipulativesVerhalten; (3) Impulsivität,mangelnde Planungsfähigkeit; (4)

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Reizbarkeit, Aggressivität; (5)rücksichtslose Gefährdung derSicherheit der eigenen Person oderanderer Menschen; (6)fortwährendeVerantwortungslosigkeit; (7)fehlende Reue nach Verletzung,Misshandlung oder Bestehlen eineranderen Person. Das Auftreteneiner beliebigen Kombination vonmindestens drei dieser "Symptome"reicht aus, um bei vielenPsychiatern den Verdacht auf dieStörung auszulösen.

Viele andere Forscher undKliniker, die meinen, dass dieDefinition der APA eher

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"Straffälligkeit" beschreibt als echte"Psychopathie" oder "Soziopathie",verweisen auf andere belegteEigenschaften von Soziopathen.4Eine solche Eigenschaft, die häufigbeobachtet wird, ist ein glatter undoberflächlicher Charme, der esechten Soziopathen erleichtert,Menschen zu verführen, imübertragenen oder wörtlichen Sinne- eine Art Ausstrahlung, einCharisma, das sie zunächstreizvoller oder interessantererscheinen lässt als die Menschenin ihrem Umfeld. Sie sindspontaner, einnehmender,vielschichtiger, attraktiver oder

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unterhaltsamer als andere.Bisweilen geht dieses"soziopathische Charisma" einhermit einem übertriebenenSelbstwertgefühl, das zunächstüberzeugend wirkt, sich aber häufigbeim näheren Hinsehen als seltsamoder gar lächerlich erweist. ("EinesTages wird man merken, welch einbesonderer Mensch ich bin" oder"Weißt du, nach mir wird dir keinanderer Liebhaber gut genug sein.")

Darüber hinaus habenSoziopathen einüberdurchschnittlich ausgeprägtesBedürfnis nach Stimulation, wasdazu führt, dass sie häufig soziale,

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gesundheitliche, finanzielle oderrechtliche Risiken eingehen. MitVorliebe verführen sie andere dazu,sich gemeinsam mit ihnen aufgefährliche Unternehmungeneinzulassen, und durchweg sind siefür ihre krankhafte Verlogenheit,Betrügereien und parasitärenBeziehungen zu "Freunden"bekannt. Unabhängig davon, wiegebildet oder erfolgreich sie alsErwachsene sein mögen, haben sieoft eine Historie früherVerhaltensauffälligkeiten, zumBeispiel Drogenmissbrauch oderStraffälligkeit als Kind oderHeranwachsender, und stets lehnen

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sie jegliche Verantwortung fürsolche Probleme ab.

Besonders auffällig ist das flacheGefühlsleben5 von Soziopathen, derhohle und flüchtige Charakter vonGefühlen der Zuneigung, die sie zurSchau stellen und eine frappierendeGefühlskälte. Ihnen fehlt jede Spurvon Mitgefühl ("empafhy") und einechtes Interesse, Gefühlsbindungenmit einem Partner einzugehen.Nachdem die charmante Oberflächeabgenutzt ist, sind ihre Ehenlieblos, einseitig und fast immervon kurzer Dauer. Sofern einEhepartner überhaupt einen Wertfür den Soziopathen hat, sieht er

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ihn als Besitz an, ob dessen Verluster vielleicht Ärger empfindet, abernie Traurigkeit oder garVerantwortlichkeit.

Alle diese Charakteristika sind,neben den von der AmericanPsychiatric Associationaufgeführten "Symptomen", derAusdruck einer für die meistenMenschen unergründlichenpsychischen Befindlichkeit, demFehlen unseres lebenswichtigensiebten Sinns - dem Gewissen.

Verrückt und beängstigend - undreal, bei etwa vier Prozent derBevölkerung.

Aber was bedeuten diese vier

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Prozent für die Gesellschaft? Umeinen Bezug zu Problemenherzustellen, von denen manhäufiger hört, bedenke man diefolgenden Zahlen: Magersucht trittbei etwa 3,4 Prozent derBevölkerung auf, was als fastepidemisch betrachtet wird, unddoch ist dieser Wert niedriger alsdie Verbreitung der antisozialenPersönlichkeitsstörung. Dieschweren Störungen, die man alsSchizophrenie klassifiziert, tretennur bei etwa einem Prozent derBevölkerung auf - das ist lediglichein Viertel der Verbreitung derantisozialen

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Persönlichkeitsstörung. DieGesundheitsbehörden ("Centers forDisease Control and Prevention")geben an, dass Darmkrebs in denUSA bei 40 von 100.000 Personenauftritt, was als "alarmierend hoch"eingestuft wird - und doch nur einHundertstel der Verbreitung derantisozialen Persönlichkeitsstörungausmacht. Etwas pointierterausgedrückt bedeutet das, dass esmehr Soziopathen unter uns gibtals Menschen, die unter großeröffentlicher Aufmerksamkeit anMagersucht leiden, viermal so vieleSoziopathen wie Schizophrene, undhundertmal so viele Soziopathen

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wie Patienten, die an Darmkrebs,einer bekannten Geißel derMenschheit, leiden.

Als Therapeutin bin ich auf dieBehandlung von Patientenspezialisiert, die ein psychischesTrauma erlebt haben. Im Laufe dervergangenen 25 Jahre haben sichHunderte von Erwachsenen inmeiner Praxis eingefunden, die anjedem Tag ihres Lebens seelischeQualen zu ertragen hatten, wegenMissbrauchs im Kindesalter oderanderer entsetzlicher Erlebnisse. Inmeinem Buch The Myth ofSanity(Der Mythos Vernunft)6 habe ichanhand von Fallbeispielen die

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zahllosen Leiden meinerTraumapatienten beschrieben, zumBeispiel chronische Angstzustände,lähmende Depressionen unddissoziative Zustände. Viele vonihnen haben sich in dem Gefühl, ihrLeben sei unerträglich, nachüberwundenen Suizidversuchen anmich gewandt. Einige sind vonNaturkatastrophen wie Erdbebentraumatisiert worden, andere vonmenschengemachten Katastrophenwie Kriegen, aber die meisten vonihnen sind durch einzelnemenschliche Täter unterdrückt undpsychisch vernichtet worden, undzwar oft durch Soziopathen -

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manchmal durch ihnen fremdeSoziopathen, aber häufiger durchsoziopathische Eltern, ältereVerwandte oder Geschwister. Beidem Versuch, meinen Patientenund ihren Familien bei derBewältigung der ihnen zugefügtenVerletzungen zu helfen, habe icherkannt, dass die von denSoziopathen in unserer Mitteverursachten Schädenschwerwiegend und dauerhaft, oftin tragischer Weise tödlich underschreckend alltäglich sind. Bei derArbeit mit Hunderten vonÜberlebenden habe ich dieÜberzeugung gewonnen, dass es

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eine dringende Notwendigkeit füruns alle ist, offen und direkt mitden Umständen der Soziopathieumzugehen.

Etwa eine von fünfundzwanzigPersonen ist soziopathisch, was imWesentlichen heißt, dass sie keinGewissen hat. Es ist nicht etwa so,dass diese Personengruppe denUnterschied zwischen gut und bösenicht erkennen könnte; vielmehrhat der Unterschied keinen Einflussauf ihr Verhalten. Die rationaleUnterscheidung zwischen gut undböse löst nicht den emotionalenAlarm aus - oder die Gottesfurcht -,die wir anderen erleben. Ohne das

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geringste Gefühl von Schuld undohne Reue kann eine von 25Personen jegliche Schandtatbegehen.

Die große Verbreitung vonSoziopathie in der menschlichenGesellschaft hat gravierendeAuswirkungen auf uns andere, diewir auch auf diesem Planeten lebenmüssen, und zwar auch auf jene,die nicht traumatisiert worden sind.Die Individuen, aus denen diesevier Prozent bestehen, plündernunsere Beziehungen, Bankkontenund unser Selbstwertgefühl aus undstören unseren Frieden auf Erden.Und doch wissen die meisten

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Menschen erstaunlicherweisenichts über diesePersönlichkeitsstörung, und wenndoch, denken sie nur angewalttätige Psychopathen, anMörder, Serienkiller oderMassenmörder, an Individuen, dieimmer wieder auf spektakuläreWeise das Gesetz gebrochen habenund die, falls sie gefasst werden,durch unsere Strafjustiz eingesperrtoder gar zu Tode gebracht werden.Für gewöhnlich sind wir uns derviel größeren Anzahl nicht-gewalttätiger Soziopathen unter unsnicht bewusst, und normalerweiseerkennen wir sie nicht - Menschen,

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die nicht in eklatanter Weise dieGesetze brechen und vor denenunser Rechtssystem kaum einenSchutz bietet.

Die meisten Menschen würdenkeinen Zusammenhang erkennenzwischen der Planung einesVölkermordes und zum Beispieldem schamlosen Anschwärzeneines Kollegen bei dessen Chef.Aber der psychischeZusammenhang existiert nicht nur,er ist beklemmend. Die Verbindungbesteht schlicht und ergreifenddarin, dass der innereMechanismus fehlt, der uns -emotional gesprochen - in die

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Zange nimmt, wann immer wir eineEntscheidung treffen, die wir alsunmoralisch, unanständig,verantwortungslos oder egoistischansehen. Die meisten von unswerden einen Anflug von Schuldverspüren, wenn wir das letzteStück Kuchen in der Küche nehmen- ganz zu schweigen von dem, waswir fühlen würden, wenn wirvorsätzlich und systematisch denPlan fassen würden, einen anderenMenschen zu verletzen. Diejenigen,die keine Spur eines Gewissenshaben, sind eine Gruppe für sich,seien sie nun mörderischeTyrannen oder lediglich

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rücksichtslose Sozialschmarotzer.Das Vorhandensein oder Fehlen

des Gewissens ist eine tiefe Kluft,die die Menschheit spaltet, wohlsignifikanter als Intelligenz, Rasseoder sogar das Geschlecht. Waseinen Soziopathen, der von derArbeit anderer lebt, von einemunterscheidet, der bei Gelegenheiteinen Supermarkt ausraubt oder einGangsterboss ist - oder was denUnterschied zwischen einemgewöhnlichen Rowdy und einemsoziopathischen Mörder ausmacht -ist nicht mehr als gesellschaftlichesAnsehen, Zielstrebigkeit,Intelligenz, Mordlust oder

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schlichtweg die passendeGelegenheit. Was alle dieseIndividuen von uns anderenunterscheidet, ist das gähnendeLoch an der Stelle ihrer Seele, wosich eigentlich die am höchstenentwickelte menschliche Qualitätbefinden sollte.

Für etwa 96 Prozent von uns istdas Gewissen so selbstverständlich,dass wir kaum je darübernachdenken. Meist funktioniert eswie ein Reflex. Falls die Versuchungnicht gerade unwiderstehlich ist(was im Alltag zum Glück nurselten vorkommt), reflektieren wirkeineswegs jede einzelne

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moralische Entscheidung, die sichuns stellt. Wir fragen uns nichternsthaft, "Soll ich meinemSprössling heute Geld fürsSchulessen mitgeben oder nicht?""Soll ich meinem Kollegen heutedie Aktentasche klauen oder nicht?""Soll ich heute meinen Ehepartnerverlassen oder nicht?" DasGewissen trifft alle dieseEntscheidungen für uns, in allerStille, automatisch und ständig, sodass wir uns selbst in unserenkühnsten Phantasien ein Lebenohne Gewissen nicht vorstellenkönnten. Und so können wirnatürlich, wenn sich jemand völlig

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gewissenlos verhält, auch nurErklärungen finden, die nichtweiter von der Wahrheit entferntsein könnten: "Sie muss vergessenhaben, dem Kind Essensgeld zugeben." "Sein Kollege muss seineAktentasche selbst verlegt haben.""Seine Frau muss unausstehlichgewesen sein." Oder wir denken unsErklärungen aus, die das jeweiligeunsoziale Verhalten beinaheerklären könnten, wenn man esnicht allzu genau nähme: Er ist"exzentrisch" oder "künstlerisch"oder "sehr ehrgeizig" oder "faul"oder "hat keine Ahnung" oder war"schon immer ein Schlawiner".

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Abgesehen von denpsychopathischen Monstern, dieman im Fernsehen sieht, und derenUntaten ohnehin zu entsetzlich füreine Erklärung sind, können wirgewissenlose Menschen fast nieerkennen; sie sind unsichtbar füruns. Wir interessieren uns sehrdafür, wie klug wir sind, und für dieIntelligenz anderer Menschen. Daskleinste Kind erkennt denUnterschied zwischen einemJungen und einem Mädchen.Wegen der Zugehörigkeit zuverschiedenen Rassen werdenKriege geführt. Aber dasmöglicherweise bedeutendste

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einzelne Unterscheidungsmerkmal,das die Menschheit spaltet - dasVorhandensein oder Fehlen einesGewissens - bleibt uns verborgen.

Nur sehr wenige Menschen, wiegebildet sie auch anderweitig seinmögen, kennen die Bedeutung desW ortes soziopathisch. Und nochviel weniger ist ihnen klar, dasssehr wahrscheinlich dieses Wort zuRecht auf eine Hand voll Menschenangewendet werden könnte, die siekennen. Und selbst nachdem wirden Begriff kennen gelernt haben,ist es für die meisten Menschennicht möglich, sich das Fehlen einesGewissens vorzustellen. In der Tat

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ist es schwierig, sich eine Situationvorzustellen, die sich so beharrlichdem Verständnis entzieht. VölligeBlindheit, krankhafteDepressionen, schwereWahrnehmungsstörungen, einLotteriegewinn und tausendeanderer extremer menschlicherErfahrungen, selbst eine Psychose,können wir uns vorstellen. Wir allehaben uns schon einmal in derDunkelheit verlaufen. Wir sind alleschon niedergeschlagen gewesen.Wir sind uns alle schon dummvorgekommen, zumindest ein- oderzweimal. Die meisten von unshaben schon einmal in Gedanken

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eine Liste aufgestellt, was sie miteinem plötzlichen, unverhofftenVermögen anstellen würden. Unddes Nachts in unseren Träumensind unsere Gedanken undVorstellungen verwirrt.

Aber sich überhaupt nicht zuscheren um die Folgen unseresVerhaltens für die Gesellschaft, fürFreunde, Verwandte, für unsereKinder7. Wie, um Himmels Willen,wäre das? Was würden wir mit unsselbst anfangen? Nichts in unseremLeben, wach oder im Schlaf, gibtuns dafür einen Anhaltspunkt. Amnächsten kämen wir vielleichtdurch die Erfahrung so großer

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körperlicher Schmerzen, dass esuns vorübergehend unmöglichwäre, zu handeln oder klar zudenken. Aber selbst unterSchmerzen existiertSchuldbewusstsein. Ein völligesFehlen von Schuldbewusstseinübersteigt die Vorstellungskraft.

Das Gewissen ist unserallwissender Zuchtmeister; esdiktiert die Regeln für unserVerhalten und verhängt emotionaleStrafen, wenn wir die Regelnbrechen. Wir haben nie um einGewissen gebeten. Es ist einfach da,immer, wie die Haut, die Lungeoder das Herz. Man könnte sagen,

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dass das noch nicht einmal unserVerdienst ist. Und wir können unsnicht vorstellen, wie wir uns ohneGewissen fühlen würden.

Das Fehlen desSchuldbewusstseins ist auch alsmedizinisches Konzept seltsamwidersprüchlich. Ganz imGegensatz zu Krebs, Magersucht,Schizophrenie, oder sogar denanderen "Charakterstörungen", wiezum Beispiel Narzissmus, scheintSoziopathie auch einen moralischenAspekt zu haben. Soziopathenwerden fast immer als böse oderdiabolisch angesehen, selbst (odergerade) von Psychologen, und das

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Gefühl, dass diese Patientenirgendwie moralisch anstößig undbeängstigend sind, schlägt sichlebhaft in der Literatur nieder.

Robert Hare, Professor derPsychologie an der Universität vonBritish Columbia in Kanada, hat diePsychopathie-Checkliste7entwickelt, einenFragebogen, der mittlerweileweltweit unter Forschern undKlinikern als Standard-Diagnoseinstrument anerkannt ist.Über seine Probanden schreibtHare, der leidenschaftsloseWissenschaftler: "Jeder Mensch,einschließlich der Experten, kann

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von ihnen vereinnahmt,manipuliert, betrogen und verwirrtzurückgelassen werden. Eingeschickter Psychopath kann einKonzert auf der Gefühlsklaviaturj e d e s Menschen spielen. ... Ihrbester Schutz ist es, das Wesendieser Raubtiere inMenschengestalt zu verstehen."Und Hervey Cleckley, Autor des1941 erschienenen Klassikers TheMask of Sanity9(Die Maske derVernunft), beklagt sich so über denPsychopathen: "Schönheit undHässlichkeit - es sei denn, in einemsehr oberflächlichen Sinne -bedeuten ihm nichts. Das Böse, die

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Liebe, das Grauen und der Humorkönnen ihn nicht berühren."

Man könnte sich leicht auf denStandpunkt stellen, dass dieBezeichnungen "Soziopathie" und"antisozialePersönlichkeitsstörung" falschgewählt sind und eine variableAnsammlung von Ideenreflektieren, und dass das Fehleneines Gewissens als psychiatrischeKategorie ohnehin nicht sinnvollist. In diesem Zusammenhangmuss beachtet werden, dass alleanderen psychiatrischen Befunde(einschließlich des Narzissmus) miteinem gewissen Ausmaß an

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subjektiv empfundenem Leidenoder Unbehagen des Patienteneinhergehen. Soziopathie ist somitdie einzige "Störung", die denBetrof fenen nicht stört - sieverursacht keine subjektivenBeschwerden. Soziopathen sind oftganz zufrieden mit sich und ihremLeben, und vielleicht gibt es geradedeswegen keine wirksame"Therapie". In der Regel begebensich Soziopathen nur dann in eineTherapie, wenn das von einemGericht angeordnet wurde oderwenn anderweitige Vorteile durchden Status als Patient erlangtwerden können. Der Wunsch, sich

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zu bessern, ist selten der wahreBeweggrund. All dies wirft die Frageauf, ob ein fehlendes Gewissen einepsychiatrische Störung oder einstrafrechtlich relevanter Umstandist - oder gar etwas völlig anderes.

Einzigartig in seiner Eigenschaft,selbst gestandene Fachleute zuenervieren, nähert sich das Konzeptder Soziopathie bedrohlich unserenVorstellungen von Seele und demKampf des Guten gegen das Böse,und diese Assoziation erschwert es,sachlich mit dem Themaumzugehen. Und derunvermeidliche, dem Probleminnewohnende Standpunkt des "die

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gegen uns" wirft wissenschaftliche,moralische und politische Fragenauf, an denen man verzweifelnkönnte. Wie kann man einPhänomen wissenschaftlichuntersuchen, das zumindestteilweise moralischer Natur ist?Wer sollte unsere professionelleHilfe und Unterstützungempfangen, die "Patienten" oder dieMenschen, die sie ertragenmüssen? Indem die psychologischeForschung Methoden entwickelt,Soziopathie zu "diagnostizieren" -wen sollten wir testen? Sollteüberhaupt ein Bürger einer freienGesellschaft einer solchen Diagnose

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unterzogen werden? Und nachdemjemand unzweifelhaft als Soziopathdiagnostiziert worden ist, was -wenn überhaupt etwas - kann dieGesellschaft mit dieser Informationanfangen? Kein anderer Befundwirft solcherlei ethisch und fachlichunstatthafte Fragen auf. DieSoziopathie, mit ihrer bekanntenVerbindung zu Verhaltensweisenwie Prügel und Vergewaltigung inder Ehe über Serienmord bis hinzur Anstiftung von Kriegen ist imgewissen Sinne die letzte undbeängstigendste Herausforderungder Psychologie.10

In der Tat, die irritierendsten

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Fragen werden kaum jemals auchnur geflüstert: Können wir mitSicherheit sagen, dass sichSoziopathie nicht für das jeweiligeIndividuum auszahlt? IstSoziopathie überhaupt eineStörung, oder ist sie nicht vielmehrzweckmäßig? Ebenso lästig ist dieUnsicherheit auf der Rückseite derMedaille: Zahlt sich das Gewissenaus für das Individuum oder dieGruppe, die es besitzt? Oder ist dasGewissen lediglich, wie es gernevon Soziopathen behauptet wird,ein psychologischer Pferch für dieMassen? Ob wir sie nun lautaussprechen oder nicht, solche

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impliziten Zweifel ragen bedrohlichüber einem Planeten empor, dessengrößte Berühmtheiten derGeschichte seit Jahrtausenden, bishin zum heutigen Tag, stetsGestalten waren, deren Unmoraljeden Maßstab gesprengt hat. Undin unserer heutigen Kultur ist esfast schon in Mode, andereMenschen auszunutzen, undskrupellose Geschäftspraktikenscheinen mit grenzenlosemReichtum belohnt zu werden. Ausihrer persönlichen Erfahrungkönnen die meisten von unsBeispiele dafür anführen, dass einskrupelloser Mensch gewonnen hat,

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und manchmal scheint es fast so,als sei ein anständiger Mensch nurein Trottel.

Stimmt es wirklich, dass Lügenkurze Beine haben, oder ist es nichtletztlich doch so, dass der nette Kerlals letzter durchs Ziel geht? Wirddie Minderheit der Schamlosentatsächlich die Erde übernehmen?

Solche Fragen reflektieren einThema, das ein zentrales Anliegendieses Buches ist. Es beschäftigtmich seit der Zeit kurz nach denKatastrophen vom 11. September2001, die allen rechtschaffenenMenschen große Pein verursachthaben und einige hat verzweifeln

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lassen. Ich bin ein durchwegoptimistischer Mensch, aberseinerzeit haben ich und einigeandere Psychologen und Studentenbefürchtet, dass unser Land undviele andere Nationen für langeJahre in hasserfüllten Konfliktenund von Rachegefühlenangestachelten Kriegen versinkenwürden. Wenn ich versucht habe,mich zu entspannen odereinzuschlafen, kam mir immerwieder aus dem Nichts eine Zeileaus einem dreißig Jahre altenapokalyptischen Lied in den Sinn:"Lachend entfaltet Satan seineSchwingen." Der beflügelte Satan

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vor meinem geistigen Auge warkein Terrorist, sondern eindämonischer Manipulator, der dieAnschläge der Terroristen benutzthat, um auf der ganzen Welt Hasszu schüren.

Das Interesse an meinemspeziellen Thema "Soziopathiegegen Gewissen" wurde bei mir ineinem Telefongespräch mit einemKollegen geweckt, einem gutenMenschen, der für gewöhnlichoptimistisch und voller Zuversichtist, aber seinerzeit - wie der Restder Welt - wie benommen unddemoralisiert war. Wir sprachenüber einen gemeinsamen Patienten,

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dessen suizidale Tendenzen sich inbeunruhigendem Maße verstärkthatten, anscheinend wegen derKatastrophen in den USA (und demes inzwischen wieder erheblichbesser geht, wie ich erleichtertberichten möchte). Mein Kollegesprach davon, wie zerrissen er sichselbst fühlte und dass er deswegenvielleicht nicht das übliche Maß anemotionaler Kraft für seinenPatienten würde aufbringenkönnen. Dieser außerordentlichfürsorgliche undverantwortungsvolle Therapeutbefürchtete, dass er, wie jedermannüberwältigt von den Ereignissen,

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seine Pflicht vernachlässigenkönnte. Mitten in seinerSelbstkritik hielt er inne, seufzte,und sagte mir in einem für ihngänzlich untypischen Tonfall:"Weißt du, manchmal frage ichm i c h : W a r u m sollte man einGewissen haben? Damit wird mandoch nur zum Verlierer."

Ich war außerordentlich irritiertdurch seine Frage, vor allem weilZynismus so gar nicht zu seinemWesen passt, das man wohl sonstals gesund und munter bezeichnenkann. Nach einer Weile antworteteich mit einer Gegenfrage: "Dannsage mir doch, Bernie, wenn du die

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Wahl hättest, ich meine, einewirklich freie Wahl in derAngelegenheit - die du natürlichnicht hast -, würdest du dich dafürentscheiden, ein Gewissen zuhaben, so wie du jetzt eines hast,oder würdest du es vorziehen, einSoziopath zu sein und ... also, jederSchandtat fähig zu sein?"

Er dachte einen Moment nach undsagte dann: "Du hast Recht,"(obwohl ich keineGedankenübertragung versuchthatte). "Ich würde mich für einGewissen entscheiden."

"Warum?" drängte ich ihn.Nach einer Pause und einem

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langgezogenen "Na ja ...", sagte erschließlich, "Also, Martha, ich weißnicht, warum. Ich weiß einfach nur,dass ich mich für das Gewissenentscheiden würde."

Und vielleicht wünsche ich mirdas nur, aber ich hatte denEindruck, dass sich Bernies Tonfallnach dieser Aussage ein weniggeändert hat. Er klang etwasweniger resigniert, und wirbegannen darüber zu sprechen, wieeine unserer Standesorganisationendie Menschen in New York undWashington unterstützen wollte.

Für lange Zeit nach diesemGespräch war ich fasziniert von

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dieser Frage meines Kollegen"Warum sollte man ein Gewissenhaben?" und von seinerEntscheidung, lieber mit einemGewissen zu leben als davon frei zusein, und von dem Umstand, dass ernicht sagen konnte, warum er sichso und nicht anders entscheidenwürde. Ein Moralist oder Theologehätte vielleicht geantwortet "Weiles richtig ist" oder "Weil ich einguter Mensch sein will". Aber meinFreund, der Psychologe, konntek e i n e psychologisch begründeteAntwort geben.

Ich bin der festen Überzeugung,dass wir den psychologischen

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Grund herausfinden müssen.Gerade jetzt, in einer Welt, die amRande der Selbstzerstörung durchWirtschaftskriminalität im globalenAusmaß, Terrorismus und Kriegedes Hasses zu stehen scheint,müssen wir wissen, warum - impsych ologisch en Sinne - einMensch mit einem Gewissen besserist als ein Mensch, der nicht vonGefühlen der Schuld oder der Reueeingeschränkt wird. Zum Teil istdieses Buch meine Antwort alsPsychologin auf diese Frage,"Warum sollte man ein Gewissenhaben?" Um den Gründen näher zukommen, werde ich zunächst

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Menschen beschreiben, die keinGewissen haben, die Soziopathen -wie sie sich verhalten, wie siefühlen. Anschließend will ichmithilfe der so gewonnenenEinsichten für die restlichen 96Prozent von uns untersuchen, wases wert sein könnte, mit einerEigenschaft ausgestattet zu sein, dieeinem oft das Leben erschwert,Schmerzen verursacht und - ja, inder Tat - einen einschränkt.

Dieses Buch ist auch meinVersuch, ehrenhafte Menschen vor"dem Soziopathen von nebenan" zuwarnen und dabei zu helfen, mitihm umzugehen. Als Psychologin

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und als Mensch habe ich mitansehen müssen, wie allzu vieleLeben fast zerstört worden sinddurch die Entscheidungen undHandlungen einiger wenigergewissenloser Menschen. DieseWenigen sind sowohl gefährlich alsauch verblüffend schwierig zuerkennen. Selbst wenn sie nichtkörperlich gewalttätig sind - undgerade dann, wenn sie uns vertrautsind und nahe stehen -, sind siedoch mit Leichtigkeit imstande, dasLeben einzelner Menschendurcheinander zu bringen und diemenschliche Gesellschaftinsgesamt unsicher zu machen.

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Meiner Ansicht nach ist dieDominanz von gewissenlosenMenschen über uns andere einbesonders verbreitetes undabstoßendes Beispiel für das, wasder Romancier F. Scott Fitzgeraldals "die Tyrannei der Schwachen"bezeichnet hat.12 Und ich meine,dass alle ehrenhaften Menschenerfahren sollten, wie sich solcheunmoralischen und skrupellosenMenschen im Alltag verhalten, umsie besser erkennen und effektivermit ihnen umgehen zu können.

Wenn es ums Gewissen geht,scheinen wir eine Gattung derExtreme zu sein. Wir müssen nur

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unsere Fernseher einschalten, umdiese verwirrenden Gegensätze zuerleben: Wir sehen Bilder vonMenschen auf den Knien, um einenWelpen aus einem Abflussrohr zuretten, gefolgt von Berichten überandere Menschen, die Frauen undKinder abschlachten und dieLeichen zu Stapeln aufschichten.Und in unserem gewöhnlichenAlltagsleben sind die Kontrasteebenso vielfältig, wenn auchvielleicht nicht so spektakulär. Ammorgen läuft jemand hinter unsher, um uns lächelnd denGeldschein zurückzugeben, den wirverloren haben, während uns am

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Nachmittag ein anderer grinsend imVerkehr den Weg abschneidet.

Bedenkt man das so radikalgegensätzliche Verhalten, das wirjeden Tag erleben, müssen wiroffen über beide Extrememenschlichen Wesens undVerhaltens sprechen. Um einebessere Welt zu schaffen, müssenwir den Charakter von Menschenverstehen, die wieselbstverständlich gegen dasGemeinwohl handeln, ohne jeglicheemotionale Hemmung. Nur durchden Versuch, das Wesen derGewissenlosigkeit zu verstehen,können wir die vielen

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Möglichkeiten erkennen, sichdagegen zu behaupten, und nur,indem wir die Dunkelheitdurchdringen, können wir demLicht zu mehr Kraft verhelfen.

Ich habe die Hoffnung, dass diesesBuch dazu beitragen wird, denzerstörerischen Einfluss derSoziopathen auf unsere Leben zubegrenzen. Jeder einzelneehrenhafte Mensch kann lernen,den "Soziopathen von nebenan" zuerkennen und dieses Wissen dazueinsetzen, seine gänzlichselbstsüchtigen Pläne zudurchkreuzen. Zumindest jedochkann man sich und seine Lieben vor

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dessen schamlosen Manövernschützen.

E I N S der siebte sinn Tugend ist nicht das Fehlen von

Lastern oder das Vermeidenmoralischer Versuchungen;Tugend ist belebt und eigenständigwie Schmerz oder ein Duft.

— G. K. Chesterton Heute morgen ist Joe, ein

5ojähriger Rechtsanwalt, fünfMinuten zu spät dran für ein

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äußerst wichtiges Meeting, das - mitihm oder ohne ihn - pünktlich umacht Uhr beginnen wird. Er musseinen guten Eindruck auf seineVorgesetzten machen, alsopraktisch alle Teilnehmer, und erwürde gern als erster mit denbetuchten neuen Mandantensprechen, deren Anliegen imBereich seines sich neuentwickelnden FachgebietesImmobilienverwaltung liegen. SeitTagen schon hat er sich auf dieBesprechung vorbereitet, da viel fürihn auf dem Spiel steht, undunbedingt will er zum Beginn desMeetings im Konferenzraum sein.

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Leider hatte der Heizofen in JoesStadthaus mitten in der Nacht denDienst eingestellt. Fröstelnd lief erauf und ab und sorgte sich, dass dieWasserleitungen einfrierenkönnten, während er auf denNotdienst der Heizwerke wartenmusste, bevor er zur Arbeit fahrenkonnte. Als der Handwerker eintraf,bat Joe ihn herein und ließ ihn inseiner Eile, das Meeting zuerreichen, in seinem Haus allein,um den Ofen zu reparieren, in derHoffnung, dass der Mann sich alshalbwegs vertrauenswürdigerweisen würde. Endlich konnteJoe zu seinem Audi rennen und

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sich auf den Weg ins Büro machen,wenn er auch nur noch 25 Minutenfür eine halbstündige Fahrt zurVerfügung hatte. Er beschloss, dieVerkehrsregeln nicht so genau zunehmen und die Verspätungaufzuholen.

Und nun rast Joe auf dervertrauten Strecke zur Arbeit, mitzusammengebissenen Zähnen undeinem gelegentlichen Fluch inRichtung langsamerer Autofahrer -oder eigentlich aller anderenFahrer. Er legt die Bedeutungeiniger roter Ampeln neu aus, fährtauf der Standspur an einem Stauvorbei und klammert sich

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verzweifelt an die Hoffnung, dass erirgendwie um acht Uhr im Bürosein könnte. Nachdem er drei grüneAmpeln in Folge passiert hat, steigtseine Zuversicht, dass er esschaffen könnte. Mit seiner rechtenHand tastet er nach seinerReisetasche auf dem Beifahrersitz,um sich zu vergewissern, dass er siemitgenommen hat. Denn er muss -als hätte er nicht schon genugProbleme - um 10:15 Uhr einenFlug nach New York erreichen, füreine Geschäftsreise, und er wirdkeinesfalls genug Zeit haben, umnach dem Meeting nach Hause zufahren und seine Reisesachen zu

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holen. Seine Hand berührt dasweiche Leder der Tasche - sie ist da.

Und genau in diesem Momentfällt es ihm ein: Er hat vergessen,Reebok zu füttern. Reebok ist Joesdreijähriger, hellbrauner Labrador.Er hat ihn so genannt, weil erseinen enthusiastischen neuenKameraden frühmorgens zumJoggen mitzunehmen pflegte, als erberuflich noch nicht so eingespanntwar. Als die berufliche Belastungwuchs und der morgendliche Ablaufsich änderte, hatte Joe den kleinenGarten hinter dem Haus eingezäuntund eine Hundeklappe im Kellerinstalliert, sodass der Hund

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selbständig nach draußen konnte.Inzwischen laufen sie nur noch amWochenende zusammen im Park.Aber mit oder ohne Joggen -Reebok verschlingt jede Wochemehrere Pfund Hundefutter nebsteinem umfangreichen Sortiment anEssensresten und mindestenseinem ganzen KartonHundeknochen. Der Appetit desjungen Hundes ist gewaltig, undfröhlich und zufrieden scheint erausschließlich für zwei Freuden zuleben - die gemeinsame Zeit mit Joeund sein Fressen.

Joe hatte sich Reebok angeschafft,als er noch ein Welpe war. Als Kind

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hatte Joes Vater ihm verboten, einHaustier zu halten, und er hattesich geschworen, einen Hund zuhaben, wenn er erwachsen underfolgreich sein würde - einengroßen Hund. Zunächst bedeuteteReebok für Joe nicht viel mehr alssein Audi - eine weitereAnschaffung, ein Symbol für seineUnabhängigkeit und seinenmateriellen Wohlstand. Aber baldverliebte sich Joe in den Hund - wiehätte er ihm widerstehen können?Reebok vergötterte Joebedingungslos - schon als Welpewar er ihm im ganzen Haushinterhergetapst, als wäre Joe die

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Inkarnation alles Guten imUniversum. Als sein Hündchen zueinem Hund heranwuchs, wurdeJoe klar, dass diese Kreatur eineebenso ausgeprägte undindividuelle Persönlichkeit besaßwie ein Mensch, und dass seinefeuchten, braunen Augenmindestens ebensoviel Seelehatten. Und nun legt Reebok, wannimmer Joe in diese Augen schaut,seine weiche, hellbraune Stirnhautin Falten und erwidert seinen Blick.Und so wirkt dieser süße,unbeholfene Hund seltsamnachdenklich, als könnte er JoesGedanken lesen und an ihnen

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teilhaben.Manchmal, wenn er - so wie heute

- eine Geschäftsreise machen muss,ist Joe für anderthalb Tage odersogar etwas länger nicht zu Hause,und stets begrüßt ihn Reebok beiseiner Rückkehr mit unbändigerFreude und augenblicklicherVergebung an der Tür. Bevor er aufeine solche Reise geht, lässt Joeimmer große Schüsseln mit Futterund Wasser zurück, damit Reeboksich selbst versorgen kann, wasauch ohne Probleme klappt. Aberdieses Mal, zwischen dem kaputtenHeizofen und seiner Panik, dasMeeting um acht Uhr zu verpassen,

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hat Joe das vergessen. Der Hundhat kein Futter und vielleicht nochnicht einmal Wasser und keineMöglichkeit, vor Joes Rückkehr amnächsten Abend welches zubekommen.

Vielleicht kann ich jemandenanrufen und um Hilfe bitten, denktJoe sich verzweifelt. Aber nein - erbefindet sich momentan zwischenzwei Freundinnen; niemand hateinen Schlüssel zu seinem Haus.

Seine vertrackte Lage beginnt ihmzu dämmern, und er packt dasLenkrad noch fester. Er mussunbedingt zu diesem Meeting, under kann es schaffen, wenn er

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einfach weiterfährt. Aber was wirdaus Reebok? Joe weiß, dass er nichtin anderthalb Tagen verhungernwird, aber er wird sich elend fühlen- und ohne Wasser - wie langedauert es, bis ein Tier verdurstetist? Joe hat keine Ahnung.Während er immer noch so schnellweiterfährt wie der Verkehr eszulässt, versucht er zu überlegen,was zu tun ist. Die verschiedenenMöglichkeiten schießen ihm durchden Kopf. Er kann um acht an demMeeting teilnehmen und dann nachHause fahren, um den Hund zufüttern. Aber dann würde er denFlug um 10:15 Uhr verpassen, und

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die Reise ist sogar noch wichtigerals das Meeting. Er kann an demMeeting teilnehmen und vorzeitiggehen. Nein, das würde man alsAffront empfinden. Er könnteversuchen, einen späteren Flug zuerwischen; aber dann wäre er sehrspät dran für seinen Termin in NewYork, würde ihn vielleicht sogarganz versäumen, was ihn den Jobkosten könnte. Er könnte den Hundbis morgen sich selbst überlassen.Er könnte jetzt umkehren, dasMeeting um acht im Büroverpassen, den Hund versorgen,und rechtzeitig zu seinem Flug um10:15 Uhr am Flughafen sein.

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Als ob er Schmerzen hätte, stöhntJoe laut auf und sackt in seinemSitz zusammen. Nur einige Straßenvom Büro entfernt hält er an einerBaustelle, ruft mit seinemMobiltelefon im Büro an und bittetdie Sekretärin, die Teilnehmer desMeetings darüber zu informieren,dass er nicht kommen kann. Erwendet das Auto und fährt nachHaus, um Reebok zu füttern.

Was ist das Gewissen? In gewisser Hinsicht ist es

erstaunlich, dass der Mensch, denwir Joe nennen, beschließt, eine

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wichtige Besprechung mitwohlhabenden Mandanten zuversäumen, einen Termin, auf dener sich mehrere Tage langvorbereitet hat. Zweifellos liegt esin seinem persönlichen Interesse,an diesem Meeting teilzunehmen.Zunächst tut er allesMenschenmögliche, um rechtzeitigzu dem Meeting zu kommen,riskiert, dass die Besitztümer inseinem Stadthaus durch einen ihmunbekannten Handwerkergestohlen werden und gefährdetseine Gesundheit durch riskantesFahren. Und dann, im letztenMoment, kehrt er um und füttert

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den Hund, ein argloses, sprachlosesWesen, das ihn noch nicht einmaltadeln könnte, wenn er esvernachlässigen würde. Joe opfertein sehr wichtiges persönliches Zielzugunsten einer Handlung, dieniemand bemerken wird (außervielleicht dem Handwerker); einEntschluss, der ihm keinen Centeinbringen wird. Was, um alles inder Welt, könnte einen jungen,ehrgeizigen Anwalt dazu bringen,sich so zu verhalten?

Die meisten Leser werdenzufrieden gelächelt haben, als Joeumgekehrt ist. Wir freuen uns überihn, weil er zurückfährt, um seinen

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Hund zu füttern. Aber warumfreuen wir uns? Ist es seinG ewi s s en , das Joes Verhaltenbestimmt? Ist es das, was wirmeinen, wenn wir eineanerkennende Bemerkung über dasVerhalten eines Menschen machen,zum Beispiel "Sein Gewissen hatdas nicht zugelassen"?

Was ist denn nun diesesunsichtbare, unentrinnbare,frustrierend unkorrumpierbareEtwas in uns, das wir "Gewissen"nennen?

Eine komplizierte Frage, selbst inBezug auf die kleine Anekdote vonJoe und Reebok - denn es gibt

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erstaunlicherweise eine ganzeReihe von Motiven abseits desGewissens, die, einzeln oderzusammengenommen, Joe - oderjeden von uns - dazu bewegenkönnten, vermeintlich zum eigenenNachteil zu handeln. So kann Joevielleicht einfach die Vorstellungnicht ertragen, von seiner Reisenach New York zurückzukehrenund einen verdursteten, totenLabrador in seiner Küchevorzufinden. Da er nicht weiß, wielange ein Hund ohne Wasserüberleben kann, will er diesesRisiko nicht eingehen, aber seineAbneigung gegen das entsetzliche

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Szenario kann man nicht gerade"Gewissen" nennen. Es ist eher soetwas wie Ekel oder Furcht.

Oder vielleicht wird Joe motiviertvon der Vorstellung, was seineNachbarn denken könnten, wennsie Reebok vor Hunger heulenhören, oder, schlimmer noch, wennsie erfahren, dass Reebok gestorbenist, allein und eingesperrt, währendJoe auf einer Geschäftsreise war.Wie kann er das jemals seinenFreunden und Bekannten erklären?Diese Sorge ist auch nicht wirklichJoes Gewissen, sondern eher dieErwartung großer Peinlichkeit undgesellschaftlicher Ächtung. Falls

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Joe aus diesem Grundezurückkehrt, um seinen Hund zufüttern, wäre er wohl kaum derErste, der eine Entscheidung ausGründen seines gesellschaftlichenAnsehens trifft; vielleicht würde erganz anders handeln, wenn ersicher sein könnte, dass niemandvon seinem Verhalten erfahrenwürde. Die Meinung unsererMitmenschen hält uns alle inSchach, wohl besser als jederandere Faktor.

Oder vielleicht ist das alles ein Teilvon Joes Selbstverständnis.Vielleicht will Joe sich nicht vorseinem geistigen Auge als ein Lump

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sehen müssen, der Tiere quält. Undvielleicht ist ihm sein Selbstbild alsanständiger Mensch wichtig genug,dass er, wenn er keine Alternativehat, lieber eine wichtigeBesprechung versäumt, als diesesSelbstbild zu beschädigen. Dies isteine besonders plausible Erklärungfür Joes Verhalten. Die Bewahrungdes Selbstbildes ist ein sattsambekanntes Motiv. In der Literaturund in vielen historischenDarstellungen menschlichenVerhaltens wird die Sorge um dasSelbstbild als "Ehre" bezeichnet.Für die "Ehre" sind Lebenhingegeben und Kriege geführt

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worden. Sie ist eine uralteTriebfeder. Und in der modernenPsychologie wird unsere Sicht vonuns selbst zur "Selbstachtung" - einSujet, über das vielleicht mehrpsychologische Fachbüchergeschrieben worden sind als überjedes andere einzelne Thema.

Vielleicht ist Joe willens, heute einpaar "Karrierepunkte"preiszugeben, um morgen miteinem guten Gefühl in den Spiegelsehen zu können und so in seinenAugen "ehrenhaft" zu bleiben. Daswäre löblich und sehr menschlich -aber es ist nicht das Gewissen.

Der faszinierende Kern des

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Themas ist, dass ein großer Teilunseres Verhaltens, dervermeintlich dem Gewissenentspringt, durch ganz andereFaktoren motiviert ist: Furcht,gesellschaftliche Zwänge, Stolz odereinfach nur Gewohnheit. Und wennes um Joe geht, werden einige Leservehement eine Erklärung seinerMotive befürworten, die ohneGewissen auskommt, da seinVerhalten zum Teil ohnehinfragwürdig ist. Routinemäßig lässter seinen jungen Hund für vieleStunden allein, manchmal für fastzwei Tage. An diesem Morgen, auchwenn er das Meeting versäumt und

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heimfährt, um den Hund zu füttern,will er doch den Flug um 10:15 Uhrnehmen und bis zum nächstenAbend abwesend sein. Reebok wirdallein und eingesperrt sein,abgesehen von dem kleinen,eingezäunten Areal hinter demHaus. Einen Hund einer solchenLage auszusetzen, ist nicht sehrnett - von Seiten Joes sprichtdaraus bestenfalls ein gewisserMangel an Mitgefühl für diesozialen Bedürfnisse des Tieres.

Allerdings, um der Wahrheit dieEhre zu geben: "Nett" zu sein alleinreicht nicht aus, um ein Gewissenzu haben. Für kurze Zeit kann jeder

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einigermaßen intelligente Soziopatheine engelsgleiche Nettigkeit an denTag legen, um seine eigenenmanipulativen Ziele zu erreichen.Und Menschen, die tatsächlich einGewissen haben, sind häufig trotzihres angenehmen Wesens achtlos,aus Ignoranz oder, wie vielleicht inJoes Fall, aus mangelndemMitgefühl oder allgemeinerpsychischer Verdrängung.

Angenehme Umgangsformen,kluges Verhalten, Rücksicht auf dieReaktionen anderer Menschen,ehrenhaftes Verhalten im Interesseunserer Selbstachtung - wie dasGewissen haben alle diese Faktoren

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in der Regel positive Auswirkungenauf den Lauf der Welt. Und einigevon ihnen - oder alle zusammen -mögen wohl manchmal dem Hundzu seinem Futter verhelfen, aberkeiner von ihnen macht dasGewissen eines Menschen aus - dadas Gewissen überhaupt keinVerhalten ist - nichts, was wir tunund auch nichts, worüber wirnachdenken oder grübeln würden.Das Gewissen ist etwas, das wirfühlen. Mit anderen Worten: DasGewissen manifestiert sich wederdurch Verhalten noch durchErkenntnis. Das Gewissen existiertprimär im Bereich des "Affekts",

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besser bekannt als Gefühl.Um diesen Unterschied zu

verdeutlichen, lassen Sie uns einenzweiten Blick auf Joe werfen. Er istnicht immer nett zu seinem Hund -aber hat er ein Gewissen? Aufwelcher Grundlage könnte zumBeispiel ein Psychologeentscheiden, dass Joes Verhalten,als er seinem Meeting fernblieb undnach Hause fuhr, um Reebok zuretten, durch sein Gewissenbestimmt wurde und nicht etwadurch Überlegungen über seinAnsehen bei anderen Menschen,seine Selbstachtung oder gar dieerwägenswerte finanzielle

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Betrachtung, dass er drei Jahrezuvor 1200 Dollar für einenreinrassigen Labrador-Welpenbezahlt hat, mit Garantie gegenStaupe und Herzschwäche?

Als Psychologin überzeugt michein Aspekt der Geschichte, den wirbisher noch gar nicht betrachtethaben - der Umstand, dass JoeZuneigung für Reebok empfindet.Er ist seinem Hund emotionalverbunden. Reebok folgt Joe imHaus herum, und Joe gefällt das.Joe versinkt in Reeboks Augen.Reebok hat Joe verändert, hat ihnvon einem Hundehalter, der mitseinem Hund angeben will, zu

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einem Hundehalter gemacht, der inseinen Hund verliebt ist. Undaufgrund dieser Bindung glaube ich,dass Joe möglicherweise durch seinGewissen motiviert worden ist,seinen ursprünglichen Planaufzugeben und nach Hause zufahren, um den Hund zu versorgen.Könnten wir Joe einWahrheitsserum verabreichen undihn fragen, was in ihm in demMoment vorging, als er beschloss,das Auto zu wenden, und würde erzum Beispiel antworten, "Ichkonnte einfach den Gedanken nichtertragen, dass Reebok die ganzeZeit hungern und dursten würde",

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wäre ich wahrscheinlicheinigermaßen davon überzeugt,dass Joes Verhalten in dieserSituation durch sein Gewissenbestimmt worden ist.

Meine Einschätzung würde aufder Psychologie des Gewissensselbst beruhen. Psychologischgesprochen ist das Gewissen einGefühl der Verpflichtung, dasletztlich auf einer Gefühlsbindungzu einem anderen Lebewesen(meist, aber nicht immer, einemMenschen) beruht, oder einerGruppe von Menschen oder gar derMenschheit insgesamt. DasGewissen existiert nicht ohne eine

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emotionale Bindung zu jemandemoder etwas, und somit ist dasGewissen eng verbunden mit demSpektrum an Gefühlen, das wir"Liebe" nennen. Diese Verbindungverleiht dem echten Gewissenseinen Rückhalt und seineerstaunliche Autorität über dieMenschen, die ein Gewissen haben,und wahrscheinlich auch seineverwirrende und frustrierendeQualität.

Das Gewissen kann uns zuscheinbar irrationalen oder garselbstzerstörerischenEntscheidungen motivieren, vonalltäglich bis heldenhaft, vom

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Verpassen eines 8-Uhr-Meetingsbis hin zum beharrlichenSchweigen unter Folter ausVaterlandsliebe. Sein Treibstoff istnichts anderes als unsere stärkstenGefühle der Bindung, und nurdarum hat es solche Macht überuns. Und es freut uns, Zeuge einesGewissensaktes zu werden oderdavon zu hören, selbst wenn es umetwas so alltägliches wie dasFüttern eines Hundes geht, da unsjede gewissenhafte Entscheidungan die kostbaren Bindungenerinnert, die ihre Basis sind. EineGeschichte über das Gewissen isteine Geschichte der Verbundenheit

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unter den Lebewesen, und inunbewusster Erkenntnis beglücktuns die eigentliche Botschaft derGeschichte. Wir verstehen, wiequälend Joes Gefühle sind,während er mit seinem Gewissenhadert, und wir freuen uns über Joeund Reebok - da wir uns immerüber Liebende freuen.

Die Geschichte des Gewissens Nicht jeder Mensch hat ein

Gewissen, dieses in unserenemotionalen Bindungen zu anderenverwurzelte, intervenierendeGefühl der Verpflichtung. Einige

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Menschen werden niemals dieexquisite Angst verspüren, dieentsteht, wenn man jemanden imStich lässt, verletzt, vernachlässigtoder gar tötet. Wenn die ersten fünfSinne die körperlichen sind - Sehen,Hören, Fühlen, Riechen,Schmecken - und wir oft unsereIntuition als den "sechsten Sinn"bezeichnen, dann kann dasGewissen bestenfalls an siebterStelle eingeordnet werden. Es hatsich später in der Evolution unsererArt entwickelt und ist nochkeineswegs universell.

Die Angelegenheit wird dadurchundurchsichtiger, dass wir für

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gewöhnlich im Alltag denUnterschied zwischen Menschenmit oder ohne Gewissen nichterkennen können. Könnte einehrgeiziger junger Rechtsanwaltmöglicherweise ein Gewissenhaben? Ja, möglicherweise. Könnteeine Mutter mehrerer kleinerKinder ein Gewissen haben?Natürlich könnte sie das. Könnteein Pfarrer, dem das seelische Wohleiner ganzen Gemeinde anvertrautist, ein gewissenhafter Menschsein? Wir wollen es hoffen. Könnteder mächtige politische Führereines ganzen Volkes ein Gewissenhaben? Mit Sicherheit.

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Könnte im Gegensatz dazu einerjeden dieser Personen das Gewissenvöllig fehlen? Die Antwort istabermals ein irritierendes Ja.

Die Anonymität des "Bösen" undseine irritierende Weigerung, sichzuverlässig an eine bestimmtegesellschaftliche Rolle, Rasse oderkörperliche Gestalt zu binden, hatvon jeher die Theologie und, injüngerer Vergangenheit, dieWissenschaft geplagt. Während dergesamten menschlichen Geschichtehaben wir nach Kräften versucht,"Gut" und "Böse" zu erklären undeinen Weg zu finden, jenen inunserer Mitte Rechnung zu tragen,

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die vom Letzteren beherrscht zusein scheinen. Im viertenJahrhundert führte ein christlicherGelehrter, der Heilige Hieronymus,das griechische Wort synderesisein, um die angeborene,gottgegebene Fähigkeit zubeschreiben, den Unterschiedzwischen Gut und Böse zuerkennen.13 Er interpretierteHesekiels biblische Vision von vierlebenden Wesen, die aus einerWolke erschienen, mit "einemFeuer, das hin- und herzuckte, undGlanz war rings um sie her". Jedesder Wesen hatte die Gestalt einesMenschen, aber vier verschiedene

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Gesichter. Das vordere Gesicht warmenschlich, das rechte Gesicht wardas eines Löwen, das linke Gesichtwar das eines Ochsen und dashintere Gesicht war das einesAdlers. In Hieronymus'Interpretation von Hesekiels Traumstand das menschliche Gesicht fürdie Vernunft, der Löwe für dieGefühle, der Ochse symbolisiertedas Verlangen und der erhabeneAdler war "jener Funke desGewissens, der selbst im HerzenKains nicht erloschen war ... derauch uns unsere Sünde fühlen lässt,wenn wir von schlechtemVerlangen oder ungezügeltem Geist

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überwältigt werden ... Und dochsehen wir in manchen Männerndieses Gewissen gestürzt undvertrieben; sie haben kein Gefühlder Schuld oder Scham für ihreSünden."

Hieronymus' illustrer Zeitgenosse,der Heilige Augustinus von Hippo,war sich mit Hieronymus einig überdas Wesen des Gewissens.14

Augustinus versicherte seinenAnhängern, dass "die Menschen dieRegeln der Moral erkennen, die imBuche des Lichts namens Wahrheitgeschrieben sind, aus dem alleGesetze abgeschrieben werden."

Aber ein beträchtliches Problem

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blieb. Da die Wahrheit - dasabsolute Wissen von Gut und Böse- allen Menschen von Gott gegebenworden ist, warum sind nicht alleMenschen gut? Warum sehen wirbei manchen Menschen "diesesGewissen gestürzt und vertrieben"?Und diese Frage blieb für vieleJahrhunderte im Zentrum dertheologischen Erörterungen desGewissens. Trotz dieserungeklärten Frage war dieAlternative - die Vorstellung, dassnur einige Menschen ein Gewissenhätten - indiskutabel, denn sie hättebedeutet, dass der Herrgott selbst,indem er einigen seiner Diener die

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Wahrheit vorenthalten hätte, dasBöse in der Welt erschaffen und inscheinbarer Zufälligkeit unter allenTypen und Unternehmungen derMenschheit verteilt hätte.

Eine Lösung des theologischenDilemmas um das Gewissen schiensich im dreizehnten Jahrhundertanzubahnen, als Thomas vonAquin15 eine etwas umständlicheUnterscheidung zwischen ders y n d e r e s i s des HeiligenHieronymus, dem unfehlbaren,gottgegebenen Wissen von Gut undBöse, und conscientia vorschlug,dem Ringen des fehlbarenmenschlichen Verstandes um die

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Entscheidung über das richtigeVerhalten. Um entscheiden zukönnen, wie man handeln sollte, istder Verstand von Gott mitvollkommenem Wissenausgestattet worden, aber derVerstand selbst ist schwach. Indiesem System sind fehlbaremenschlicheEntScheidungsprozesse, nicht dasFehlen eines Gewissens,verantwortlich für falscheEntscheidungen und Handlungen.Falsches Handeln ist schlicht einFehler. Im Gegensatz dazu, nachThomas von Aquin, "kannsynderesis nicht irren; sie sorgt für

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Prinzipien, die sich nicht ändern,ebenso wie die Gesetze, die dasmaterielle Universum beherrschen,sich nicht ändern."

Um diese Auffassung auf unserzeitgenössisches Beispielanzuwenden: Als Joe einfällt, dasssein Hund ohne Futter und Wasserist, sagt ihm die gottgegebene,angeborene synderesis (dasGewissen), dass es das absolutrichtige Verhalten ist, umzukehrenund den Hund zu versorgen.Conscientia, ein geistiger Disputüber das richtige Verhalten,berücksichtigt dann diese Wahrheit.Die Tatsache, dass Joe nicht sofort

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den Wagen wendet, sondernstattdessen einige Minuten damitverbringt, über das Problemnachzudenken, ist das Ergebnis dernatürlichen Schwachheit desmenschlichen Verstandes. Dass Joeam Ende die richtige Entscheidungtrifft, bedeutet aus Thomas vonAquins Sicht, dass Joes moralischeTugenden sich durch einenerstarkten Verstand in die richtigeRichtung entwickeln. Hätte Joebeschlossen, den Hund hungernund dursten zu lassen, hätte seinsolchermaßen geschwächterVerstand, theologisch gesprochen,seine moralischen Tugenden zur

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Hölle geschickt.Nach den frühen Kirchenvätern

lautet die theologischeQuintessenz: l. die Regeln derMoral sind absolut; 2. allenMenschen ist das Wissen um dieabsolute Wahrheit angeboren; und3. schlechtes Verhalten ist dasErgebnis fehlerhaften Denkens,nicht das Fehlen von synderesis,oder Gewissen - und da wir alle einGewissen haben, gäbe es keinschlechtes Verhalten, wenn nur dermenschliche Verstand vollkommenwäre. Und tatsächlich sind dies diedrei Glaubenssätze über dasGewissen, die von den meisten

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Menschen während des größtenTeils der modernen Geschichte fürrichtig gehalten wurden. IhrEinfluss auf unser Denken über unsselbst und andere ist nach wie vorunschätzbar. Besonders das dritteDogma hält sich hartnäckig. Fastein Jahrtausend nachdem Thomasvon Aquin seine These übersynderesis aufgestellt hat, ziehenwir eine aktualisierte Fassung desParadigmas vom "schwachenVerstand" heran, wenn jemandfortwährend ein Verhalten an denTag legt, das wir gewissenlosfinden. Wir spekulieren, dass derMissetäter sozial benachteiligt ist,

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dass sein Verstand gestört ist oderdass eine widrige Kindheit ihn sohandeln lässt. Wir sträuben uns mitHänden und Füßen gegen die vielnaheliegendere Erklärung, dassentweder Gott oder die Natur esversäumt hat, ihn mit einemGewissen auszustatten.

Über mehrere Jahrhundertehatten Diskurse über das Gewissendie Tendenz, um die Beziehungzwischen menschlichem Verstandund gottgegebener Kenntnis derMoral zu kreisen. Einige periphereGesichtspunkte kamen hinzu, injüngster Zeit die Debatte umProportionalismus, eine göttliche

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Hintertür, in der uns der Verstandauffordert, etwas "Schlechtes" zutun, um etwas "Gutes" zu bewirken- zum Beispiel, einen "gerechtenKrieg" zu führen.

Aber zu Beginn des zwanzigstenJahrhunderts erfuhr das Gewissenselbst eine fundamentaleVeränderung, durch die in Europaund den USA wachsende Akzeptanzder Theorien des Arztes undWissenschaftlers (und Atheisten)Sigmund Freud. Freud entwickeltedie These, dass in der Psychekleiner Kinder im Laufe dernormalen Entwicklung eineinternalisierte Autoritätsfigur, das

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Über-Ich, entsteht, das im Laufe derZeit tatsächlich vorhandene externeAutorität ersetzt - wobei die externeAutorität nicht Gott, sondern dieEltern des Kindes sind.16 Faktischentrang Freud mit seiner"Entdeckung" des Über-Ichs dasGewissen den Händen Gottes undlegte es in die begierigen Klauen derallzu menschlichen Familie. DieserUmzug des Gewissens erforderteeinige gewaltige Änderungen inunserem jahrhundertealtenWeltbild. Plötzlich hatten unseremoralischen Führer tönerne Füße,und die absolute Wahrheit begann,sich den Unwägbarkeiten des

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kulturellen Relativismusunterzuordnen.

Freuds neues Modell der Strukturder Psyche war nicht viergeteiltzwischen Mensch, Löwe, Ochse undAdler. Stattdessen war esdreigeteilt, seine Vision bestand ausdem Über-Ich, dem Ich und dem Es.Das Es setzte sich zusammen ausallen sexuellen und irrationalenaggressiven Instinkten, mit denenwir geboren werden, und denbiologischen Bedürfnissen. Alssolches stand das Es oft im Konfliktmit den Erfordernissen einerzivilisierten Gesellschaft. ImGegensatz dazu war das Ich der

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rationale, bewusste Teil der Psyche.Es konnte logisch denken, Plänemachen und sich erinnern, und dadas Ich so ausgestattet war, konntees direkt mit der Gesellschaftinteragieren und, mehr oderweniger, die Belange desprimitiveren Es berücksichtigen.Das Über-Ich entwickelte sich ausdem Ich, indem das Kind dieexternen Regeln seiner Eltern undder Gesellschaft verinnerlichte.Letztlich entwickelte sich das Über-Ich zu einer eigenständigen Kraft inder heranreifenden Psyche, dieeinseitig das Verhalten und dieGedanken des Kindes beurteilt und

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lenkt. Es war die befehlende, dieRute des Schuldgefühlsschwingende innere Stimme, dienein sagte, auch wenn niemandanders anwesend war.

Das Grundkonzept des Über-Ichsist einleuchtend. Oft können wirbeobachten, wie Kinder die Regelnihrer Eltern verinnerlichen undsogar durchsetzen. (Mutter runzeltdie Stirn und sagt zu ihrervierjährigen Tochter: "KeinSchreien im Auto." Einige Minutenspäter zeigt dieselbe Vierjährigegebieterisch auf ihre lärmendezweijährige Schwester und schreit:"Kein Schreien im Auto!") Und die

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meisten von uns haben alsErwachsene schon die Stimme deseigenen Über-Ichs gehört. Einigevon uns hören sie in der Tatziemlich oft. Es ist die Stimme inunserem Kopf, die zu uns sagt: "DuIdiot! Warum hast du das getan?"oder "Also, wenn du diesen Berichtnicht heute Abend fertig stellst,wird es dir Leid tun." oder "Dusolltest deine Cholesterinwertechecken lassen." Und in derGeschichte von Joe und Reebokkönnte Joes Entscheidung, dasMeeting zu verpassen, sehr wohlvon seinem Über-Ich getroffenworden sein. Zur

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Veranschaulichung könnten wirspekulieren, dass Joeshaustierfeindlicher Vater ihm, als ervier Jahre alt war, zu sagen pflegte,"Nein, mein kleiner Joe, wir könnenkeinen Hund anschaffen. Ein Hundist eine riesige Verantwortung.Wenn du einen Hund hast, musstdu immer das stehen und liegenlassen, was du gerade tust und dichum ihn kümmern." JoesEntscheidung als Erwachsenerkönnte sehr wohl von seinem Über-Ich gelenkt worden sein, das daraufbestand, diese Anweisung wörtlichzu befolgen.

Etwas abwegiger könnte Freud

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selbst sich gefragt haben, ob JoesÜber-Ich den gesamtenmorgendlichen Ablauf eingefädelthaben könnte, natürlich unbewusst- so sehr in Eile zu sein undvergessen zu haben, dasHundefutter bereitzustellen -, umso die Richtigkeit von Vaters Regelzu "beweisen" und Joe dafür zu"bestrafen", dass er sich einHaustier angeschafft hatte. Dennnach der Freudschen Theorie ist dasÜber-Ich nicht nur eine Stimme; esist ein Akteur, ein subtiler undraffinierter Manipulator, der Rechtbehalten will. Es verfolgt, urteiltund straft, und zwar weitgehend

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außerhalb unseres Bewusstseins.Während das Über-Ich im bestenFalle dem Einzelnen dabei helfenkann, in der Gesellschaftzurechtzukommen, kann es aberauch zum anmaßendsten undvielleicht destruktivsten Bestandteilseiner Persönlichkeit werden. Einbesonders barsches, im Kopf einesMenschen hämmerndes Über-Ichkann nach Meinung vonPsychoanalytikern lebenslangeDepressionen verursachen oder garsein bedauernswertes Opfer in denSelbstmord treiben.

Und so führte Freud den sehrweltlichen Gedanken ein, dass das

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Gewissen einiger Menschenrepariert werden müsse und dassdie Psychoanalyse das leistenkönne.

Außerdem verbanden Freud undseine Anhänger - und das war nochschockierender - die endgültigeEtablierung des ÜberIchs beimKind mit der erfolgreichenVerarbeitung des Ödipuskomplexes.Der Ödipuskomplex (bei Mädchenmanchmal Elektrakomplexgenannt) entsteht, wenn das Kindim Alter zwischen drei und fünfJahren beginnt zu begreifen, dass esden andersgeschlechtlichenElternteil nie ganz besitzen wird.

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Etwas prosaischer ausgedrückt:Jungen müssen akzeptieren, dasssie ihre Mutter nicht heiratenkönnen und Mädchen müssenakzeptieren, dass sie ihren Vaternicht heiraten können. ÖdipaleKonflikte und die sich darausergebenden, auf dengleichgeschlechtlichen Elternteilgerichteten Gefühle derKonkurrenz, Furcht und Ablehnungsind laut Freud so mächtig undbedrohlich für die familiärenBindungen des Kindes, dass siegründlich "verdrängt", also vomBewusstsein abgeschirmt werdenmüssen, und diese "Verdrängung"

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wird durch eine nachdrücklicheStärkung des jungen ÜberIchsermöglicht. Sollten danach für denandersgeschlechtlichen Elternteilsexuelle Gefühle entstehen oder einGefühl der Rivalität zumgleichgeschlechtlichen Elternteil,würden diese Gefühle durch einegefürchtete und erbarmungsloseWaffe des nunmehr erstarktenÜber-Ichs besiegt werden - durchein sofortiges, unerträglichesGefühl der Schuld. Auf diese Weiseerlangt das Über-Ich seineAutonomie und Macht in derPsyche des Kindes. Es ist einstrenger Zeremonienmeister im

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Dienste unseres Bedürfnisses, einTeil der Gruppe zu bleiben.

Was immer man auch sonst vonsolchen theoretischenÜberlegungen halten mag, mussman Freud doch das Verdienstzuschreiben, erkannt zu haben, dassunsere Moral kein einheitlicher,hermetisch abgeschlossener Kodexist, sondern sich dynamisch undeng verbunden mit denlebenswichtigen familiären undgesellschaftlichen Bindungenentwickelt. Durch seineVeröffentlichungen zum Über-Ichvermittelte Freud der erwachendenWelt der Wissenschaft, dass uns der

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übliche Respekt vor Gesetz undOrdnung nicht nur von außenauferlegt wird. Wir befolgen dieRegeln und ehren die Tugendenvornehmlich aus einem inneren, inder frühen Kindheit entstehendenBedürfnis heraus, unsere Familienund die menschliche Gesellschaft,in der wir leben, zu bewahren undin sie eingebettet zu sein.

Gewissen und Über-Ich Was immer man davon halten

mag, das Über-Ich alsintrapsychischen Intriganten oder,um mit Freud zu sprechen, als

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"Erbe des Ödipuskomplexes"anzusehen, so muss man doch dasKonzept des Über-Ichs an sich alsergiebig und nützlich anerkennen.Das Über-Ich wird von den meistenMenschen bereitwillig als ein Teilihrer persönlichen Erfahrungenakzeptiert, als innere Stimme, diesich durch unsere wichtigenkindlichen Beziehungen entwickelthat, unsere Unzulänglichkeitenkritisiert und unsere Fehltrittetadelt. "Mach das nicht." "So darfstdu nicht denken." "Pass auf, duwirst dir wehtun." "Sei lieb zudeiner Schwester." "Räum dasChaos auf, das du angerichtet hast."

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"Du kannst es dir nicht leisten, daszu kaufen." "Na, das war aber nichtbesonders schlau, oder?" "Du musstdich darum kümmern." "Hör auf,deine Zeit zu vertrödeln." Jeden Tagunseres Lebens jammert ständigdas Über-Ich in unserem Kopf. Undbei einigen Menschen kann dasÜber-Ich ziemlich beleidigendwerden.

Und doch ist das Über-Ich nichtdas Gewissen. Es mag sichsubjektiv wie das Gewissenanfühlen und ist vielleicht einkleiner Teil dessen, was dasGewissen ausmacht, aber das Über-Ich allein ist kein Gewissen, da

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Freud, als er das Konzept des Über-Ichs entwickelte, sozusagen dasKind mit dem Bade ausgeschüttethat. Indem er die absolute Moralaus dem psychologischen Denkenverbannte, schloss er auch etwasanderes aus. Mit leichter Handverstieß er die Liebe und alleGefühle, die der Liebe nahe stehen.Wenn er auch oft gesagt hat, dassKinder ihre Eltern nicht nurfürchten, sondern auch lieben,basierte das von ihm beschriebeneÜber-Ich gänzlich auf Furcht. Ausseiner Sicht fürchten wir als Kinderdie tadelnde Stimme des Über-Ichsebenso wie die strengen

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Zurechtweisungen unserer Eltern.Und Furcht ist alles. Im FreudschenÜber-Ich ist kein Platz für diegewissensbildenden Einflüsse vonLiebe, Mitgefühl, Zärtlichkeit oderjeglichem anderen positivenGefühl.

Und das Gewissen ist, wie wir beiJoe und Reebok gesehen haben, einintervenierendes Gefühl derVerpflichtung, das auf unserenemotionalen Bindungen zu anderenbasiert - allen Aspekten unsereremotionalen Bindungen - undinsbesondere Liebe, Mitgefühl undZärtlichkeit umfasst. In der Tatbasiert der siebte Sinn - bei denen,

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die ihn haben - vor allem auf Liebeund Mitgefühl. Wir sind über dieJahrhunderte vom Glauben an einegottgegebene synderesis über dieVorstellung eines autoritären,strafenden Über-Ichs zu derEinsicht gelangt, dass das Gewissentief und bewegend in unsererFähigkeit verankert ist, Mitgefühlfüreinander zu empfinden. Dieserzweite Schritt - von einem Richterim Kopf zu einem Mandat desHerzens - bedeutet eine wenigerzynische Sicht des menschlichenWesens, mehr Hoffnung für uns alsGemeinschaft, aber auch mehrpersönliche Verantwortung und -

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manchmal - mehr individuellenSchmerz.

Zur Veranschaulichung stellen Siesich vor, dass Sie eines Nachtsunter undenkbar absurdenUmständen vorübergehend denVerstand verlieren, sich zum Hauseiner besonders liebenswertenNachbarin schleichen und ohnebesonderen Grund ihre Katzeumbringen. Kurz vor Tagesanbruchkommen Sie wieder zur Vernunftund begreifen, was Sie getan haben.Wie fühlen Sie sich? Wie genaureagieren Sie in IhremSchuldbewusstsein? Verdeckt durchdie Wohnzimmergardine

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beobachten Sie Ihre Nachbarin, wiesie aus dem Haus kommt und dieKatze entdeckt. Sie fällt auf dieKnie, sie nimmt ihren leblosenLiebling auf und hält ihn im Arm.Sie weint unaufhörlich.

Was ist Ihre erste Reaktion?Donnert eine Stimme in IhremKopf: "Du sollst nicht töten! Dafürwirst du ins Gefängnis kommen!" -und mahnt sie so an dieKonsequenzen, mit denen Sierechnen müssen? Oder fühlen Siesich stattdessen plötzlichhundeelend, weil Sie ein Tierumgebracht haben und IhreNachbarin sich die Augen

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ausweint? Welche dieserReaktionen wird sich wohl imersten Moment, als Sie IhreNachbarin beobachten, bei Ihneneinstellen? Es ist eineaufschlussreiche Frage. DieAntwort wird wahrscheinlichentscheiden, wie Sie sich verhaltenwerden und auch, ob Sie nur durchdie schrille Stimme Ihres Über-Ichsgelenkt werden oder durch einechtes Gewissen.

Eine ähnliche Frage stellt sich fürunseren alten Freund Joe.Beschließt er, das Meeting zuopfern, weil sein Vater ihm als Kinddurch seine ablehnende Haltung zu

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Hunden eine unbewusste Furchteingeimpft hat, oder bringt er dasOpfer, weil er sich angesichts dermisslichen Lage des Hundes elendfühlt? Was lenkt seineEntscheidung? Ist es das reineÜber-Ich oder ist es ein vollentwickeltes Gewissen? Falls es dasGewissen ist, dann ist JoesEntscheidung, dem Meetingfernzubleiben, ein kleines Beispieldafür, dass das Gewissen -ironischerweise - nicht immer dieRegeln befolgt. Menschen (undmanchmal Tiere) sind ihmwichtiger als Verhaltensregeln undstarre Erwartungen. Unterstützt

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durch starke Gefühle ist dasGewissen ein Bindemittel, das unszusammenhält, und Bindungensind ihm wichtiger alsGerechtigkeit. Es schätzthumanistische Ideale höher ein alsGesetze, und wenn es daraufankommt, würde das Gewissensogar ins Gefängnis gehen. DasÜber-Ich würde sich nie soverhalten.

Ein strenges Über-Ich tadelt unsund sagt: "Du bist ungezogen" oder"Du bist nicht gut genug." Einstarkes Gewissen drängt: "Dumusst dich um ihn [oder sie oder esoder alle zusammen] kümmern",

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koste es, was es wolle.Das auf Furcht basierende Über-

Ich bleibt hinter seinem dunklenVorhang, bezichtigt uns und ringtdie Hände. Das Gewissen treibt unsvoran, auf andere Menschen zu, inRichtung eines bewusstenVerhaltens im Kleinen wie imGroßen. Das auf Gefühlsbindungenbasierende Gewissen bringt diejunge Mutter, die selbst fast nochein Kind ist, dazu, statt ihresbevorzugten Nagellacks das kleineGlas Babynahrung zu kaufen. DasGewissen schützt die Intimsphärevor Missbrauch, lässt Freunde ihreVersprechen halten, hält den

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verärgerten Ehepartner davon ab,zurückzuschlagen. Es bewegt denmüden Arzt dazu, um drei Uhrmorgens am Telefon mit seinemverängstigten Patienten zusprechen. Es schlägt Alarm, wennMenschenleben durch Institutionengefährdet werden. Es treibt uns aufdie Straße, um gegen Krieg zudemonstrieren. Das Gewissen ist es,was die Menschenrechtsaktivistinsogar ihr Leben riskieren lässt.Kombiniert mit vorbildlichemmoralischen Mut ist es MutterTeresa, Mahatma Gandhi, NelsonMandela, Aung San Suu Kyi.

Im Kleinen und im Großen

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verändert das echte Gewissen dieWelt. Verwurzelt in emotionalerVerbundenheit lehrt es Frieden,widersteht dem Hass und rettetKinder. Es bewahrt Ehen undsaniert Flüsse und füttert Hundeund gibt behutsame Antworten. Esmacht einzelne Leben besser undmehrt die menschliche Würdeinsgesamt. Es ist real undunwiderstehlich, und es würde unsaus der Haut fahren lassen, wennwir unseren Nachbarn zugrunderichten wollten.

Das Problem ist, wie wir sehenwerden, dass nicht jeder Menschein Gewissen hat. In der Tat - vier

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Prozent der Menschen haben keins.Ich will nun eine solche Personbeschreiben - jemanden, derschlichtweg kein Gewissen hat -und sehen, wie er auf uns wirkt.

ZWEI menschen aus eis: die soziopathen Das Gewissen ist das Fenster der

Seele; das Böse ist der Vorhang.—Doug Horton Als Skip heranwuchs, hatte seine

Familie ein Ferienhaus an einemkleinen See in den Hügeln von

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Virginia, wo sie alljährlich einenTeil des Sommers verbrachte. Siemachten dort Urlaub, seit Skip achtJahre alt war, bis er inMassachusetts zur High Schoolging. Skip pflegte sich auf seineSommer in Virginia zu freuen. Esgab dort nicht viel zu unternehmen,aber der eine Zeitvertreib, den ersich ausgedacht hatte, machte sogroßen Spaß, dass er die allgemeineLangeweile aufwog. Wenn er imWinter wieder die Grundschulebesuchte und seinen Gedankennachhing, während ein stupiderLehrer sich endlos über etwasBelangloses ausließ, lachte er

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tatsächlich manchmal leise in sichhinein, wenn er sich vorstellte, wieer am Ufer des warmen Sees inVirginia sein Spiel spielte.

Skip war schon als Kind intelligentund hübsch. "Intelligent undhübsch", stellten seine Eltern, dieFreunde seiner Eltern und auchseine Lehrer immer wieder fest.Und so konnten sie nicht verstehen,warum seine Noten so mittelmäßigwaren oder warum er, als er älterwurde, so wenig Interesse daran zuhaben schien, mit Mädchenauszugehen. Sie wussten nicht, dasser schon, seit er elf war, mit vielenMädchen zusammen gewesen war,

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aber nicht ganz so, wie seine Elternund Lehrer sich das vorgestellthatten. Immer war ein - meistälteres - Mädchen zur Stelle, daswillens war, Skips Schmeicheleiund seinem charmanten Lächeln zuerliegen. Oft würde ihn dasMädchen auf ihr Zimmerschmuggeln, aber manchmalwürden er und ein Mädchen sicheinfach eine abgelegene Stelle aufeinem Spielplatz oder unter denTribünenplätzen auf dem Sportplatzsuchen. Was seine Noten angeht,war er äußerst aufgeweckt - er hätteglatte Einser haben können -, aberDreier konnte er ohne jede

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Anstrengung erreichen, und so hielter es auch. Manchmal bekam ersogar eine Zwei, was ihn amüsierte,da er nie für die Schule lernte. DieLehrer mochten ihn, schienen fastso anfällig für sein Lächeln undseine Komplimente zu sein wie dieMädchen und so erwartete man,dass der gute brave Skip eine guteHigh School und dann einordentliches College besuchenwürde, seiner Noten ungeachtet.

Seine Eltern waren sehrvermögend - "megareich", wie dieanderen Kinder es nannten. EinigeMale, als er etwa zwölf war, saß eran dem altmodischen Sekretär, den

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seine Eltern für sein Schafzimmergekauft hatten und versuchteauszurechnen, wie viel Geld erbekommen würde, wenn seineEltern starben. Grundlage seinerKalkulationen waren einigefinanzielle Unterlagen, die er ausdem Arbeitszimmer seines Vatersgestohlen hatte. Die Unterlagenwaren verwirrend undunvollständig, aber wenn er auchnicht zu einem genauen Ergebnisgelangen konnte, war Skip klar,dass er eines Tages ziemlich reichsein würde.

Und doch hatte Skip ein Problem:Meistens langweilte er sich. Die

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Zerstreuungen, denen er nachging,selbst die Mädchen, selbst dasFoppen der Lehrer, selbst dieGedanken an sein Geld, konntenihn nicht länger als vielleicht einehalbe Stunde am Stückbeschäftigen. DasFamilienvermögen schien dengrößten Unterhaltungswert zuversprechen, aber es war noch nichtunter seiner Kontrolle - er warschließlich noch ein Kind. Nein, dereinzige wirkliche Ausweg aus derLangeweile war der Spaß, den er inVirginia haben konnte. Die Ferienwaren gute Zeiten. In jenem erstenSommer, als er acht war, hatte er

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einfach die Ochsenfrösche mit einerSchere abgestochen, mangels eineranderen Methode. Er hatteherausgefunden, dass er dieFrösche an den morastigen Uferndes Sees ganz einfach mit einemKescher aus dem Angelschuppeneinfangen konnte. Er pflegte sie aufden Rücken zu drehen undfestzuhalten, stach in ihrehervorstehenden Bäuche unddrehte sie dann wieder um, damit erzusehen konnte, wie ihre blöden,glitschigen Augen abstarben,während sie verbluteten. Dannschleuderte er die Kadaver so weitwie möglich hinaus auf den See und

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kreischte ihnen nach, "Pech gehabt,du blödes kleines Arschgesicht!"

Es gab so viele Frösche an demSee. Er konnte Stunden damitverbringen, sie abzumurksen, undtrotzdem schienen Aberhundertefür den nächsten Tag übrig zubleiben. Aber bis zum Ende jenesersten Sommers hatte Skipbeschlossen, dass er es noch bessermachen könnte. Es wäre großartig,wenn er sie in die Luft sprengenkönnte; er brauchte etwas, womit erdie fetten kleinen Krötenexplodieren lassen konnte, und soentwickelte er einen prima Plan. ZuHause kannte er jede Menge älterer

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Jungs, und er wusste, dass einervon ihnen immer im April in denFrühjahrsferien mit seiner Familienach South Carolina fuhr. Skiphatte gehört, dass in South CarolinaFeuerwerkskörper verkauft werdenund dass man leicht an sieherankommen konnte. Motiviertdurch ein kleines Schmiergeld vonSkip sollte ihm sein Freund Timdort Knallkörper besorgen und amBoden seines Koffers zurück nachHause schmuggeln. Tim hatteAngst, das zu machen, aber mitaufmunterndem Zuspruch von Skipund genug Bestechungsgeld willigteer schließlich ein. Im

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darauffolgenden Sommer würdeSkip keine Schere, sondernKnallkörper haben!

Bargeld im Haus zu finden warkein Problem, und der Plan klapptebestens. Im April besorgte erzweihundert Dollar für eineSortimentspackung Knallkörpernamens "Star-Spangled Banner", fürdie er eine Anzeige in einerWaffenzeitschrift gesehen hatte,und weitere hundert Dollar, umTim das Geschäft schmackhaft zumachen. Als Skip endlich diePackung in Händen hielt, fand ersie großartig. Er hatte "Star-Spangled Banner" ausgesucht, weil

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sie die größte Anzahl an Knallernenthielt, die klein genug waren, um(fast) in das Maul einesOchsenfrosches zu passen. DiePackung enthielt winzigeSprühkerzen und einige "LadyFingers" - das waren schlanke,kleine, rote Böller - und einenBatzen Ein-Zoll-Böller namens"Wizards" und seine Favoriten:einige Zwei-Zoll-Böller in einerSchachtel, die sich mit derBezeichnung "Mortal Destruction"und einem Totenschädelschmückte.

Im Sommer steckte er dann dieKnallkörper, einen nach dem

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anderen, in die Mäulergefangengenommener Frösche,zündete sie an und warf die Fröscheüber dem See hoch in die Luft. Odermanchmal setzte er einen Froschmit entzündeter Lunte auf denBoden, lief ein Stück weg undbeobachtete aus einigerEntfernung, wie das Tier am Bodenexplodierte. Die Vorstellung warprächtig - Blut, Gekröse und Blitze,manchmal ein lauter Knall unddiese bunten, blumigen Formen. Sowundervoll waren die Ergebnisse,dass er sich bald nach einemPublikum für sein geniales Werksehnte. Eines Nachmittags lockte er

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seine sechsjährige Schwester Clairehinunter an den See, ließ sich vonihr helfen, einen Frosch zu fangenund ließ ihn dann vor ihren Augenin der Luft explodieren. Claire fingan, hysterisch zu schreien undrannte zurück zum Haus, so schnellsie konnte.

Das imposante "Ferienhaus" derFamilie stand etwa einen Kilometervom See entfernt hinter einerbeschaulichen Gruppe von 30Meter hohen Schierlingstannen.Die Entfernung war nicht so groß,dass Skips Eltern nicht den Lärmder Explosionen hätten hörenkönnen, und sie dachten, er würde

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am See Feuerwerkskörper zünden.Aber es war ihnen schon langeklargeworden, dass er kein Kindwar, das man hätte disziplinierenkönnen und dass sie sehr sorgfältigabwägen mussten, welcheAuseinandersetzungen sieaustragen wollten. Die Sache mitden Knallkörpern gehörte nichtdazu, selbst dann nicht, als diesechsjährige Claire ins Hausgerannt kam und ihrer Muttererzählte, dass der gute Skip Fröschein die Luft jagte. Skips Mutterstellte den Plattenspieler in derBibliothek auf volle Lautstärke undClaire versuchte, ihre Katze Emily

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in Sicherheit zu bringen. "Super Skip" Skip ist soziopathisch. Er hat kein

Gewissen - kein intervenierendesGefühl der Verpflichtung, das aufemotionalen Bindungen zu anderenbasiert - und sein späteres Leben,dem wir uns in Kürze zuwendenwerden, ist ein lehrreiches Beispieldafür, wie man sich einenintelligenten Erwachsenen ohneGewissen vorstellen kann.

So schwer es fällt unsvorzustellen, wie man sich ohne dieSpur eines Gewissens fühlen

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würde, so sehr fehlt uns diePhantasie, ein akkurates Bild einessolchen Menschen zu konstruieren.Findet er sich, unmoralisch undkaltherzig, isoliert am Rande derGesellschaft wieder? Droht undknurrt und geifert er vielleichtpermanent, ohne eine sofundamentale menschlicheEigenschaft? Man kann sich leichtvorstellen, dass Skip zu einemMörder herangewachsen seinkönnte. Vielleicht hat er am Endeseine Eltern ermordet, um an ihrGeld zu kommen. Vielleicht ist erselbst umgekommen oder hinterden Mauern eines

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Hochsicherheitsgefängnissesgelandet. Das mag plausibelklingen, aber nichts dergleichen isttatsächlich passiert. Skip ist nachwie vor am Leben, hat niemandenumgebracht, jedenfalls nicht direkt,und er hat - bis jetzt - noch keinGefängnis von innen gesehen. ImGegenteil, obwohl er das Geldseiner Eltern noch nicht geerbt hat,hat er Erfolg und ist reicher als einKönig. Und wenn Sie ihn jetztträfen, ihm als einem Unbekanntenim Restaurant oder auf der Straßebegegneten, würde er wie jederandere gepflegte Zeitgenossemittleren Alters in einem teuren

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Anzug auf Sie wirken.Wie kann das sein? Hat er sich

geändert? Hat er sich gebessert?Nein. Tatsächlich ist es jetzt nochschlimmer mit ihm. Er ist zu "SuperSkip" geworden.

Mit passablen - wenn auch nichtgerade großartigen - Noten, seinemCharme und dem Einfluss seinerFamilie wurde Skip tatsächlich indas renommierte Internat inMassachusetts aufgenommen;seine Familie atmete deswegen undauch wegen seiner nunausgedehnten Absenzen aus ihremAlltag erleichtert auf. Seine Lehrerfanden ihn noch immer

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charismatisch, während seineMutter und seine Schwester ihn alsmanipulativ und unheimlichkennen gelernt hatten. Claireerwähnte manchmal "Skipsunheimliche Augen", was bei ihrerMutter einen matten Blickhervorrief, der besagte: "Lass michin Ruhe damit." Die meistenanderen Menschen sahen nur einansehnliches junges Gesicht.

Als es ans Studieren ging, wurdeSkip an der Alma Mater seinesVaters (und ehedem seinesGroßvaters) aufgenommen, wo ersich schnell einen legendären Rufals Partylöwe und Schürzenjäger

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erarbeitete. Er machte, wiegewohnt, einen Dreier-Abschlussund wechselte dann an eineweniger prestigeträchtige Anstalt,um ein Diplom derBetriebswirtschaftslehre abzulegen,denn er hatte herausgefunden, dasser wohl mit seinen angeborenenTalenten meisterhaft im "Business"mitspielen und sich köstlichamüsieren könnte. Seine Notenwurden nicht besser, aber seinealtvertraute Fähigkeit, Menschenmit seinem Charme zu umgarnenund zu manipulieren, wurde immerraffinierter.

Mit sechsundzwanzig trat er in die

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Arika Corporation ein, einUnternehmen, das Anlagen zumSprengen, Bohren und Fördern imErzbergbau herstellte. Er hattestrahlende blaue Augen und stetsim richtigen Moment einentwaffnendes Lächeln, und seinenneuen Arbeitgebern schien er fastmagisch talentiert zu sein, Vertreterzu motivieren und potenzielleKunden zu überzeugen. Seinerseitsentdeckte Skip, dass dieManipulation gebildeterErwachsener keineswegsschwieriger war, als seinen jungenFreund Tim davon zu überzeugen,in South Carolina Knallkörper für

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ihn zu kaufen, und ganz natürlichwurde zunehmend eleganteresLügen zu Skips zweiter Natur. Nochbesser: Der chronisch gelangweilteSkip genoss den Druck riskanterGeschäfte auf der Überholspur undging bereitwillig Risiken ein, diekein anderer auf sich nehmenmochte. Noch vor seinem drittenJahr bei der Firma hatte erAbschlüsse mit chilenischenKupferminen und imsüdafrikanischen Goldbergbauunter Dach und Fach gebracht, undso machte er Arika zumdrittgrößten Lieferanten der Weltfür Anlagen im Bergbau, sowohl

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unter- wie übertage. ArikasGründer, den Skip insgeheim füreinen Trottel hielt, war so begeistertvon Skip, dass er ihm einennagelneuen Ferrari GTB als"Bonus" schenkte.

Mit dreißig heiratete Skip Juliette,die liebliche, sanftmütige, 23jährigeTochter eines gefeiertenMilliardärs, der sein Vermögen imÖlgeschäft gemacht hatte. Skipstellte sicher, dass Juliettes Vater inihm den brillanten, ehrgeizigenSohn sah, den er selbst nicht hatte.Skip sah seinen Schwiegervater, denMilliardär, als das an, was er war:eine Eintrittskarte für die ganze

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Welt. Und durchaus zutreffend saher seine frisch angetraute FrauJuliette als ein süßes, unterdrücktesFräulein aus gutem Hause an, dasbereitwillig seine Rolle als Ehefrauund Gesellschaftsdame annehmenund so tun würde, als ob sie nichtwüsste, dass Skips Leben nach wievor frei von persönlicherVerantwortung und voller zufälligersexueller Begegnungen war. Siewürde ihm, attraktiv undrespektabel, zur Seite stehen undihren Mund halten.

Skips Mutter, die sich Juliettebereits näher verbunden fühlte alsSkip, erkundigte sich eine Woche

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vor der Hochzeit bei ihm:"Diese Heirat... musst du ihr das

wirklich antun?" Zunächstignorierte er sie, wie es seineGewohnheit war. Aber dann schiener einen drolligen Gedanken zuhaben und antwortete auf ihrenProtest: "Wir wissen beide, dass sienie begreifen wird, wie ihrgeschehen ist", sagte er mit einembreiten Grinsen. Zunächst schienSkips Mutter verwirrt zu sein, aberdann lief ihr ein kalter Schauer denRücken hinunter.

Verheiratet, gesellschaftlichetabliert und mit einem Umsatz von80 Millionen Dollar pro Jahr für die

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Firma wurde Skip zum Direktor desAuslandsgeschäfts bei Arikaberufen, und vor seinemsechsunddreißigsten Geburtstagwurde er Mitglied des Vorstands.Inzwischen hatten er und Juliettezwei kleine Töchter, was seineöffentliche Fassade alsFamilienmensch abrundete. SeinBeitrag zum Geschäft hatte einengewissen Preis; das konnte aberstets kostengünstig geregeltwerden. Manchmal klagtenAngestellte, er sei "beleidigend"oder "boshaft", und Arika wurdedurch eine Sekretärin verklagt, diebehauptete, er hätte ihr den Arm

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gebrochen bei dem Versuch, sie mitGewalt auf seinen Schoß zu ziehen.Der Fall wurde außergerichtlichdurch Zahlung von 50.000 Dollaran die Sekretärin beigelegt unterder Auflage, Stillschweigen zubewahren. Für die Firma waren50.000 Dollar ein lächerlicherBetrag, relativ gesprochen. Er war"Super Skip", und sein Arbeitgeberwusste, dass er die"Reparaturkosten" sehr wohl wertwar.

Über diesen Vorfall machte Skipspäter die Bemerkung: "Sie istverrückt. Sie hat sich selbst denArm gebrochen. Sie hat sich

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gewehrt, die blöde Schlampe.Warum, zur Hölle, hat sie sich mitmir angelegt?"

Nach der Sekretärin gab es weitereAnschuldigungen wegen sexuellerÜbergriffe, aber Skip war sowertvoll für das Unternehmen, dassArika jedes Mal, wenn ein Problementstand, einfach einen weiterenScheck ausstellte, um es aus derWelt zu schaffen. Die anderenVorstandsmitglieder fingen an, ihnals ihre "Firmen-Primadonna" zubezeichnen. Im Laufe der Jahrewurden ihm mehr als eine MillionAktien übereignet, wodurch er nachdem Gründer von Arika zum

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zweitgrößten privaten Anteilseignerwurde. Und im Jahr 2001übernahm Skip im Alter von 51Jahren den Posten desVorstandsvorsitzenden.

Kürzlich waren einige von ihmverursachte Probleme etwasschwieriger zu regulieren, aber mitder ihm eigenen Arroganz ist sichSkip sicher, dass er auf den Füßenlanden wird - vielleicht etwas zusicher. Im Jahr 2003 wurde er vonder Börsenaufsicht ("Securities andExchange Commission", SEC) desBetrugs beschuldigt. Natürlich hater die Vorwürfe bestritten, undderzeit schwebt die Entscheidung

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der SEC. Das Spiel des Soziopathen Nein, Skip wurde nicht an den

Rand der Gesellschaft verbannt, ergeifert nicht, und er ist (noch) nichtim Gefängnis. Vielmehr ist er reichund, in weiten Kreisen, respektiert -oder zumindest gefürchtet, wasman leicht für Respekt halten kann.Was ist also verkehrt an diesemBild? Oder vielleicht sollte manfragen: Was ist der schlimmsteAspekt dieses Bildes, der zentraleWebfehler in Skips Leben, der ihnzu einer tragischen Figur macht

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trotz seines Erfolges, und zumSchuldigen für die Tragödien sovieler anderer Menschen? DieAntwort ist: Skip hat keinerleiemotionale Bindungen zu anderenMenschen - überhaupt keine. Er istkalt wie Eis.

Seine Mutter ist da, um ignoriertoder manchmal auch geködert zuwerden. Seine Schwester ist da, umgequält zu werden. Andere Frauensind sexuelle Beute, sonst nichts.Seit seiner Kindheit hat er nurdarauf gewartet, dass sein Vaterstirbt und Skip sein Geldhinterlässt. Seine Untergebenensind da, um manipuliert und

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ausgenutzt zu werden, ebenso wievon jeher seine Freunde.

Seine Frau und selbst seine Kindersind für die Augen der Weltbestimmt. Sie sind Fassade. Skip istintelligent, und er istaußerordentlich gerissen imGeschäftsleben. Aber seine beiweitem beeindruckendste Gabe istdie Fähigkeit, die völlige Leereseines Herzens vor fast jedermannzu verbergen - und das passiveSchweigen der Wenigen zuerzwingen, die davon wissen.

Die meisten von uns werdenunbewusst durch Aussehenbeeinflusst, und unser Skip hat

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immer gut ausgesehen. Er weißeinfach, wie man gewinnendlächelt. Er ist ein Charmeur, undwir können ihn uns gut vorstellen,wie er dem Chef schmeichelt, derihm den Ferrari geschenkt hat,während er ihn doch für einenTrottel hält und unter derOberfläche ohnehin unfähig ist,überhaupt irgend jemandemdankbar zu sein. Er lügt gekonntund ständig, ohne jeglichesSchuldgefühl, das ihn durchKörpersprache oderGesichtsausdruck verraten könnte.Er benutzt Sexualität, um zumanipulieren und versteckt seine

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Gefühlsleere hinter diversenrespektablen Rollen - Superstar imGeschäftsleben, Schwiegersohn,Ehemann, Vater -, die ihm fastundurchschaubare Tarnungenliefern.

Und wenn der Charme und dieSexualität und das Rollenspiel dochversagen sollten, benutzt SkipFurcht, um sich den Sieg zu sichern.Robert Hare schreibt: "VieleMenschen finden es schwierig, mitdem intensiven, gefühllosen oder'raubtierhaften' Starren einesPsychopathen umzugehen",17 undfür einige der empfindsamerenMenschen in seinem Leben

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könnten Skips durchdringendeblaue Augen, jene Augen, die seineSchwester "unheimlich" findet, sehrwohl die Augen einesleidenschaftslosen Jägers sein, derseine psychische Beute anvisiert. Insolchen Fällen wird das Ergebniswohl Schweigen sein.

Denn selbst, wenn Sie ihn kennenund wissen, wie es in seinemHerzen aussieht, wenn Sie seinenmodus operandi verstanden haben,wie könnten Sie das öffentlichmachen? Wem könnten Siewomöglich davon berichten, undwas würden Sie sagen? "Er ist einLügner"? "Er ist verrückt"? "Er hat

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mich in seinem Büro vergewaltigt"?"Er hat unheimliche Augen"?"Früher hat er Fröscheabgemurkst"? Aber er ist einegesellschaftliche Leitfigur imArmani-Anzug. Er ist Juliettesgeliebter Ehemann und Vater vonzwei Kindern. Dieser Mann ist derVorstandsvorsitzende der ArikaCorporation, um Himmels willen!Was genau werfen Sie ihm dennvor, und welche Beweise haben Sie?Wer wird sich wohl verrückteranhören - der Topmanager Skipoder der, der ihn beschuldigt? Undseine Unverwundbarkeit wirdbesiegelt durch den Umstand, dass

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eine ganze Reihe von Leuten auf dieeine oder andere Art auf Skipangewiesen ist, und einige vonihnen sind reich und mächtig.Werden diese Leute auf Sie hören?

In seiner Unangreifbarkeit undvielen anderen Aspekten ist Skipein typischer Soziopath. Er hat, ummit den Worten der AmericanPsychiatric Association zu sprechen,"ein überdurchschnittlichausgeprägtes Bedürfnis nachStimulation", geht also oft großeRisiken ein und animiert auch ohneSkrupel andere dazu, sich ebenso zuverhalten. Er hat eine Historie vonnicht aktenkundigen

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"Verhaltensauffälligkeiten" alsKind, die durch die privilegiertegesellschaftliche Stellung seinerEltern vertuscht werden konnten.Er ist hinterlistig und manipulativ.Er kann spontan aggressiv werden,mit einer "rücksichtslosenGefährdung der Sicherheit andererMenschen", wie zum Beispielgegenüber der Sekretärin, der erden Arm gebrochen hat und imUmgang mit anderen Frauen, derenGeschichten nie ans Tageslichtkommen werden. Vielleicht daseinzige "klassische" Symptom, dasSkip fehlt, ist Drogenmissbrauch,wenn man den einen Scotch zu viel

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vernachlässigt, den er manchmalnach dem Abendessen trinkt. Davonabgesehen ist das Bild komplett. Erhat kein echtes Interesse daran,Gefühlsbindungen einzugehen, erist durchweg verantwortungslosund er zeigt keine Reue.

Und wie fügt sich das nun alles inseiner Psyche zusammen? Wie"funktioniert" er? Was genau willSkip?

Die meisten von uns haben andereMenschen, die sie motivieren undihre Sehnsüchte beflügeln.Menschen lassen unsere Wünscheund Träume entstehen. Menschen,die mit uns leben oder weit entfernt

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sind, geliebte Menschen, diegestorben sind, lästige Menschen,die nicht gehen wollen, Orte, an diewir sentimentale Erinnerungenhaben, selbst unsere Haustiere - alldies beschwingt unsere Herzen undGedanken. Selbst dieIntrovertiertesten unter uns sinddurch ihre Beziehungen geprägtund erfüllt mit Reaktionen undGefühlen für andere Menschen,Antipathien und Sympathien.Unsere Bücher und Lieder handelnfast alle von emotionalen Intrigen,Romantik, Zuwendung,Zurückweisung und Versöhnung.Wir sind enorm

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beziehungsorientierte Wesen, unddas gilt auch für unsere Ahnen, diePrimaten. Jane Goodall hatberichtet, dass die von ihr in Gombebeobachteten Schimpansen "einreichhaltiges Repertoire anVerhaltensweisen haben, die zurErhaltung oder Wiederherstellungder sozialen Harmonie dienen ...Das Umarmen, Küssen, Tätschelnund Händchenhalten zurBegrüßung nach einer Zeit derTrennung ... Die ausgedehnten,friedlichen Sitzungen desentspannten, gegenseitigenLausens. Das Teilen der Nahrung.Die Sorge um Kranke oder

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Verletzte." Was also wären wir ohneunsere urtümlichen Bindungen zuanderen?

Offenkundig wären wir dieAkteure eines Spiels, das einergigantischen Schachpartie ähnelt,mit unseren Mitmenschen alsTürme, Springer und Bauern. Denndies ist die Quintessenzsoziopathischen Verhaltens undVerlangens. Das Einzige, was Skipwirklich will, ist das, was dann nochbleibt - zu gewinnen.

Skip wendet keine Zeit dafür auf,einen Menschen zu suchen, den erlieben könnte. Er kann nicht lieben.Er macht sich keine Sorgen um

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Freunde oder Familienangehörige,die krank oder in Schwierigkeitensein könnten, da er nicht fähig ist,sich um andere Menschen zusorgen. Andere Menschen bedeutenihm nichts, und so kann er es auchnicht genießen, seinen Eltern oderseiner Frau von seinen vielengeschäftlichen Erfolgen zuerzählen. Er kann zu Abend essenmit wem immer er will, aber erkann den Moment nichtgemeinsam genießen. Und als seineKinder geboren wurden, stand erkeine Ängste aus, er war nichteinmal aufgeregt. Es macht ihmnicht wirklich Freude, Zeit mit

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ihnen zu verbringen oder sieheranwachsen zu sehen.

Aber eines kann Skip, und daskann er besser als fast jeder andere:Skip kann gewinnen. Er kanndominieren. Er kann anderenseinen Willen aufzwingen. Als erein Kind war, starben die Frösche,wenn er entschieden hatte, siesterben zu lassen, und seineSchwester fing an zu kreischen,wenn er es wollte, und inzwischenist er zu größeren und besserenSpielen avanciert. In einer Welt, inder die Menschen sich für ihrenLebensunterhalt abmühen müssen,konnte Skip andere dazu bringen,

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ihn noch vor seinem dreißigstenLebensjahr zu einem reichen Mannzu machen. Er kann seinehochgebildeten Arbeitgeber undseinen milliardenschwerenSchwiegervater wie Trottelaussehen lassen. Er kann diesedistinguierten Zeitgenossen in helleAufregung versetzen und sichhinter ihrem Rücken über sie lustigmachen. Er beeinflusst erheblichefinanzielle Entscheidungen aufinternationalem Parkett und kanndie meisten dieser Transaktionenzu seinen Gunsten wenden, ohnedass jemand Einspruch erhebt.Oder falls doch jemand protestiert,

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kann er diese Person mit einigenwenigen wohlgesetzten Wortendesavouieren. Er kann MenschenAngst einjagen, sie attackieren,einen Arm brechen, eine Karriereruinieren; und doch werden seinebegüterten Kollegen eifrig dafürsorgen, dass er nicht wie jederNormalbürger bestraft wird. Erglaubt, dass er nach Gusto jedeFrau haben und dass er jeden Mannmanipulieren kann, dem erbegegnet, wie zuletzt die Beamtender Börsenaufsicht.

Er ist "Super Skip". GeschäftlichesTaktieren und Bonuszahlungensind sein einziger Nervenkitzel, und

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er hat sein ganzes Leben damitzugebracht, das Spiel besser zubeherrschen. Für Skip ist das Spielalles, und wenn er auch zu gerissenist, um das auszusprechen, hält erdoch den Rest der Menschheit fürnaiv und dumm, weil er es nicht sospielt wie er. Und genau das ist es,was der menschlichen Psychewiderfährt, wenn emotionaleBindungen und das Gewissenfehlen. Das Leben wird auf einenWettstreit reduziert, und anderemenschliche Wesen werden nurnoch als Spielfiguren angesehen,die man herumschieben, alsDeckung benutzen oder aus dem

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Spiel werfen kann.Natürlich können nur wenige

Menschen in Hinsicht auf seinenIntelligenzquotienten oder seineattraktive Erscheinung Skip dasWasser reichen. Per definitionemsind die meisten Menschen,einschließlich der Soziopathen,durchschnittlich in Intelligenz undAussehen, und die Spieledurchschnittlicher Soziopathenfinden nicht in derselbenexklusiven Liga statt wie Skipsglobale Partien. Vielezeitgenössische Psychologen - wieauch ich selbst - können sich daranerinnern, dem Thema Psychopathie

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erstmals in einem Lehrfilmbegegnet zu sein, den wir alsStudenten in den Siebzigerjahrengesehen haben. Die belangloseFallstudie in dem Film handeltevom so genannten "Stamp Man"("Briefmarkenmann"), der seinganzes Leben dem befremdlichenProjekt gewidmet hatte,Briefmarken aus Postämtern derUSA zu stehlen. Er war nicht daraninteressiert, die Marken zu besitzenoder sie zu versilbern; sein einzigerEhrgeiz bestand darin, nächtenseinen simplen Einbruch zu begehenund sich dann in der Nähe dessoeben von ihm beraubten

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Postamtes ein Plätzchen zu suchen,von dem aus er die Aufregung derersten Angestellten, die morgensdas Gebäude betraten, beobachtenkonnte, gefolgt vom Eintreffen derPolizei unter Sirenengeheul. Dürr,blass und mausähnlich war der indem Film interviewte Mann allesandere als furchteinflößend. SeineIntelligenz war bestenfallsdurchschnittlich, und er hätteniemals Skips grandiosesinternationales Spiel spielenkönnen, mit seinen meisterhaftenStrategien und milliardenschwerenGegnern. Aber er konnte seineigenes Spiel inszenieren, und aus

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psychologischer Sicht war seinsimples Spiel desBriefmarkendiebstahls SkipsManagement-Spiel erstaunlichähnlich.

Im Gegensatz zu Skips Manövernwaren die von Stamp Manungeschliffen und durchsichtig, undso wurde er stets gefasst undeingesperrt. Er war unzählige Malevor Gericht und dann ins Gefängnisgegangen, und so lebte er seinLeben - stehlen, beobachten, insGefängnis wandern, freikommenund wieder stehlen. Aber dasmachte ihm nichts aus, da dasErgebnis seiner Machenschaften

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ihn nicht interessierte. Aus seinerPerspektive zählte nur das Spiel ansich, unwiderlegbar zu beweisen,dass er, der Stamp Man, fürvielleicht jeweils eine Stundeandere Menschen in Panikversetzen konnte. Für Stamp Manbedeutete die Aufregung, die erstiftete, dass er gewonnen hatte,und so hat er gezeigt, nicht wenigerals der phänomenal reiche Skip,was ein Soziopath erreichen will.Andere zu beherrschen - zu siegen -ist für ihn reizvoller als alle anderenLebenslagen (oder Menschen).

Vielleicht die höchste Form derDominanz über einen anderen

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Menschen ist es, ihm das Leben zunehmen, und der psychopathischeMörder oder kaltblütige Serienkillerist das Erste, was vielen von uns beidem Begriff "soziopathischeStörung" einfällt. Abgesehen voneinem soziopathischen Herrscher,der eine ganze Nation vom Kursabbringt, indem er sie in einenVölkermord oder unnötigen Kriegführt, ist der psychopathische Killersicherlich das entsetzlichsteBeispiel einer Psyche ohneGewissen - das entsetzlichste, abernicht das häufigste Beispiel.Mörderische Soziopathen sindsattsam bekannt. Wir lesen in der

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Zeitung über sie, hören imFernsehen von ihnen, sehen sie imFilm dargestellt und sind zutiefsterschüttert zu wissen, dass es inunserer Mitte soziopathischeUngeheuer gibt, die ohne Gefühlund Reue morden können. Aberentgegen der populären Meinungsind die meisten Soziopathen keineMörder, zumindest nicht in demSinne, dass sie mit ihren eigenenbeiden Händen töten. Schon dieStatistik zeigt uns das. Ungefähreine von 25 Personen istsoziopathisch, aber abgesehen vonGefängnispopulationen oderBanden und anderen von Armut

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und Krieg zerrissenen Gruppen istdas Auftreten von Mord in unsererBevölkerung dankenswerterweisesehr viel niedriger.

Wenn Soziopathie und Mordlustsich in einer Person vereinen, istdas Ergebnis ein dramatischer - garkinematographischer - Albtraum,eine scheinbar überlebensgroßeHorrorfigur. Aber die meistenSoziopathen sind wederMassenmörder noch Serienkiller.Sie sind kein Pol Pot oder TedBundy. Nein, die meisten habenNormalmaß wie wir auch undkönnen für lange Zeit unentdecktbleiben. Die meisten Menschen

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ohne Gewissen sind eher wie Skipoder Stamp Man oder die Mutter,die ihre Kinder instrumentalisiert,oder der Therapeut, der gezielthinfällige Patienten entmündigt,oder der manipulative Verführerund Liebhaber oder derGeschäftspartner, der dasBankkonto plündert und dannverschwindet, oder die liebe"Freundin", die Menschen ausnutzt,das aber nie zugeben würde. DieMittel und Wege, die Soziopathensich ausdenken, um andere zubeherrschen - die Machenschaften,die ersonnen werden, um zu"gewinnen" - sind überaus vielfältig,

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und nur wenige haben etwas mitphysischer Gewalt zu tun. Letztlichist Gewalt auffällig, und sofern sienicht gegen völlig Wehrlose wieKinder oder Tiere eingesetzt wird,wird sie wahrscheinlich dazuführen, dass der Täter gefasst wird.

Jedenfalls sind brutale Morde - soentsetzlich sie auch sein mögen,wenn sie vorkommen - kaum diewahrscheinlichste Folge vonGewissenlosigkeit. Nein, es geht umdas Spiel. Der Gewinn rangiert aufeiner Skala zwischenWeltherrschaft und einemkostenlosen Mittagessen, aber dasSpiel ist immer dasselbe -

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beherrschen, Panik auslösen,"gewinnen". Offenbar ist diese Artdes Gewinnens das Einzige, wasvon Zwischenmenschlichkeit bleibt,wenn Bindungen und Gewissenfehlen. Wenn der Wert vonBeziehungen auf fast nichtsreduziert ist, manifestiert sichDominanz manchmal durch Mord.Aber häufiger wird sie ausgelebt,indem Frösche umgebracht,sexuelle Eroberungen gemacht,Freunde verführt und benutzt, diechilenischen Kupferminenausgebeutet oder ein paarBriefmarken gestohlen werden, nurum Menschen in Panik zu

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versetzen. Wissen Soziopathen, dass sie

Soziopathen sind? Verstehen Soziopathen, was sie

sind? Erkennen sie ihren Charakter,zumindest teilweise, oder könntensie dieses Buch komplettdurchlesen, ohne sich darin zuerkennen? Bei meiner Arbeitwerden mir häufig solche Fragengestellt, besonders von Menschen,deren Leben durch Zusammenstößemit Soziopathen, die sie nichtrechtzeitig als solche erkannthaben, aus der Bahn geworfen

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wurde. Ich weiß nicht genau,warum die Frage derSelbsterkenntnis so wichtig seinkönnte, es sei denn, dass wir unsvielleicht wünschen, dass einMensch, der völlig ohne einGewissen durchs Leben kommt,zumindest diese Tatsacheeinräumen sollte. Falls ein Menschschlecht ist, so meinen wir, dannsollte ihn zumindest die Einsicht,dass er schlecht ist, belasten. Eserscheint uns als Gipfel derUngerechtigkeit, dass ein Menschnach unserer Einschätzung böseund trotzdem ganz zufrieden mitsich sein könnte.

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Wie dem auch sei - genau dasscheint aber zu passieren.Meistenteils scheinen Menschen,die wir als böse einschätzenwürden, nichts Falsches zuentdecken an ihrer Art, ihr Leben zuführen. Soziopathen sind notorischdafür, Verantwortung für ihreEntscheidungen oder deren Folgenabzulehnen. Tatsächlich ist dieWeigerung einer Person,einzuräumen, dass die Folgen ihresverwerflichen Verhaltens etwas mitihr selbst zu tun haben könnten -"fortwährendeVerantwortungslosigkeit", wie esdie American Psychiatric

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Association ausdrückt - einEckpfeiler der Diagnose "antisozialePersönlichkeitsstörung". Skip hatdiesen Aspekt seiner Persönlichkeitdemonstriert, indem er erklärte,dass die Angestellte, deren Arm ergebrochen hatte, sich ihren Armselbst brach, weil sie ihm nichtschnell genug zu Willen war.Menschen ohne Gewissen liefernendlose Beispiele solcherBehauptungen von "Ich war'snicht". Eines der bekanntesten istein Zitat von Al Capone, demsadistischen Gangster im Chicagoder Prohibitionszeit: "Ich werdemich morgen nach St. Petersburg in

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Florida begeben. Mögen die wertenBürger Chicagos zusehen, woher sieihren Schnaps bekommen. Ich habedie Schnauze voll von dem Job - erist undankbar und macht vielKummer. Ich habe die besten Jahremeines Lebens als Wohltäter derAllgemeinheit vertan." AndereSoziopathen treiben nicht denAufwand solch verschlungenerRechtfertigungen, oder sie befindensich nicht in hinreichendexponierter Position, um Gehör fürihre unverschämte Logik zu finden.Mit einer destruktiven Sachlagekonfrontiert, die sie eindeutig zuverantworten haben, werden sie

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stattdessen schlichtweg sagen, "Daswar ich nicht" - und dem Anscheinnach ihre platte Lüge sogar selbstglauben. Dieser Aspekt vonSoziopathie macht Selbsterkenntnisunmöglich, und letztendlich hat derSoziopath, ebenso wie ihm echteBeziehungen zu anderen Menschenfehlen, nur ein sehr dürftigesVerhältnis zu sich selbst.

Allenfalls tendieren Menschenohne Gewissen zu derÜberzeugung, dass ihre Art zu lebender unseren überlegen ist. Oftsprechen sie von der Naivitätanderer Menschen und ihrenlächerlichen Skrupeln oder zeigen

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sich begierig zu erfahren, warum soviele Menschen nicht willens sind,andere zu manipulieren, auch wennes um ihre wichtigsten Ziele geht.Oder sie spekulieren, dass dieMenschen alle gleich skrupellossind - wie sie selbst -, aber arglistigeinen Mythos namens "Gewissen"zur Schau stellen. Nach dieserletzteren Einlassung sind sie selbstdie einzigen offenen und ehrlichenMenschen auf der Welt. Sie sind"echt" in einer Gesellschaft vonBlendern.

Und doch glaube ich, dassirgendwo, vor dem Bewusstseinsicher verborgen, eine matte innere

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Stimme grummeln mag, dass etwasfehlt, was andere Leute haben. Ichsage das, weil ich Soziopathen voneinem "leeren" oder gar "hohlen"Gefühl habe berichten hören. Undich sage das, weil Soziopathen fürgewöhnlich etwas in derPersönlichkeitsstruktur einesMenschen mit Gewissen beneidenund möglicherweise im Laufe ihresSpiels versuchen, dieses Etwas zuzerstören - starke Charaktere sindoft die bevorzugten Ziele vonSoziopathen. Und mein wichtigsterGrund, das zu sagen, liegt darin,dass es menschliche Wesen sind,die ins Visier genommen werden

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und nicht etwa die Erde an sichoder ein Teil der materiellen Welt.Soziopathen wollen ihr Spiel mitMenschen treiben. UnbelebteHerausforderungen interessierensie kaum. Selbst die Zerstörung derTürme des World Trade Centersdrehte sich überwiegend um dieMenschen, die in den Türmenwaren und jene Menschen, die vonder Katastrophe erfahren würden.Diese simple, aber entscheidendeBeobachtung impliziert, dass derSoziopathie ein Rest vonangeborener Identifikation mitanderen menschlichen Wesenverbleibt, ein Band zur Menschheit

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an sich. Jedoch ist diese schwache,angeborene Verbindung - die Neidermöglicht - eindimensional undsteril, besonders dann, wenn mansie dem reichhaltigen Spektrum ankomplexen und stark besetztenemotionalen Reaktionengegenüberstellt, die die meistenMenschen untereinander und fürdie Menschheit insgesamtempfinden.

Wenn alles, was Sie jemals füreine andere Person empfundenhätten, der kalte Wunsch gewesenwäre, zu "gewinnen", wie könntenSie die Bedeutung von Liebe, vonFreundschaft, von Anteilnahme

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verstehen? Sie würden nichtverstehen. Sie würden einfachweiterhin dominieren, leugnen undsich überlegen fühlen. Vielleichtwürden sie manchmal eine gewisseLeere verspüren, ein diffusesGefühl der Unzufriedenheit, aberdas wäre alles. Und unterkategorischer Leugnung dertatsächlichen Folgen IhresEinflusses auf die Leben andererMenschen - wie könnten Sieverstehen, wer Sie sind? Siekönnten es nicht. Wie Super Skipselbst kann auch sein Spiegel nurlügen. Dessen gläserne Oberflächezeigt ihm nicht die Eiseskälte seiner

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Seele, und der Skip, der die Sommerseiner Kindheit damit verbrachthat, an einem sonst friedlichen Seein Virginia Ochsenfrösche zuverstümmeln, wird eines Tages zuGrabe getragen werden, ohneverstanden zu haben, dass seinLeben mit Sinn und Herzenswärmehätte erfüllt sein können.

DREI wenn das normale gewissen

schläft Der Preis der Freiheit ist ewige

Wachsamkeit. — Thomas Jefferson

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Das Gewissen stiftet Sinn. Als ein

Gefühl der Einschränkung, das inunseren emotionalen Bindungenuntereinander verwurzelt ist,verhindert es, dass das Leben zunichts als einem endlosen undeigentlich langweiligen Spiel desStrebens nach Dominanz überunsere Mitmenschen degeneriert.Für jede Einschränkung, die dasGewissen uns auferlegt, gibt es unseinen Moment der Verbundenheitmit einem A n d e r e n , einBrückenschlag zu einem Menschenoder Ding jenseits unserer oftbedeutungslosen Aktivitäten.

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Angesichts der eisigen Alternative,ein Mensch wie Skip zu sein,wünscht man sich sehnlichst einGewissen. Und so erhebt sich dieFrage: Bei den 96 Prozent von uns,die keine Soziopathen sind -verändert sich das Gewissenjemals? Kann es schwanken oderschwinden - oder gar absterben?

Nun, auch das Gewissen einesnormalen Menschen operiert nichtimmer auf demselben Niveau. Einerder einfachsten Gründe für dieseUnbeständigkeit liegt in denzugrunde liegenden Umständeneines Daseins in einem fehlbaren,von Bedürfnissen getriebenen

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menschlichen Körper. Wenn derKörper erschöpft, krank oderverletzt ist, können alle unsereemotionalen Funktioneneinschließlich des Gewissenszeitweilig beeinträchtigt werden.

Um das zu illustrieren, wollen wirannehmen, der Rechtsanwalt Joehätte während seiner Autofahrt 39Grad Fieber gehabt und sei etwasbenommen gewesen. Wir erkennensofort, dass sein Urteilsvermögenbeeinträchtigt ist, da er, obwohl erkrank ist, an dem geschäftlichenMeeting teilnehmen will. Aber wieist es um seine Moral bestellt? Wastut Joe, als ihm einfällt, dass sein

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geliebter Hund Reebok nichts zufressen hat, während einerbarmungsloses Virus seinenKörper in Besitz nimmt? In dieserVariante der Geschichte hätte Joekaum die Kraft, seineursprünglichen Plänedurchzuführen; noch weniger wäreer in der Lage gewesen, die Sachlageschnell zu analysieren, auf derStelle Prioritäten zu setzen undseine Pläne zu ändern, so wie er esin dem gesunden Szenario tut. Erist fiebrig und benommen, und nunsteht seine emotionale Reaktion aufReeboks Not in direkterKonkurrenz zu seinem eigenen

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Elend. Vielleicht wird trotzdem dasGewissen die Oberhand behalten;es könnte aber auch dieDurchsetzungskraft seinerÜberzeugungen durch dieKrankheit geschwächt sein.Vielleicht folgt er dem Weg desgeringsten Widerstandes, fährtweiter und quält sich mit derUmsetzung seiner ursprünglichenPläne ab, während Reebok zwarnicht völlig vergessen ist, aber füreine Weile eine niedrigereemotionale Priorität hat.

Eigentlich wollen wir uns Joe -oder uns selbst - nicht so vorstellen,aber es ist interessant, und es

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stimmt: Unser erhabenes Gewissen,Stifter von Verbundenheit undSinn, kann manchmal erheblichbeeinträchtigt werden durchUmstände, die nichts mit richtigoder falsch zu tun haben und soirrelevant für unsere moralischenEmpfindungen sind wie eineErkältung - oder eine schlafloseNacht, ein Autounfall oderZahnschmerzen. Das normaleGewissen verschwindet nie, aberwenn der Körper geschwächt ist,kann das Gewissen sehr müde undunkonzentriert werden.

Ein körperlicher Angriff ist einevon zwei Lebenslagen - die andere

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ist große Angst -, die in unserenAugen ein standhaftes, wachsamesGewissen als geradezu heldenhafterscheinen lassen. Wenn einMensch akut krank oder schwerverletzt ist oder Angst hat und dochseinen emotionalen Bindungen treubleibt, halten wir diese Person fürmutig. Das klassische Beispiel istder Frontsoldat, der, obgleich selbstverwundet, seinen Kameradenunter feindlichem Beschuss rettet.Dass wir auf dem Begriff "mutig"bestehen, um solche Taten zubeschreiben, ist unserstillschweigendes Eingeständnis,dass die Stimme des Gewissens für

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gewöhnlich durch große Schmerzenoder Angst zum Schweigen gebrachtwird. Und hätte Joe mit 3 9 GradFieber einen Umweg nach Hausgemacht, um den Hund zuversorgen, würden wir wohl seinVerhalten als eine kleine Heldentatempfinden. Unsere Reaktion wärewohl stärker als ein sentimentalesLächeln - vielleicht würden wir ihmanerkennend auf die Schulterklopfen wollen.

Einen körperlichen Einfluss aufdas Gewissen haben auch, seltsamgenug, die Hormone. DieseBeeinträchtigung des Gewissenswird durch Daten der bundesweiten

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Adoptionsvermittlung ("NationalAdoption InformationClearinghouse") prägnant belegt,denen zufolge 15 bis 18 Prozent derGeburten der jüngerenVergangenheit in den USA zumZeitpunkt der Empfängnis "von derMutter nicht gewollt" waren. Zwarist anzunehmen, dass einige dieserSchwangerschaften die Folge vonUnwissenheit oder eines echten"Unfalls" waren, aber dennochbedeutet es, dass Hunderttausendevon brandneuen Amerikanern jetztdas unsichere Dasein einesungewollten Kindes fristen, nurweil ein körperliches Verlangen

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jeweils für ein paar Minuten dieGewissen ihrer Eltern überschattethat. Geht es um sexuellesVerlangen, räumen wir ein, wieschwierig es sein kann, unsererbiologischen Natur zu widerstehenund titulieren Fälle eines standhaftgebliebenen Gewissens mit derhehren Bezeichnung "Tugend". Esist bemerkenswert, dass wirvielfach nach dieser Definition mitvierzig "tugendhafter" sind, als wires mit zwanzig waren und dassdiese "Tugendhaftigkeit" sichschlichtweg durch Alterungeingestellt hat.

Darüber hinaus gibt es tragische

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biologische Unterwanderungen desGewissens. Dazu zählenverschiedene schizophreneStörungen, die manchmal zur Folgehaben, dass das Verhalten derbetroffenen Personen vonpsychotischen Wahnvorstellungenverursacht wird. Wenn dasmenschliche Gehirn in dieser Weisegeschädigt ist, dann ist dieBehauptung "Das haben mir dieStimmen befohlen" kein Witz,sondern schreckliche Realität. Sokann es vorkommen, dass einegepeinigte Seele, deren Psychosekommt und geht, aus demWahnsinn "erwacht" und feststellen

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muss, dass sie aus einerWahnvorstellung heraus gegen daseigene Gewissen und Wollengehandelt hat.

Zum Glück sind körperlicheZwänge, die sich auf das Gewissenauswirken, eng umrissen. Siehtman von Gefechtssituationen ab,treten Lebenslagen, in denen wirschwer verwundet wichtigemoralische Entscheidungen treffenmüssen, wohl kaum jeden Tag auf,nicht einmal in jedem Jahr, und fürdie meisten Menschen ist einsexueller Rausch ähnlich rar.Unkontrollierte paranoideSchizophrenie ist vergleichsweise

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selten. Mithin können biologischverursachte Einschränkungenunserer Moral insgesamt nur einengeringen Teil des unfassbarschlechten Verhaltens erklären,über das Zeitungen und Fernsehenzu jeder Stunde des Tagesberichten. Schizophrene Menschenkommen kaum als organisierteTerroristen in Betracht.Zahnschmerzen verursachen keinehasserfüllten Verbrechen.Ungeschützter Sex verursacht keineKriege.

Wo also liegen die Ursachen? Moralische Ausgrenzung

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Alljährlich wird am 4 . Juli* in

meinem Heimatstädtchen inNeuengland zur Feier des Tages einmächtiges Freudenfeuer, drei * Anmerkung des Übersetzers: Der

4. Juli ist der "Independence Day"(Unabhängigkeitstag) undNationalfeiertag der USA.

Stockwerke hoch, am Strand

entfacht. AusgetrockneteHolzpaletten werdenzusammengenagelt und kunstvollzu einem turmartigen Gebildeaufgeschichtet, das unsere

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malerische Landschaft schon Tagevor dem Vierten überragt. Der Turmist mit genügend Brettern undZwischenräumen für die Belüftungso konstruiert, dass er leichtentflammbar ist. Er wird entzündet,wenn es dunkel wird, während diefreiwillige Feuerwehr mit ihrenSchläuchen für alle Eventualitätenbereitsteht. Die Stimmung istfestlich. Die Kapelle spieltpatriotische Stücke, es gibt HotDogs und kalte Limonade und einFeuerwerk. Wenn das Feuer ganzheruntergebrannt ist, kehren dieKinder an den Strand zurück, wodie Feuerwehrmänner sie

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pflichtschuldigst mit ihrenSchläuchen durchnässen.

Das alles ist seit sechzig JahrenTradition in unserem Städtchen. Daich allerdings große Feuer nichtsonderlich mag, habe ich bisher nureinmal daran teilgenommen, imJahr 2002, nachdem mich Freundeermuntert hatten mitzukommen.Ich war überwältigt von der AnzahlMenschen, die es irgendwiegeschafft hatten, sich in unserewinzige Ecke der atlantischen Küstezu drängen und zum Teil aus einerEntfernung von 80 Kilometern odermehr angereist waren. Ich drängeltemich mit der Menge nach einem

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Platz, der nahe genug am Feuerwar, um gute Sicht zu haben, aberweit genug entfernt, um mir nichtdie Augenbrauen zu versengen - sodachte ich jedenfalls. Ich wargewarnt worden, dass das Feuer,wenn es erst einmal voll entflammtwar, mehr Hitze erzeugen würde,als ich mir vorstellen konnte, undmit 32 Grad war es ohnehin einwarmer Tag. Als die Sonneallmählich unterging, erhob sich einGejohle und Geschrei, das Feuerendlich anzuzünden, und als dieFlammen schließlich am Holzemporzüngelten, ging ein Raunendurch die Menge. Sofort begannen

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die Flammen, das Holzgebilde zuverschlingen, mit der ihnen eigenenunaufhaltsamen Gewalt, vom Sandbis hinauf zu einem plötzlich hellerleuchteten Nachthimmel. Unddann kam die Hitze. Sie fühlte sichfast wie eine feste Wand an, wälztesich wie eine Lawine unerträglicher,gar furchteinflößend überhitzterLuft vom Feuer aus heran, inWellen zunehmender Intensität,überraschte die Menge und drücktesie zurück. Wann immer ich dachte,nun weit genug entfernt zu sein,musste ich abermals fünfzig Meterzurückweichen, und wieder undwieder weitere fünfzig Meter. Mein

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Gesicht brannte. Ich hätte mir nieträumen lassen, dass einFreudenfeuer eine solche Hitzeerzeugen konnte, selbst wenn esdrei Stockwerke hoch war.

Nachdem die Menschen weitgenug zurückgewichen waren,stellte sich wieder eine fröhlich-faszinierte Stimmung ein, und alsdie geschmückte Spitze des Turmsvom Feuer verzehrt wurde,applaudierte die Menge. Auf derSpitze des Turms war ein Häuschenerrichtet worden, in dessen Innernnun ein kleines Inferno wütete.Dieser Anblick und das diffuseGefühl der Gefahr und die Hitze

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irritierten mich irgendwie, undanscheinend konnte ich diefestliche Stimmung nicht teilen.Stattdessen fielen mirseltsamerweise dieHexenverbrennungen im 16. und 17.Jahrhundert ein, Ereignisse, die mirschon immer unbegreiflich waren,und trotz der Hitze erschauderteich. Es ist eine Sache, von einemFeuer zu lesen, das groß genug ist,einen Menschen zu töten, aber esist eine andere Sache, inmitteneiner aufgeregten, johlenden Mengevor einem solchen Feuer zu stehen.Die finsteren geschichtlichenAssoziationen ließen mich nicht los

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und hinderten mich hartnäckigdaran, den Augenblick zu genießen.

Ich fragte mich: Wie konnte es zudiesen Hexenverbrennungenkommen? Wie konnten solcheAlbträume Wirklichkeit werden?Als notorische Psychologin sah ichmich in der Menschenmenge um.Natürlich waren dies keineverwirrten baskischen Flüchtlingeim Jahre 1610, die fanatisch nachAnhängern des Teufels fahndeten,um sie zu verbrennen. Nein, hierstand ich inmitten einerMenschenmenge des neuenJahrtausends, zwischenfriedliebenden, unhysterischen

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Bürgern, die frei von Entbehrungenoder bedrohlichem Aberglaubenwaren. Hier gab es keine Blutgieroder unterjochte Gewissen. Esherrschte Gelächter und ein Gefühlguter Nachbarschaft. Wir aßen HotDogs und tranken Limonade undfeierten den Unabhängigkeitstag.Wir waren kein herzloser,unmoralischer Mob, und unterkeinen Umständen hätten wir unsum einen Mord geschart,geschweige denn um eineöffentliche Folterung. Hätteplötzlich durch eine bizarreVerwerfung der Realität einemenschliche Gestalt in den

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Flammen gezuckt, wäre nur dieanonyme Hand voll Soziopathenunter uns davon unberührtgeblieben oder gar belustigtworden. Von den anderen wäreneinige wenige gute Leutefassungslos erstarrt, einigebesonders couragierte Zeitgenossenhätten versucht einzuschreiten,während der größte Teil der Mengein verständlichem Entsetzengeflohen wäre. Und das bis dahinfröhliche Freudenfeuer wäre zueinem traumatischenSchreckensbild geworden, das sichunauslöschlich bis zum Sterbebettin unser aller Erinnerung

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eingebrannt hätte.Aber wenn die brennende

menschliche Gestalt Osama binLaden gewesen wäre? Wie hättewohl diese Ansammlungamerikanischer Staatsbürger imJahre 2002 reagiert, wäre sieplötzlich mit der öffentlichenHinrichtung einer Personkonfrontiert gewesen, die sie fürden größten Schurken auf der Welthielt? Hätten diese für gewöhnlichrechtschaffenen, sonntäglich amGottesdienst teilnehmenden,friedfertigen Menschen das erlaubtund dabei zugesehen? Hätte esBegeisterung oder zumindest stille

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Zustimmung geben können, stattEkel und Entsetzen angesichts desSpektakels, einen Menschen unterQualen sterben zu sehen?

Als ich unter all diesen gutenLeuten stand, wurde mir plötzlichklar, dass die Reaktion vielleichtnicht gar so entsetzt hätte seinmögen, weil Osama bin Laden inunseren Augen schlechterdings keinmenschliches Wesen ist. Er istOsama, und als solcher ist er, umeine Formulierung von Ervin Staubin The Roots of Evil ("Die Wurzelndes Bösen") zu verwenden,vollständig "aus unseremmoralischen Universum

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ausgegrenzt" worden. DieIntervention des Gewissens kommtfür ihn nicht mehr zur Anwendung.Er ist nicht menschlich. Er ist einEs, ein Neutrum. Und leider machtdiese Transformation vomMenschen zum E s ihn auchfurchterregender.

Bisweilen scheinen Menschenunsere moralische Ausgrenzung zuverdienen, zum BeispielTerroristen. Andere Beispiele des Essind Kriegsverbrecher,Kinderschänder und Serienmörder,und in jedem dieser Fälle könnten -zu Recht oder auch nicht - Gründedafür angeführt werden (und sind

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angeführt worden), dass einAnspruch auf eine mitfühlendeBehandlung verwirkt worden sei.Aber in den meisten Fällen istunsere Tendenz, Menschen aufNicht-Wesen zu reduzieren, wederbegründet noch bewusst, und imLaufe der Geschichte hat sich unserHang zur Entmenschlichung nurallzu oft gegen letztlichUnschuldige gewandt. Die Liste dergesellschaftlichen Gruppen, die einTeil der Menschheit zeitweilig aufeine kaum noch menschliche Stufedegradiert hat, ist ellenlang undenthält ironischerweise Kategorienfür fast jeden von uns: Schwarze,

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Kommunisten, Kapitalisten,Schwule, Indianer, Juden,Ausländer, "Hexen", Frauen,Muslime, Christen, diePalästinenser, die Israelis, dieArmen, die Reichen, die Iren, dieEngländer, die Amerikaner, dieSinghalesen, Tamilen, Albaner,Kroaten, Serben, Hutus, Tutsis undIraker, um nur einige zu nennen.

Und wenn erst die andere Gruppeaus vielen Neutren ("its") besteht,ist alles erlaubt - namentlich dann,wenn eine Autoritätsperson dieBefehle erteilt. Das Gewissen wirdentbehrlich, denn das Gewissenbindet uns an andere Wesen und

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nicht an Neutren. Das Gewissenexistiert weiter, ist vielleicht sogarsehr penibel, aber es wird nur aufmeine Landsleute, meine Freundeund meine Kinder angewendet, undnicht auf deine. Du bist ausmeinem moralischen Universumausgegrenzt, und nun kann ich dichungestraft - oder gar unter demBeifall der anderen Mitgliedermeiner Gruppe - aus deinem Hausvertreiben oder deine Familieerschießen oder dich lebendigverbrennen.

Ich sollte festhalten, dass de factobei dem Freudenfeuer im Jahr 2002nichts Schlimmes passiert ist.

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Soweit ich weiß, sind diesemakabren Gedanken nur mirgekommen. Die Flammen habennur Holz verbrannt. Das Feuer warein beeindruckender Anblick undbrannte dann aus, ganz nach Plan.Lachende Kinder tollten in derGeborgenheit ihrer Heimatstadt amStrand herum und wurden dannvon den Feuerwehrmännernabgeduscht. Man wünscht sich, dassMenschenansammlungen immer sofriedlich verlaufen könnten.

Des Kaisers neue Kleider Wenn das Gewissen in eine tiefe

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Trance fällt, wenn es bei Akten vonFolter, Krieg und Völkermordschläft, können politischeOberhäupter und andere im Lichtder Öffentlichkeit stehendePersönlichkeiten den Unterschiedzwischen einem allmählichenWiedererwachen unseres siebtenSinns und einem fortgesetzten,unmoralischen Albtraumausmachen. Die Geschichte lehrtuns, dass Einstellungen undZielsetzungen der Herrschenden,die die Entbehrungen und Ängsteder Gruppe pragmatisch zubewältigen suchen, anstatt eineRandgruppe zum Sündenbock zu

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erklären, uns dabei helfen können,zu einer realistischerenWahrnehmung der "Anderen"zurückzufinden. Nach und nachkann moralische Führung etwasbewirken. Aber die Geschichte zeigtuns auch, dass ein Herrscher ohneeinen siebten Sinn das kollektiveGewissen der Gruppe noch stärkerhypnotisieren und die Katastrophepotenzieren kann. Durch denEinsatz von auf Furcht basierenderPropaganda zur Verbreitung einerdestruktiven Ideologie kann einsolcher Potentat die Mitgliedereiner verängstigten Gesellschaftdazu bringen, die Neutren als das

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einzige Hindernis für ein gutesLeben für sich und womöglich gardie gesamte Menschheitanzusehen; der Konflikt wird so zueiner epischen Schlacht zwischenGut und Böse. Nachdem solcheGlaubenssätze verbreitet wordensind, kann das mitleids- undgewissenlose Zermalmen derN e u t r e n mit beklemmenderLeichtigkeit zu einer zwingendenAufgabe werden.

Das mannigfache Auftreten dieseszweiten Typs von Herrschern imLaufe der Geschichte wirft einelange Reihe verblüffender Fragenauf. Warum toleriert die

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menschliche Rasse diese leidvolleGeschichte ein ums andere Mal?Warum gestatten wir esHerrschern, deren Motiveausschließlich durch Eigennutzoder psychische Probleme in ihremVorleben bestimmt werden, immerwieder, Verbitterung und politischeKrisen zu bewaffnetenAuseinandersetzungen und Kriegenzu schüren? Warum lassen wir inden schlimmsten Fällen Leute wieden fröschemordenden,armbrechenden Skip die Showaufziehen und Machtspiele mit denLeben von Menschen spielen? Waswird aus dem Gewissen jedes

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Einzelnen? Warum stehen wir nichtfür unsere Überzeugungen ein?

Eine mögliche Erklärung ist unsertranceartiger Zustand,20 der unsglauben lässt, dass die, die sterben,ohnehin nur Neutren sind. Undnatürlich herrscht Angst - immer -und oft ein Gefühl der Hilflosigkeit.Wir sehen uns in der Menge umund denken uns, "Zu viele sindgegen mich" oder "Ich höreniemanden protestieren" oder, nochresignierter, "So ist die Welt eben"oder "Das ist Politik". SolcheEmpfindungen und Eindrückekönnen unseren Sinn für Moralgehörig dämpfen; wenn es aber um

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die Deaktivierung des Gewissensdurch Autorität geht, gibt es einnoch effektiveres Mittel, noch fundamentaler, als die "Anderen" zu entmenschlichen,süßlicher und erbärmlicher als einGefühl der Hilflosigkeit, undoffenkundig noch schwerer zubesiegen als selbst die Angst. Wirsind ganz schlicht daraufprogrammiert, Befehlen sogargegen unser Gewissen zugehorchen.

Professor Stanley Milgram21 vonder Yale University in New Haven,Connecticut, USA, ersann undfilmte in den Jahren 1961 und 1962

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eines der erstaunlichstenpsychologischen Experimente, diejemals durchgeführt worden sind.Milgram hatte sich zum Zielgesetzt, möglichst frontal dieTendenz der Menschen, Befehle zubefolgen, mit dem Gewissen desEinzelnen zu konfrontieren. Überdie Methodik seines Experimentsschrieb er: "Von allen moralischenGrundsätzen kommt der folgendeeiner universellen Akzeptanz amnächsten: Man sollte einer hilflosenPerson, die einem selbst wederschaden noch gefährlich werdenkann, kein Leid zufügen. DieseMaxime ist die Gegenkraft, die wir

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dem Gehorsam entgegensetzenwerden."

Milgrams Versuchsaufbau wardenkbar einfach, und die gefilmteDokumentation seiner Studie hatHumanisten und arglose Studentenseit vierzig Jahren empört. In derStudie finden sich, angeworbendurch entsprechende Anzeigen,zwei einander unbekannte Männerin einem psychologischen Laborein, um an einem Experimentteilzunehmen, bei dem es umGedächtnis und Lernfähigkeitgehen soll. Die Teilnahme wird mit4 Dollar vergütet, plus 50 CentsFahrgeld. Im Labor erklärt der

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Versuchsleiter (in der gefilmtenVersion ist es Stanley Milgramselbst) den beiden Männern, dassdie Studie "die Auswirkungen vonBestrafung auf den Lernerfolg"untersucht. Einer der beiden wirdzum "Schüler" erklärt, in einenNachbarraum geführt und gebeten,dort Platz zu nehmen. Man sieht,wie die Arme des Schülers wieselbstverständlich an den Lehnendes Sessels festgeschnallt werden,"um übermäßige Bewegungen zuverhindern", und wie eine Elektrodean seinem Handgelenk befestigtwird. Ihm wird gesagt, dass er eineListe von Wortpaaren auswendig

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lernen muss (blaue Schachtel,schöner Tag, wilde Ente, etc.) unddass er, wann immer er einenFehler macht, einen elektrischenSchlag versetzt bekommen wird. Beijedem Fehler wird die Intensität desSchlages erhöht werden.

Der anderen Person wird gesagt,sie sei der "Lehrer" in diesemLernexperiment. Nachdem derLehrer beobachtet hat, wie derSchüler am Sessel festgeschnalltund für die elektrischen Schlägeverdrahtet worden ist, wird er ineinen anderen Raum geführt undgebeten, vor einer großen,ominösen Maschine, einem

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"Schockgenerator", Platz zunehmen. Der Schockgenerator hatdreißig horizontal angeordneteDruckknöpfe, die mit "Volt"beschriftet sind, von 15 Volt bishinauf zu 450 Volt, in Stufen von 15Volt. Zusätzlich zu den Zahlen sinddie Knöpfe mit Beschriftungen vonLEICHTER SCHLAG bis hin zu derunheilvollen BezeichnungGEFAHR-STARKER SCHLAGversehen. Dem Lehrer wird eineListe mit Wortpaaren ausgehändigtund gesagt, es sei seine Aufgabe,den Schüler nebenan einer Prüfungzu unterziehen. Wenn der Schülereine richtige Antwort gibt - zum

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Beispiel "Schachtel" antwortet,wenn der Lehrer "blau" ruft -, sollder Lehrer mit der nächsten Fragefortfahren. Aber falls der Schülereine falsche Antwort gibt, muss derLehrer einen Knopf drücken undihm einen elektrischen Schlagversetzen. Der Versuchsleiterinstruiert den Lehrer, mit demschwächsten Schlag desSchockgenerators anzufangen unddie Intensität der Schläge bei jederfalschen Antwort um jeweils eineStufe zu steigern.

Der Schüler im Nachbarraum istin Wirklichkeit der geschulteVerbündete des Versuchsleiters, ein

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Schauspieler, und wird überhauptkeine elektrischen Schlägeempfangen. Aber das weiß derLehrer natürlich nicht, und es istder Lehrer, der das eigentlicheVersuchsobjekt ist.

Der Lehrer ruft die ersten paarWorte des "Lernexperiments" aus,und dann geht der Ärger los, dennder Schüler - Milgramsunsichtbarer Komplize nebenan -fängt an, sich sehr unbehaglichanzuhören. Bei 75 Volt macht derSchüler einen Fehler bei einemWortpaar, der Lehrer versetzt ihmeinen Schlag und der Schülergrunzt. Bei 120 Volt ruft der Schüler

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dem Versuchsleiter zu, dass dieSchläge schmerzhaft würden, undbei 150 Volt fordert der unsichtbareSchüler, aus dem Experimententlassen zu werden. Als dieSchläge stärker werden, klingt derProtest des Schülers immerverzweifelter, und bei 285 Voltstößt er einen gequälten Schrei aus.Der Versuchsleiter - der Yale-Professor im weißen Laborkittel -steht hinter dem amSchockgenerator sitzenden Lehrerund erteilt ruhig eine Reihefestgelegter Anweisungen, zumBeispiel "Bitte weitermachen" oder"Das Experiment erfordert es, dass

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Sie weitermachen" oder "Ob es demSchüler nun gefällt oder nicht, Siemüssen weitermachen, bis er alleWortpaare richtig gelernt hat. Alsomachen Sie bitte weiter."

Milgram wiederholte dieseProzedur vierzigmal mit vierzigverschiedenen Probanden -Menschen, die "im Alltagslebenverantwortungsvoll und anständig"waren -, darunter High School-Lehrer, Postbeamte, Verkäufer,Arbeiter und Ingenieure. Die vierzigrepräsentierten unterschiedlicheBildungsniveaus, von einemSchulabbrecher bis hin zuPersonen, die einen Doktorgrad

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oder andere akademischeAbschlüsse hatten. Das Ziel desExperiments war es, zu ermitteln,an welchem Punkt die Probanden(die Lehrer in diesem Experiment)der Autorität Milgrams angesichtseines klaren moralischenImperativs nicht mehr gehorchenwürden. Wie viele elektrischenSchläge würden sie einemflehenden, schreiendenUnbekannten versetzen, einzig undallein, weil eine Autoritätsperson esihnen befohlen hatte?

Wenn ich Milgrams Film einemmit Psychologiestudenten besetztenAuditorium vorführe, pflege ich sie

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zu bitten, die Antworten auf dieseFragen vorherzusagen. Stets sinddie Studenten sicher, dass dasGewissen die Oberhand behaltenwird. Viele von ihnen sagen voraus,dass viele der Probanden ihreMitwirkung an dem Experimentverweigern werden, wenn sie vonden elektrischen Schlägen erfahren.Die meisten Studenten sind sichsicher, dass von denteilnahmewilligen Probanden fastalle sich spätestens, wenn der Mannnebenan verlangt, entlassen zuwerden (bei 150 Volt), demVersuchsleiter widersetzen und ihmwomöglich sagen werden, er möge

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zur Hölle gehen. Und natürlichsagen die Studenten voraus, dassnur eine winzige Anzahl sehrkranker, sadistischer Probandenweiterhin die Knöpfe bis hin zu 450Volt drücken würden, wo sogar dieMaschine selbst warnt,GEFAHRSTARKER SCHLAG.

Tatsächlich ist folgendes passiert:34 von Milgrams ursprünglich 40Probanden versetzen dem Schüler,den sie an seinen Sessel geschnalltwähnen, selbst dann noch weitereelektrische Schläge, als er bereitsverlangt hat, aus dem Versuchentlassen zu werden. De factoverweigern 25 dieser 34 Probanden

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- also 62,5 Prozent derGesamtgruppe - an keinem Punktdes Experiments demVersuchsleiter den Gehorsam undfahren bis zum Ende der Reihe (bei450 Volt) fort, die Knöpfe zudrücken, trotz der flehentlichenBitten und Schreie des Mannesnebenan. Die Lehrer schwitzen,beklagen sich, raufen sich dieHaare, aber sie machen weiter.Wenn der Film vorbei ist,beobachte ich die Uhr. In einemAuditorium von Studenten, die denFilm zum ersten Mal gesehenhaben, herrscht stets fürmindestens eine volle Minute

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schockierte Stille.Nach dem ursprünglichen Versuch

variierte Milgram denVersuchsaufbau verschiedentlich.In einer Variante sollten zumBeispiel die Probanden nicht selbstdie Knöpfe drücken, um demSchüler die Schläge zu versetzen,sondern sie sollten lediglich dieWörter des Wortpaar-Testsausrufen, bevor eine andere Persondie Knöpfe drückte. In dieserVersion des Versuchs machten 37von 40 Personen (92,5 Prozent) biszur höchsten Stufe des"Schockgenerators" weiter. So weithatten nur Männer als "Lehrer" an

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der Studie teilgenommen; nunführte Milgram sein Experimentmit vierzig Frauen durch undspekulierte, dass Frauen vielleichtmehr Mitgefühl an den Tag legenwürden. Das Ergebnis warweitgehend identisch, abgesehendavon, dass die gehorsamen Frauenvon mehr Stress berichteten als diegehorsamen Männer. Studien nachdem Modell von Milgram wurdenan mehreren anderen Universitätenwiederholt, und bald hatten mehrals tausend Probanden beiderleiGeschlechts und ausunterschiedlichstenGesellschaftsschichten

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teilgenommen. Die Ergebnisseblieben im Wesentlichen gleich.

Das vielfach verifizierte Ergebnisseiner Gehorsamkeitsstudieveranlasste Milgram zu derberühmten Aussage, die so vieleStudenten des menschlichenWesens geplagt, aber auchmotiviert hat: "Sehr viele Menschentun, was ihnen befohlen wird,unabhängig von der Art derHandlung und ohneEinschränkungen durch dasGewissen, solange sie meinen, derBefehl käme von einer legitimenAutorität." Milgram war derMeinung, dass Autorität das

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Gewissen in erster Linie darumaußer Kraft setzen kann, weil diegehorsame Person eine "Anpassungdes Denkens" vornimmt, durch diesie sich als nicht verantwortlich fürdie eigenen Handlungen ansieht.

Er sieht sich nicht länger als einMensch, der sich moralischverantwortlich verhalten muss,sondern als Agent einer externenAutorität, der er die gesamteVerantwortung und alle Initiativeüberträgt. Diese "Anpassung desDenkens" erleichtert es einerwohlwollenden Regierung,Ordnung und Kontrolleherzustellen, aber durch denselben

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psychologischen Mechanismus istimmer wieder selbstsüchtigen,bösartigen und soziopathischen"Autoritäten" der rote Teppichausgerollt worden.

Wo das Gewissen die Grenze zieht Der Grad der Beeinträchtigung des

Gewissens durch eine Autoritätwird durch die vermeintlicheLegitimität dieser Autoritätbeeinflusst. Wird die Person, dieAnweisungen erteilt, als subalternoder auch als gleichberechtigtangesehen, wird die "Anpassung desDenkens" womöglich nicht

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stattfinden. In Milgramsursprünglicher Studie war eine derwenigen Personen, die schließlichihre fortgesetzte Mitwirkung andem Experiment verweigerte, ein32jähriger Ingenieur, der offenbarden Wissenschaftler im Laborkittelbestenfalls als intellektuellgleichgestellt ansah. DieserProband rückte seinen Stuhl vomSchockgenerator weg und sagteindigniert zu Milgram, "Ich binElektroingenieur, und ich habeschon elektrische Schläge erlitten ...ich glaube, ich bin wohl ohnehinschon zu weit gegangen." Später, alsMilgram ihn in einem Interview

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fragte, wer für die dem Mannnebenan versetzten elektrischenSchläge die Verantwortung trüge,machte er keineswegs denVersuchsleiter dafür verantwortlich.Stattdessen antwortete er: "Daswürde ich einzig und allein mirselbst zuschreiben." Er warberuflich selbständig und hatte eineHochschulbildung, und Bildungmuss als einer der Faktorenangesehen werden, die bestimmen,ob das Gewissen wachsam bleibtoder nicht. Es wäre ein schwererund arroganter Fehler zu meinen,dass ein akademischer Abschlussunmittelbar die Macht des

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Gewissens in der menschlichenPsyche verstärkt, aber andererseitskann Bildung manchmal dievermeintliche Legitimität einerAutoritätsperson nivellieren und soeinem blinden Gehorsamentgegenwirken. Durch Bildungund Wissen mag es demIndividuum leichter fallen, seineSicht von sich selbst als legitimeAutorität zu bewahren.

In diesem Zusammenhang hatMilgram in einer anderen Varianteseines Experiments einen"gewöhnlichen Mann" statt einenWissenschaftler als Versuchsleiterposieren lassen, der die Probanden

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anweist, die elektrischen Schlägeauszulösen. Unter der Leitung eines"gewöhnlichen Mannes" statt einerPerson im weißen Laborkittel sankdie Quote der gehorsamenProbanden von 62,5 auf 20 Prozent.Kleidung und Auftreten sind nichtallein entscheidend, haben aberoffensichtlich großen Einfluss.Einige von uns würden sich wohleiner Person widersetzen, die unsähnelt, aber die meisten von unswerden jemandem gehorchen, derwie eine Autoritätsperson wirkt.Dieses Ergebnis ist heutzutage vonbesonderem Interesse, weil unsunsere Führer und Experten wie

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durch Zauberei im Fernsehenerscheinen, das fast jedenMenschen edel und überlebensgroßwirken lassen kann.

Zusätzlich zu ihrerÜberlebensgröße sindFernsehbilder Nahaufnahmen undwirken persönlich - sie sind mittenin unserem Wohnzimmer. Einweiterer Faktor, der sich auf denEinfluss von Autorität auf dasGewissen des Einzelnen auswirkt,ist die Nähe der Person, die dieBefehle erteilt. Als Milgram seinExperiment derart änderte, dass ernicht selbst im Raum war, sank derGehorsam um zwei Drittel auf etwa

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denselben Wert, der festgestelltwurde, als ein "gewöhnlicherMann" die Leitung hatte. Und wenndie Autoritätsperson nicht in derNähe war, "schummelten" dieProbanden gerne, indem sie nur dieniedrigeren Spannungsstufen derMaschine verwendeten.

Die Nähe der Autoritätsperson istim realen Leben in Hinsicht auf dieBefehlsdisziplin unter Gefechts-und Kriegsbedingungen besonderswichtig. Es hat sich herausgestellt,dass das Gewissen des Einzelnensich erstaunlich standhaft weigert,einen Akt der Tötung zuzulassen -erstaunlich für diejenigen, die

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menschliche Wesen für geboreneKrieger halten. Dieser Aspekt desGewissens ist bei normalenMenschen so unerschütterlich, dassMilitärpsychologen gezwungenwaren, Wege zu finden, ihn zuumgehen. So wissen zum Beispieldie Militärexperten inzwischen,dass Befehle durchAutoritätspersonen inmitten derTruppe gegeben werden müssen,um Männer mit einigerZuverlässigkeit zum Töten zubewegen. Anderenfalls werden dieMänner im Feld versuchen, denBefehl zum Töten durch"schummeln" zu umgehen, indem

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sie absichtlich daneben zielen odereinfach nicht feuern; so können siees vermeiden, dieses mächtigsteGebot des Gewissens zu verletzen.

Brigadegeneral S. L. A. Marshall22

war ein US-amerikanischerKriegshistoriker des II. Weltkriegsim pazifischen Raum; später wurdeer der offizielle Geschichtsschreiberfür die Operationen in Europa. Erhat viele Vorfälle im II. Weltkriegbeschrieben, bei denen fast alleSoldaten ihre Befehle ausgeführtund ihre Waffen abgefeuert haben,wenn ihre Vorgesetzten präsentwaren, um sie zu kommandieren;wenn aber die Vorgesetzten sie

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verließen, sank die Feuerquotesofort auf 15 bis 20 Prozent.Marshall war der Meinung, dass diegroße Erleichterung der Soldaten ineinem Sektor, in dem sie nichteinem direkten Feuerbefehlunterstanden, "weniger daraufzurückzuführen war, dass sie sichdort sicherer fühlten, als vielmehrauf das beglückende Wissen, dasssie eine Zeit lang nicht unter demZwang zu töten standen."

In seinem Buch On Killing: ThePsychological Cost of Learning toKill in War and Society23("Über dasTöten: Die psychischen Kosten derAusbildung zum Töten im Krieg

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und in der Gesellschaft")kommentiert der ehemaligeFeldjäger und Fallschirmjäger derUS Army Oberstleutnant DaveGrossman die Beobachtungen vonMarshall. Ferner zieht erUntersuchungen des FBI* überSchussverweigerungen vonPolizeibeamten und Statistikenüber Schussverweigerungen auseiner langen Reihe von Kriegenheran,

* Anmerkung des Übersetzers: FBI

steht für "Federal Bureau ofInvestigation", was häufig mit"Bundespolizei" übersetzt wird.

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Diese Strafermittlungsbehörde derUSA ist dem deutschenBundeskriminalamt vergleichbar.

darunter der amerikanische

Bürgerkrieg, erster und zweiterWeltkrieg, Vietnamkrieg undFalklandkrieg. Er kommt zu demSchluss, dass "im Laufe derGeschichte die überwältigendeMehrheit der Kombattanten sich imMoment der Wahrheit, als sie denFeind töten konnten und sollten,sich als 'Kriegsdienstverweigereraus Gewissensgründen' erwiesenhat." Nach sorgfältiger Würdigungder historischen Belege, dass

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Bodentruppen einer Gelegenheitzum Töten häufig widerstehen undsie stillschweigend sabotieren,kommt Grossman zu einer"neuartigen und beruhigendenSchlussfolgerung über diemenschliche Natur: Trotz einerungebrochenen Tradition vonGewalt und Kriegen ist der Menschnicht von Natur aus ein Killer." Umdie Essenz des Gewissens zuunterlaufen, um fähig zu sein, dasBajonett zum Stoß zu führen oderden Abzug zu betätigen mit demZiel, einen Fremden zu töten,müssen normale Menschensorgfältig ausgebildet,

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psychologisch konditioniert undvon Autoritätspersonen auf demSchlachtfeld befehligt werden.

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Außerdem hilft es, moralischeAusgrenzung zu fördern und dieTruppe daran zu erinnern, dass diefeindlichen Soldaten ja nurNeutren, Krauts*, Spinner,Schlitzaugen sind. Wie PeterWatson in seinem Buch War on theMind: The Military Uses andAbuses of Psychology24("Krieggegen die Vernunft: MilitärischeAnwendung und Missbrauch derPsychologie") schreibt, "werden diestupiden lokalen Gebräuchelächerlich gemacht" und die"lokalen Persönlichkeiten als böseHalbgötter dargestellt."

Auf und neben dem Schlachtfeld

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muss der jeweils zu führende Kriegsowohl für die kämpfende Truppeals auch die Menschen in derHeimat als entscheidender oder garheiliger Kampf zwischen * Anmerkung des Übersetzers:

"Kraut" ist ein abfälliger Ausdruckder US-amerikanischenUmgangssprache für einenDeutschen; er ist von "Sauerkraut"abgeleitet und wird häufig aufdeutsche Soldaten des II.Weltkriegs angewendet.

Gut und Böse dargestellt werden,

und genau dies ist die Botschaft, die

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die jeweilige Führung - auf allenSeiten des Konflikts - in jedemgrößeren Krieg der Geschichte zuvermitteln versucht hat. So wurdezum Beispiel - wenn es auchinzwischen schwierig ist, sich anetwas anderes als die in derSchlussphase des Vietnamkriegsexplodierende moralischeEntrüstung zu erinnern - denAmerikanern, als dieser Kriegbegann, immer wieder versichert,dass sie - und nur sie - das VolkSüdvietnams vor einer Zukunft inTerror und Versklavung rettenkönnten. Die Reden der Führung zuKriegszeiten, die heutzutage in

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unsere Wohnzimmer gesendetwerden, haben stets mit aller Kraftdieses Motiv einer absolutnotwendigen Missionhervorgehoben, die höhereBerufung, die das Tötenrechtfertigt. Es ist paradox, dass dieAutoritäten diese Version derRealität noch erfolgreicherverbreiten können, gerade weil dasGewissen eine hohe Berufung unddas Gefühl, einer der Gerechten zusein, in Ehren hält. Mit anderenWorten: Das Gewissen kannbetrogen werden, und wenn es andas Töten unbekannter Menschengeht, ist in der Regel Betrug

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erforderlich.Dass die Psychologie dem Militär

die Techniken liefern kann, ausfriedliebenden Menschen Killer zumachen und dass das Militär dieseVerfahren verwendet, istbedrückend. Aber hinter dieserschlechten Nachricht verbirgt sichein Juwel der Hoffnung, der wie einDiamant in einem Meer derDunkelheit funkelt: Wir beginnenzu begreifen, dass menschlicheWesen nicht die geborenenMordmaschinen sind, für die wiruns selbst lange Zeit gehaltenhaben. Selbst unter demverzweifelten Druck eines Gefechts

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haben wir immer wieder unsereWaffen nicht abgefeuert oderdanebengezielt, und wenn er nichtunter der Dunstglocke der Autoritäterstickt worden ist, hat es immereinen Aufschrei unserermenschlichen Verbundenheitgegeben - die Stimme desGewissens war immer da - und hatuns daran erinnert, dass wir nichttöten dürfen.

Töten ist die Essenz des Krieges,und daher ist Krieg die finaleAuseinandersetzung zwischenGewissen und Autorität. Unsersiebter Sinn fordert, dass wir nichttöten, und wenn Autorität das

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Gewissen entmachtet und einenSoldaten auffordert, in der Schlachtzu töten, wird er sehrwahrscheinlich sofort und für denRest seines Lebens unter einerposttraumatischenBelastungsstörung ("posttraumaticstress disorder", PTSD) zu leidenhaben, und auch unter denDepressionen, Scheidungen,Süchten, Magengeschwüren undHerzkrankheiten, die traumatischeErinnerungen mit sich bringen.Demgegenüber haben Studien anVietnam-Veteranen25 gezeigt, dassSoldaten, die keinem Tötungszwangausgesetzt waren, keine höhere

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Wahrscheinlichkeit aufweisen,unter PTSD zu leiden, als solche,die ihre gesamte Wehrpflicht zuHause verbracht haben.

Dieser erdrückende Konfliktzwischen unserem moralischenEmpfinden und Autorität ist fastunaufhörlich im Gang, seitmenschliche Wesen begonnenhaben, in hierarchisch organisiertenGesellschaften zu leben, seitfünftausend Jahren, in denen einKönig oder landhungriger Adligeroder der Führer eines Staates odereiner Nation weniger mächtigeMenschen befehligen konnte, ineine Schlacht zu ziehen und zu

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töten. Und anscheinend ist es einKampf des Gewissens, der nicht zuLebzeiten unserer Kinder oderEnkelkinder gewonnen werdenwird.

Gehorsam gegen Gewissen: 6 zu 4 Stanley Milgram, der gezeigt hat,

dass mindestens sechs von zehnMenschen dazu tendieren, dieBefehle einer körperlichanwesenden, offiziell wirkendenAutoritätsperson bis zum bitterenEnde zu befolgen, hat daraufhingewiesen, dass auch diejenigenMenschen psychisch leiden, die sich

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einer destruktiven Autorität nichtunterordnen. Häufig wird sich einMensch, der den Gehorsamverweigert, im Konflikt mit dergesellschaftlichen Ordnung sehenund es schwierig finden, das Gefühlabzuwehren, eine Person oderSache verraten zu haben, der erTreue gelobt hat. Gehorsam istpassiv, und es ist der Ungehorsameallein, der, um es mit MilgramsWorten auszudrücken, die "Bürdeseines Verhaltens" tragen muss.Wenn es Mut ist, seinem Gewissenauch unter Schmerzen oder Angstzu folgen, dann ist es Stärke, dieWachsamkeit des Gewissens zu

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erhalten und seiner Stimme zufolgen, auch wenn eine Autoritätetwas anderes fordert.

Und Stärke ist wichtig, wenn wirdie verschiedenen Ziele desGewissens unterstützen wollen, dadie Chancen gegen uns stehen.

Zur Illustration schlage ich vor,eine fiktive Gesellschaft von genaueinhundert Erwachsenen zubetrachten, derenZusammensetzung genau denbekannten Statistiken entspricht.Das bedeutet, dass von deneinhundert Menschen unsererimaginären Gesellschaft viersoziopathisch sind - sie haben kein

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Gewissen. Von den verbleibenden96 anständigen Bürgern, von denenjeder ein Gewissen hat, werden 62,5Prozent mehr oder weniger kritikloseiner Autorität gehorchen,womöglich der Autorität eines dereher aggressiven und dominantenSoziopathen in der Gruppe. Esbl e ibe n 3 6 Personen übrig, diesowohl ein Gewissen haben alsauch die Stärke, die Bürde ihresVerhaltens zu tragen, etwas mehrals ein Drittel der Gruppe. DieChancen sind nicht aussichtslos,aber auch nicht gerade gut.

Und die Rechtschaffenen steheneiner weiteren Herausforderung

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gegenüber, die darin besteht, dassdie meisten der Soziopathen - soseltsam das scheinen mag - nichterkennbar sind. Diesem Dilemma,sowie dem bemerkenswerten Fallder Doreen Littlefield, wollen wiruns nun zuwenden.

VIER der netteste mensch der weit Ich habe einen Werwolf gesehen,

wie er bei Trader Vic e i n e VinaColada trank Sein Haar saß perfekt

— Warren Zevon

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Doreen wirft einen prüfendenBlick in den Rückspiegel undwünscht sich zum abertausendstenMal, eine Schönheit zu sein. DasLeben wäre so viel leichter. Siesieht ganz hübsch aus heuteMorgen im Spiegel, ausgeruht undsorgfältig geschminkt, aber sieweiß, dass sie ein bisschengewöhnlich aussehen würde, wennsie nicht so geschickt mit demMake-up oder einfach nur müdewäre. Sie würde wie das einfacheMädchen vom Lande aussehen, dassie eigentlich war, als ob sie eherauf einen Melkschemel gehöre alsauf den Fahrersitz dieses schwarzen

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BMW. Sie ist erst vierunddreißigund ihre Haut sieht immer noch gutaus, noch ohne Falten, vielleicht einbisschen blass. Aber ihre Nase istetwas zu spitz, genug, umaufzufallen, und ihr strohfarbenesHaar, ihr größtes Problem, bleibttrocken und verfilzt, egal, was siedamit anstellt. Zum Glück hat sieeine phantastische Figur. Sie senktden Blick vom Spiegel auf ihrhellgraues Seidenkostüm; es istkonservativ, aber figurbetont.Doreens Figur ist ausgezeichnet,und, was noch wichtiger ist, sieweiß, wie man sich bewegt. Für eineFrau mit einem alltäglichen Gesicht

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ist sie unglaublich verführerisch.Wenn sie durch einen Raum geht,

zieht sie die Blicke alleranwesenden Männer auf sich. Beidiesem Gedanken lächelt sie undlässt den Wagen an.

Ungefähr anderthalb Kilometervon ihrer Wohnung entfernt fälltihr ein, dass sie vergessen hat, denverdammten Malteser zu füttern.Sei's drum - das dummeSpielzeughündchen wird schonüberleben, bis sie heute Abend vonder Arbeit nach Haus kommt.Inzwischen, einen Monat nach demSpontankauf, kann sie es gar nichtmehr glauben, dass sie ihn

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überhaupt gekauft hat. Sie hattesich vorgestellt, dass sie elegantaussehen würde, wenn sie mit ihmausging, aber das Gassi gehen hattesich als langweilig erwiesen. BeiGelegenheit will sie ihneinschläfern lassen, oder vielleichtkann sie ihn verkaufen. Schließlichist er teuer gewesen.

Auf dem Parkplatz desweitläufigen Geländes derpsychiatrischen Klinik parkt sieihren Wagen absichtlich nebenJennas rostigem Escort, einwillkommener optischer Kontrast,um Jenna ihren jeweiligen Rang aufder Welt in Erinnerung zu rufen.

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Nach einem letzten Blick in denSpiegel nimmt Doreen ihreAktentasche, die mit Papierenvollgestopft ist, um zu zeigen, wiehart sie arbeitet, und geht dieTreppe hinauf zum oberhalb derKrankenstation gelegenenBürotrakt. Als sie den Warteraumdurchquert, zeigt sie Ivy, dermatronenhaften Stationssekretärin,ein kumpelhaftes Lächeln, und Ivystrahlt.

"Guten Morgen, Frau Dr.Littlefield. Du meine Güte, welchein bezauberndes Kostüm! Es isthinreißend!"

"Oh, vielen Dank, Ivy. Sie schaffen

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es immer, mich in gute Laune zuversetzen", antwortet Doreen,immer noch breit lächelnd. "RufenSie bitte durch, wenn mein Patienthier ist, okay?"

Doreen verschwindet in ihremBüro, während Ivy den Kopfschüttelt und laut in den leerenWarteraum sagt, "Das muss dernetteste Mensch auf der Welt sein."

Es ist früh, noch nicht ganz achtUhr, und in ihrem Büro gehtDoreen ans Fenster, um dasEintreffen ihrer Kollegen zubeobachten. Sie sieht JackieRubenstein auf das Gebäudezugehen, mit ihren langen Beinen

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und ihrer entspannten Haltung.Jackie ist aus Los Angeles,ausgeglichen und humorvoll, undihr wunderbarer, olivfarbener Teintlässt sie immer so aussehen, als seisie gerade aus einem herrlichenUrlaub zurückgekehrt. Außerdemist sie brillant, sehr viel klüger alsDoreen, und hauptsächlichdeswegen verabscheut Doreen sieinsgeheim. In der Tat, sie hasst sieso glühend, dass sie sie umbringenwürde, wenn sie damit ungestraftdavonkommen könnte, aber sieweiß, dass sie letztlich gefasstwerden würde. Doreen und Jackiehatten sich nach der Promotion vor

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acht Jahren an der Klinik kennengelernt und waren Freundinnengeworden, zumindest in JackiesAugen, und nun hat DoreenGerüchte gehört, dass Jackie als"Mentorin des Jahres"ausgezeichnet werden soll. Sie sindim gleichen Alter. Wie kann esangehen, dass Jackie im Alter von3 4 Jahren als "Mentorin"ausgezeichnet wird?

Auf dem Rasen sieht JackieRubenstein nach oben und bemerktDoreen am Bürofenster. Sie winkt.Doreen lächelt mädchenhaft undwinkt zurück.

In diesem Moment ruft Ivy an und

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avisiert Doreen ihren erstenPatienten des Tages, einenatemberaubend attraktiven,breitschultrigen, aber sehrverängstigt aussehenden jungenMann namens Dennis. ImKlinikjargon ist Dennis ein VIP("very important patient"), da er einNeffe eines prominentenBundespolitikers ist. An diesergroßen Universitätsklinik gibt esmehrere solche VIPs, Prominente,Reiche, Mitglieder von Familien,deren Namen jeder kennt. Dennisist keiner von DoreensPsychotherapie-Patienten, sondernDoreen ist seine Administratorin.

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Das bedeutet, dass sie sich zweimalpro Woche mit ihm trifft, sich nachden Fortschritten seiner Therapieerkundigt, sich um den Papierkramkümmert und schließlich seineEntlassung aus der Klinikgenehmigen wird, wenn die Zeitdafür reif ist. Er meint, seinZustand hätte sich soweit gebessert,dass er entlassen werden könne.

Es ist eine Richtlinie der Klinik,die Aufgaben von Verwaltung undPsychotherapie zu trennen. JederPatient hat sowohl einenAdministrator als auch einenTherapeuten. Die Therapeutin vonDennis - die er anbetet - ist die

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begabte Frau Dr. Jackie Rubenstein.Am Vortag hatte Jackie Doreenerzählt, dass ihr Patient Dennisimmense Fortschritte gemachthätte und dass sie seineBehandlung nach seiner Entlassungaus der Klinik ambulant fortsetzenwolle.

Nun sitzt Dennis in einem derniedrigen Sessel in DoreenLittlefields Büro und versucht,Blickkontakt herzustellen, denn erweiß, dass er auf diese Weisebekräftigen kann, dass es ihm gutgenug geht, um nach Hauseentlassen zu werden. Aber es fälltihm schwer und er wendet seinen

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Blick ab. Etwas an ihrem grauenKostüm ängstigt ihn und auchetwas an ihren Augen. Trotzdemmag er sie, so glaubt er jedenfalls.Sie ist immer sehr nett zu ihmgewesen, und er hat gehört, dass Dr.Littlefield diejenige unter denÄrzten sei, die das meiste Interessean den Patienten hätte. Wie demauch sei - sie war die Expertin.

Doreen sitzt hinter ihremSchreibtisch, sieht Dennis an undbewundert seine perfektenGesichtszüge und seinenmuskulösen, 26 Jahre alten Körper.Sie rätselt, wie viel Geld er wohleines Tages erben wird. Aber dann

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fällt ihr wieder ihre Mission ein,und sie versucht, seinen nervösenBlick mit einem mütterlichenLächeln einzufangen.

"Ich habe gehört, dass es Ihnendiese Woche sehr viel besser geht,Dennis."

"Ja, das stimmt, Frau Dr.Littlefield. Ich habe mich dieseWoche viel besser gefühlt. Wirklich,sehr viel besser. Meine Gedankensind viel besser. Sie stören michnicht mehr ständig, so wie es war,als ich hergekommen bin."

"Warum meinen Sie, dass das soist, Dennis? Warum meinen Sie,dass die Gedanken Sie nicht mehr

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stören?""Na ja, ich habe wirklich hart mit

den kognitiv-therapeutischenTechniken gearbeitet, die mich Dr.Rubenstein gelehrt hat, wissen Sie?Sie sind okay. Ich meine, sie helfenmir. Und ... also, die Sache ist, ichglaube, ich bin jetzt so weit, dass ichnach Hause kann. Oder vielleichtbald? Dr. Rubenstein hat gesagt, wirkönnten die Therapie ambulantfortsetzen."

Die "Gedanken" von Dennis, dieihn jetzt nicht mehr so sehr stören,sind paranoide Wahnvorstellungen,die von Zeit zu Zeit sein ganzesLeben bestimmen. Früher ein

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lebenslustiger Teenager miterstklassigen Zensuren und eineSportskanone an seiner HighSchool, erlitt Dennis im ersten Jahram College einen psychotischenZusammenbruch und wurde in eineKlinik eingewiesen. In den siebenJahren seither war er immer wiedervorübergehend in psychiatrischenEinrichtungen gewesen, jenachdem, wie seineWahnvorstellungen kamen undgingen, aber ihn nie ganz verließen.Wenn diese entsetzlichen"Gedanken" ihn im Griff haben,phantasiert er, dass man versuchenwürde, ihn umzubringen, ihn zu

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belügen, dass die Straßenlaternenseine Gedanken für die CIA* lesenwürden, und dass in jedemvorbeifahrenden Auto ein Agentsäße, der geschickt worden sei, umihn zu entführen und überVerbrechen zu verhören, an die ersich nicht erinnern konnte. SeineWahrnehmung der Realität istextrem unzuverlässig, und dieQualen seines Misstrauens, dasauch dann noch bleibt, wenn seineWahnvorstellungen zurückgehen,machen es immer schwieriger fürihn, die Gegenwart andererMenschen zu ertragen, selbst

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* Anmerkung des Übersetzers: CIAsteht für "Central IntelligenceAgency", einen Geheimdienst derUSA.

die von Therapeuten. Jackie

Rubenstein hat auf fastwundersame Weise eintherapeutisches Verhältnis zudiesem einsamen jungen Mannaufgebaut, der niemandemvertrauen kann.

"Sie behaupten, Dr. Rubensteinhätte gesagt, dass Sie entlassenwerden könnten, und dass sie dieTherapie ambulant fortsetzenwolle?"

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"Ja. Ja, das hat sie vorgeschlagen.Also, sie war auch der Meinung,dass ich bald so weit sei, dass ichentlassen werden könnte."

"Wirklich?" Doreen sieht Dennisratlos an, als ob sie eine Erklärungerwartete. "Mir hat sie etwasanderes gesagt."

Es folgt eine lange Pause, in derDennis sichtlich zittert. Schließlichfragt er: "Was meinen Sie?"

Doreen stößt einen bühnenreifenSeufzer aus und kommt hinterihrem Schreibtisch hervor, um sichin den Sessel neben Dennis zusetzen. Sie versucht, ihre Hand aufseine Schulter zu legen, aber er

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schreckt zurück, als wolle sie ihnschlagen. Während er aus demFenster auf den Horizont starrt,wiederholt er seine Frage, "Was solldas heißen - Ihnen hat sie etwasanderes gesagt?"

Doreen weiß genug überparanoide Schizophrenie, um zuwissen, dass Dennis schon jetzt denVerdacht hat, dass Dr. Rubinstein -die Person, die er für seineneinzigen wahren Freund auf derWelt hielt - ihn verraten habenkönnte.

"Mir hat Dr. Rubenstein erzählt,dass sie sicher sei, dass es Ihnenjetzt sehr viel schlechter geht als

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zum Zeitpunkt Ihrer Einlieferung.Und was die ambulante Therapieangeht, hat sie ganz klar gesagt,dass sie niemals zustimmen würde,Sie außerhalb der Klinik zu treffen.Sie sagte, dass Sie dafür viel zugefährlich seien."

Selbst für Doreen war esoffensichtlich, dass ein Stück vonDennis' Herz aus dem Fenster flog,weit weg, und nicht in absehbarerZukunft zu ihm zurückkehrenwürde. Sie sagt, "Dennis? Sind Sieokay, Dennis?"

Dennis rührt sich nicht undschweigt.

Sie versucht es erneut. "Es tut mir

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so Leid, dass ich es bin, die Ihnendas sagen musste. Dennis? Ich binsicher, dass es nur einMissverständnis war. Sie wissen,dass Dr. Rubenstein Sie niemalsanlügen würde."

Aber Dennis ist still. Er muss injeder Minute seines Lebens mit derFurcht, betrogen zu werden,umgehen, aber diese riesige neueWelle der Angst von seinerwundervollen Frau Dr. Rubensteinhat ihn an seiner Achillesfersegetroffen und ihn erstarren lassenwie eine Statue.

Als Doreen klar wird, dass erüberhaupt nicht mehr reagieren

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wird, geht sie zum Telefon und ruftHilfe. Sofort erscheinen zweikräftige Pfleger an der Tür ihresBüros. Sie sind stämmig, aberDoreen ist die Autorität, und siewerden ihre Anweisungen ohneFragen befolgen. Dieser Gedankelässt sie wohlig erschauern, abermit dem besorgtestenGesichtsausdruck, dessen sie fähigist, unterschreibt sie dieAnordnung, Dennisunterzubringen. "Unterbringen" -ein Euphemismus, der klingt, als obdie Klinik jemanden in einGasthaus einladen würde -bedeutet, dass ein Patient von einer

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offenen Abteilung, wo zum BeispielDennis bisher war, in einegeschlossene Abteilung miterhöhter Sicherheitsstufe verlegtwird. Die Unterbringung erfolgt,wenn Patienten gewalttätig werdenoder wenn sie, wie Dennis, einenschweren Rückfall hatten. Fallsnotwendig, werden sie fixiert undmedikamentös ruhiggestellt.

Doreen ist ziemlich sicher, dassDennis niemandem erzählen wird,was sie ihm gerade gesagt hat.Dennis verrät seine Geheimnissenicht. Aber selbst wenn erjemandem davon erzählen sollte,wird man ihm nicht glauben.

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Niemals glaubt man einemPatienten mehr als einem Arzt. Undso, wie sie ihn eben gesehen hat,wird er für ziemlich lange Zeitaußer Gefecht sein und überhauptnicht viel reden. Mit einem Anflugvon Befriedigung denkt sie daran,dass Jackie Rubenstein geradeeinen wirklich bezaubernden VIP-

Patienten verloren hat. Er wirdfortan in Bezug auf Jackie völligparanoid sein, und das Beste daranist, dass Jackie sich selbst dieSchuld daran geben und meinenwird, sie hätte in seiner Therapieetwas Wichtiges übersehen oderetwas Schädliches gesagt. In

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solchen Dingen ist Jackie einSchwächling. Sie wird die ganzeKritik einstecken und den Patienteneinem anderen Therapeutenüberlassen. Und damit hätte sichdann erst einmal das ganze Geredein der Klinik, dass Dr. RubensteinWunder bewirken könne, erledigt.

Lug und Trug Der Persönlichkeitstheoretiker

Theodore Millon26 würde DoreenLittlefield eine "begehrlichePsychopathin" ("covetousp s y c h o p a t h " ) nennen, wobei"Psychopathin" sich auf Soziopathie

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bezieht und "begehrlich" seinegewöhnliche Bedeutung hat: einübersteigertes Verlangen nachfremdem Besitz. Soziopathen sindnicht immer begehrlich - einigesind völlig anders motiviert -, aberwenn des Fehlen eines Gewissensund Begehrlichkeit in derselbenPerson zusammenkommen,entsteht ein faszinierendes undbeängstigendes Bild. Da esschlechterdings unmöglich ist, diewertvollsten "Besitztümer" -Schönheit, Klugheit, Erfolg, einenstarken Charakter - eines anderenMenschen zu stehlen und sichanzueignen, begnügt sich der

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begehrliche Psychopath damit,beneidenswerte Eigenschaftenanderer Menschen in den Schmutzzu ziehen oder zu beschädigen, umsie der anderen Person zu nehmenoder zumindest zu verleiden. Um esmit Millon auszudrücken, "Hierliegt das Vergnügen im Nehmenstatt im Besitzen."

Der begehrliche Soziopath hat dasGefühl, dass das Leben ihnirgendwie betrogen und ihm nichtannähernd dieselben Gaben wieanderen Menschen verliehen hat,und so muss er den existenziellenPunktestand ausgleichen, indem erandere beraubt oder heimlich in

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ihrem Leben Zerstörungenanrichtet. Er meint, zu kurzgekommen zu sein durch Geburt,Umstände und Schicksal, und siehtim Herabsetzen anderer Menschensein einziges Mittel, Machtauszuüben. Vergeltung, zumeist anvöllig Ahnungslosen, ist diewichtigste Beschäftigung im Lebeneines begehrlichen Soziopathen,sein wichtigstes Anliegen.

Da dieses heimliche Machtspielhöchste Priorität hat, widmet ihmder Soziopath seine ganze Hinterlistund Risikofreude. Um des Spielswillen mag er Ränke schmiedenund Taten vollbringen, die die

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meisten Menschen für empörendund potenziell selbstzerstörerischhalten würden, und überdies fürgrausam. Und doch sind wir oftblind für seine Aktivitäten, wennwir es - womöglich gar jeden Tag -mit einem solchen Menschen zutun haben. Wir rechnen nichtdamit, dass ein Mensch einengefährlichen, bösartigenRachefeldzug gegen jemandenführen könnte, der ihn in keinerWeise verletzt oder gekränkt hat.Wir rechnen nicht damit underkennen es daher nicht, selbstwenn es jemandem widerfährt, denwir kennen - oder gar uns selbst.

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Die Taten von begehrlichenSoziopathen sind oft so bizarr undgrundlos niederträchtig, dass wirnicht glauben können, dass eineAbsicht dahintersteckt - oder dasssie überhaupt passiert sind. Und soist sein wahrer Charakter in derGruppe zumeist nicht erkennbar. Erkann sich leicht auf offenemGelände verstecken, so wie esDoreen für fast ein Jahrzehntgelungen ist, inmitten durchausintelligenter, professionellerMenschen an der Klinik.

Der begehrliche Soziopath ist dersprichwörtliche Wolf im Schafspelz,und in Doreens Fall ist die Tarnung

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besonders aufwändig. Doreen istPsychologin, oder zumindestglauben das alle an der Klinik, wasfür Doreen Littlefields Zweckepraktisch gleichbedeutend ist. DieWahrheit, sollte sie denn jemalsans Tageslicht kommen, ist, dass sieweder eine Approbation noch einenDoktorgrad hat. Als siezweiundzwanzig war, hat sietatsächlich ein Diplom im FachPsychologie an der Staatsuniversitätihres heimatlichen Bundeslandesabgelegt, aber das ist alles. Der Restist eine extravagante Scharade. Alssie von der Klinik als promoviertePsychologin eingestellt wurde, hatte

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man ihre Referenzen geprüft;allerdings durch zweiaußerordentlich renommierteMänner, die sich wider besseresWissen auf gewissekompromittierende Verhältnissemit ihr eingelassen hatten. DiePersonalkommission hat die vonihr präsentierten Zeugnisse nichtüberprüft. Da sie von so hoherStelle empfohlen worden war, hatteman schlichtweg angenommen,dass sie promoviert hätte. Werwürde denn, um Himmels willen,bei so etwas lügen? Und was ihreFähigkeit angeht, sich hinreichendglaubwürdig als Psychologin

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aufzuführen, um Kollegen undPatienten zu übertölpeln - nun,Doreen ist der Meinung (und zwaranscheinend zu Recht), dass manviel aus Büchern lernen kann.

Doreen hat soeben ihrenrekonvaleszenten 8-Uhr-Patientenempfangen, ihn als Vergeltung aneiner unschuldigen Kollegin ineinen akut paranoiden Zustandversetzt und ihn in einegeschlossene Abteilung verlegt, woer sediert und eingesperrt wordenist. Womit wird sie den Rest desTages zubringen? Sollten wir wiederin ihrem Büro zu ihr stoßen,würden wir feststellen, dass sie

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seelenruhig weitere Termine mitPatienten wahrnimmt, telefoniert,Papierkram erledigt und an einerPersonalbesprechung teilnimmt.Wir würden wahrscheinlich nichtsUngewöhnliches feststellen. IhrVerhalten würde weitgehendnormal auf uns wirken, oderzumindest nicht auffallen.Vielleicht bewirkt sie nicht vielGutes für ihre Patienten, aber siefügt ihnen auch keinenoffensichtlichen Schaden zu,abgesehen von Fällen wie heuteMorgen, als das Manipulieren einesPatienten ihr dazu diente, einerKollegin zu schaden, die sie ins

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Visier genommen hat.Warum sollte sie ihre Fähigkeiten

gegen stationärePsychiatriepatienten einsetzen? Siehaben nichts, was sie will. Sie sindvon der Welt entrechtet, und siekann sich mächtig fühlen, indemsie einfach im selben Raum mitihnen sitzt. Eine Ausnahme könntedie gelegentliche Patientin sein, dieein bisschen zu attraktiv oder,schlimmer noch, ein bisschen zuklug ist. Dann würde Doreen sievielleicht ein bisschen erniedrigenwollen und ein wenig denSelbsthass anstacheln, unter demsolche Patienten in der Regel

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ohnehin zu leiden haben. In ihrerRolle als Psychotherapeutin findetsie das lächerlich einfach zubewerkstelligen. Die Gesprächefinden stets zu zweit statt, und derPatient versteht nicht gut genug,wie ihm geschehen ist, um sich beijemandem außerhalb desTherapiezimmers darüberbeschweren zu können.

Wenn aber ein Mensch bei Doreenkein Begehren weckt nach etwas,was er besitzt oder ist, dann wird sieihn nicht angreifen. Im Gegenteil,womöglich verhält sie sichgegenüber gewissen Personen, diesie für Underdogs hält, besonders

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nett und höflich, wenn sie ihr alsnützlich erscheinen, ihre Tarnungim Schafspelz aufrechtzuerhalten.Es gehört zu dieser Tarnung, sichüberaus nett, fürsorglich,verantwortungsvoll undhoffnungslos überarbeitet zu geben.Am Ende des Arbeitstages, an demsie heimlich Jackie Rubenstein undDennis sabotiert hat, ist es ihr zumBeispiel wichtig, beim Verlassen derKlinik kurz an Ivys Schreibtisch zuverweilen, um mit ihr einliebenswürdiges Schwätzchen zuhalten. Sie versucht, das jedenAbend so einzurichten. Ivy ist dieStationssekretärin und

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Rezeptionistin für die Medizinerder Station, und man weiß ja nie,wann einem eine strategisch sogünstig platzierte Person nützlichwerden könnte.

Doreen kommt aus ihrem Büro,lässt sich in einen der Sessel imWarteraum fallen und sagt, "Ach,Ivy! Ich bin so froh, dass dieser Tagvorbei ist!"

Ivy ist zwanzig Jahre älter alsDoreen. Sie hat Übergewicht undträgt große Plastik-Ohrringe.Doreen findet sie peinlich.

Ivy antwortet ihr mütterlich, "Ichweiß. Sie armes Ding. Und der armeDennis! Ich bin kein Arzt, aber ich

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sehe eine Menge Patienten, wissenSie, und ich war ganzhoffnungsvoll.... Ich hab mich wohlgeirrt."

"Nein, nein. Sie sind sehraufmerksam. Für eine Weile schienes ihm tatsächlich besser zu gehen.Diese Arbeit kann einem manchmaldas Herz brechen."

Natürlich war Dennis am Morgenvon den beiden energischenPflegern genau vor Ivysschreckgeweiteten Augen abgeführtworden. Jetzt schaut sie Doreenbesorgt an.

"Wissen Sie, Frau Dr. Littlefield,ich mache mir Sorgen um Sie."

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Als Ivy dieses Geständnis macht,bemerkt sie, dass sich DoreensAugen mit Tränen gefüllt haben,und fährt mit gedämpfter Stimmefort, "Ach je, das war sicherlich einschrecklicher Tag für Sie, nichtwahr, meine Liebe? Ich hoffe, ichbin nicht zu persönlich, abervielleicht sind Sie zu sensibel fürdiese Art Arbeit."

"Nein, nein, Ivy. Ich bin nurerschöpft, und natürlich bin ichtraurig wegen Dennis. Erzählen Siedas nicht weiter - ich darf janiemanden bevorzugen -, aber er istmir sehr wichtig, wissen Sie? Ichwünschte, ich könnte einfach nach

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Hause fahren und michausschlafen."

"Ja, genau das sollten Sie tun,meine Liebe."

"Wenn ich das nur könnte. Aberwegen des Notfalls und dem ganzenDrumherum bin ich nicht dazugekommen, den Papierkram zuerledigen, und damit werde ich nunwohl die halbe Nacht zubringen."

Ivy wirft einen Blick auf Doreensausgebeulte Aktentasche und sagt:"Sie armes Ding. Lassen Sie unsdoch an etwas Erfreuliches denken,um Sie ein bisschen abzulenken ...also, was ist denn heute passiert.Wie geht's Ihrem neuen

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Malteserhündchen?"Doreen tupft sich die Augen mit

dem Handrücken ab und lächelt."Oh, dem geht's prächtig, Ivy.Manchmal ist er zum Fressenniedlich!"

Ivy kichert. "Na, dann wartet erbestimmt auf Sie. Warum fahrenSie nicht nach Hause und drückenihn ganz fest?"

"Lieber nicht zu fest. Ich würdeihn zerquetschen. Er ist winzig."

Darüber lachen die beiden Frauenzusammen, und dann sagt Doreen,"Ivy, Ivy. Wissen Sie, ich finde, Siesollten die Psychologin sein. Siewissen immer, wie Sie mich

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aufheitern können. Wir sehen unsmorgen früh in alter Frische, okay?Wir müssen wohl einfach das Bestedraus machen."

"Ich werde hier sein", versichertIvy. Sie strahlt, während Doreenihre Aktentasche nimmt und geht,mit einer leichten Schlagseite zurAktentasche hin.

Doreen geht zu ihrem Auto aufdem Parkplatz, und dort trifft sieJenna, die Besitzerin desramponierten Escort, neben demsie heute Morgen geparkt hat.Jenna ist Assistenzärztin und neuan der Klinik. Sie ist, im Gegensatzzu Ivy, der Stationssekretärin, jung,

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intelligent und hübsch. Sie hatlanges, schönes, ganz glattes,kastanienbraunes Haar, undDoreen hat sie als eines ihrer Opferauserkoren.

"Hallo, Jenna. Auf dem Weg nachHaus?"

Jenna ist irritiert von derüberflüssigen Frage, aus der sieKritik heraushört. Von denAssistenzärzten wird erwartet, bisin die Puppen zu arbeiten. Sie gibtdie Frage zurück: "Ja. Ja, ich bin aufdem Weg nach Haus. Sie auch?"

Doreen sieht beunruhigt aus."Was ist denn mit derNotfallkonferenz in Chatwin Hall?"

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Die Station in Chatwin Hall wirdvon dem gestrengen undgefürchteten Dr. Thomas Larsongeleitet. Doreen weiß, dass erJennas unmittelbarer Vorgesetzterist. Natürlich findet dort jetztgerade keine Konferenz statt,Doreen hat das aus dem Stegreiferfunden.

Jenna erbleicht schlagartig. "EineNotfallkonferenz? Davon hat mirniemand etwas gesagt. Wann?Worum geht es? Wissen Sie etwasdarüber?"

Doreen setzt die strenge Mieneeiner Gouvernante auf, sieht aufihre Armbanduhr und sagt:

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"Ungefähr vor zehn Minuten,glaube ich. Haben Sie IhrenAnrufbeantworter nicht abgehört?"

"Doch, natürlich habe ich das, aberda war nichts über eine Konferenz.In Dr. Larsons Büro?"

"Das nehme ich an.""Oh nein. Mein Gott. Ich muss ...

ich sollte ... also, dann werde ichmal dahinlaufen, so schnell ichkann." "Gute Idee."

Jenna ist zu sehr in Panik, um sichzu fragen, wieso Dr. Littlefield voneiner eilig anberaumten Konferenzweiß, an der sie nicht einmal selbstteilnimmt. Die junge Ärztin rennt inihren Pumps vom Parkplatz über

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den vom Regen durchnässtenRasen der Klinik. Doreen steht aufdem Parkplatz und sieht ihr nach,bis sie, immer noch im Laufschritt,am anderen Ende des Gebäudes umdie Ecke biegt und aus ihremBlickfeld verschwindet. WährendDoreen hochzufrieden daran denkt,dass sich Chatwin Hall ganz auf dergegenüberliegenden Seite desweitläufigen Geländes befindet,setzt sie sich in den BMW, prüft imRückspiegel ihr Make-up undmacht sich auf den Weg nach Haus.Morgen oder übermorgen wirdJenna ihr wieder über den Weglaufen und sie wegen der fiktiven

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Konferenz zur Rede stellen. Doreenwird einfach mit den Achselnzucken und mit einem harten BlickJennas sanftmütige Augen fixieren,und Jenna wird sich damitzufrieden geben.

Soziopathie und Straffälligkeit Doreen Littlefield wird nie für ihre

Taten - das Praktizieren alsPsychologin ohne Approbationinbegriffen - belangt werden. Dereinflussreiche Onkel von Denniswird nie herausfinden, wer siewirklich ist, ebenso wenig wie diemeisten ihrer anderen Patienten

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oder deren Familien. Die Ärzte derKlinik werden sie nichtstrafrechtlich verfolgen für den anihnen begangenen, kriminellenBetrug. Sie wird nie auch nurhalbwegs angemessen für dieunzähligen von ihr verübtenpsychologischen Attacken bestraftwerden. Letztlich ist sie ein gutesBeispiel für den Unterschiedzwischen einem Soziopathen undeinem Kriminellen, dererstaunlicherweise dem entspricht,was ein ungezogenes, abervermeintlich artiges, dreijährigesMädchen unterscheidet von einem,das getadelt wird, weil es Bonbons

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aus der Tasche seiner Muttergenommen hat. Der Unterschied istschlicht und ergreifend, ob esertappt worden ist oder nicht.

Und dass Erwachsene für ihregewissenlosen Handlungen belangtwerden, ist wohl eher dieAusnahme als die Regel. Da vierProzent der Gesamtbevölkerungsoziopathisch sind, hätte manGrund zu der Annahme, dassunsere Gefängnisse vonSoziopathen bersten und nichtgenug Platz für andere Straftäterbleibt. Das ist aber nicht der Fall.Laut Robert Hare und anderenForschern, die Strafgefangene

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untersucht haben, sind imDurchschnitt nur etwa 20 Prozentder Häftlinge beiderlei Geschlechtsin den USA Soziopathen.27 Hareund andere legen Wert auf dieFeststellung, dass diese 20 Prozentder Gefängnispopulation für mehrals 50 Prozent der "schwerstenStraftaten" (Erpressung,bewaffneter Raub, Entführung,Mord) und der Verbrechen gegenden Staat (Landesverrat, Spionage,Terrorismus) verantwortlich sind.

Mit anderen Worten: Die meistenüberführten Kriminellen sind keineSoziopathen. Vielmehr sind sieMenschen mit grundsätzlich

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normalenPersönlichkeitsstrukturen, derenVerhalten das Ergebnis negativersozialer Faktoren wie zum BeispielDrogen, Missbrauch als Kind,häuslicher Gewalt undgenerationenübergreifender Armutist. Die Statistik sagt auch aus, dasssoziopathische Straftaten nur sehrvereinzelt der Strafjustiz zurKenntnis gelangen - dass also nursehr wenige Soziopathen imformalen Sinn kriminell sind. Dasam häufigsten auftretendesoziopathische Profil ist, wie beiDoreen, von ständigen Betrügereienund Täuschung geprägt, und nur die

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eklatantesten Verbrechen(Entführung, Mord, und so weiter)können auch von einemeinigermaßen intelligentenSoziopathen nur schwerverheimlicht werden. Einige - aberkeineswegs alle - der bewaffnetenRäuber und Entführer unter denSoziopathen werden gefasst. DieDoreen Littlefields der Weltkommen meist ungeschoren davon,und selbst wenn sie ertappt, alsoihre Taten erkannt werden, müssensie kaum damit rechnen,strafrechtlich zur Verantwortunggezogen zu werden. Das führt dazu,dass die meisten Soziopathen nicht

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inhaftiert werden. Sie tummelnsich, zusammen mit Ihnen und mir,auf dieser Welt.

Im nächsten Kapitel werden wirdie zahlreichen Gründe erörtern,warum Menschen mit einemGewissen so große Schwierigkeitenhaben, gewissenlose Individuen zu"sehen" und effektiv mit ihnenumzugehen. Diese Gründe reichenvom Psychoterror der Psychopathenbis hin zu unseren eigenen,unangebrachten Schuldgefühlen.Zunächst lassen Sie uns aber nocheinmal in die Klinik zurückkehren,und zwar, um das von Dr. JackieRubenstein bewirkte Wunder zu

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erleben, oder eigentlich zweiWunder.

Es sind vier Tage vergangen, seitDennis in eine geschlosseneAbteilung eingewiesen wurde. Es istSonntag und das Klinikgelände liegtverlassen da, bis auf ein kleinesAuto, das die schmale Zufahrt zudem Gebäude entlang fährt, in demDennis untergebracht ist, und vorder Eingangstür hält. Dr.Rubenstein steigt aus und wühlt inihrer Manteltasche nach demgroßen, fast mittelalterlichanmutenden Hauptschlüssel, derihr den Zugang zu demdreistöckigen, aus Stein erbauten

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Gebäude ermöglicht. Auch wenn sieinzwischen acht Jahre an der Klinikgearbeitet hat, umklammert sieimmer noch den schwerenGeneralschlüssel in der Hand,anstatt ihn zurück in ihre Tasche zustecken, wenn sie eine Station wiediese betreten hat und die Türhinter ihr ins Schloss gefallen ist.Sie ist gekommen, um ein letztesMal zu versuchen, ihren verstörtenPatienten Dennis dazu zu bewegen,mit ihr zu sprechen. Als sie dieeigentliche Station betritt - und eineweitere Stahltür sich automatischhinter ihr geschlossen undverriegelt hat -, sieht sie Dennis auf

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einem grünen Vinylsofa sitzen undeinen nicht eingeschaltetenFernseher anstarren. Er sieht hoch,ihre Blicke treffen sich für einenMoment, und zu ihrerÜberraschung und Erleichterungwinkt er ihr, sich zu ihm zu setzen.

Dann geschieht das erste Wunder:Dennis redet. Er redet und redetund erzählt Jackie Rubenstein alles,was Doreen Littlefield zu ihmgesagt hat. Und das zweite Wunderist, dass Jackie ihm glaubt.

Am Abend ruft sie von zu Hauseaus Doreen an und stellt sie zurRede. Doreen streitet alles ab undwirft ihr verächtlich vor, sie würde

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sich in den Verfolgungswahn ihresPatienten hineinziehen lassen. AlsJackie nicht nachgibt, warnt Doreensie, dass sie ihre eigene Karrieregefährden würde, wenn sieirgendjemandem an der Klinik einso unglaubliches Märchenauftischen würde. Als sie nach demGespräch mit Doreen den Höreraufgelegt hat, ruft sie einen gutenFreund in Los Angeles an, umZuspruch zu finden. Sie sagt ihm,nur halb im Scherz, dass sie dasGefühl hat, den Verstand zuverlieren.

Jackie weiß nicht, dass Doreeneine Betrügerin ist. Aus Jackies

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Sicht sind sie und Doreen Kollegenan der Klinik. Jackie wird klar, dasssie es daher schwer haben wird, indieser Angelegenheit bei ihrenVorgesetzten Gehör zu finden. Manwird annehmen, dies sei lediglicheine Auseinandersetzung zwischenihr und Doreen. Schlimmstenfallskönnte man ihr, so wie Doreen esgetan hat, unterstellen, dass sie sichdie Probleme ihres Patienten zueigen machen würde. Gleichwohlgeht sie am nächsten Morgen zumBüro des Chefarztes ihrer Stationund erzählt ihm, was passiert ist.Sein graubärtiges Gesicht wird rot,was Jackie sonderbar findet, da er

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nicht ärgerlich zu sein scheint,weder auf sie noch auf Doreen. Sierätselt vage, wie schon einige Malezuvor, ob er und Doreen einVerhältnis gehabt haben könnten.

Nachdem er Jackie angehört hat,gibt sich der Chefarzt nicht ganz soverächtlich wie Doreen am Telefon,aber doch erinnert er Jackierespektvoll daran, wie leicht manglaubwürdige Elemente in denWahnvorstellungen intelligenterParanoia-Patienten sehen kann. Ersagt, er habe große Zweifel, obetwas von dem, was Dennis ihrerzählt hat, sich tatsächlich ereignethabe und gibt seiner Hoffnung

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Ausdruck, dass sie und Doreendiese Meinungsverschiedenheitnicht auf die Spitze treiben würden.Solch ein Zwist wäre nicht gut fürdie Station. Und so kommt Doreen,wie üblich, in allen wesentlichenPunkten ungeschoren davon. Diegute Nachricht ist jedoch, dass nunDennis' Therapie mit Jackie nichtdauerhaft unterbrochen wird und erbald darauf aus der Klinik entlassenwerden kann.

Das Ende von Doreen LittlefieldsScharade bahnt sich, wie so oft beibegehrlichen Soziopathen, nicht miteinem Knall, sondern einemWimmern an. Es wurde durch eine

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Person außerhalb der Klinikausgelöst. Doreen wird durch einenVerbraucheranwalt enttarnt, derzweimal im Monat eine Sendungnamens "Kunde, sei vorsichtig" imRegionalfernsehen moderiert.Sechs Jahre nach Doreenspsychologischer Attacke auf Denniswird die Ehefrau diesesLokalmatadors mit Depressionen indie Klinik eingeliefert, und durchpuren Zufall wird ihr Doreen alsTherapeutin zugeteilt.

Weil er glaubt, dass die Therapieseiner Frau sich negativ auf seineEhe auswirke, ist der Anwaltvergrätzt und setzt sein Können ein,

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um Dr. Littflefield zu überprüfen;er findet im Handumdrehen heraus,was sie ist - oder vielmehr, was sienicht ist. Sofort wendet er sich anden kaufmännischen Direktor derKlinik und erklärt, dass er daraufverzichten würde, Doreen und dieKlinik in seiner Sendungbloßzustellen, falls die KlinikDoreen sofort entlassen, einenneuen Therapeuten für seine Frauberufen und die gesamteKrankenhausrechnung seiner Fraustornieren würde. Er weistdurchaus nachvollziehbar daraufhin, dass die Stornierung einereinzelnen Rechnung wesentlich

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günstiger käme, als Hunderte vonälteren Rechnungen zu erstattenoder, schlimmer noch, als dieSchadensersatzforderungen, mitdenen die Klinik rechnen müsse,falls Doreens fehlende beruflicheQualifikation durch das Fernsehenenthüllt würde.

Nach eingehendem Studium desihm vorgelegten Dossiers ist derFall für den kaufmännischenDirektor der Klinik sofort klar, undso wird Doreen an ihremvierzigsten Geburtstag plötzlichmitten aus einer kleinen durch Ivyorganisierten Büroparty mit Kaffeeund Kuchen heraus in den

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Verwaltungstrakt zitiert. Im Bürodes kaufmännischen Direktors wirdDoreen vom kaufmännischenDirektor, dem medizinischenDirektor und der Direktorin desPflegedienstes (die unbedingt dabeisein will, weil sie Doreen nichtausstehen kann) mitgeteilt, dass sievom Sicherheitsdienst zu ihremAuto eskortiert und überwachtwürde, bis sie das Geländeverlassen hätte. Doreen erwidertden drei Direktoren, sie würdeneinen großen Fehler machen, derVerbraucheranwalt würde lügen,weil er sie nicht ausstehen könneund dass sie sie alle verklagen

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würde.Sie fährt davon, und obwohl sie

vierzehn Jahre an der Klinik war,hört man dort nie wieder etwas vonihr. Die Verwaltung verfolgt dieAngelegenheit aus naheliegendenGründen nicht weiter, um einenSkandal und Regressansprüche zuvermeiden, und es gibt einenkollektiven Stoßseufzer derErleichterung, als sie einfachverschwindet. In privatenGesprächen über sie spekulierendie Leiterin des Pflegedienstes undJackie Rubenstein, dass Doreenwahrscheinlich in einem anderenBundesstaat weiterhin als

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Psychologin praktizieren würde.Die meisten Leute an der Klinik

verfügen über große Mengen anGewissen, und so stellt sich dieFrage, wieso man Doreen ohne eineAuseinandersetzung laufen lässt,nur damit sie womöglichandernorts ihr Unwesen treibenkann. Und warum war sieüberhaupt, gerade in einerpsychiatrischen Klinik, so schwierigzu erkennen? Allgemein gefragt:Wie kann ein jeder von uns - wiewir es allesamt tun - mit einererheblichen Zahl von destruktivenLügnern und Hochstaplernzusammenleben, ohne sie zur Rede

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zu stellen oder auch nur als solchezu erkennen? Wie wir in Kürzesehen werden, gibt es Antwortenauf diese entscheidenden Fragenund auch Mittel und Wege, unsereReaktionen auf das schlüpfrigePhänomen der Soziopathieallmählich zu ändern.

F Ü N F w a r u m d a s gewissen

Scheuklappen trägt Es ist leicht - schrecklich leicht -,

den Glauben eines Menschen ansich selbst zu erschüttern. Das

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auszunutzen, um die Seele einesMenschen zu zerstören, istTeufelswerk.

— George Bernard Shaw Hätte Doreen Littlefield geglaubt,

sie könnte damit ungeschorendavonkommen, dann hätte sieJackie Rubenstein mit ihrem BMWüberfahren, anstatt nur ihre Arbeitzu sabotieren. Und, nocherstaunlicher, hätte sie Jackie odereinen anderen Menschenverwundet oder getötet, Doreenhätte keine Schuldgefühle oderReue verspürt, geschweige denn dasEntsetzen, das die meisten

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Menschen empfinden würden,hätten sie das Leben einesMenschen beendet. Ihr Blutdruckwäre um keinen Deut gestiegen,zumindest nicht infolge einesschlechten Gefühls wegen desOpfers. Doreen hat keinen Sinn fürsolche Dinge, keinen siebten Sinnfür menschliche Verbundenheit, derihr ein elendes Gefühl wegen derFolgen ihrer Handlungen bereitenkönnte. Den meisten von uns hättedas Töten eines Menschen einenSchock verursacht, gefolgt vonQualen, die das Leben verändernwürden, auch wenn wir denbetreffenden Menschen nicht

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hätten leiden können. Doreen hätteeinen solchen Akt - vorausgesetzt,dass sie nicht gefasst worden wäre -als einen Sieg empfunden. FürMenschen mit einem Gewissen istdieser Unterschied zwischennormalen Gefühlsreaktionen undSoziopathie so absurd, dass er fastunbegreiflich ist, und so weigernwir uns für gewöhnlich, eine solcheGefühlsarmut für möglich zuhalten. Und leider kann uns dieWeigerung, die Bedeutung diesesUnterschiedes zu beachten,gefährlich werden.

Auch ohne jemanden mit ihremAuto - oder ihren eigenen beiden

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Händen - zu ermorden, richtetDoreen unsägliche Schäden für dieMenschen in ihrem Umfeld an. Defacto ist es ihr wichtigstes Ziel, dieLeben anderer Menschen zubeeinträchtigen. Da sie sich dieAutorität einer Psychotherapeutinfür stationäre Patienten zunutzemacht, könnte sie eines Tages alsNebeneffekt ihrer Rachefeldzügeeinen Patienten in den Selbstmordtreiben, sofern sie das nicht schongetan hat. Und doch ist eine großeGruppe anständiger Menschen - dasgesamte Personal einerpsychiatrischen Klinik, das allesMenschenmögliche tun würde, um

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den Selbstmord eines Patienten zuverhindern - blind für ihreScharade. Und als sie ihren Betrugentdecken, versuchen sie nichtetwa, sie aufzuhalten - sie seheneinfach zu, wie sie davonfährt.

Warum sind gewissenhafteMenschen so blind? Und warumzögern sie, sich zu wehren und dieIdeale und die Menschen, die ihnenwichtig sind, zu verteidigen, gegendie Minderzahl menschlicherIndividuen, die keine Spur einesGewissens haben? Die Antworthängt zum großen Teil mit denGefühlen und Gedankenzusammen, die sich einstellen,

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wenn wir mit Soziopathiekonfrontiert werden. Wir habenAngst, und unser Realitätssinnleidet. Wir glauben, dass wir unsDinge einbilden oder übertreibenoder irgendwie selbst für dasVerhalten des Soziopathenverantwortlich sind. Bevor wir aberunsere psychischen Reaktionen aufSchamlosigkeit im Detail erörtern,gestatten Sie mir, diese Reaktionenin einen Zusammenhang zu stellen,indem ich klar beschreibe, womitwir es zu tun haben. Lassen Sie unszunächst einen genauen Blick aufdie formidablen Techniken werfen,die von den Schamlosen benutzt

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werden, um uns zu beherrschen. Das Handwerkszeug Die erste dieser Techniken ist

Charme, und als ein sozialer Faktorsollte Charme nicht unterschätztwerden.

Doreen konnte ungemeincharmant sein, wenn es ihrenZwecken diente. Und unser alterFreund Skip hat seinen erheblichenCharme dafür eingesetzt, seineGeschäftspartner zu beeinflussenund den Weg zu geschäftlicherDominanz zu ebnen. Und Charme -wenn auch die Verbindung abwegig

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erscheinen mag - ist ein primäresMerkmal der Soziopathie. Derintensive Charme vongewissenlosen Menschen, eine Artunerklärliches Charisma, ist vonzahllosen Opfern beobachtet undkommentiert worden, und auch vonForschern bei dem Vorhaben, diediagnostischen Merkmale derSoziopathie zu katalogisieren. Es istein entscheidendes Merkmal. Diemeisten Opfer, die mir im Rahmenmeiner Arbeit begegnet sind, habenberichtet, dass nicht nur ihr ersterKontakt mit einer soziopathischenPerson, sondern auch die trotzerlittener Verletzungen fortgesetzte

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Beziehung ein direktes Ergebnisihres Charmes war. Unzählige Malehabe ich es erlebt, dass Menschenden Kopf geschüttelt undsinngemäß gesagt haben: "Er warder charmanteste Mensch, der mirjemals begegnet ist", oder: "Ichhatte das Gefühl, sie seit ewigenZeiten zu kennen", oder: "Er hatteeine unglaubliche Energie, dieanderen Leuten einfach fehlt."

Man kann den soziopathischenCharme mit dem animalischenCharisma anderer Räuber unter denSäugetieren vergleichen. Wenn wirzum Beispiel die großen Katzenbeobachten, sind wir von ihren

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Bewegungen, ihrer Unabhängigkeitund ihrer Kraft fasziniert. Aber derdirekte Augenkontakt mit einemLeoparden, sollte man zur falschenZeit am falschen Ort sein, istunentrinnbar und lähmend, und derfaszinierende Charme des Räubersist oft das Letzte, was das Opfererlebt. (Ich spreche von edlenLeoparden, jedoch habe ich oft vonmissbrauchten und wütendenOpfern Metaphern gehört, die sichauf Reptilien bezogen haben.)

Das animalische Charisma vonSoziopathen wird von unsererverhaltenen Affinität zur Gefahrnoch gesteigert. Es ist altbekannt,

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dass gefährliche Menschen attraktivsind, und indem wir uns zuSoziopathen hingezogen fühlen,bestätigen wir dieses Klischee.Soziopathen sind auf vielfältigeWeise gefährlich. Eine derauffälligsten ist ihr Hang zuriskanten Situationen undEntscheidungen und ihre Fähigkeit,andere dazu zu bringen, gemeinsammit ihnen Risiken einzugehen.Manchmal - aber nur manchmal -genießen normale Menschen einkleines Risiko oder einen leichtenNervenkitzel. Wir zücken unsereBrieftaschen, um für eine Rundemit einer riesigen Achterbahn zu

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bezahlen, obwohl wir uns kaumvorstellen können, das zuüberleben, oder für einen Platz imKino, wenn ein blutiger Reißerläuft, der uns mit SicherheitAlbträume bereiten wird. Unsernormaler Hang zu einemgelegentlichen Nervenkitzel kannden risikobereiten Soziopathennoch charmanter erscheinen lassen- vorerst. Zunächst mag esspannend sein, zu einem riskantenManöver eingeladen zu werden undsich der Person anzuschließen,deren Entscheidungen außerhalbunserer gewöhnlichen Grenzenliegen.

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Komm, wir stecken deineKreditkarte ein und fliegen heuteAbend nach Paris. Lass uns deineErsparnisse nehmen und einGeschäft aufziehen, das erst einmalunsinnig klingt, aber mit uns zweiklugen Köpfen zu einem grandiosenErfolg werden kann. Lass uns anden Strand gehen und den Hurrikanerleben. Lass uns auf der Stelleheiraten. Lass uns deinelangweiligen Freunde abschüttelnund zu zweit weiterziehen. Lass unsim Fahrstuhl Sex haben. Lass unsdein Geld in diesen heißen Tippstecken, den ich gerade bekommenhabe. Lass uns die Regeln

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verlachen. Lass uns in T-Shirts undJeans in ein feines Restaurantgehen. Lass uns ausprobieren, wieschnell dein Auto ist. Lass uns einbisschen leben.

Das ist der Stil der "Spontaneität",Risikobereitschaft und des"Charmes" von Soziopathen, undauch wenn wir uns über dieoffensichtlichen Schwächen solcherPläne amüsieren mögen, ist dasGrundschema immer wiederbemerkenswert erfolgreichgewesen. Ein Mensch, der nicht voneinem Gewissen behelligt wird,kann uns leicht das Gefühlvermitteln, unser Leben sei zu

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geregelt und öde, und dass wir mitihm gemeinsam ein Leben führensollten, das gerne als bedeutsamerund spannender dargestellt wird.Angefangen bei Eva und derSchlange strotzen dieGeschichtsbücher und Klassiker derProsa vor Geschichten vonMenschen, die durch das aalglatteGerede und den Magnetismus vonHasardeuren und Übeltäternverführt und manchmal vernichtetworden sind - Dickie Greenleaf undder talentierte Mr. Ripley, Samsonund Delilah, River City und HaroldHill, Trilby und Svengali, NormanMailer und Jack Henry Abbott,

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Zarin Alexandra und der scheinbarunsterbliche Rasputin. Und auseigener Erfahrung erinnern wir unsan Begegnungen mit solchenZeitgenossen, die uns eisigeSchauer über den Rücken jagen.Freilich können wir uns glücklichschätzen, wenn es nurBegegnungen waren. WenigerGlückliche müssen mitunauslöschlichen Erinnerungen anausgemachte menschlicheKatastrophen leben, die ihnenwiderfahren sind, als sie demCharme der Schamlosen zum Opferfielen.

Überdies kennen die Schamlosen

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uns viel besser, als wir sie kennen.Es fällt uns ausgesprochen schwerzu erkennen, dass eine Person keinGewissen hat, aber ein Menschohne Gewissen erkennt sofortjemanden, der anständig undvertrauensvoll ist. Schon als Kindwusste Skip, wen er dazu überredenkonnte, Feuerwerkskörper für ihnzu besorgen. Als Erwachsenerwusste er sofort, dass Juliettejahrzehntelang mit ihm lebenkonnte, ohne seine zwielichtigenAktivitäten in Frage zu stellen.Doreen Littlefield erkannte, dass siemit Ivy leichtes Spiel haben würde,und wusste genau, dass Jackie

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Rubenstein ein mitfühlenderMensch war, der bereitwillig überseine Pflicht hinaus Verantwortungübernehmen würde.

Wenn ein Soziopath jemanden alsleichtes Opfer ausmacht, studiert erdiese Person. Er versuchtherauszufinden, wie diese Personmanipuliert und ausgenutzt werdenkann und wie er dazu seinauserkorenes Spielobjektumschmeicheln und betören kann.Außerdem weiß er, wie er einGefühl der Vertrautheit oderIntimität herstellen kann, indem erbehauptet, er und sein Opfer seiensich irgendwie ähnlich. Häufig

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erinnern sich Opfer anBehauptungen, die auch dann nochihren Eindruck hinterließen,nachdem der Soziopathverschwunden war, zum Beispiel:"Weißt du, ich glaube, du und ichsind uns sehr ähnlich", oder: "Ichbin ganz sicher, dass wirSeelenverwandte sind."Rückblickend betrachtet könnensolche Bemerkungenaußerordentlich erniedrigendwirken. Sie sind unglaublichverlogen und spuken einem dochim Kopf herum.

In ähnlicher Weise habengewissenlose Menschen ein

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unheimliches Gespür dafür, wer fürsexuelle Avancen empfänglich seinkönnte. Verführung ist eine weitere,sehr verbreitete soziopathischeTechnik. Für die meisten Menschenbringt ein sexuelles Verhältnis eineemotionale Bindung mit sich, wennsie auch flüchtig sein mag, undsolche Bindungen werden vonkaltherzigen Schurken ausgenutzt,um zu bekommen, was siebegehren - Loyalität, finanzielleUnterstützung, Informationen, einGefühl des "Gewinnens", odervielleicht einfach einevorübergehende Beziehung, die denAnschein der Normalität erweckt.

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Dies ist eine altbekannteGeschichte und abermals eine, diesich immer wieder in Literatur undHistorie wiederholt. Aber seltenerkennen wir die Macht, die sieSoziopathen verleiht - Macht übereinzelne Menschen, natürlich, aberauch über Gruppen undInstitutionen. Ein innerhalb einerOrganisation getarnter Soziopathkann auf unbestimmte Zeit durchnormale Menschen gedeckt werden,die den einzigen Fehler gemachthaben, einer Schwäche für diesecharmante und gefährliche Personnachzugeben. So konnte sich zumBeispiel Doreen vor allem deshalb

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als Psychologin ausgeben, weil sieEmpfehlungsschreiben von zweiPersonen präsentieren konnte, diesie sexuell manipuliert hatte. Undals Jackie versucht hat, Doreenssoziopathisches Verhaltenaufzudecken, hat eine dritte Person,der Stationsdirektor, daswahrscheinlich aus den gleichenGründen verhindert. Und so bliebdie verführerische "Dr." Littlefieldweitere sechs Jahre an der Klinik.

Und sexuelle Verführung ist nurein Aspekt des Spiels. Wir werdengleichermaßen durch dieschauspielerischen Fähigkeiten desSoziopathen verführt. Da das

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Gerüst eines Lebens ohne Gewissenaus Täuschung und Illusionbesteht, werden intelligenteSoziopathen häufig zu gutenSchauspielern und können sogarspezielle, von Berufsschauspielerneingesetzte Techniken erlernen.Paradoxerweise können willkürlichabrufbare Gefühlsbekundungendem Kaltblütigen zur zweiten Naturwerden - der Anschein intensiverAnteilnahme an den Problemenoder Vorlieben eines anderenMenschen, bierseligerNationalstolz, aufrechteEntrüstung, errötende Sittsamkeit,weinerliche Traurigkeit.

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Krokodilstränen auf Abruf sind einsoziopathisches Markenzeichen.Doreen stellte sicher, dass Ivy dieüber ihren Patienten Dennisvergossenen Krokodilstränenbemerken und sich davoneinwickeln lassen würde. Undzweifellos hat sie abermals vor Ivyeinen ganzen SchwallKrokodilstränen vergossen, als sieunweigerlich die schreckliche,schmerzhafte Krankheit erfand, diesie "zwang", ihr kleines Hündcheneinschläfern zu lassen.

Krokodilstränen vergießen dieGewissenlosen besonders gern,wenn ein gewissenhafter Mensch

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sich dazu anschickt, einenSoziopathen mit der Wahrheit zukonfrontieren. Ein Soziopath, derbefürchten muss, in die Engegetrieben zu werden, wird sichplötzlich zu einer Mitleiderregenden, weinerlichen Figurverwandeln, die niemand gutenGewissens weiterhin unter Drucksetzen könnte. Oder das genaueGegenteil: Manchmal wird ein indie Enge getriebener Soziopath einePose rechtschaffener Entrüstungund gerechten Zorns einnehmen indem Versuch, den Angreifereinzuschüchtern. So hat es Doreenmit den Direktoren der Klinik

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versucht, als sie schließlich gefeuertwurde.

Da sie von Natur aus Schauspielersind, können gewissenloseMenschen gesellschaftliche undberufliche Rollen optimalausnutzen, die hervorragendeTarnungen abgeben und nur ungernvon anderen Menschenangezweifelt werden. Rollen helfenuns bei der Organisation unsererkomplexen Gesellschaft und sindenorm wichtig für uns. Sollte unsein verdächtiges Verhaltenauffallen, würden wir vielleicht eineDoreen Littlefield schließlich zurRede stellen, aber es ist

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unwahrscheinlich, dass wir einerF r a u D r . Doreen Littlefieldmisstrauen würden, sei ihrVerhalten auch noch so sonderbar.Wir reagieren auf den Titel Doktor,der eine eindeutige und positiveBedeutung für uns hat, und denInhaber eines solchen Titels stellenwir kaum jemals in Frage. Ingewissem Maße gilt das auch fürMenschen, die Rollen aus anderengesellschaftlichen Bereichenbekleiden und (legal oder illegal)entsprechende Titel führen, zumBeispiel in Politik, Geschäftsleben,organisierter Religionsausübung,Bildungswesen oder als Eltern.

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Selten werden die Nachbarn dasVerhalten eines Diakons,Stadtrates, Gymnasialdirektors odereines erfolgreichen Managers wieSkip unter die Lupe nehmen. Wirglauben den Versprechungen einessolchen Menschen, weil wir dieIntegrität seiner gesellschaftlichenRolle mit ihm identifizieren. Sowerden wir auch schwerlich dieErziehungspraktiken einesNachbarn in Frage stellen, selbstwenn zu befürchten steht, dass einKind missbraucht wird. Oft hatunsere Logik kaum mehr Substanzals die schlichte Aussage "Er istschließlich der Vater."

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Darüber hinaus werden wir vomtatsächlichen Verhalten einesMenschen abgelenkt, wenn er sichauf die eine oder andere Art alsgütig, kreativ oder verständnisvolldarstellt. So vertrauen wir zumBeispiel Menschen, die sich alstierlieb ausgeben. Bei Menschen,die sich selbst als Künstler oderIntellektuelle bezeichnen, drückenwir auch mal ein Auge zu, da wireventuelle Abweichungen von derNorm ihrer Exzentrizitätzuschreiben, die wir alsNormalbürger unmöglich verstehenkönnen. Im Allgemeinen bringenwir solchen Kreisen ein gewisses

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Wohlwollen entgegen, wasmanchmal einem soziopathischenImitator Tür und Tor öffnet.

Schlimmer noch, unser Respektfür vermeintlich inspirierte undwohlwollende Führungspersonenkann missbraucht werden - und istvielfach missbraucht worden -, mitkatastrophalen Folgen. Wir neigendazu, bei Führungspersonen -gerade dann, wenn sie vorgeblicheiner erhabenen Mission dienen -und auch bei Ärzten oder Priesternoder Eltern, die Attribute derjeweiligen Rolle auf das Individuumzu übertragen und daher demIndividuum zu folgen. Benjamin

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Wolman,29 Gründer undHerausgeber des InternationalJournal of Group Tensions("Internationales Journal derSpannungen in Gruppen"), hatgeschrieben: "Gewöhnlich wächstdie menschliche Grausamkeit,wenn ein aggressiver Soziopath eineunheimliche, fast hypnotischeKontrolle über sehr viele Menschenerlangt. Die Geschichte ist voll vonHäuptlingen, Propheten, Erlösern,Gurus, Diktatoren und anderensoziopathischenGrößenwahnsinnigen, denen esgelungen ist, ein Gefolge zu finden... und die Menschen zur Gewalt

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aufgestachelt haben." Wenn einsolcher "Erlöser" die normaleBevölkerung für seine Zwecke zuGeiseln nimmt, beginnt er seineKampagne für gewöhnlich miteinem arglistigen Appell an sie alsgute Menschen, die das Los derMenschheit verbessern wollen, undbesteht dann darauf, dass man dasnur erreichen könne, indem manseinem eigenen, aggressiven Planfolge.

Mit verwirrender Ironie könnendem Gewissen Scheuklappenangelegt werden, da Menschenohne Gewissen viele dergrundsätzlich positiven Werkzeuge,

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die wir benötigen, um dieGesellschaft zusammenzuhalten,als Waffen gegen uns wenden -Mitgefühl, sexuelle Bindungen,gesellschaftliche und beruflicheRollen, Achtung für Wohltäter undKreative, unsere Sehnsucht, dieWelt zu verbessern und dieordnende Macht des Staates. Undden Menschen, die entsetzlicheTaten verüben, sieht man es nichtan. Es gibt kein "Gesicht desBösen". Könnten wir irgendwie allegrausigen Assoziationen außer Achtlassen, würde das eigentlicheGesicht Saddam Husseins eheronkelhaft wirken; vielfach ist gesagt

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worden, er hätte ein großes,freundliches Lächeln. HitlersGesicht, wäre es nicht durch dessenGräueltaten zu einem Symbol desBösen an sich geworden, könnteman fast für komisch halten,Chaplinesque in seinerDümmlichkeit. Lizzy Borden sahaus wie alle anderenherausgeputzten viktorianischenDamen in ihrem Heimatort FallRiver, Massachusetts. PamelaSmart ist hübsch. Ted Bundy war soattraktiv, dass Frauen ihmHeiratsanträge in die Todeszelleschickten, und auf jedes anzüglicheGrinsen eines Charles Manson

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kommt ein strahlend unschuldigesAntlitz eines John Lee Malvo.

Wir versuchen, bewusst oderunbewusst, den Charakter einesMenschen anhand seinesAussehens einzuschätzen, aberdiese Strategie, nach dem äußerenAnschein zu urteilen, ist fast immerineffektiv. Im wirklichen Lebensehen die bösen Buben nicht so auswie sie sollten. Sie haben keineÄhnlichkeit mit einem Werwolfoder Hannibal Lecter oder TonyPerkins, während er eine Leiche imSchaukelstuhl anstarrt. ImGegenteil - sie sehen aus wie wir.

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"Gaslight" Es ist ein ungemein

beängstigendes Erlebnis, zum Opfereines Soziopathen zu werden, auchwenn er nicht von der gewalttätigenSorte ist. Im Jahre 1944 führteGeorge Cukor Regie in demPsychothriller Gaslight ("Das Hausder Lady Alquist"), in dem eineschöne junge Frau - dargestelltdurch Ingrid Bergman - in denWahnsinn getrieben wird. IhreAngst, den Verstand zu verlieren,wird systematisch durch CharlesBoyer geschürt, der ihren bösen,aber charmanten frisch angetrauten

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Ehemann spielt. Neben anderenManipulationen sorgt Boyer dafür,dass Bergman in seinerAbwesenheit Geräusche auf demDachboden hört und dass dieGasbeleuchtung selbsttätig flackertin dem unheimlichen Haus, in demvor Jahren ihre Tante untermysteriösen Umständen ermordetworden ist. Natürlich glaubtniemand Bergman die Geräuscheauf dem Dachboden oder dasFlackern des Gaslichts und auchkaum etwas anderes, und ihreallmählich wachsenden Zweifel anihrer Wahrnehmung der Realitätfinden sich in der englischen

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Redewendung "to be gaslighted"wieder. Boyer ist nicht gewalttätig.Nie schlägt er Bergman. Vielhinterhältiger - er nimmt ihr dasVertrauen in die eigenenSinneswahrnehmungen.

Der Ausdruck "to be gaslighted"beschreibt den Verdacht, Opfereines Soziopathen zu sein und denVersuch, anderen Menschen diesenVerdacht zu erklären. JackieRubenstein war ein gutes Beispielfür dieses Phänomen, als sieDoreen Littlefield wegen ihrerGrausamkeit gegenüber Dennis zurRede stellte. Danach hat Jackieeinen Freund angerufen, um

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Zuspruch zu suchen, da sie dasGefühl hatte, den Verstand zuverlieren. Und als sie versucht hat,dem Stationsdirektor von ihrerEntdeckung zu berichten,wiederholte er höflich, aberdeutlich Doreens Unterstellung,dass Jackie durch ihren paranoidenPatienten auch ein bisschenverrückt geworden sei.

Nachdem Jackie Doreenbeschuldigt hatte, sich einemharmlosen Patienten gegenüberbösartig verhalten zu haben, stelltesich natürlich die Frage: Warumsollte sich ein solcher Mensch soabscheulich verhalten?

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Unweigerlich wird diese Frage vonDritten gestellt werden, entwederoffen oder implizit, und es ist eineso verwirrende, nicht zubeantwortende Frage, dass letztlichauch die Person, die denSoziopathen verdächtigt, sich dieseFrage stellen wird - nur, umfeststellen zu müssen, dass sie auchkeine plausible Erklärung dafür hat.Und wie die unschuldige,frischgebackene Braut im FilmGaslight läuft auch sie Gefahr, dasVertrauen in die eigenenWahrnehmungen teilweise oderganz zu verlieren. Gewiss wird siezögern, die Geschichte zu

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wiederholen, da der Versuch, denSoziopathen bloßzustellen, Zweifelan ihrer eigenen Glaubwürdigkeitoder gar ihrem Verstand weckt.Diese Zweifel, unsere eigenen unddie der Mitmenschen, sindschmerzlich, und leicht bringen sieuns dazu, den Mund zu halten. ImLaufe der Jahre habe ich Hundertenvon Patienten zugehört, die Opfervon Soziopathen geworden sind,und dabei festgestellt, dass es istnicht ungewöhnlich ist, wenn einigeMenschen innerhalb einerOrganisation oder Gemeinde schonlängst einen Verdacht hatten, jederfür sich und im Stillen, wenn eine

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Person schließlich für alleoffensichtlich als Soziopathbloßgestellt wird. Jeder hat sichmanipuliert gefühlt und so behieltjeder sein verrückt klingendesGeheimnis für sich.

Wir fragen uns: Warum sollte sichein solcher Mensch so abscheulichverhalten? Mit "ein solcherMensch" meinen wir eine Person,die ganz normal aussieht, einePerson, die aussieht wie du und ich.Wir meinen eine Person in einerrespektierten, beruflichen Rolle,einen Tierfreund, ein Elternteil,einen Ehepartner, oder vielleichteinen charmanten Menschen, mit

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dem wir zum Abendessen - odermehr - zusammen waren. Und mit"abscheulich verhalten" meinen wireine negative Handlung, die für unsunerklärlich grotesk ist, da wir unsauf der Grundlage unserer eigenenGefühle und normalenBeweggründe unmöglich erklärenkönnen, warum sich jemandüberhaupt so verhalten sollte.Warum sollte ein aufgeweckter,ansehnlicher, privilegierter Jungewie Skip kleine Tiere abschlachtenwollen? Warum sollte der alsErwachsener fabelhaft erfolgreicheSkip, mit der attraktiven Tochtereines Milliardärs verheiratet, seinen

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Ruf aufs Spiel setzen, indem ereiner Angestellten den Arm bricht?Warum sollte Dr. Littlefield,Psychologin und der nettesteMensch der Welt, plötzlich einebrutale psychologische Attacke aufeinen rekonvaleszenten Patienten,überdies einen VIP, ausüben?Warum sollte sie, eine etablierteÄrztin, eine sinnlose, plumpe Lügeerfinden, nur um eine jungeAssistenzärztin zu erschrecken -wohl wissend, dass sie ertapptwerden würde?

Dies ist die Art von Fragen, die wiruns stellen, wenn wir mitsoziopathischem Verhalten

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konfrontiert werden, und meistenskönnen wir keine plausibelklingenden Antworten finden. Wieimmer wir auch spekulieren mögen,wir können uns nicht vorstellen,waru m . Nichts klingt glaubhaft,und so meinen wir, es müsse sichum ein Missverständnis handeln,oder vielleicht, dass wir einerBeobachtung zuviel Bedeutungbeigemessen hätten. Wir denken so,weil der von einem Gewissenbeherrschte Verstand sich qualitativvon einem gewissenlosen Verstandunterscheidet. Was Soziopathenwollen und was sie motiviert, liegtvöllig außerhalb unserer

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Erfahrungswelt. Um einenpsychisch Kranken absichtlich zuschädigen wie Doreen oderjemandem den Arm zu brechen wieSkip, müssten die meistenMenschen sich von der jeweiligenPerson ernsthaft bedroht fühlenoder von einem übermächtigenGefühl, zum Beispiel Wut, besessensein. Sich mit kühlem Kopf, auseiner Laune heraus, so zuverhalten, gehört nicht zumemotionalen Repertoire normalerMenschen.

Soziopathen - Menschen ohne einintervenierendes Gefühl derVerpflichtung, dass auf ihren

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Bindungen zu anderen beruht -widmen ihr Leben typischerweisezwischenmenschlichen Spielen,dem "Gewinnen", der Dominanzum ihrer selbst willen. Wir anderen,die wir ein Gewissen haben, mögenin der Lage sein, diesesMotivationsschema rational zuverstehen - wenn wir ihm aber imrealen Leben begegnen, erscheinenuns seine Konturen als sofremdartig, dass wir es nur seltenüberhaupt "sehen". Viele Menschenohne ein Gewissen verhalten sichselbstzerstörerisch, nur für dieZwecke des Spiels. Stamp Manverbrachte sein halbes Leben im

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Gefängnis, nur für denNervenkitzel, alle paar Jahre einigePostbeamte und Polizisten fürvielleicht eine Stundeumherspringen zu lassen. Doreenhat freudig ihre eigene Karriereriskiert, nur um ihrer Kollegin einwenig zu schaden. Dies sindVerhaltensweisen, die wir nichtverstehen, ja, kaum glaubenkönnen. Eher zweifeln wir unsereeigene Wahrnehmung der Realitätan.

Und oft sind unsere Selbstzweifelextrem. Zur Illustration mag dieerstaunliche öffentliche Reaktion -die noch dreißig Jahre nach ihrem

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Tod anhielt - auf die kriminelleKarriere einer gewissen BarbaraGraham dienen. Im Jahr 1955wurde Graham im Alter von 32Jahren für ihre Beteiligung an derbesonders brutalen Ermordungeiner betagten Witwe namensMabel Monahan in San Quentinhingerichtet. Gerüchten zufolgehielt Mrs. Monahan - wie dieermordete Tante von IngridBergman im Film "Gaslight" -wertvollen Schmuck in ihrem Hausversteckt. Graham brach mit dreiKomplizen in das Haus ein und, alssie kein Geschmeide findenkonnten, schlug Graham (in den

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Medien unter dem Spitznamen"Bloody Babs" bekannt) der altenFrau mit ihrer Pistole ins Gesicht,bis sie fast zur Unkenntlichkeitentstellt war und erstickte sie dannmit einem Kissen.

Die letzte Äußerung von BloodyBabs, die vor ihrer Hinrichtungprotokolliert wurde, lautete: "GuteMenschen sind sich immer sogewiss, im Recht zu sein." DieseFeststellung traf sie in aller Ruhe,fast mit einem Anflug vonMitgefühl - es war ein passablessuggestives Manöver. Daraufhinkamen vielen Menschen Zweifel anihrer Wahrnehmung von Graham,

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und so richtete sich die öffentlicheAufmerksamkeit vermehrt auf ihreRolle als attraktive Mutter von dreiKindern und weniger auf ihrgrausiges Verhalten. Nach ihremTod wurde sie Gegenstand eineremotional geführten Debatte, undbis heute wird vielfach entgegenhandfester Beweise behauptet, dasssie unschuldig gewesen sei.Solcherlei öffentlichen Zweifelnentsprangen zwei Filme über sie,beide unter dem Titel I want toLive! (Ich will leben!). Im erstenFilm spielte Susan Hayward dieHauptrolle, die ihr einen Oscareinbrachte, und 1983 erschien ein

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Remake als Fernsehfilm mitLindsay Wagner in der Hauptrolle.In beiden Versionen wurde diesadistische Mörderin BarbaraGraham als tragisch verkannte Fraudargestellt, die einem Komplottzum Opfer gefallen war.

Barbara Grahams letzte Worte -"Gute Menschen sind sich immerso sicher, im Recht zu sein" - hatteneine so suggestive Wirkung, weildas genaue Gegenteil der Fall ist.Tatsächlich ist es eine dermarkanteren Eigenschaften guterMenschen, dass sie sich nie ganzsicher sind, im Recht zu sein. GuteMenschen ziehen reflexartig und

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permanent ihr Urteil in Zweifel undunterwerfen ihre Entscheidungenund Handlungen der strengenPrüfung des intervenierendenGefühls der Verpflichtung, dasihren Bindungen zu anderenMenschen entspringt. DieSelbstkritik des Gewissens gestehtdem Verstand nur selten absoluteGewissheit zu, und selbst dannerscheint uns Gewissheit alstrügerisch, da sie uns dazuverführen kann, jemanden zuUnrecht zu bestrafen oder eineandere ungerechtfertigte Handlungzu begehen. Selbst im juristischenSinne sprechen wir von "jenseits

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vernünftiger Zweifel" und nicht vonvölliger Gewissheit. Letztlich hatuns Barbara Graham sehr vielbesser verstanden als wir sie, undmit ihrer letzten Bemerkung hat sieauf einen irrationalen, aber sehrempfindlichen psychologischenKnopf bei den Menschen gedrückt,die sie überlebt haben - die Sorge,eine Entscheidung auf der Basis zugroßer Gewissheit getroffen zuhaben.

Überdies wird unsereUnsicherheit dadurch nochverstärkt, dass wir zumeistinstinktiv begreifen, dass esZwischentöne von Gut und Böse

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gibt anstatt absoluter Kategorien.Wir wissen in unseren Herzen, dasses keinen vollkommen gutenMenschen gibt, und so nehmen wiran, dass es auch keinen durch unddurch bösen Menschen gebenkönne. Und vielleicht trifft das imphilosophischen Sinne - und gewissim theologischen Sinne - durchauszu. Schließlich ist in der judäisch-christlichen Tradition der Teufelselbst ein gefallener Engel.Wahrscheinlich gibt es keineabsolut guten und auch keinevollkommen schlechten Menschen.Wie dem auch sei - psychologischgesprochen, gibt es definitiv

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Menschen, die ein in ihrenemotionalen Bindungenverwurzeltes, intervenierendesGefühl der Einschränkung haben,während anderen Menschen einsolches Gefühl fehlt. Wird das nichterkannt, geraten allegewissenhaften Menschen - undalle Mabel Monahans der Welt - inGefahr.

Wie können wir Scheuklappen

vermeiden? Die fünfte Klasse meiner Tochter

machte einen Ausflug, und ich wareine der begleitenden Mütter. Wir

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wollten uns ein Theaterstücknamens Freedom Train ("Zug in dieFreiheit") ansehen, das HarrietTubman* und die "UndergroundRailroad" zum Thema * Anmerkung des Übersetzers:

Harriet Tubman (ca. 1826 - 1913)war die bekannteste Fluchthelferinder "Underground Railroad", einergeheimen Hilfsorganisation fürSklaven, die aus den Südstaaten derUSA fliehen wollten. Sie spielte einewichtige Rolle im Widerstand gegendie Sklaverei.

hatte. Auf der ziemlich lauten

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Busfahrt zurück in die Schulepiesackte einer der Schüler einenKlassenkameraden, indem er ihnschubste und an den Haaren zog.Ich hatte gehört, dass der stilleJunge, den er ärgerte, in seinerEntwicklung zurückgeblieben warund keine Freunde hatte. Er hattekeine Ahnung, wie er sichverteidigen sollte. Noch bevor einerder Erwachsenen einschreitenkonnte, tippte ein zierliches, kleinesMädchen, das direkt hinter denbeiden Jungen saß, dem Rabaukenauf die Schulter und sagte: "Das istecht gemein. Hör auf damit."

Die Person, die dieses antisoziale

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Verhalten erkannt und öffentlichdagegen Stellung bezogen hat, warzehn Jahre alt und vielleicht gerade1,20 Meter groß. Der Junge, den sieangesprochen hatte, streckte ihr dieZunge heraus und setzte sich aufeinen anderen Sitz zu einem seinerKumpels. Sie beobachtete, wie ersich verzog und spielte dannseelenruhig weiter Schere-Stein-Papier mit dem Mädchen, dasneben ihr saß.

Was passiert mit uns, wenn wirheranwachsen? Warum unterlassenwir es als Erwachsene, denTyrannen "Hör auf damit" zusagen? Erwachsene Tyrannen sind

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stärker, aber wir sind es auch. Wirddieses gesunde kleine Mädchen sichebenso souverän und selbstsicherverhalten, wenn sie dreißig Jahreälter und einen halben Metergrößer ist? Wird sie zu einerzweiten Harriet Tubman werden,wenn auch mit anderen Zielen?Leider stehen die Chancen schlecht,bedenkt man unsere heutigenErziehungspraktiken.

Wir erziehen unsere Kinder,namentlich Mädchen, dazu, ihrespontanen Reaktionen zuignorieren30 - wir lehren sie, keinAufsehen zu erregen -, und das isteine gute und notwendige Lektion,

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wenn die jeweilige spontaneReaktion darin bestünde,gewalttätig mit Fäusten oderWorten zuzuschlagen, einenverlockenden Gegenstand in einemLaden zu stehlen, oder einenfremden Menschen in einerWarteschlange im Supermarkt zubeleidigen. Aber eine andere Artvon spontaner Reaktion, die ebensovon unserer konfliktscheuenGesellschaft unterdrückt wird, istdie "Pfui!"-Reaktion, das natürlicheGefühl moralischer Entrüstung.Wenn sie erst einmal dreißig ist,könnte das "Pfui!" des tapferenkleinen Mädchens - ihr Impuls, zu

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reagieren und Krach zu schlagen,wenn sich jemand "echt gemein"verhält - aus ihrem Verhalten undvielleicht sogar aus ihremEmpfinden eliminiert worden sein.

In ihrem Buch Women's Anger:Clinical and DevelopmentalPers pect i v es ("Weibliche Wut:Klinische Ergebnisse undEntwicklungsperspektiven") habendie Psychologen Deborah Cox, SallyStabb und Karin Brucknerdokumentiert, wie Mädchen undFrauen gesellschaftlicheReaktionen auf ihre Wut erleben.Cox, Stabb und Bruckner schreiben,dass "die Mehrheit der

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Interaktionen, die sie [Mädchenund Frauen] beschreiben,ablehnend sind; entweder wird dieWut, das Mädchen bzw. die Frauoder beides abgelehnt. DieAblehnung kann sich durch einendirekten Angriff in Form von Kritikäußern, oder durch eine defensiveReaktion oder eher passiv durchRückzug und Herabwürdigung derMotive und Gefühle des Mädchensoder der Frau." Und auf der Basisihrer Studien an heranwachsendenMädchen stellt die Erzieherin LynMikel Brown fest, dass eineidealisierte Weiblichkeit aufbedenkliche Weise ein "stilles"

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Verhalten auf Kosten eines"kritischen" Verhaltens begünstigenkönne.

Um unseren bereicherndensiebten Sinn vor Scheuklappen zubewahren, müssen wir, wie bei denmeisten Verbesserungen desmenschlichen Daseins, bei unserenKindern anfangen. Zu einemgesunden Gewissen gehört dieFähigkeit, sich mitGewissenlosigkeit auseinander zusetzen. Wenn Sie ihre Tochterlehren - explizit oder durch passiveAblehnung -, dass sie ihre Wutignorieren und freundlich undduldsam sein muss bis hin zu

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einem Punkt, an dem sie sich selbstoder andere nicht verteidigt, unddass sie unter keinen UmständenAufsehen erregen darf, dannstärken Sie nicht etwa ihrenGemeinsinn, sondern schädigen ihn- und die erste Person, die sie nichtmehr schützen wird, ist sie selbst.Cox, Stabb und Bruckner vertretennachdrücklich die Ansicht, dass "dieForderung, anderen gegenüberseine Wut zu unterdrücken, derFrau die Möglichkeit nimmt, dieseArt von Autonomie zu entwickeln."Stattdessen müssen wir, um mitLyn Mikel Brown zu sprechen, "dieMöglichkeit gewähren, selbst unter

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den repressivsten Umständen,konstruktive Verweigerung undWiderstand auszudrücken".

Lassen Sie sie nicht zum Opfervon Suggestion werden. Wenn siefeststellt, dass ein gemeinerMensch "echt gemein" ist, geben Sieihr Recht und bestärken Sie siedarin, das auch laut auszusprechen.Jackie Rubenstein hat sichentschieden, ihrem PatientenDennis zu glauben und nicht ihrergefährlichen Kollegin DoreenLittlefield. Das war eine gute,moralische Entscheidung.Sinngemäß hat sie gesagt: "Das istecht gemein. Hör auf damit", wenn

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sie auch wegen dieser Äußerungvon einigen weniger klarsichtigenMenschen in ihrer Umgebung zurQuerulantin abgestempelt wurde.

Was die Jungen betrifft - in ihremBuch Raising Cain: Protecting theEmotional Life of Boys31* ("DieErziehung des Kain: Schutz desGefühlslebens von Knaben") zeigensich die führendenKinderpsychologen Dan Kindionund Michael Thompson besorgtüber die Häufigkeit, mit der"verunsicherte Väter zualtbewährten Abwehrreaktionengreifen, um die Illusion 'Vater weißes am besten' aufrechtzuerhalten."

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Eltern, namentlich Väter, lehrenihre Söhne, Autoritäten unter allenUmständen zu gehorchen, undunter den falschen kulturellen undpolitischen Umständen - Umstände,die sich im Laufe der Geschichtemit krankhafter * Anmerkung des Übersetzers:

Dieses Buch ist 2001 in deutscherÜbersetzung unter dem Titel Wasbraucht mein Sohn? Wie Eltern dieemotionale Entwicklung fördernk ö n n e n im Krüger-Verlag(Frankfurt am Main) erschienen.

Regelmäßigkeit wiederholt haben

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- ist dies eine Lektion, dieSelbstmord bedeuten kann. DassEltern einen gewissen Respekt vorlegitimer Autorität fördern wollen,ist verständlich, und wahrscheinlichwichtig für das Funktionieren einerGesellschaft, wie wir sie kennen.Aber die Mühe, Kinder inreflexartigem, unkritischemGehorsam zu drillen, kann mansich sparen. Unterordnung untervermeintliche Autorität ist auchohne Drill bei den meistenMenschen ein Reflex, und durchFördern dieses Reflexes machen wirunsere Kinder zu leichten Opfernaggressiver oder soziopathischer

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"Autoritäten", die womöglich ihrenspäteren Lebensweg kreuzenkönnten.

Zum Schaden eines jeden könnenGehorsam und die höheren Idealedes Patriotismus und der Pflicht zunicht unterscheidbaren Motivenwerden. Auf diese Weise überhöhtkann reflexartiger Gehorsam einenMenschen beherrschen, bevor erüberhaupt dazu kommt zureflektieren, ob nicht vielleicht erselbst die maßgebliche Autorität ist,wenn es um sein eigenes Leben undsein Vaterland geht, und langebevor er sich zum Beispiel fragenkann: "Wollen ich und meine

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Landsleute wirklich für die Zieledieser externen 'Autorität' kämpfenund vielleicht sterben?"

Und doch glaube ich, dass wirheute an der Schwelle einerneuartigen Alternative stehenkönnten, die sich im Laufe derJahrtausende entwickelt hat.Vormals mussten menschlicheWesen aus Gründen des nacktenÜberlebens dafür sorgen, dass ihreKinder die mühsam erreichtenErrungenschaften nichtgefährdeten, die gegebene Ordnungnicht allzu sehr infrage stellten undAnweisungen befolgten. Das Lebenwar beschwerlich und unsicher, und

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Kinder, die unsere Autorität infragestellten, konnten sehr wohl als toteKinder enden. Daher zogen wir bisvor einigen hundert JahrenMenschen heran, für die moralischeEmpörung ein großer Luxus warund die das Anzweifeln vonAutorität als lebensbedrohlichempfanden. Und so wurden wirunwissentlich über vieleGenerationen hinweg zu leichtenOpfern soziopathischerManipulationen konditioniert. Aberheutzutage gelten dieÜberlebensregeln für die meistenMenschen der entwickelten Weltnicht mehr. Wir können uns

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besinnen. Wir können unserenKindern erlauben, die Dinge infragezu stellen. Und wenn sieherangewachsen sind, können sie,ohne ihre eigenenWahrnehmungen anzuzweifeln,den erwachsenen Tyrannen in dieAugen sehen und sagen: "Das istecht gemein. Hör auf damit."

Aber wie steht es um diejenigenvon uns, die seit Jahrzehntengewohnt sind, ihre eigenenInstinkte zu missachten? Wiekönnen wir uns davor schützen,manipuliert zu werden, und wiekönnen wir es lernen, dieGewissenlosen in unserem Umfeld

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zu erkennen? Dieser Frage widmetsich das nächste Kapitel. Es ist eineinteressante Frage mit einerdurchaus überraschenden Antwort.

S E C H S wie man die erbarmungslosen

erkennt Mitten in der Wüste belehrte einst

ein alter Mönch einen Reisenden,dass die Stimme Gottes sich vonder des Teufels kaum unterscheidenließe.

—Loren Eiseley

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Eine der Fragen, die mir in meinerPraxis am häufigsten gestelltwerden, lautet: "Wie kann icherkennen, wem ich trauen kann?"Da meine Patienten Überlebendepsychischer Traumata sind und diemeisten von ihnen durch anderemenschliche Wesen zugrundegerichtet wurden, ist diese Fragenicht überraschend. Andererseitsbin ich der Überzeugung, dass essich hier um ein dringlichesProblem für die meisten Menschenhandelt, auch für diejenigen, diekeine schweren Traumata erlittenhaben, und dass wir alle sehr darumbemüht sind einzuschätzen,

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inwieweit andere Menschen einGewissen haben. Besondersinteressiert uns der"Gewissensquotient" vonMenschen, zu denen wir eine engeBeziehung haben; und wenn wireine attraktive Person kennenlernen, wenden wir oft erheblichegeistige Energie für Argwohn,Spekulation und Wunschdenken imZusammenhang mit dieser Frageauf.

Die Unzuverlässigen tragen keinebesonderen Hemden oderMarkierungen auf der Stirn, und dieNotwendigkeit, häufig aufsGeratewohl kritische

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Einschätzungen anderer Menschenvornehmen zu müssen, führt zuirrationalen Strategien, die leicht zulebenslangen Vorurteilen werdenkönnen. "Trau keinem überdreißig", "Trau nie einem Mann","Trau nie einer Frau" sind diebeliebtesten Beispiele. Wir wolleneine klare, ja umfassende Regel,weil es so wichtig für uns ist zuwissen, vor wem wir uns hütenmüssen, aber diese pauschalenStrategien sind ineffektiv und,schlimmer noch, können unsÄngste und Kummer bringen.

Es gibt kein narrensicheresKriterium oder einen Lackmustest

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für Vertrauenswürdigkeit, es seidenn, man kennt jemanden seitlanger Zeit sehr gut, und man mussdiese Tatsache akzeptieren, wenn esauch lästig sein mag. DieseUnsicherheit ist schlichtweg einTeil des menschlichen Daseins, undich kenne niemanden, der völligdavor gefeit wäre, außer vielleichtdurch sehr glückliche Umstände.Überdies bedeutet die Vorstellung,es gäbe dafür eine effektiveMethode - eine Methode, die mannur bisher noch nicht entdeckt hat -, sich das Leben auf demütigendeund unfaire Weise zu erschweren.

Wenn es darum geht, anderen

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Menschen zu vertrauen, machenwir alle Fehler. Einige dieser Fehlersind größer als andere.

Dies vorausgeschickt antworte ich,wenn mich jemand nach Vertrauenfragt, dass es gute und schlechteNachrichten gibt. Die schlechteNachricht ist, dass es tatsächlichIndividuen gibt, die kein Gewissenhaben und dass man ihnen unterkeinen Umständen trauen kann. ImDurchschnitt sind vielleicht viervon einer zufällig ausgewähltenGruppe von hundert Menschen aufdiese Weise eingeschränkt. Die guteNachricht - die sehr gute Nachricht- ist, dass mindestens 9 6 von

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hundert Menschen an dieEinschränkungen des Gewissensgebunden sind und daher vondiesen Menschen zu erwarten ist,dass ihr Verhalten einemannehmbar hohen Standard vonAnstand und Verantwortung genügt- dass sie sich, mit anderen Worten,mehr oder weniger so gutbenehmen wie Sie oder ich. Undaus meiner Sicht ist diese zweiteTatsache sehr viel wichtiger als dieerste. Sie bedeuteterstaunlicherweise, dass nacheinem bestimmten Maß ansozialverträglichem Verhaltenunsere zwischenmenschliche Welt

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zu etwa 9 6 Prozent sicher seinsollte.

Aber warum scheint dann unsereWelt so schrecklich unsicher zusein? Wie können wir dieAbendnachrichten erklären oderauch nur unsere eigenenpersönlichen schlechtenErfahrungen? Was geht hier vor?Ist es denkbar, dass nur vierProzent der Bevölkerung für fastalle menschlichen Katastrophenverantwortlich sind, die auf derWelt und in unseren individuellenLebensläufen passieren? Dies isteine alarmierende Frage, diemöglicherweise viele unserer

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Annahmen über die menschlicheGesellschaft erschüttern könnte. Sowill ich wiederholen, dass dasPhänomen des Gewissensaußerordentlich mächtig, beständigund dem Gemeinwohl dienlich ist.Sofern er nicht unter dem Einflussvon Wahnvorstellungen, extremerWut, unentrinnbarer Not, Drogenoder einer destruktiven Autoritätsteht, wird ein durch sein Gewissengebundener Mensch nicht - imgewissen Sinne kann er es nicht -kaltblütig töten, vergewaltigen oderfoltern oder jemanden um seineErsparnisse bringen, zumVergnügen in eine lieblose

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Beziehung locken oder absichtlichsein Kind im Stich lassen.

Könnten Sie so etwas fertigbringen?

Wenn wir sehen, wie Menschensolche Taten verüben, sei es in denNachrichten oder in unseremeigenen Leben, fragen wir uns: Wassind das für Menschen? In seltenenFällen sind sie geisteskrank oderhaben unter dem Druck einesextremen Affekts gehandelt.Manchmal sind sie Mitglieder einerGruppe, die verzweifelte Noterleiden muss, oder sie sinddrogenabhängig oder Anhängereines bösartigen Führers. Meistens

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jedoch trifft all dies nicht zu,sondern es sind Menschen, die keinGewissen haben. Es sindSoziopathen.

Gewiss reflektieren dieallerschlimmsten der unsäglichenTaten, über die wir in der Zeitunglesen und die wir stillschweigendder "menschlichen Natur"zuschreiben - obwohl solcheEreignisse uns als normaleMenschen schockieren -keineswegs die normalemenschliche Natur, und wirbeleidigen und demoralisieren unsselbst, wenn wir das annehmen. Diegewöhnliche menschliche Natur,

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wenn sie auch weit davon entferntist, vollkommen zu sein, wird inhohem Maße durch eindisziplinierendes Gefühl derVerbundenheit beherrscht, und derwahre Horror, den wir imFernsehen beobachten undmanchmal in unserem eigenenLeben ertragen müssen, ist nichttypisch für die Menschheit.Vielmehr wird er durch etwasermöglicht, was unserer Naturdurchaus fremd ist - das kalte undvöllige Fehlen eines Gewissens.

Dies ist wohl, meine ich, für vieleMenschen schwer zu akzeptieren.Es fällt uns schwer anzuerkennen,

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dass gewisse Menschen von Naturaus schamlos sind, während wiranderen nicht so sind, zum Teilwegen der von mir so genannten"Schatten-Theorie" dermenschlichen Natur. Die Schatten-Theorie - die einfache undwahrscheinlich zutreffendeVorstellung, dass wir alle eine"Schattenseite" haben, die sichnicht unbedingt in unseremnormalen Verhalten zeigt - stellt inihrer extremsten Form die Theseauf, dass alles, was ein bestimmterMensch tun oder fühlen kann,potenziell auch von allen anderenMenschen getan oder gefühlt

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werden kann. Anders ausgedrücktkönnte zum Beispiel jeder beliebigeMensch unter bestimmtenUmständen (wenn es auch schwerfällt, sich diese Umständevorzustellen) der Kommandanteines Todeslagers sein.Ironischerweise sind gute undwarmherzige Menschen am ehestenbereit, sich diese Theorie in ihrerradikalen Form, die unterstellt, siekönnten in einer extremenSituation zu Massenmördernwerden, zu eigen zu machen. Eswirkt demokratischer und wenigerverdammend (und irgendwieweniger beunruhigend)

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anzunehmen, dass jeder Menschseine Schattenseiten hat, als zuakzeptieren, dass einige wenigeMenschen in ständiger und völligermoralischer Dunkelheit leben.Zuzugeben, dass einige Menschenbuchstäblich kein Gewissen haben,ist formal betrachtet nichtgleichbedeutend mit der Aussage,dass einige Menschen böse sind -aber es kommt ihr sehr nahe. Undein guter Mensch sträubt sich mitHänden und Füßen dagegen, an dieVerkörperung des Bösen zuglauben.

Wenn auch nicht jeder Menschder Kommandant eines Todeslagers

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sein könnte, so sind doch viele,wenn nicht gar die meistenMenschen fähig, über die grausigenAktivitäten einer solchen Personhinwegzusehen, und zwar wegender Geschmeidigkeit psychischerVerdrängung, moralischerAusgrenzung und blinderUnterordnung unter Autoritäten.Als er einst gefragt wurde, warumwir uns in unserer Welt nicht sicherfühlen würden, antwortete AlbertEinstein: "Die Welt ist eingefährlicher Ort - nicht wegen derMenschen, die böse sind, sondernwegen der Menschen, die nichtsdagegen tun."

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Um etwas gegen schamloseMenschen tun zu können, müssenwir sie zuerst erkennen. Wiekönnen wir also in unseremeigenen Leben die eine Person von(mehr oder weniger)fünfundzwanzig erkennen, die keinGewissen hat und eine potenzielleGefahr für unseren Besitz undunser Wohlergehen darstellt? DieEntscheidung, ob jemandvertrauenswürdig ist oder nicht,erfordert für gewöhnlich, dass mandiese Person seit langer Zeit gutkennt. Und wenn es um dasErkennen eines Soziopathen geht,müsste man ihn länger und besser

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kennen, als man es zulassen würde,wenn er eine Markierung auf derStirn trüge. Dieses schrecklicheDilemma ist schlicht ein Teil desmenschlichen Daseins. Aber selbst,wenn eine gewisse Vertrautheitbesteht, bleibt die drängende Frage:"Wie kann ich erkennen, wem ichtrauen kann?" - oder vielmehr, wemich nicht trauen kann.

Nachdem ich seit fastfünfundzwanzig Jahren denGeschichten meiner Patienten überSoziopathen, die sich in ihr Lebengedrängt und sie verletzt haben,zugehört habe, ist man fürgewöhnlich überrascht durch meine

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Antwort auf die Frage: "Wie kannich erkennen, wem ich nicht trauenkann?". Natürlich erwartet man,dass ich ein finster klingendesDetail des Verhaltens oder derKörpersprache oder bedrohlicheverbale Äußerungen als subtilesErkennungsmerkmal beschreibe.Stattdessen verblüffe ich meinGegenüber durch die Versicherung,dass der entscheidende Hinweisnichts von alledem ist, denn keinesdieser Merkmale ist zuverlässigvorhanden. Vielmehr ist das besteIndiz ausgerechnet das Betteln umMitleid. Das zuverlässigsteMerkmal, das universellste

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Verhalten skrupelloser Menschenrichtet sich nicht, wie man denkensollte, an unsere Furchtsamkeit - esist absurderweise ein Appell anunser Mitgefühl.

Ich bin darauf gestoßen, als ichnoch Doktorandin der Psychologiewar und die Gelegenheit hatte,einen gerichtlich eingewiesenenPatienten zu befragen, der vomSystem bereits als "Psychopath"diagnostiziert worden war. Er warnicht gewalttätig; er zog es vor, denMenschen durch raffiniertenAnlagebetrug das Geld aus derTasche zu ziehen. Fasziniert durchdiesen Menschen und seine

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möglichen Beweggründe - ich warjung genug, zu glauben, dass er einungewöhnlicher Mensch sei - fragteich ihn: "Was ist Ihnen in IhremLeben wichtig? Was wollen Siemehr als alles andere?" Ich dachte,er würde antworten "zu Geldkommen" oder "nicht in den Knastgehen" - die Aktivitäten, denen erden größten Teil seiner Zeitwidmete. Stattdessen antwortete er,ohne auch nur einen Moment zuzögern: "Oh, das ist einfach. Wasmir besser gefällt als alles andere,ist, wenn man mich bemitleidet.Was ich mir mehr als alles andereim Leben wünsche, ist das Mitleid

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anderer Menschen."Ich war erstaunt und ziemlich

abgestoßen. Ich glaube, er wäre mirsympathischer gewesen, wenn ergesagt hätte "nicht in den Knastgehen" oder gar "zu Geld kommen".Außerdem war ich verwirrt. Warumsollte dieser Mann - warum sollteüberhaupt ein Mensch - sichwünschen, bemitleidet zu werdenoder gar vor allen anderen seinerWünsche danach streben? Ichkonnte es mir nicht erklären. Abermittlerweile, nachdem ichfünfundzwanzig Jahre den Opfernzugehört habe, ist mir klar, dass eseinen sehr guten Grund für diese

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soziopathische Vorliebe für Mitleidgibt. Die Erklärung ist sooffensichtlich wie die Nase imGesicht und ohne Spiegel ebensoschlecht zu erkennen: GuteMenschen lassen einenJammerlappen sogar mit einemMord davonkommen, sozusagen,und darum will jeder Soziopath, dersein Spiel - was immer es auch seinmag - weiter spielen will, immerwieder nichts anderes als Mitleiderheischen.

Mehr als Bewunderung - ja, sogarmehr als Angst - ist das Mitleidguter Menschen eine Carte blanche.Wenn wir Mitleid empfinden, sind

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wir, zumindest für den Moment,wehrlos. Und wie so viele dereigentlich positiven menschlichenEigenschaften, die uns zuGemeinschaften verbinden - sozialeund berufliche Rollen, sexuelleBindungen, Achtung für Wohltätigeund Kreative, Respekt für unsereVorbilder -, wird unsere emotionaleBlöße, wenn wir Mitleid empfinden,durch die Gewissenlosen gegen unsverwendet. Die meisten Menschenwerden es nicht für klug halten,jemandem Dispens zu gewähren,der keine Schuld empfinden kann;aber oft tun wir gerade das, wennsich jemand als bemitleidenswert

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darstellt.Mitleid und Anteilnahme sind gut,

wenn sie Reaktionen auf dasUnglück würdiger Menschen sind.Wenn uns aber dieseEmpfindungen von Unwürdigenabgerungen werden, von Menschen,deren Verhalten beharrlich asozialist, dann ist das ein sicheresZeichen dafür, dass etwas nichtstimmt, ein potenziell nützlichesAlarmsignal, das wir oft ignorieren.Das vielleicht eingängigste Beispielist die geprügelte Ehefrau, derensoziopathischer Ehemann sieroutinemäßig schlägt und dann mitin den Händen vergrabenem Kopf

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am Küchentisch sitzt und jammert,dass er sich nicht unter Kontrollehabe und dass er ein armer Teufelsei, dem sie vergeben müsse. Esgibt zahllose andere Beispiele, inanscheinend endlosen Varianten,einige noch eklatanter als dergewalttätige Ehemann, währendandere eher unterschwellig sind.Und für diejenigen von uns, die einGewissen haben, scheint einsolches Verhalten, wie unverschämtes auch sein mag, sozusagen eineemotionale Farbtafel zu sein, in derdas Hintergrundmuster (die Bitteum Mitleid) ständig unsereWahrnehmung des wichtigeren

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Vordergrundbildes (das asozialeVerhalten) überlagert.

In langer Rückschau sindsoziopathische Appelle an unserMitleid absurd und beklemmend.Skip hat insinuiert, er verdieneMitleid, weil er jemandem einenArm gebrochen hat. DoreenLittlefield hat sich als eine arme,überarbeitete Seele dargestellt, diezu sensibel war, die Qualen ihresPatienten zu ertragen. Aus demGefängnis heraus hat einebezaubernde und liebenswerteBarbara Graham den Reporternerklärt, dass die Gesellschaft siedaran hindern würde, ordentlich für

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ihre Kinder zu sorgen. Und was dieerwähnten Aufseher in Todeslagernangeht: In den Vernehmungen, die1945 den NürnbergerKriegsverbrecher-Prozessen32

vorausgingen, beschrieben dietatsächlichen Aufseher derTodeslager in ihren Aussagen, wieentsetzlich es gewesen sei, für dieKrematorien verantwortlich zu sein- wegen des Gestanks. InInterviews, die der englischeHistoriker Richard Overy zitiert hat,beklagten sich die Aufseherdarüber, dass sie Schwierigkeitenhatten, auf der Arbeit ihre belegtenBrote zu essen.

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Soziopathen haben keinerleiAchtung vor demGesellschaftsvertrag, aber siewissen ganz genau, wie sie ihn zuihrem Vorteil ausnutzen können.Und summa summarum glaube ich,dass der Teufel - sollte er dennexistieren - sich von uns allenwünschen würde, ihn über dieMaßen zu bemitleiden.

Bei der Entscheidung, wem mantrauen kann, sollte man sichdarüber klar sein, dass beständigschlechtes oder sehr ungehörigesVerhalten in Verbindung mithäufigem Betteln um Mitleid ein sodeutliches Warnsignal ist, wie man

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es sich - außer einer Markierungauf der Stirn eines gewissenlosenMenschen - jemals erhoffen kann.Ein Mensch, dessen Verhalten diesebeiden Merkmale aufweist, ist nichtnotwendigerweise einMassenmörder oder überhauptgewalttätig, aber wohl trotzdemjemand, dem Sie nicht IhreFreundschaft anbieten, mit dem Siekeine Geschäfte machen, den Sienicht bitten sollten, auf Ihre Kinderaufzupassen und den Sie nichtheiraten sollten.

Armer Luke

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Wie steht es denn um denwertvollsten Teil desGesellschaftsvertrages? Wie stehtes um Liebe? Im Folgenden wirddie Geschichte einer Frau erzählt,eine stille Leidensgeschichte, dieniemals in den Abendnachrichtenerscheinen wird.

Meine Patientin Sydney war nichthübsch. Sie war 45 Jahre alt, hatteschmutzig-blondes Haar, dasallmählich ergraute und eine runde,mütterliche Figur, die nieglamourös gewesen war. Aber siebesaß einen scharfen Verstand undhatte eine lange Liste akademischerund beruflicher Leistungen

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vorzuweisen. Noch bevor sie dreißigwurde, war ihr an einer Universitätim heimischen Florida eineaußerordentliche Professur im FachEpidemiologie übertragen worden.Sie erforschte die Auswirkungenvon Wirkstoffen, die in derjeweiligen Medizin vonNaturvölkern verwendet wurden,auf das Wachstum derentsprechenden Bevölkerung; undbevor sie heiratete, hatte sieausgedehnte Reisen nach Malaysia,Südamerika und in die Karibikunternommen. Als sie von Floridanach Massachusetts umzog, wurdesie Beraterin einer ethno-

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pharmazeutischen Firmengruppe inCambridge. Am besten gefiel miraber ihr sanftes Wesen und ihrenachdenkliche, introspektiveLebenseinstellung. Ich kann michgut an die sanfte Wärme ihrerStimme erinnern, die mir währendunserer kurzen Therapie vonfünfzehn gemeinsamen Sitzungenaufgefallen war.

Sydney war von einem Mannnamens Luke geschieden. DieScheidung hatte ihre Ersparnisseaufgefressen und sie gezwungen,sich zu verschulden, da siesicherstellen musste, dasSorgerecht für ihren Sohn Jonathan

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zu bekommen. Jonathan war acht,als ich Sydney kennen lernte, undzum Zeitpunkt der Scheidung warer erst fünf Jahre alt gewesen. Lukehatte eine kostspieligeAuseinandersetzung herbeigeführt,nicht etwa, weil er Jonathan liebte,sondern weil er wütend auf Sydneywar, da sie ihn gezwungen hatte,aus ihrem Haus auszuziehen.

Das Haus in Florida hatte einenSwimmingpool, den Luke sehrschätzte.

"Luke wohnte in dieser schäbigenkleinen Wohnung, als ich ihnkennen gelernt habe", erzählte mirSydney. "Es hätte von vornherein

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ein Alarmsignal für mich seinsollen, dass ein 35J ähriger Mann,der Stadtplanung an der New YorkUniversity studiert hatte, in diesemmiesen kleinen Loch lebte. Aber ichhabe es ignoriert. Er sagte, dass erden großen Swimmingpool inseinem Appartementkomplex sehrmochte. Als er sah, dass ich meineneigenen Swimmingpool hatte,freute er sich unbändig. Was sollich sagen? Mein Mann hat michwegen meines Swimmingpoolsgeheiratet. Na ja, das stimmt nichtganz, aber im Rückblick hat dasbestimmt eine Rolle gespielt."

Sydney ignorierte Lukes

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Lebensstil und den Reiz, den ihreigener Lebensstil für ihn hatte, dasie glaubte, eine Rarität gefundenzu haben: Einen sehr intelligenten,attraktiven Mann im Alter von 35Jahren, der weder verheiratet nochgeschieden war, ähnlicheInteressen wie sie zu haben schienund sie gut behandelte.

"Am Anfang hat er mich sehr gutbehandelt, muss ich sagen. Er hatmir immer Blumen mitgebracht.Ich erinnere mich an all dieParadiesvogelblumen in langenSchachteln, die vielenorangefarbenen Blumen. Ichmusste losgehen und einige sehr

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hohe Vasen kaufen. Ich weiß nicht.Er war sanft und auf stille Artcharmant wir hatten wunderbareGespräche. Er war auchAkademiker, so wie ich - das dachteich zumindest. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er an einemPlanungsprojekt zusammen miteinem Freund von der Universität.Er trug immer Anzüge. Da habe ichihn übrigens getroffen, an der Uni.Das ist doch ein respektabler Ort,um jemanden kennen zu lernen,nicht wahr? Er sagte mir, er sehegroße Ähnlichkeiten zwischen uns,und ich habe ihm wohl geglaubt."

Im Laufe der Zeit erfuhr Sydney,

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dass Luke mit einer Reihe vonFrauen zusammengelebt hatte, seiter etwa zwanzig war, immer bei derjeweiligen Frau; eine eigeneWohnung zu haben, selbst einebillige, war eine ungewöhnlicheAbweichung von seinembevorzugten Lebensstil. Aber auchdiesen Umstand ignorierte sie, dasie dabei war, sich in Luke zuverlieben. Und sie dachte, dass aucher in sie verliebt sei, denn das hatteer ihr gesagt.

"Ich bin nur eine graueAkademikerin. Nie war jemand soromantisch mit mir. Es war eineschöne Zeit - das muss ich wohl

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zugeben. Schade, dass sie so kurzsein musste. Wie auch immer ... dasaß ich nun, eine unattraktive,35jährige Karrierefrau, und träumteplötzlich von einer weißenHochzeit, einer endlos langenSchleppe und dem ganzen Drumund Dran. Das war mir vorher nochnie passiert. Also, ich hatte immergedacht, das sei ein albernesMärchen, das man kleinenMädchen erzählt, nichts, was ichjemals erleben - oder wollen -würde; aber da saß ich nun undsehnte mich danach, ja, ich habe essogar geplant."

"Und was den Umstand angeht,

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dass er sich von den anderenFrauen aushalten ließ - können Sieglauben, dass er mir tatsächlichLeid getan hat? Ich dachte, er suchtnach der richtigen Partnerin oderso; aber normalerweise haben sieihn einfach nach einer Weilehinausgeworfen. Inzwischenverstehe ich, warum, aber damalsnatürlich nicht. Ich dachte: 'Wieeinsam und traurig'. Er hat mirerzählt, dass eine dieser Frauen beieinem Autounfall ums Lebengekommen sei. Er weinte, als erdavon erzählte. Er hat mir so Leidgetan."

Sechs Wochen, nachdem sie sich

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kennen gelernt hatten, zog Luke beiSydney ein, und acht Monate späterheirateten sie, mit eineraufwändigen kirchlichen Trauungund einem offiziellenHochzeitsbankett, das von ihrerFamilie ausgerichtet wurde.

"Wird die Hochzeit nicht immervon der Familie der Braut bezahlt?",fragte sie mich trocken.

Zwei Monate nach der Hochzeitstellte Sydney fest, dass sieschwanger war. Sie hatte sich zwarimmer Kinder gewünscht, abergeglaubt, dass sie nie heiratenwürde. Nun wurde ihr Traum,Mutter zu werden, wahr, und sie

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war überglücklich."Es kam mir wie ein Wunder vor,

besonders, als das Baby anfing, sichzu bewegen. Ich sagte mir immerwieder: 'Da ist ein ganz neuerMensch in mir, jemand, der nochnie gelebt hat und den ich für denRest meines Lebens lieben werde.'Es war unglaublich. Luke waranscheinend sehr viel wenigeraufgeregt als ich, aber auch erbehauptete, dass er sich das Babywünsche. Er sagte, er sei einfachnur nervös. Er fand mich hässlich,als ich schwanger war, aber ichdachte, er sei darin einfach nurehrlicher als andere Männer. Ist das

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nicht ironisch?""Ich war so glücklich wegen des

Babys, dass ich nicht wahrhabenwollte, was ich eigentlich schonwusste, verstehen Sie? Ich glaube,mir wurde während derSchwangerschaft klar, dass die Ehenicht funktionieren würde. Der Arztsagte, dass das größte Risiko einerFehlgeburt nach drei Monatenvorüber war, und natürlich nahmich das wörtlich und kaufte imvierten Monat ein Kinderbett. Icherinnere mich, es war an dem Tag,als es geliefert wurde, dass Lukenach Hause kam und erzählte, erhätte seinen Job gekündigt. Einfach

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so. Es schien, als wüsste er, dass ermich jetzt in der Falle hatte. Ichwürde bald ein Baby bekommen,und daher würde ich mich mitSicherheit um alles kümmern. Ichwürde ihn finanziell unterstützen,da ich keine Wahl mehr hatte.Darin hat er sich getäuscht, aber ichkann jetzt verstehen, warum er dasgedacht hat. Er muss gedachthaben, dass ich praktisch alles tunwürde, um den Anschein einerheilen Familie zu bewahren."

Natürlich hat Luke das nichtausgesprochen, weder Sydney nochihrer Familie gegenüber. Der hatteer erzählt, dass er depressiv sei, viel

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zu depressiv, um arbeiten zukönnen. Und in Gegenwart andererMenschen verstummte er, gab sichzerknirscht und spielte denDepressiven. Die Lage wurde fürSydney noch verwirrender,nachdem sie verschiedentlichgehört hatte, dass Depressionen beifrischgebackenen Vätern häufigvorkommen.

"Aber ich habe nie wirklichgeglaubt, dass er depressiv ist",erzählte mir Sydney. "Irgendetwasstimmte nicht. Ich habe auch schonmanchmal leichte Depressionengehabt, aber sein Verhalten waranders. Zum einen brachte er viel

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zu viel Energie auf für Dinge, die ergerne machen wollte. Außerdem -das klingt wie eine Kleinigkeit, aberes hat mich verrückt gemacht - warer nicht bereit, sich helfen zulassen. Ich habe ihm gesagt, dasswir ein bisschen Geld für einenTherapeuten oder vielleicht fürMedikamente ausgeben sollten.Aber er scheute diese Idee wie derTeufel das Weihwasser."

Nachdem Jonathan zur Weltgekommen war, nahm Sydney zweiMonate Mutterschaftsurlaub vonihrer lehrenden Tätigkeit, wasbedeutete, dass alle drei Mitgliederder Familie die Tage zu Hause

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verbrachten, da Luke nichtarbeitete. Aber Luke schaute sichkaum einmal seinen neuen Sohn an- er zog es vor, am PoolZeitschriften zu lesen oder mitseinen Freunden auszugehen. Undwenn Jonathan weinte, wie esNeugeborene nun einmal tun,wurde Luke ärgerlich, manchmalsogar wütend und forderte Sydneyauf, etwas gegen den Lärm zu tun.

"Er spielte den Märtyrer; ichglaube, so kann man es am bestenausdrücken. Er hielt sich die Ohrenzu, machte ein gequältes Gesichtund lief auf und ab, als ob das Babynur weinte, um ih n zu ärgern. Ich

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glaube, ich sollte ihn bemitleidenoder so. Es war unheimlich. Ichhatte einen Kaiserschnitt, und ichhätte wirklich am Anfang einbisschen Hilfe gebrauchen können;aber zum Schluss habe ich mir nurnoch gewünscht, mit Jonathanallein zu sein."

Dieselben Leute, die Sydney überdepressive Erstväter erzählt hatten,versicherten ihr nun, dassfrischgebackene Väter sichmanchmal nicht wohlfühlen mitihrem Nachwuchs und daher füreinige Zeit einen gewissen Abstandhielten. Sie bestanden darauf, dassLuke Verständnis und Geduld

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brauchte."Aber Luke hielt nicht etwa

'Abstand', so wie die das meinten.Jonathan existierte für ihnüberhaupt nicht. Für ihn hätteJonathan auch ein Bündel Lumpensein können - ein lästiges kleinesBündel Lumpen. Und trotzdemwollte ich diesen Leuten unbedingtglauben. Ich wollte glauben, dassirgendwie, irgendwie, wenn ichgenügend Verständnis und Geduldaufbringen könnte, sich alleseinrenken würde. Wir würdenschließlich zu einer richtigenFamilie werden - ich wollte so sehrdaran glauben."

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Als ihr Mutterschaftsurlaubvorüber war, ging Sydney wiederarbeiten, während Luke amSwimmingpool blieb. Sydneywandte sich an eine Au Pair-Agentur, um eine Tagesmutter fürdas Kind zu finden, da es klar war,dass Luke sich nicht um Jonathankümmern würde. Nach einigenWochen vertraute das junge AuPair-Mädchen Sydney an, dass siesich "komisch" fühlen würde, wennsie auf das Baby aufpasste, währendder Vater stets anwesend war, abernie auch nur das geringste Interessezeigte.

"Ich kann nicht verstehen, warum

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er sein Baby niemals auch nuranschaut. Sind Sie sicher, dass esihm gut geht?", erkundigte sich dasMädchen vorsichtig bei Sydney.

Die peinlich berührte Sydneyantwortete mit einer Variante derAusrede, die Luke selbst benutzthatte: "Er ist im Moment in einerschwierigen Phase seines Lebens.Sie können ihn einfach ignorieren,dann ist alles in Ordnung."

Sydney berichtete, wie dasMädchen durch die Glastür desArbeitszimmers hinaus zumSwimmingpool schaute, wo siewahrscheinlich einen entspanntenund sonnengebräunten Luke in der

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späten Nachmittagssonne Floridassitzen sah. In einem Anflug vonNeugier neigte sie den Kopf zurSeite und sagte leise: "Der Arme."

Sydney fuhr fort: "Das werde ichnie vergessen: 'Der Arme'. ArmerLuke. Manchmal tat er mir auchLeid, trotz meiner Probleme."

Aber in Wahrheit war die Person,die Sydney geheiratet hatte,keineswegs der 'arme Luke'; wederwar er ein depressiver Erstvaternoch befand er sich in einerschwierigen Lebensphase.Stattdessen war er soziopathisch.Luke hatte kein intervenierendesGefühl der Verpflichtung gegenüber

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anderen Menschen, und seinVerhalten, wenn auch nichtphysisch gewalttätig, reflektiertediese unheilvolle Tatsache. FürLuke existierten gesellschaftlicheRegeln und zwischenmenschlicheErwartungen nur, um seinemVorteil zu dienen. Er hatte Sydneyerzählt, dass er sie liebe, und wardann so weit gegangen, sie zuheiraten - vornehmlich, um sichwohlversorgt in ihrem ehrlichverdienten und komfortablen Lebeneinrichten zu können. Er benutztedie liebsten und privatesten Träumeseiner Frau, um sie zumanipulieren, und ihr gemeinsamer

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Sohn war ein Ärgernis, das er nurwiderwillig hinnahm, weil das Babyihre Bereitschaft, seineAnwesenheit zu tolerieren, zubesiegeln schien. Ansonstenignorierte er sein eigenes Kind.

Bald begann er, auch Sydney zuignorieren.

"Es war, als hätte man einenUntermieter - einen Untermieter,den man nicht besonders mag undder keine Miete zahlt. Er wareinfach irgendwie da. Meistenshaben wir nebeneinander hergelebt. Da waren Jonathan und ich,immer zusammen, und dann war daLuke. Ich weiß wirklich nicht, was

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er die ganze Zeit gemacht hat.Manchmal verschwand er für einenoder zwei Tage. Ich weiß nicht, woer war - es war mir nicht mehrwichtig. Oder manchmal hatte ereinen Freund zu Besuch, zumTrinken, immer unangekündigt,was manchmal etwas problematischwar. Und er hat hoheTelefonrechnungen auflaufenlassen. Aber meistens saß er einfachnur am Swimmingpool herum oder,wenn das Wetter schlecht war, kamer ins Haus und sah fern oderspielte Computerspiele. Sie wissenschon, diese Computerspiele fürdreizehnjährige Jungs."

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"Oh, und beinahe hätte ich'svergessen - für ein paar Monate hater Lithographien gesammelt. Ichweiß nicht, wie er daraufgekommen ist, aber für eine Weilewar er davon ganz begeistert.Manchmal kaufte er eine - siewaren teuer, das sage ich Ihnen -und brachte sie nach Hause, um siemir zu zeigen - wie ein Kind, als oballes in Ordnung sei zwischen unsund er wolle, dass ich denNeuzugang in seinerKunstsammlung bewundere. Ermuss wohl dreißig davongesammelt haben - er hat sie nieeingerahmt -, und eines Tages hat

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er die ganze Sache einfachaufgegeben. Kein Interesse mehr anLithographien. Vorbei."

Gelegentlich zeigen Soziopatheneine kurze, intensive Begeisterung -für Hobbies, Projekte, Kontakte zuanderen Menschen -, die jedochunverbindlich und kurzlebig ist.Solcherlei Interessen scheinenplötzlich und ohne Grundaufzutreten und genauso wieder zuverschwinden.

"Ich hatte einen neuen Ehemannund ein neues Baby. Es hätte eineder glücklichsten Phasen meinesLebens sein sollen, aber es war eineder schlechtesten. Ich kam von der

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Arbeit nach Hause, völlig erledigt,und das Au Pair-Mädchen ließ michwissen, dass Luke den ganzen Taglang Jonathan keines Blickesgewürdigt hatte, und nach einerWeile widerte mein eigenerEhemann mich so sehr an, dass ichnicht einmal mehr imSchlafzimmer schlafen konnte. Esist mir peinlich, Ihnen das zuerzählen, aber ich habe ein Jahrlang in meinem eigenenGästezimmer geschlafen."

Sydneys größte Schwierigkeit, alssie mir ihre Geschichte erzählte,bestand in ihrer schmerzlichenVerlegenheit über das, was ihr

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widerfahren war. Sie drückte es soaus: "Sie können sich nichtvorstellen, wie erniedrigend es ist,einzugestehen, sogar sich selbstgegenüber, einen solchenMenschen geheiratet zu haben. Undich war auch kein Kind mehr, alsich das getan habe. Ich war schonfünfunddreißig, und ganzabgesehen davon war ich bereitsmehrfach um die Welt gereist. Ichhätte es besser wissen müssen.Aber ich habe es einfach nichtvorausgesehen. Ich habe es inkeiner Weise gesehen, und, dasmuss ich mir allerdings zugutehalten, auch kein anderer in

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meinem Umfeld hat esvorausgesehen, glaube ich. Heutesagen mir alle, sie hätten sichniemals vorstellen können, dass ersich so verhalten würde. Und jederhat eine andere Theorie darüber,'was mit Luke nicht stimmt'. Wennes nicht so peinlich wäre, müssteman lachen. Diverse Freunde habenbeschlossen, es sei irgendetwaszwischen Schizophrenie und einemAufmerksamkeitsdefizit - könnenSie sich das vorstellen?"

Es ist nicht überraschend, dasskeine einzige Person vermutet hat,dass Luke einfach kein Gewissenhat und deswegen seine

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Verpflichtungen gegenüber seinerFrau und seinem Kind ignorierte.Lukes Verhaltensmuster passt nichtzu den Vorstellungen, die man vonSoziopathie hat, auch nicht vonnicht-gewalttätiger Soziopathie,denn Luke - wenn er auch einenhohen IQ hatte - war imWesentlichen passiv. Er hatniemandem die Kehledurchgeschnitten, weder wörtlichnoch im übertragenen Sinne, beidem Versuch, Macht oderWohlstand zu erlangen. Er war keinskrupelloser Manager und mitSicherheit kein dynamischerÜberredungskünstler wie Skip. Er

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hatte nicht einmal genug Energie,um einen gewöhnlichenHeiratsschwindler abzugeben, odergenug physischen Mut, um Banken(oder Postämter) auszurauben. Erwar nicht aktiv, sondern letztlichein lethargischer Mensch. SeinHauptinteresse bestand darin,untätig zu sein, Arbeit zu vermeidenund sich von anderen einenkomfortablen Lebensstilermöglichen zu lassen, und erstrengte sich gerade genug an, umdieses fragwürdige Ziel zuerreichen.

Und woran hat Sydney dannschließlich seine Skrupellosigkeit

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erkannt? Am Betteln um Mitleid."Selbst nach dieser wirklich

hässlichen Scheidung hing erimmer noch im Haus herum, undzwar fast jeden Tag. Er besorgtesich wieder eine schäbige kleineWohnung, wo er auch immerübernachtete; aber tagsüber hing erin meinem Haus herum. Ich weißinzwischen, dass ich es nicht hättezulassen dürfen, aber er tat mirLeid, und außerdem schenkte erJonathan ein bisschen mehrBeachtung. Wenn er aus demKindergarten kam, holte Luke ihnmanchmal sogar vom Bus ab,begleitete ihn nach Hause und übte

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mit ihm schwimmen oderdergleichen. Ich habe nichts für denMann empfunden. Ich wollte ihnwirklich nicht mehr sehen, aber ichhatte auch keinen neuen Freund -wie hätte ich wohl einem anderenMann vertrauen können? Und ichdachte, es wäre gut für Jonathan,wenn er seinen Vater kennenlernen und etwas Zuwendung vonihm bekommen würde. Ich dachte,es wäre den Ärger wert, wenn meinKind wenigstens zeitweise einenVater haben könnte."

"Nun, das war ein Fehler. MeineSchwester war es, die mir dasklargemacht hat. Sie hat gesagt:

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'Luke hat keine Beziehung zuJonathan. Er hat eine Beziehung zudeinem Haus.' Meine Güte, wieRecht sie doch hatte. Aber dannkonnte ich ihn nicht loswerden. DieLage wurde immer schlimmer undkomplizierter und ... unheimlich. Eswar richtig unheimlich."

Sie schauderte, holte tief Luft undfuhr fort.

"Als er - Jonathan - in die ersteKlasse ging, wurde mir klar, dasswir Luke loswerden mussten, undzwar endgültig. Wir hatten einfachkeinen Frieden - also, wie soll ichsagen ... keine Freude. Wenn sichjemand so gar nicht für einen

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interessiert, dann raubt es einemden Frieden und die Freude amLeben, wenn er ständig da ist. Ertauchte einfach immer wieder auf.Er kam ins Haus oder ging hinausan den Pool und machte es sichbequem, als ob er immer noch dortwohnen würde, und ich bekamschlechte Laune und wurdeangespannt. Ich blieb im Haus undließ die Jalousien herunter, so dasser nicht in meinem Blickfeld war.Es war verrückt. Dann merkte ich,dass Jonathans Stimmung sichauch verschlechterte. Eigentlichwollte auch er Luke nicht dahaben."

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"Und so begann ich, ihnaufzufordern zu gehen. Also, wennich bei jemandem zu Gast wäre undman würde mich auffordern zugehen, dann würde ich gehen - Sienicht auch? -, und sei es nur ummeiner eigenen Würde willen. AberLuke nicht. Er tat so, als hätte ermich nicht gehört, was schonziemlich unheimlich war, oder erging für eine Weile und kam dannwieder, als sei nichts geschehen.Und dann bin ich richtig wütendgeworden, und anstatt ihn nur zubitten zu gehen, habe ich ihnangeschrieen, endlich zuverschwinden, und gedroht, die

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Polizei zu rufen. Und wissen Sie,was er dann gemacht hat?"

"Er hat Jonathan benutzt", sagteich.

"Genau. Woher haben Sie dasgewusst? Er hat Jonathan benutzt.Zum Beispiel waren wir einmaldraußen am Pool, wir alle drei, undLuke fing an zu weinen. Der Mannließ richtige Tränen fließen. Unddann, ich erinnere mich, nahm erden Kescher, mit dem wir Blätterund Insekten aus dem Poolfischten, und fing an, den Pool zureinigen, als sei er ein leidenderMärtyrer, der nur helfen wolle, unddann kamen Jon auch die Tränen,

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und er sagte - und das werde ichmein Lebtag nicht vergessen -,Jonathan sagte: 'Oh nein. ArmerPapa. Muss er wirklich gehen?' "

"Und dann sah Luke mich an,genau in die Augen, und es schien,als sei ich ihm noch nie vorherbegegnet. Er sah so anders aus. Daswaren die unheimlichsten Augen,die ich jemals gesehen habe, wieEisstrahlen - es ist sehr schwer zubeschreiben. Und plötzlich wurdemir klar, dass es für Luke eine ArtMachtspiel war. Es war eine ArtSpiel, und ich hatte verloren,haushoch. Ich war fassungslos."

Innerhalb eines Jahres nach

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dieser Szene am Swimmingpool gabSydney ihre Stelle an derUniversität auf, verließ Florida undzog mit Jonathan in die Gegend vonBoston, um näher bei ihrerSchwester zu wohnen - und 1500Meilen von Luke entfernt. EinigeMonate danach begann sie einekurze Therapie bei mir. Sie wollteeinige Probleme aufarbeiten, die ihraus ihrer Ehe nachhingen,insbesondere ihre Selbstvorwürfe,dass sie Luke überhaupt geheiratethatte. Sie ließ sich nichtunterkriegen, und ich bin sicher,dass sie jetzt ein glücklicheresLeben führt. Manchmal hat sie

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gescherzt, dass für ihr Problem mitLuke die berühmte "geographischeLösung" funktioniere - wenn sieauch wusste, dass die lange Reisezur Selbstvergebung kompliziertersein würde.

Sydney war in der Lage, dasFehlen des Gewissens bei ihrem Ex-Mann in gewissem Maße zuverstehen, und diese neueErkenntnis half ihr. Ihre größtenoch verbleibende Sorge war dieemotionale Verletzlichkeit ihresachtjährigen Sohnes Jonathan. Beiunserer letzten Begegnung erzähltemir Sydney, dass sie und Jonathanimmer noch tränenreiche

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Gespräche über Florida führten unddarüber, wie sehr ihm Papa Leid tat.

SIEBEN die wurzeln der

Selbstgerechtigkeit: was verursachtsoziopathie?

Seit meiner Jugend habe ich

gerätselt, warum so viele Menschenes genießen, andere zu demütigen.Die Tatsache, dass einige Menschenempfindsam für die Leiden anderersind, beweist eindeutig, dass derzerstörerische Drang, andere zuverletzen, kein universeller Aspekt

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des menschlichen Wesens ist.—Alice Miller In vielerlei Hinsicht sind Luke,

Doreen und Skip sehrunterschiedlich. Luke schätzt denMüßiggang. Er lungert gern herum,während verantwortungsbewusste"Freunde" und Familienmitgliedersich um alles andere kümmern.Doreen ist voller Neid undchronischer Unzufriedenheit. Sieverwendet viel Energie darauf,andere Menschen kleinererscheinen zu lassen, so dass siesich größer fühlen kann. Und Skipwürde gern die ganze Welt

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beherrschen, natürlich zum eigenenVorteil und als eine grandiose Formder Unterhaltung. Was aber diesedrei so unterschiedlich motiviertenMenschen gemein haben ist, dasssie bei der Verfolgung ihrerindividuellen Interessen fähig sind,alles Erdenkliche zu tun - ohne dengeringsten Anflug einesSchuldgefühls. Jeder von ihnen hatandere Wünsche, aber sie alleerreichen ihr Ziel auf die genaugleiche Weise, nämlich ohnejegliches Schamgefühl. Skip brichtdas Gesetz und ruiniert Karrierenund Leben und fühlt dabei nichts.Doreen macht ihr ganzes Leben zu

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einer Lüge und quält Hilflose fürden Nervenkitzel, ihre Kollegen zublamieren, und das alles ohne diegeringste Verlegenheit oderVerantwortlichkeit. Um jemandenzu haben, der ihn versorgt, für einemietfreie Unterkunft und einenSwimmingpool, heiratet Luke ohneLiebe eine grundanständige Frau,die sich eine Familie wünscht, undnimmt dann seinem Sohn einenTeil seiner kindlichenLebensfreude, um seine eigenekindliche Abhängigkeit zubewahren. Und solcheEntscheidungen trifft er, ohnenachzudenken, geschweige denn,

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von Schuldgefühlen geplagt zu sein.Keiner dieser Menschen hat ein

intervenierendes Gefühl derVerpflichtung, das auf emotionalenBindungen basiert. Während dieseGemeinsamkeit zwischen ihnen sieleider nicht gerade zuAusnahmeerscheinungen macht,unterscheiden sie sich doch indieser Hinsicht fundamental vonallen Menschen, die ein Gewissenhaben. Alle drei sind Mitgliedereiner separaten Gruppe, einerKategorie von Menschen, derencharakteristisches Merkmal - dasFehlen des Gewissens - alleanderen Eigenschaften ihrer

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Persönlichkeit und sogar ihresGeschlechts überlagert in Hinsichtauf ihre Wahrnehmung der Umweltund ihre Einstellung zum Leben.Doreen ist Luke und Skip ähnlicherals einer beliebigen anderen Frauauf der Welt, die ein Gewissen hat,und der wortkarge Luke und dergetriebene Skip ähneln einandermehr als einer beliebigen anderenPerson, Mann oder Frau jeglichenNaturells, die an ein Gewissengebunden ist.

Welche Ursachen hat diese tiefeund doch seltsam unsichtbareKluft, die die menschliche Rasseteilt? Warum haben einige

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Menschen kein Gewissen? Wasverursacht Soziopathie?

Wie bei so vielen menschlichenEigenschaften, sowohl physischenals auch psychischen, stellt sichauch hier zuerst die Frage nachAnlage und Umwelt. Ist dieEigenschaft angeboren oderentsteht sie durch Einflüsse derUmwelt? Für die meistenkomplexen psychischenEigenschaften ist die - sehrwahrscheinliche - Antwort: Sowohlals auch. Mit anderen Worten: EinePrädisposition für dieCharaktereigenschaft ist bereits beider Empfängnis vorhanden, aber

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die Umwelt beeinflusst ihreAusprägung. Das gilt gleichermaßenfür Eigenschaften, die wir alsnegativ ansehen, wie für solche, diewir als positiv empfinden. Soscheint zum Beispiel die Intelligenzin hohem Maße durch diegenetische Ausstattung bestimmtzu sein, wird aber wohl zum Teilauch durch einen umfangreichenWerkzeugkasten vonUmweltfaktoren geprägt, zumBeispiel durch pränatale Vorsorge,frühkindliche Stimulation,Ernährung und sogar dieGeburtenfolge. Die soziopathischeAbweichung, mit Sicherheit eine

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eher negative Charaktereigenschaft,bildet vermutlich keine Ausnahmedieses Sowohl-als-auch-Paradigmas. Die Forschung zeigt,dass sowohl Anlage als auchUmwelt eine Rolle spielen.

Unter Psychologen ist es seitlangem bekannt, dass viele Aspekteder Persönlichkeit, wie zumBeispiel Extraversion undneurotische Neigungen, ingewissem Maße durch genetischeFaktoren beeinflusst werden. Eingroßer Teil der wissenschaftlichenGrundlagen dieser Erkenntnisstammt aus Studien, die eineiigeund zweieiige Zwillinge verglichen

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haben. Solchen Studien liegt diePrämisse zugrunde, dass eineiigeZwillinge dieselbe Umwelt undgenetische Ausstattung haben,während zweieiige Zwillinge zwarihre Umwelt, aber nur etwa dieHälfte ihrer Gene gemein haben.Wissenschaftler nehmen für jedegegebene Charaktereigenschaft an,dass sie zumindest zum Teilgenetischen Einflüssen unterliegt,wenn die Korrelation (oderÄhnlichkeit) bei genetischidentischen Zwillingen signifikantgrößer ist als die Korrelation beigenetisch unterschiedlichenZwillingen.

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Forscher verwenden eine Zahl, diesich aus dem Doppelten derDifferenz zwischen der jeweiligenKorrelation bei eineiigen undzweieiigen Zwillingen ergibt, umdas Quantum an Variationauszudrücken, das man aufgenetische Faktoren zurückführt.Diese Zahl wird als die "Erblichkeit"der Charaktereigenschaftbezeichnet, und Studien anZwillingen33 haben gezeigt, dassPersönlichkeitsmerkmale, die durchFragebögen ermittelt werden (wiezum Beispiel Extraversion,Neurotizismus, eine autoritäreGesinnung, Empathie, etc.), eine

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Erblichkeit zwischen 35 und 50Prozent aufweisen. Andersausgedrückt: Zwillingsstudienzeigen, dass die meisten messbarenAspekte der Persönlichkeitsstrukturzu 35 bis 50 Prozent angeborensind.

Erblichkeitsstudien liefernwichtige Informationen überSoziopathie. In einer ganzen Reihesolcher Studien34 wurde die Skala'psychopathische Deviation' (Pd)d e s Minnesota MultiphasicPersonality Inventory (MMPI)verwendet. Die Pd-Skala des MMPIbesteht aus Multiple-Choice-Fragen, die statistisch so formuliert

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sind, dass sie Personen mitsoziopathischenCharaktereigenschaften vonanderen Gruppen trennen. DerFragebogen enthält außerdemmehrere Validitätsmessungen,darunter eine "Lügen-Skala", dieVersuche, den Test zu verfälschen,entlarven sollen. Insgesamt habendiese Studien gezeigt, dass dieWahrscheinlichkeit, einanderähnelnde Ergebnisse auf der Pd-Skala zu erzielen, bei eineiigenZwillingen doppelt so hoch ist wiebei zweieiigen Zwillingen. Dies istein bedeutsamer Hinweis darauf,dass das Muster der

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"psychopathischen Deviation"zumindest teilweise genetischenEinflüssen unterliegt.

Im Jahr 1995 wurde eine wichtigeLangzeitstudie35 veröffentlicht, diesoziopathischeCharaktereigenschaften bzw. ihrFehlen an 3.226 männlichenZwillingspaaren untersucht hat, dieanhand eines Registers vonPersonen ausgesucht wordenwaren, die während desVietnamkrieges in der Armee derVereinigten Staaten gedient hatten.Durch das vorstehendbeschriebene, mathematischeVerfahren wurde festgestellt, dass

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acht soziopathische Symptome bzw.ihr Fehlen signifikant vererblichsind. Es sind, in absteigendem Rangder theoretischen Erblichkeit: "hältsich nicht an gesellschaftlicheNormen", "aggressiv","risikofreudig", "impulsiv","missachtet finanzielleVerpflichtungen", "unbeständigeArbeitsergebnisse", "niemalsmonogam" und "fehlendesReuegefühl". Wieder andereStudien36 haben ergeben, dassSoziopathen "wenigkompromissbereit" sind undmangelnde "Sorgfalt" und"Risikovermeidung" aufweisen. Alle

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diese Persönlichkeitsmerkmalehaben eine genetischeKomponente.

Das "Texas Adoption Project",37

das inzwischen seit mehr als dreißigJahren läuft, ist eine hochangesehene Langzeitstudie an mehrals fünfhundert adoptiertenKindern. Die Studie untersucht denErwerb von Intelligenz undverschiedenenPersönlichkeitsmerkmalen,darunter das Muster"psychopatische Deviation", indemsie adoptierte und mittlerweileerwachsene Kinder sowohl mitihren leiblichen als auch den

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Adoptiveltern vergleicht. Das "TexasAdoption Project" hat ergeben, dassIndividuen in Hinsicht auf die Pd-Skala ihren biologischen Müttern,denen sie nie begegnet sind,signifikant mehr ähneln als denAdoptiveltern, die sie großgezogenhaben. Aus diesen Untersuchungenergibt sich eine geschätzteErblichkeit von 54 Prozent, undinteressanterweise ist dieser Wertfür "psychopathische Deviation"kongruent mit den Schätzungen -35 bis 50 Prozent - von Studien, diedie Erblichkeit anderer, eherneutraler Persönlichkeitsmerkmale(Extraversion, Empathie, etc.)

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untersucht haben.Immer wieder liefern

Erblichkeitsstudien statistischeErgebnisse, die emotionalaufgeladene soziale und politischeImplikationen haben - dass nämlichin der Tat die Tendenz einer Person,bestimmte soziopathischeEigenschaften aufzuweisen, zumTeil angeboren ist, wohl bis zu etwa50 Prozent. Die Brisanz dieserForschungsergebnisse liegt auf derHand - sie würden zum Beispielbesagen, dass Doreen, Luke undSkip schon vor ihrer Geburt, ja,bereits zum Zeitpunkt derEmpfängnis, in gewissem Maße

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dazu prädestiniert gewesen wären,hinterlistige, rücksichtslose,treulose und erbarmungsloseMenschen zu werden. Wenn wirAussagen über die Erblichkeit einersportlichen Begabung oderIntrovertiertheit oder gar bipolarerStörungen oder Schizophreniemachen, wirkt das nicht soschockierend. Aber solcherleiFeststellungen über antisozialeTendenzen klingen ungeheuerlich,obwohl sie auf denselbenstatistischen Methoden beruhen.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen,dass solche extrem komplexenCharakteristika wahrscheinlich

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nicht durch ein einzelnes Genbestimmt werden, sondern mit anSicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit oligogenischsind, also durch dasZusammenwirken mehrerer Geneverursacht werden. Und die genaueFunktion dieser Gene bei derFormung von Hirnfunktionen undspäteren Ausprägung vonVerhaltensweisen ist bis jetzt nichtbekannt. Der Weg von der DNSeines Menschen zu einemvielschichtigen Verhaltensmuster,wie zum Beispiel "missachtetfinanzielle Verpflichtungen", isteine lange, verschlungene Reise mit

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biochemischen, neurologischen undpsychologischen Aspekten, dieentsprechend schwierig zuerforschen sind.

Aber die Forschung hat unsbereits einige bedeutsame Hinweisegeliefert. Ein wichtiges Bindegliedim Segment des neurobiologischgesteuerten Verhaltens in der Kettekönnte eine abnorme Funktion derGroßhirnrinde bei Soziopathensein. Einige der interessantestenErkenntnisse über die Funktion derGroßhirnrinde bei Soziopathen sinddurch Studien39 gewonnen worden,die untersucht haben, wie Sprachevon Menschen verarbeitet wird. Es

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hat sich herausgestellt, dassnormale Menschen sogar auf derEbene der elektrischen Aktivität imGehirn auf emotionale Wörter (wiezum Beispiel Liebe, Hass,gemütlich, Schmerz, glücklich,Mutter) schneller und intensiverreagieren als auf relativ neutraleW ö r t e r (Tisch, Stuhl, fünfzehn,später, etc.). Wenn mir die Aufgabegestellt wird, zwischen sinnvollenund sinnlosen Wörtern zuunterscheiden, werde ich Terror imGegensatz zu L i s t e r sehr vielschneller, also in viel kürzerer Zeit,erkennen, als ich mich zwischenFenster u n d End ock entscheiden

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kann. Meine schnellere Reaktionauf das emotionale Wort Terrorkann gemessen werden, indem einewinzige elektrische Reaktion inmeiner Großhirnrindeaufgezeichnet wird, die man als"evoziertes Potenzial" bezeichnet.Solche Studien haben gezeigt, dassdie Gehirne normaler MenschenWörter, die sich auf Emotionenbeziehen, im Vergleich zuemotional neutralen Wörternbevorzugt beachten, erinnern underkennen. Liebe wird schneller alsein Wort erkannt als sehen und löstim Gehirn ein höheres evoziertesPotenzial aus, als ob der

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Informationsgehalt von Liebeursprünglicher und wichtiger sei alsder von sehen.

Das gilt aber nicht fürsoziopathische Probanden, dieanhand vonSprachverarbeitungsaufgabenuntersucht wurden. In Hinsicht aufReaktionszeit und evoziertePotenziale haben soziopathischeProbanden auf emotional geladeneWörter nicht anders reagiert als aufneutrale Wörter. Bei Soziopathenist das evozierte Potenzial fürSchluchzen oder Kuss nicht größerals das für bar oder Liste, als obemotionale Wörter nicht wichtiger

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oder tiefer in ihren Gehirneneingeprägt seien als beliebigeandere Wörter.

Bei ähnlichen Untersuchungen40

unter Verwendung der "Single-Photon Emission-ComputedTomography" (SPECT), einembildgebenden Verfahren derHirnforschung, zeigten Soziopathenim Vergleich zu anderen Probandeneine verstärkte Durchblutung derSchläfenlappen, wenn ihnen eineAuswahlaufgabe mit emotionalenWörtern gestellt wurde. Eine solcheverstärkte Durchblutung derSchläfenlappen könnte bei Ihnenoder mir auftreten, wenn wir ein

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nicht völlig triviales intellektuellesProblem zu lösen hätten. Mitanderen Worten: Bei dem Versuch,eine Aufgabe mit emotionalenWörtern zu lösen, habenSoziopathen physiologisch mehroder weniger so reagiert, als wärensie aufgefordert worden, eineRechenaufgabe zu lösen.

Insgesamt lassen solche Studienerkennen, dass mit Soziopathie eineabnorme Verarbeitung emotionalerStimuli in der Großhirnrindeeinhergeht. Der Grund für dieseabweichenden Prozesse ist nochnicht bekannt, aber er istwahrscheinlich das Ergebnis eines

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erblichen Unterschiedes derneurologischen Entwicklung, derdurch Einflüsse von Erziehung oderKultur leicht abgemildert oderdeutlich verschlimmert werdenkann. Diese Abweichung derneurologischen Entwicklung istzumindest teilweise für den bislangnoch nicht ausgelotetenpsychologischen Unterschiedzwischen Soziopathen und allenanderen Menschen verantwortlich,und seine Implikationen sindalarmierend. Soziopathie ist mehrals das schlichte Fehlen einesGewissens, was für sich genommenschon tragisch genug wäre.

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Soziopathie ist die Unfähigkeit,emotionale Erlebnisse wie Liebeund Fürsorge zu verarbeiten, es seidenn, ein solches Erlebnis kannkühl als eine intellektuelle Aufgabekalkuliert werden.

Ebenso wie das Gewissen nichtnur die Präsenz von Schuldgefühlund Reue ist, sondern auf unsererFähigkeit basiert, Gefühle und diedaraus resultierenden Bindungenzu empfinden, ist Soziopathie nichtnur das Fehlen von Schuldgefühlund Reue. Soziopathie ist eineStörung der Fähigkeit, echte (nicht-berechnende) emotionaleErlebnisse zu haben und zu

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würdigen und somit echte (nicht-berechnende) Beziehungen zuanderen Menschen aufbauen zukönnen. Um die Sachlage etwasprägnanter und vielleichtunbequem deutlich auszudrücken:Keine Moral zu haben, zeigt einentiefergehenden Zustand an, ebensowie das Vorhandensein einesGewissens, denn das Gewissenexistiert nie ohne die Fähigkeit zulieben, und Soziopathie basiertletztlich auf Lieblosigkeit.

Ein Soziopath ist ein Mensch, der"sich nicht an gesellschaftlicheNormen hält", "niemals monogam"ist oder "finanzielle

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Verpflichtungen missachtet", weiljegliche Verpflichtung aus einemGefühl erwächst, das man für einWesen empfindet, das einememotional etwas bedeutet. Undeinem Soziopathen bedeuten seineMitmenschen eben nichts.

Soziopathie ist im Kern ihresWesens eiskalt wie eineleidenschaftslose Schachpartie. Indieser Hinsicht unterscheidet siesich von gewöhnlicherVerlogenheit, Narzissmus und sogarGewalttätigkeit, die oft mitLeidenschaft erfüllt sind. Wenn essein muss, würden die meistenMenschen lügen, um einem

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Angehörigen das Leben zu retten,und es ist fast schon ein Klischee,dass ein gewalttätigesBandenmitglied (womöglich imGegensatz zu seinemsoziopathischen Anführer) für seineKumpane durchaus Loyalität undWärme empfinden kann sowieZärtlichkeit für seine Mutter undGeschwister. Aber für Skip hat,selbst als Kind, nie ein andererMensch etwas bedeutet; Dr.Littlefield empfand keineAnteilnahme für ihre Patienten,und Luke konnte selbst seine Frauoder sein eigenes Kind nicht lieben.Für solche Gemüter sind andere

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Menschen, selbst "Freunde" oderAngehörige, bestenfalls disponibleSpielfiguren. Liebe kommt beiihnen nicht vor und kann überdiesnicht verstanden werden, wenn siebei anderen Menschen beobachtetwird.

Die einzigen Emotionen, dieSoziopathen anscheinend wirklichempfinden, sind die sogenannten"primitiven" affektiven Reaktionen,die aus unmittelbaren körperlichenSchmerzen oder Freudenresultieren oder aus kurzfristigenFrustrationen oderErfolgserlebnissen. Frustrationkann bei Soziopathen Ärger oder

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Wut hervorrufen. Und einräuberischer Erfolg, ein Sieg ineinem Katz-und-Maus-Spiel (zumBeispiel Doreens Erfolg, Jenna überden durchweichten Rasen einerKlinik auf eine sinnlose Mission zuschicken), löst typischerweiseaggressive Affekte und Erregungaus, einen Nervenkitzel, der als einMoment der Schadenfreude erlebtwerden kann. Diese emotionalenReaktionen sind selten von Dauer,und sie werden als neurologisch"primitiv" bezeichnet, weil sie - wiealle Emotionen - ihren Ursprung imentwicklungsgeschichtlichfrühzeitlichen limbischen System

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des Gehirns haben, jedoch imGegensatz zu den "höheren"Emotionen nicht signifikant durchdie Funktionen der Großhirnrindebeeinflusst werden.

Als Kontrapunkt zur Soziopathieist der Befund des Narzissmusbesonders interessant undaufschlussreich. Narzissmus istgewissermaßen nur die Hälftedessen, was Soziopathie ausmacht.Auch klinische Narzissten sindfähig, die meisten Emotionenebenso intensiv zu empfinden wieandere Menschen, vonSchuldgefühl und Traurigkeit bis zuverzweifelter Liebe und

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Leidenschaft. Die fehlende Hälfteist die wichtige Fähigkeit, dieGefühle anderer Menschen zuverstehen. Narzissmus ist keinVersagen des Gewissens, sonderndes Mitgefühls, also der Fähigkeit,die Gefühle anderer Menschenwahrzunehmen und angemessendarauf zu reagieren. Derbedauernswerte Narzisst kann inemotionaler Hinsicht nicht überseine Nasenspitze hinaus sehen,und wie beim "PillsburyDoughboy"* prallt jede äußereEinwirkung von ihm ab, als seinichts geschehen. Im Gegensatz zuSoziopathen haben Narzissten

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häufig seelische Schmerzen zuertragen und unterziehen sichgelegentlich einer Psychotherapie.Wenn ein Narzisst Hilfe sucht, istgewöhnlich eines derzugrundeliegenden Probleme, dasser unwissentlich seine sozialenBeziehungen durch fehlendesMitgefühl zerstört und sich dannverwirrt, verlassen und einsamfühlt. Ihm fehlen die Menschen, dieer liebt, und er ist kaum in der Lage,sie zurückzugewinnen. FürSoziopathen hingegen bedeutenandere Menschen nichts, und daherfehlen sie ihnen nicht, wenn sieentfremdet oder verschwunden

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sind, außer vielleicht, wie man einnützliches Gerät vermisst, dasirgendwie verloren gegangen ist.

* Anmerkung des Übersetzers: Der

"Pillsbury Doughboy" war eineanimierte Comic-Figur aus Brotteig,die jahrelang in den Fernseh-Werbespots eines Teigherstellers inden USA auftrat. Trotz vielfältigerMisshandlungen behielt sie stetsihre Form und gute Laune.

Aus eigennützigen Gründen

heiraten Soziopathen manchmal;aber nie heiraten sie aus Liebe. Siekönnen nicht wahrhaftig lieben,

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weder Partner noch Kinder oderauch nur ein Haustier. Kliniker undForscher haben angemerkt, dassSoziopathen, wenn es um höhereGefühle geht, vielleicht "den Textkennen, aber nicht die Melodie". Siemüssen es erlernen, Gefühle zuzeigen, so wie Sie und ich eineFremdsprache erlernen müssen,also durch Beobachtung,Nachahmung und Übung. Undebenso wie Sie oder ich durchÜbung eine Fremdsprache fließendzu beherrschen lernen könnten, sokönnte ein intelligenter Soziopatheinigermaßen fließend in"emotionaler Konversation"

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werden. Tatsächlich erscheint dasals eine nicht sonderlich schwierigeintellektuelle Herausforderung,sehr viel einfacher als Französischoder Chinesisch zu lernen. JedePerson, die in der Lage ist,menschliches Verhalten auch nuroberflächlich zu beobachten oderalte Romane zu lesen und alteFilme anzuschauen, kann es lernen,sich romantisch zu geben oderinteressiert oder gutmütig. Fastjeder Mensch kann es lernen, "Ichliebe dich" zu sagen oder sichverzückt zu geben und die Worte zusprechen, "Du meine Güte! Welchein entzückender kleiner Welpe!"

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Aber nicht jeder Mensch kann auchdie Gefühle empfinden, die durchein solches Verhalten ausgedrücktwerden. Soziopathen können esnicht.

Umwelt Und doch sind genetische

Prädispositionen undneurobiologische Unterschiede keinunentrinnbares Schicksal, wie wiraus der Erforschung so vieleranderer menschlicherEigenschaften wissen. Dergenetische Marmor unsererLebensläufe existiert schon vor

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unserer Geburt; aber nachdem wirzur Welt gekommen sind, nimmtdie Umwelt den Bildhauermeißelzur Hand und beginnt, mit Machtzu meißeln an dem Material, das dieNatur zur Verfügung gestellt hat.Erblichkeitsstudien haben gezeigt,dass gerade bei Soziopathie dieBiologie höchstens das halbe Bildist. Außer den genetischen Faktorengibt es Umwelteinflüsse, die dieAbwesenheit eines Gewissensbeeinflussen, wenn es auch, wie wirgleich sehen werden, bislangziemlich unklar ist, um welcheEinflüsse es sich genau handelt.

Ein Verdacht, der sofort und

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intuitiv einleuchtet, istKindesmissbrauch. Möglicherweisewerden einige Menschen mit einergenetischen und neurologischenPrädisposition für Soziopathie - imGegensatz zu anderen - zuSoziopathen, weil sie als Kindermissbraucht wurden und derMissbrauch ihr psychischesBefinden und womöglich ihreohnehin beeinträchtigtenneurologischen Funktionengeschädigt hat. Immerhin wissenwir mit Sicherheit, dassKindesmissbrauch zahlreicheandere negative Folgen hat,darunter gewöhnliche (nicht-

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soziopathische) Jugendkriminalitätund Gewalttätigkeit, Depressionenim Erwachsenenalter,Suizidneigung, Dissoziation undvielfältige Bewusstseinsspaltungen,Magersucht, chronischeAngstzustände undDrogenmissbrauch. Psychologischeund soziologische Studien zeigenuns ohne den Schatten einesZweifels, dass Kindesmissbrauchein potentes Gift für die Psyche ist.

Allerdings ist es problematisch,Soziopathie auf frühen Missbrauchzurückzuführen, da es hier, imGegensatz zu nichtsoziopathischerJugendkriminalität und

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gewöhnlicher Gewalttätigkeit, keineüberzeugenden Belege dafür gibt,dass das wichtigste Merkmal derSoziopathie - also das Fehlen einesGewissens - mit Misshandlung imKindesalter zusammenhängt.Darüber hinaus sind Soziopathenals Gruppe nicht von den anderentragischen Folgen vonKindesmissbrauch - wie zumBeispiel Depressionen undAngststörungen - betroffen, und wirwissen aus einem reichhaltigenFundus an Forschungsergebnissen,dass die Überlebenden frühenMissbrauchs, seien sie nunstraffällig geworden oder nicht,

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vorhersehbar von solchenProblemen geplagt werden.

Tatsächlich gibt es einige Belegedafür, dass Soziopathen wenigerstark durch frühe Erfahrungenbeeinflusst werden alsNichtsoziopathen.41 Zum Beispielhatte in Robert Haresdiagnostischen und statistischenStudien an Gefängnisinsassen beiHäftlingen, die anhand der vonHare entwickelten Psychopathie-C h e c k l i s t e als Psychopathendiagnostiziert worden waren, dieQualität des Familienlebens imKindesalter keinerlei Auswirkungenauf das zeitliche Auftreten

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kriminellen Verhaltens.Unabhängig davon, ob ihrFamilienleben stabil gewesen waroder nicht, erschienen diediagnostizierten Psychopathen ineinem durchschnittlichen Alter vonvierzehn Jahren erstmalig vorGericht. Im Gegensatz dazu hingbei Insassen, die nicht alsPsychopathen diagnostiziertworden waren (Häftlinge, derenzugrundeliegendePersönlichkeitsstruktur ehernormal war), das Alter dererstmaligen Straffälligkeit stark vonder Qualität des familiärenHintergrundes ab. Diejenigen mit

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einer stabileren Vergangenheiterschienen erstmals imdurchschnittlichen Alter vonvierundzwanzig vor Gericht,während jene mit einemproblematischen Umfeld erstmalsim Alter von etwa fünfzehn Jahrenstraffällig wurden. Andersausgedrückt: Eine schwere Kindheitbegünstigt und beschleunigtgewöhnliche kriminelle Aktivitäten,wie es zu erwarten wäre; aber dieStraftaten, die aus derUnerbittlichkeit der Soziopathieresultieren, scheinen aus sich selbstheraus und nach ihrem eigenenZeitplan zu entstehen.

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Beharrlich auf der Suche nachEinflüssen der Umwelt auf dieEntstehung von Soziopathie habenviele Forscher an Stelle desKindesmissbrauchs per se dasKonzept der Beziehungsstörung("attachment disorder")aufgegriffen. Die normale Bindungist ein angeborener Mechanismusdes Gehirns, der einen Säuglingdazu veranlasst, die Nähe seinerMutter - oder einer anderenverfügbaren Bezugsperson - zusuchen, so dass sich die allererstezwischenmenschliche Beziehungentwickeln kann. Diese ersteBeziehung ist entscheidend, nicht

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nur für das Überleben desSäuglings, sondern auch, weil esdem unreifen limbischen Systemdes Säuglings ermöglicht, die reifenFunktionen des erwachsenenGehirns zu "nutzen", um sich selbstzu organisieren. Wenn einElternteil mitfühlend auf einenSäugling reagiert, werden diepositiven Gefühle des Kindes, zumBeispiel Zufriedenheit undBegeisterung, bestärkt, und seinepotenziell übermächtigen negativenGefühle wie Frustration und Angstkönnen gedämpft werden. DiesesArrangement fördert ein Gefühl derOrdnung und Sicherheit, das

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schließlich im Gedächtnis desBabys verankert wird und so für dasKind zu einer mobilen Versioneiner "sicheren Basis" in der Weltwird, wie sie John Bowlby inseinem Buch Attachment and Loss("Bindung und Verlust")beschrieben hat.42

Die Forschung zeigt, dassadäquate Bindung43 imSäuglingsalter viele beglückendeErgebnisse zeitigt, darunter diegesunde Entwicklung emotionalerSelbstkontrolle, einautobiographisches Gedächtnis unddie Fähigkeit, seine eigenenErfahrungen und Handlungen zu

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reflektieren. Die frühestenBindungen bilden sich bis zumsiebten Lebensmonat, und diemeisten menschlichen Säuglingekönnen sich an eine ersteBezugsperson in einer Weisebinden, die diese wichtigenFähigkeiten entwickelt.

Eine Beziehungsstörung ist eintragischer Zustand, der entsteht,wenn die Entwicklung der Bindungim Säuglingsalter gestört wird -durch elterliche Unfähigkeit (zumBeispiel durch eine schwereemotionale Störung der Eltern),oder einfach, weil das Kind zu vielallein gelassen wird (zum Beispiel

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in einem altmodischenWaisenhaus). Kinder undErwachsene mit einer schwerenBeziehungsstörung, für die esunmöglich war, in den erstensieben Lebensmonaten eineBindung zu entwickeln, sindunfähig, sich emotional an andereMenschen zu binden, und somit zueinem Schicksal verdammt, dasman für schlimmer als den Todhalten könnte. In den ultra-hygienischen Waisenhäusern derVereinigten Staaten desneunzehnten und frühenzwanzigsten Jahrhunderts stellteman im Extremfall fest, dass

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Säuglinge, die aus Gründenaseptischer Perfektion überhauptnicht berührt wurden, buchstäblichdem Tode geweiht waren. Aufrätselhafte Weise erlagen sie einemZustand, der seinerzeit alsm a r a s m u s bezeichnet wurde,einem Wort aus dem Griechischen,das einen "fortschreitenden Verfallder körperlichen und geistigenKräfte" beschreibt - eine Störung,die heute als "alimentär bedingteDystrophie" ("nonorganic failure tothrive") bezeichnet wird. Fast alleder unberührten Babys in diesenWaisenhäusern starben. In denseither verstrichenen hundert

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Jahren habenEntwicklungspsychologen undKinderärzte gelernt, dass eslebenswichtig ist, Babys im Arm zuhalten, mit ihnen zu schmusen, zusprechen und sie zu liebkosen, unddass die Folgen herzzerreißendsind, wenn das gänzlich unterlassenwird.

In Westeuropa und denVereinigten Staaten (derenGesellschaft ironischerweise eineder berührungsfeindlichsten derWelt ist) sind die Trauer und dasGefühl des Verlustes, die durchBeziehungsstörungen verursachtwerden können, von vielen

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Familien unmittelbar erlebtworden, als in den frühenNeunzigerjahren in einer Welle desMitgefühls der vielfache Wunschentstand, rumänischeWaisenkinder zu adoptieren. Als1989 das kommunistische Regimein Rumänien gestürzt wurde,gelangten grauenhafte Fotos aushunderten von Waisenhäusern,deren Existenz unter dempsychopathischen Diktator NicolaeCeausescu geheimgehalten wordenwar, an die Weltöffentlichkeit.Unter seinem Regime warRumänien ein Landlebensbedrohlicher Armut, und

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trotzdem hatte Ceausescu sowohlAbtreibung als auch Verhütungverboten.44 Die Folge warenHunderttausende verhungernderKinder, und fast 100.000Waisenkinder endeten instaatlichen Anstalten.

Insgesamt war das Verhältnis vonWaisenkindern zu Betreuern indiesen Waisenhäusern ungefähr 40zu 1. Die Lebensbedingungen warenabenteuerlich unhygienisch;abgesehen von einer Ernährung, diegerade ausreichte, um die meistenvon ihnen am Leben zu erhalten,wurden diese Babys und Kindervöllig vernachlässigt.

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Die barmherzigste Lösung schieneine Adoption möglichst vielerdieser Kinder durch gut situierteAusländer zu sein. WohlmeinendeWesteuropäer und Nordamerikanernahmen rumänische Babys mitnach Hause und versuchtenliebevoll, sie wieder aufzupäppeln.Und bald stellte ein Paar in Parisfest, dass seine wunderschöne, zehnMonate alte rumänische Tochternicht zu trösten war und nur umsolauter schrie, wenn sie versuchten,sie auf den Arm zu nehmen.45 Oderein Paar in Vancouver betrat dasSchlafzimmer seines dreijährigenSohnes, um festzustellen, dass er

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soeben das neu erworbeneKätzchen aus dem Fenstergeschleudert hatte. Oder Eltern inTexas mussten sich schließlicheingestehen, dass sie ihrenfünfjährigen Adoptivsohn nichtdavon abbringen konnten, seineTage damit zu verbringen, in eineEcke zu starren, und dass ermanchmal mitten in der Nacht,wenn sie schliefen, ihre anderenKinder brutal attackierte.Westeuropa und Nordamerikahatten einen Albtraum anBeziehungsstörungen importiert,heraufbeschworen durch einensadistischen rumänischen

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Soziopathen, der nicht einmal mehram Leben war. Nachdem ihnen alsSäugling eine Bindung gänzlichvorenthalten worden war, konntenviele dieser geretteten Kinder keineLiebe empfinden.

Im Juni 2001 erließ die neueFührung Rumäniens ein Verbot vonAuslandsadoptionen, nicht etwa aushumanitären Erwägungen, sondernaus politischen und finanziellenGründen. Die Europäische Unionhatte kurz zuvor verkündet, dassdas verarmte Rumänien mit seinemStrom von Waisen ein "Marktplatzfür Kinder" geworden sei und dasseine Mitgliedschaft Rumäniens in

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der florierenden Union vonfünfzehn Nationen wohl nichterreicht werden könne, solange die"politisch inkorrekten" Adoptionenins Ausland anhielten. Während ichdies schreibe, leben immer nochmehr als vierzigtausend Kinder - dieBevölkerung einer kleinen Stadt - inAnstalten der Republik Rumänien,die sich um eine EU-Mitgliedschaftim Jahr 2007 bemüht.

Seit das Leiden der rumänischenWaisen bekannt geworden ist,haben Psychologen verstärktüberlegt, ob eineBeziehungsstörung dieumweltbedingte Ursache der

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Soziopathie sein könnte. DieÄhnlichkeiten liegen auf der Hand:Kinder, die unter einerBeziehungsstörung leiden, sindimpulsiv und gefühlskalt undmanchmal bedrohlich gewalttätiggegenüber ihren Eltern,Geschwistern, Spielkameraden undHaustieren. Sie neigen zuDiebstahl, Vandalismus undZündelei, und häufig trifft man sie -wie Soziopathen - als Jugendlichein Erziehungsanstalten und alsErwachsene im Gefängnis an. UndKinder mit schwerenBeziehungsstörungen sind dieeinzigen Kinder, die auf uns fast so

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fundamental beängstigend wirkenwie junge Soziopathen.

Diese Ähnlichkeiten sind in vielenLändern der Welt festgestelltworden. In der Kinderpsychiatrieskandinavischer Länder46 wird zumBeispiel eine Störung, die als "früheemotionale Frustration" bezeichnetwird, auf einen Mangel angegenseitiger Bindung zwischenMutter und Kind zurückgeführt. InSkandinavien wird diese Diagnose(frühe emotionale Frustration) alsAnzeichen einerüberdurchschnittlich hohenWahrscheinlichkeit angesehen, biszum Erwachsenenalter eine

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soziopathischePersönlichkeitsstörung zuentwickeln. Frühe emotionaleFrustration geht statistisch mitFaktoren einher, die die Mutter-Kind-Bindung erschweren, wie zumBeispiel eine zu frühe Geburt, einsehr niedriges Geburtsgewicht oderDrogenmissbrauch der Mutterwährend der Schwangerschaft.

Der Aufbau solcher Studien hatallerdings gewisse systematischeSchwächen. So könnten gewisseFaktoren, wie zum BeispielDrogenmissbrauch der Mutterwährend der Schwangerschaft,durchaus soziopathische Mütter

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implizieren, womit man dannwieder zu einer genetischenErklärung käme. Aber dasHauptproblem der Gleichsetzungvon Beziehungsstörung undSoziopathie sind, trotz derverlockenden wissenschaftlichenGemeinsamkeiten der beiden, ihrebeständigen und nicht zub e s t r e i t e n d e n Unterschiedehinsichtlich der bestimmendenMerkmale der Soziopathie. ImGegensatz zu Soziopathen sindKinder und Erwachsene, die untereiner Beziehungsstörung leiden,nur selten charmant oder sozialgeschickt. Im Gegenteil, diese

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bedauernswerten Menschen sindfür gewöhnlich nicht sonderlichsympathisch und bemühen sichkaum, Normalität "vorzutäuschen".Viele von ihnen sind Einzelgänger.Ihr emotionaler Auftritt ist flachund unattraktiv, ja, zuweilenregelrecht feindselig, und sie neigendazu, zwischen den wenigattraktiven Extremen vonstreitlustigem Desinteresse undunerfüllbarer Bedürftigkeit zupendeln. Nichts von alledemermöglicht die chamäleonartigenManipulationen undHochstapeleien eines Soziopathenmit seinem falschen Lächeln und

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entwaffnenden Charisma oder denzeitweiligen Erfolg in dermateriellen Welt, den ein geselligerSoziopath häufig erzielt.

Viele Kliniker und Eltern habenberichtet, dass soziopathischeKinder es ablehnen, innigeBeziehungen mitFamilienmitgliedern einzugehen.Sie neigen dazu, sich zu entziehen,sowohl auf emotionaler als auchkörperlicher Ebene, und natürlichverhalten sich Kinder mitBeziehungsstörungen genauso.Aber völlig im Gegensatz zu derSituation des bedauernswertenbeziehungsgestörten Kindes ist die

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familiäre Verweigerung des jungenSoziopathen sehr vielwahrscheinlicher das Ergebnisseiner Lebenseinstellung als derenUrsache.

Insgesamt haben wir also einegewisse Vorstellung von einem derneurobiologischen Defizite, die derSoziopathie zugrunde liegenkönnten. Die untersuchtenSoziopathen haben einesignifikante Abweichung gezeigt inihrer Fähigkeit, emotionaleInformationen auf der Ebene derGroßhirnrinde zu verarbeiten. Undaufgrund von Erblichkeitsstudienkönnen wir spekulieren, dass das

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neurobiologische Fundament derwesentlichenPersönlichkeitsmerkmale vonSoziopathie mit einem Anteil vonbis zu 50 Prozent erblich ist. Dieverbleibenden Ursachen, dieanderen 50 Prozent, sind sehr vielundurchsichtiger. WederMissbrauch im Kindesalter nochBeziehungsstörungen scheinen denEinfluss der Umwelt auf dasl i e b l o s e , m a n i p u l a t i v e undselbstgerechte Dasein zu erklären,das Psychologen als Soziopathiebezeichnen. Der Einflussnichtgenetischer Faktoren auf dieEntstehung dieser tiefgreifenden

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Störung - und sie haben mit anSicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit einen Einfluss -bleibt zum großen Teil rätselhaft.Die Frage bleibt: Nachdem ein Kindmit dem Handicap diesesneurologischen Webfehlers geborenist - welche Umwelteinflüssebestimmen, ob es später die vollenSymptome der Soziopathie zeigenwird oder nicht? Zumgegenwärtigen Zeitpunkt wissen wires einfach nicht.

Kultur Es ist sehr gut möglich, dass die

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Einflüsse der Umwelt aufSoziopathie in stärkerem Maße vonallgemeinen kulturellen Aspektenabhängen als von spezifischenFaktoren der Kindeserziehung. Inder Tat ist es für Forscher bisherergiebiger gewesen, das Auftretenvon Soziopathie mit verschiedenenKulturkreisen in Beziehung zusetzen, als in bestimmten Variablender Kindeserziehung Antworten zusuchen. Anstatt das Produkt vonKindesmissbrauch in der Familieoder von Beziehungsstörungen zusein, spielt vielleicht eine wie auchimmer geartete Wechselwirkungzwischen der angeborenen

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neurologischen Verdrahtung vonIndividuen und der Gesellschaft, inder sie dann leben, eine Rolle fürdie Entstehung von Soziopathie.

Diese Hypothese wird für vieleMenschen enttäuschend sein, dennwenn auch das Ändern derBedingungen von Schwangerschaft,Geburt und Erziehung im großenRahmen kein kleines Projekt wäre -die Werte und Glaubenssätze einerganzen Kultur zu verändern, wäreein wahrhaft gigantischesUnterfangen mit einem langen undentmutigenden Zeithorizont.Vielleicht würden wir uns etwasweniger entmutigt fühlen, wenn wir

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einige Erziehungspraktikenbenennen könnten, die wir zuunseren Lebzeiten zu korrigierenversuchen könnten. Aber vielleichtliegt die wahre Urheberschaft fürmanche Entwicklung bei derGesellschaft, und so könnten wirletztendlich zu demselben Schlusskommen, den William Ralph Ingeim frühen 20. Jahrhundertformuliert hat: "Der besteZeitpunkt, den Charakter einesKindes zu beeinflussen, liegt etwa100 Jahre vor seiner Geburt."

Aus schriftlichen Aufzeichnungenwissen wir indes, dass es in denverschiedensten Kulturen weltweit

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und zu allen Zeiten unterwechselnden BezeichnungenSoziopathen gegeben hat. ZumBeispiel hat die psychiatrischeAnthropologin Jane M. Murphy47

den von den Inuit geprägten Begriffkunlangeta beschrieben, der einenMenschen bezeichnet, dessen"Verstand weiß, was zu tun ist, esaber nicht tut". Murphy schreibt,dass im Nordwesten Alaskas derAusdruck kunlangeta "auf einenMann angewendet werden könnte,der zum Beispiel immer wieder lügtund betrügt und Dinge stiehlt, nichtauf die Jagd geht und, wenn dieanderen Männer nicht im Dorf sind,

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viele Frauen sexuell missbraucht".Die Inuit nehmen stillschweigendan, dass kunlangeta nicht geheiltwerden kann. Und so war es lautMurphy unter den Inuit üblich,einen solchen Mann zu zwingen,auf die Jagd zu gehen, um ihn dannohne Zeugen über die Eiskante zustoßen.

Obwohl Soziopathie überall undimmer vorzukommen scheint, gibtes glaubhafte Belege dafür, dasseinige Kulturen wenigerSoziopathen hervorbringen alsandere. Interessanterweise scheintSoziopathie in gewissenostasiatischen Ländern relativ

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selten aufzutreten,48 insbesonderein Japan und China. Im Rahmenvon Studien, die sowohl inländlichen Regionen als auch in denStädten Taiwans durchgeführtworden sind, wurde einebemerkenswert niedrigeVerbreitung der antisozialenPersönlichkeitsstörung festgestellt,die im Bereich von 0,03 bis 0,14Prozent lag - zwar nicht Null, aberdoch deutlich geringer als derungefähre Durchschnitt von 4Prozent in der westlichen Welt, alsoeiner von fünfundzwanzig. Undirritierenderweise scheint dieVerbreitung der Soziopathie in den

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USA zuzunehmen. Die vom"National Institute of MentalHealth" (Staatliches Institut fürgeistige Gesundheit) 1991d u r c h g e f ü h r t e "EpidemiologieCatchment Area Study"49(Studiezur Ermittlung von Inzidenz- undPrävalenzraten wichtigerpsychischer Störungen) berichtet,dass sich die Verbreitung derantisozialen Persönlichkeitsstörungunter jungen US-Bürgern in denfünfzehn Jahren vor der Studie fastverdoppelt habe. Es wäre schwierig,wenn nicht gar unmöglich, einen sodramatischen Anstieg genetischoder neurobiologisch zu erklären.

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Offenkundig spielen kulturelleEinflüsse eine wichtige Rolle beider Entstehung (oder demAusbleiben) von Soziopathie ineiner gegebenen Bevölkerung.

Kaum jemand würde bestreitenwollen, dass die amerikanischeGesellschaft - vom Wilden Westenbis hin zur heutigenWirtschaftskriminalität - einegoistisch geprägtesDominanzstreben erlaubt oder garbegünstigt. Robert Hare schreibt,50

dass "unsere Gesellschaft sichdahingehend entwickelt, dassmanche der in der Psychopathie-C h e c k l i s t e aufgeführten

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Eigenschaften - wie zum Beispielmangelnde Selbstbeherrschung,Verantwortungslosigkeit,mangelnde Reue, etc. - zunehmendtoleriert, begünstigt und in einigenFällen sogar belohnt werden". Indieser Meinung wird er vonTheoretikern bestärkt, die dieAuffassung vertreten, dass dienordamerikanische Kultur, für dieIndividualismus ein zentraler Wertist, tendenziell die Entstehungantisozialen Verhaltens fördert undauch tarnt. Anders ausgedrückt: InAmerika "verschmilzt" dieskrupellose Manipulation andererMenschen in viel höherem Maße

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mit den gesellschaftlichenErwartungen, als das in China oderanderen, eher gruppenorientiertenGesellschaften der Fall wäre.

Ich glaube, dass es auch eineandere, glänzendere Seite dieserMedaille gibt, die die Frage aufwirft,warum einige Kulturensozialverträgliches Verhaltenfördern. Wie kommt es, dass -entgegen aller Wahrscheinlichkeit -manche Gesellschaften einenpositiven Einfluss aufheranwachsende Soziopathenhaben, mit ihrer angeborenenUnfähigkeit, zwischenmenschlicheGefühle normal zu verarbeiten? Ich

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möchte zur Diskussion stellen, dassdie primären Wertesystememancher Kulturen geboreneSoziopathen dazu bewegenkönnten, kognitiv zu kompensieren,was ihnen emotional entgeht. ImGegensatz zu dem extremenStellenwert, den wirIndividualismus undSelbstbestimmtheit einräumen, istdie theologische Basis bestimmterKulturen, darunter viele inOstasien, die gegenseitigeVerbundenheit aller Lebewesen.Interessanterweise ist dieseMaxime auch die Basis desGewissens, einem in emotionaler

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Verbundenheit zu anderenverwurzeltes, intervenierendesGefühl der Verpflichtung. Wenn einMensch seine Bindung zu anderennicht emotional erlebt oderneurologisch bedingt nicht erlebenkann, so vermag vielleicht eineKultur, für die Verbundenheit einzentraler Wert ist, ihm ein reinkognitives VerständniszwischenmenschlicherVerpflichtung zu vermitteln.

Ein intellektuelles Verständnisseiner Verpflichtungen anderengegenüber ist nicht dasselbe wie dasmächtige, lenkende Gefühl, das wirGewissen nennen; aber vielleicht

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reicht es aus, um sozialverträglichesVerhalten zumindest bei einigenIndividuen hervorzubringen, diesich völlig antisozial verhaltenwürden, wenn sie in einerGesellschaft lebten, für dieIndividualismus wichtiger ist alsgegenseitige Verbundenheit. Wennihnen auch der innereMechanismus fehlt, der ihnen einGefühl der Verbundenheit mitanderen vermittelt, so zwingt siedoch die Gesellschaft in eine solcheVerbundenheit - im Gegensatz zuunserer Kultur, die ihnennachdrücklich beibringt, dassskrupelloses Verhalten zum

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eigenen Vorteil ihnen den größtenNutzen bringt. Das würde erklären,warum eine westliche Familie einengeborenen Soziopathen nicht auseigener Kraft erretten kann. Zuviele andere Stimmen in derGesellschaft vermitteln ihm, dassseine Einstellung zum Leben dierichtige ist.

Ein winziges Beispiel: Falls Skip,der Amerikaner, in eine starkbuddhistisch oder schintoistischgeprägte Kultur hineingeborenworden wäre, hätte er all dieFrösche umgebracht? Vielleicht -oder vielleicht auch nicht. SeinGehirn wäre dasselbe gewesen, aber

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seinen Mitmenschen wäre dieAchtung vor dem Leben zwingendgewesen. Jeder Mensch in seinerWelt hätte dieselbe Haltung an denTag gelegt, seine wohlhabendenEltern, seine Lehrer, seineSpielkameraden und vielleichtsogar die Prominenten, die er imFernsehen gesehen hat. Skip wäreimmer noch Skip gewesen. Er hättekeine Achtung verspürt vor denFröschen, kein Schuldbewusstsein,wenn er sie umbrachte, keinenEkel, aber vielleicht hätte er es dochunterlassen, weil ihm seine Kultureindeutig eine Lektion erteilt hätte,wie man sich zu verhalten hat. Eine

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Lektion vergleichbar mit gutenTischmanieren, die sein völligadäquater Intellekt verstandenhätte. Soziopathen interessierensich nicht für ihr soziales Umfeld,aber sie spüren den Willen und dieNotwendigkeit, sich darein zufügen.

Natürlich unterstelle ich, dassunsere eigene Kultur einem Kindwie Skip beibringt, dass es kleineTiere quälen und trotzdem relativunauffällig unter uns leben kann.Ich meine, dass das eine leiderzutreffende Beurteilung unserergegenwärtigen, beklagenswertenSituation ist.

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Krieger Aus Sicht der menschlichen

Gesellschaft als Ganzes, über alleKulturen hinweg: Hat das Fehlenvon Anteilnahme und dieAbwesenheit eines Gewissens auchAspekte, die man als positiv oderzumindest nützlich ansehenkönnte? Zufällig gibt es, von einembestimmten Standpunkt ausgesehen, einen solchen Aspekt. Seidas Opfer ein Frosch oder einMensch: Soziopathen können töten,ohne Gewissensqualenauszustehen; daher geben

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Menschen, die kein Gewissenhaben, hervorragende, von keinerleiZweifeln geplagte Krieger ab. Undfast alle Gesellschaften - seien sienun buddhistisch, schintoistisch,christlich oder rein kapitalistischgeprägt - führen Kriege.

Wir können uns Soziopathen ingewissem Maße als von derGesellschaft geformt undunterstützt vorstellen, dennNationalstaaten brauchen immerwieder kaltblütige Killer, vomanonymen Infanteristen bis hin zuden Eroberern, dieMenschheitsgeschichte geschriebenhaben und weiterhin schreiben.

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Soziopathen sind furchtlose undüberlegene Krieger,51

Scharfschützen, aus dem Hinterhaltoperierende Attentäter,Spezialagenten, V-Männer undEinzelkämpfer, da sie nicht vonEntsetzen gepackt werden, wenn sietöten (oder wenn sieTötungsbefehle geben) und keineSchuldgefühle haben, nachdem dieTat vollbracht ist. Die allermeistenMenschen - der größte Teil unsererArmeen - können nicht so gefühllossein, und wenn sie nicht sorgfältigkonditioniert werden, geben diemeisten normalen Menschenbestenfalls viertklassige Killer ab,

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selbst wenn das Töten andererMenschen als notwendig erachtetwird. Jemand, der einem anderenMenschen in die Augen sehen undihn kaltblütig erschießen kann, istungewöhnlich - und im Krieg sehrnützlich.

So seltsam es klingen mag -gewisse Taten sind dermaßenemotional bankrott, dass sie dasFehlen eines Gewissens erfordern,so wie Astrophysik Intelligenzerfordert und Kunst Begabung.Über Krieger, die ohne Gewissenoperieren können, schreibtOberstleutnant Dave Grossman inseinem Buch On Killing: "Ob man

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sie nun Soziopathen, Bluthunde,Krieger oder Helden nennen will -es gibt sie; sie sind eine klarabgegrenzte Minderheit, und inZeiten der Gefahr werden sie voneiner Nation verzweifelt gebraucht."

Aber im eigenen Land zahlen ebendiese Nationen einen verstecktenPreis für den Ruhm, den sie ihreneiskalten Killern des Schlachtfeldsverleihen. Die Laufbahn zu diesemRuhm bleibt nicht unbemerkt vonanderen, die ein besonderes Talentfür skrupelloses Töten haben,anderen, die nie hinter denfeindlichen Linien ihr Werkverrichten werden. Diese

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selbsternannten Helden bleibendaheim, unter uns, weitgehendunerkannt. Von Rambo bis Bagdadist die Glorifizierung des Tötens -die Verherrlichung des schwerstenVerstoßes gegen ein normalesGewissen - ein beständigesMerkmal unserer vorherrschendenKultur gewesen und mag durchausder bei weitem schädlichsteEinfluss der Umwelt auf anfälligesoziopathische Charaktere unteruns sein. Ein Mensch mit einemsolchen Charakter wird nichtnotwendigerweise töten - wenn eraber doch zum Täter wird, ist ernicht immer der Mensch, für den

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man ihn halten würde, wie wir imnächsten Kapitel sehen werden.

A C H T der soziopath von nebenan Es mag sein, dass wir

Marionetten sind - Marionetten anden Fäden der Gesellschaft. Aberzumindest sind wir Marionettenmit Wahrnehmung undBewusstsein. Und vielleicht istunser Bewusstsein der erste Schrittzu unserer Befreiung.

— Stanley Milgram

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"Ich muss mit jemandem reden -ich glaube, ich muss mit jemandemreden, weil mein Vater imGefängnis ist." Hannah, meinehübsche, schmallippige, 22 Jahrealte neue Patientin, machte diesekaum hörbare Äußerung inRichtung des Bücherregals zu ihrerRechten. Nach einem Moment sahsie mich direkt an, schüchtern, undwiederholte sich: "Ich brauchejemanden, mit dem ich reden kann.Mein Vater ist im Gefängnis."

Sie seufzte leise, als ob dieAnstrengung so vieler Worte sieerschöpft habe, und dann war siestill.

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Gerade, wenn Menschen sehrverängstigt sind, besteht eingewisser Teil des therapeutischenProzesses darin zu wissen, wie mandie Äußerungen eines Patienteninterpretieren kann, ohne wertendoder herablassend zu klingen. Ichbeugte mich ein wenig vor, meineHände über dem Knie verschränkt,und versuchte, Hannahs Blickwieder einzufangen, der sich nunauf den rostfarbenen Orientteppichzwischen unseren Stühlen gesenkthatte.

Ich sagte ruhig: "Ihr Vater ist imGefängnis?"

"Ja." Sie blickte langsam auf, als

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sie antwortete, fast überrascht, alshätte ich diese Information auftelepathischem Wege erhalten.

"Er hat einen Mann getötet. Also,er wollte das nicht, aber er hateinen Mann getötet."

"Und jetzt ist er im Gefängnis?""Ja. Ja, das ist er."Sie errötete, und ihre Augen

füllten sich mit Tränen.Ich werde immer wieder berührt

durch den Umstand, dass selbst einbisschen Zuhören, die auch nurangedeutete Möglichkeit einerfreundlichen Behandlung, eine sospontane Gefühlswallunghervorrufen kann. Das liegt wohl

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daran, dass uns kaum jemalsjemand wirklich zuhört. In meinerArbeit als Psychologin werde ichtäglich daran erinnert, wie seltenuns zugehört wird, jedem vom uns,und unser Verhalten auch nuransatzweise verstanden wird. Einegewisse Ironie meines "zuhörendenBerufes" liegt in der Lektion, dassjeder von uns letztlich in vielerleiHinsicht ein Rätsel für seineMitmenschen bleibt.

"Wie lange ist Ihr Vater schon imGefängnis?", fragte ich sie.

"Ungefähr 41 Tage. Es war ein sehrlanges Gerichtsverfahren. Währenddes Verfahrens war er nicht im

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Gefängnis.""Und Sie hatten das Bedürfnis, mit

jemandem zu reden?""Ja. Ich kann nicht ... es ist so ...

deprimierend. Ich glaube, ich werdedepressiv. Ich muss mit meinemStudium an der medizinischenHochschule anfangen."

"Medizinstudium? ImSeptember?"

Es war Juli."Ja. Ich wünschte, ich müsste

nicht an die Uni."Die Tränen flossen, leise, ohne

Schluchzen, als ob der Rest von ihrnicht merkte, dass sie weinte. IhreTränen strömten und tropften

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hinab auf ihre weiße Seidenbluse,wo sie durchsichtige Fleckenbildeten. Davon abgesehen bliebihre Miene unverändert, stoisch. Sieließ sich die Tränen nichtanmerken.

Ich finde Stoizismus anrührend.Hannahs Unerschütterlichkeit warbemerkenswert, und mein Interessewar geweckt.

Mit beiden Zeigefingern ordnetesie ihre glatten schwarzen Haareund schob sie hinter ihre Ohren. IhrHaar glänzte sehr, als hätte esjemand poliert. Sie sah an mirvorbei zum Fenster und fragte:"Wissen Sie, wie es ist, wenn der

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eigene Vater im Gefängnis sitzt?""Nein", antwortete ich, "vielleicht

können Sie es mir erzählen."Und so erzählte mir Hannah ihre

Geschichte - oder zumindest einenTeil davon.

Ihr Vater war der Direktor derstaatlichen High School desbürgerlichen Vorortes gewesen, indem Hannah aufgewachsen war, ineinem anderen Bundesstaat,tausend Meilen westlich vonBoston. Hannah beschrieb ihn alsaußerordentlich liebenswürdigenMann, der ganz natürlich Menschenanzog - ein "Star", wie Hannah esausdrückte. Er wurde von Schülern,

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Lehrern und fast allen anderenBürgern der kleinen Gemeindeverehrt, in der die Schule lag.Immer war er beim Training derCheerleader dabei und sah sich alleFootball-Spiele an. Es war ihm sehrwichtig, ob die heimischeMannschaft gewann oder nicht.

Geboren und aufgewachsen imländlichen Mittelwesten, hatte er"sehr konservativeÜberzeugungen", sagte Hannah. Erwar Patriot und trat für einemachtvolle Landesverteidigung ein,für Bildung und das Recht derBürger, sich zu bewaffnen. Hannahwar sein einziges Kind, und so lange

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sie zurückdenken konnte, hatte erihr immer vermittelt, dass sie alleserreichen könne, obwohl sie keinJunge sei. Ein Mädchen könnewerden, was immer es wolle. EinMädchen könne Arzt werden.Hannah konnte Arzt werden.

Hannah liebte ihren Vater sehr."Er ist der netteste, moralischsteMann der Welt. Ja, das ist erwirklich", erzählte sie mir. "Siehätten alle die Menschen sehensollen, die zu seinem Prozessgekommen sind. Sie haben einfachdagesessen und geweint um ihn,geweint und geweint. Er hat ihnenso Leid getan, aber sie konnten

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nichts für ihn tun, verstehen Sie?Sie konnten nichts tun."

Die Tat war eines Nachts im Märzgeschehen, als Hannah, damals imfünften Semester, ihreSemesterferien zu Hauseverbrachte. In den frühenMorgenstunden erwachte sie durchein lautes Geräusch vor ihremElternhaus.

"Ich habe erst später erfahren,dass es ein Schuss war", erzählte siemir.

Schlaftrunken stand sie auf, umnachzusehen, was passiert war, undbegegnete ihrer Mutter, die an deroffenen Haustür stand, weinte und

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sich die Haare raufte. Die kühleMärzluft strömte herein.

"Wissen Sie, es ist seltsam. Ichkann immer noch die Augenschließen und sie da so stehensehen - der Wind blähte ihrenBademantel - und es war, als wüssteich schon alles, alles, was passiertwar, schon in dem Moment, bevorich überhaupt irgendetwas wusste.Ich wusste, was passiert war. Ichwusste, dass mein Vater verhaftetwerden würde. Ich habe es allesgesehen. Also, das ist wie ein Bildaus einem Albtraum, verstehen Sie?Die ganze Geschichte war wie einAlbtraum. Man kann nicht glauben,

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dass es tatsächlich geschieht, undman denkt die ganze Zeit, manwürde aufwachen. Manchmal denkeich immer noch, dass ichaufwachen werde und alles nur einfürchterlicher Traum war. Aberwoher wusste ich alles, bevor ichüberhaupt irgendetwas wusste? Ichsah meine Mutter dort stehen wie ...als ob es in der Vergangenheitpassieren würde, wie ein de-já vuoder so. Es war merkwürdig. Odervielleicht auch nicht. Vielleichtscheint es heute nur so, wenn ichdaran zurückdenke; ich weiß esnicht."

Sobald ihre Mutter sie sah, packte

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sie Hannah, als ob sie ihre Tochteraus dem Weg eines herannahendenZuges ziehen müsste, und schrie:"Geh nicht hinaus! Geh nichthinaus!" Weder machte HannahAnstalten hinauszugehen, nochforderte sie von ihrer Mutter eineErklärung. Sie stand einfach da, undihre entsetzte Mutter umarmte sie.

"So hatte ich sie vorher noch nieerlebt", sagte Hannah. "Und immernoch, ich muss das immer wiedersagen, war es fast so, als ob ich dasalles schon erlebt hätte. Ich wusste,dass es besser war, im Haus zubleiben."

Nach einer Weile - Hannah ist

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nicht sicher, wie lange es dauerte -kam ihr Vater durch die weit offenstehende Haustür herein, zuHannah und ihrer Mutter, wo sieaneinander geklammert standen.

"Er hatte die Pistole nicht in derHand. Er hatte sie irgendwodraußen fallen lassen."

Nur mit einer Schlafanzughosebekleidet stand er vor seinerkleinen Familie.

"Er sah ganz normal aus. Er warein bisschen außer Atem, aber ersah nicht ängstlich aus oder so, undfür einen kleinen Moment,vielleicht eine halbe Sekunde,dachte ich, dass alles in Ordnung

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sei."Als Hannah mir das erzählte,

kamen ihr wieder die Tränen."Aber ich hatte zu viel Angst, um

ihn zu fragen, was passiert war.Nach einer Weile ließ Mama michlos. Sie ging, um die Polizei zurufen. Ich entsinne mich, dass sieihn fragte: 'Ist er verletzt?' Und ersagte: 'Ich glaube schon. Ich glaube,ich habe ihn schwer verletzt.' Unddann ging sie in die Küche und riefdie Polizei an. Das soll man dochtun, oder?"

"Ja", sagte ich. Es war keinerhetorische Frage gewesen.

Nach und nach erfuhr Hannah,

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was passiert war. Früher an jenemfurchtbaren Abend hatte HannahsMutter, die schon immer einenleichten Schlaf hatte, Geräuscheaus dem Wohnzimmer gehört, alsob Glas zerbrechen würde, undhatte ihren schlafenden Manngeweckt. Die Geräusche hielten an.Der Herr des Hauses gewann denEindruck, dass ein Einbrecher imHaus sei, mit dem er fertig werdenmüsse und stand auf, um sichvorzubereiten. Vorsichtig (nach derspäteren Aussage seiner Frau)nahm er - nur im spärlichen Lichteiner winzigen Leselampe - diePistole aus ihrer Schatulle, die er im

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Schlafzimmerschrank aufbewahrte,entsicherte und lud sie. Seine Fraubeschwor ihn, doch einfach diePolizei anzurufen, doch erantwortete nicht auf ihr Flehen,sondern zischte ihr im Befehlstonzu: "Bleib hier!" Und noch immer infast völliger Dunkelheit machte ersich auf den Weg ins Wohnzimmer.

Als der Eindringling ihn sah oder -wahrscheinlicher - hörte, machte ersich auf die Flucht zur Haustürhinaus. Hannahs Vater setzte ihmnach, schoss auf ihn und traf ihn"durch puren Zufall", wie es einerseiner Anwälte später ausdrückte,in den Hinterkopf. Der Mann war

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sofort tot. Zufällig fiel er auf denGehsteig zwischen Rasen undBordstein; das bedeutete, formalbetrachtet, dass Hannahs Vatereinen unbewaffneten Mann aufoffener Straße erschossen hatte.

Es war seltsam, ja, unglaublich,aber keiner der Nachbarn kam aufdie Straße.

"Danach war es so still. Absoluttotenstill", sagte Hannah dort inmeinem Büro zu mir.

Die Polizei kam sehr schnell,nachdem Hannahs Mutterangerufen hatte, gefolgt von einigenweiteren Leuten und einemgeräuschlosen Krankenwagen.

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Schließlich wurden ihr Vater undihre Mutter zum Polizeireviermitgenommen.

"Meine Mutter rief ihre Schwesterund meinen Onkel an und bat sie,für den Rest der Nacht bei mir zubleiben, als wäre ich plötzlichwieder ein kleines Mädchen. Siewaren keine große Hilfe. Sie warenziemlich hysterisch. Ich glaube, ichwar einfach wie betäubt."

Am nächsten Tag und in dendarauffolgenden Wochen fand dasEreignis großes Interesse bei denlokalen Medien. Der Schuss war ineinem ruhigen, bürgerlichen Vorortgefallen. Der Schütze war ein

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normaler, bürgerlicher Mann, dernie durch gewalttätiges Verhaltenaufgefallen war. Er war nichtbetrunken und hatte keine Drogenkonsumiert. Der tote Mann war einbekannter Verbrecher, einDrogensüchtiger, und unmittelbar,bevor auf ihn geschossen wurde,war er durch ein Fenster in dasHaus eingebrochen. Außer demStaatsanwalt bestritt niemand, dasser ein Räuber war oder dassHannahs Vater ihn verfolgt underschossen hatte, weil er in dasHaus eingedrungen war.

In diesem Fall ging es umOpferrechte. Es ging um das Recht

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auf Waffenbesitz. Es ging um "gettough on crime" (unnachsichtigeStrafverfolgung). Der Fallillustrierte deutlich die Gefahren,die es mit sich bringt, wenn Bürgerdas Recht in die eigene Handnehmen. Oder vielleicht zeigte erauch schlüssig, dassHauseigentümer weiter gefassteRechte haben sollten. Die ACLU*echauffierte sich und die NRA**noch mehr.

Wie Hannah gesagt hatte, fand einlanger Prozess statt und dann einebenso langes Berufungsverfahren.Schließlich wurde Hannahs Vaterdes Totschlags für schuldig

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befunden und zu einerGefängnisstrafe von bis zu zehnJahren verurteilt. Die Anwältewaren der Meinung, dass eswahrscheinlich auf "nur" zwei oderdrei Jahre hinauslaufen würde.

Die Nachricht, dass der Direktoreiner High School zu zehn JahrenGefängnis verurteilt worden war,weil er einen Einbrecher * Anmerkung des Übersetzers: Die

American Civil Liberties Union(ACLU) ist eine US-amerikanischenichtstaatliche Organisation, die1920 gegründet wurde. Sie setztsich für Bürgerrechte und Anliegen

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des Liberalismus ein. Eine ähnlicheOrganisation in Deutschland ist dieHumanistische Union.

** Anmerkung des Übersetzers:

Die National Rifle Association(NRA) ist eine US-amerikanischenichtstaatliche Organisation, dieden Waffensport fördert und fürdas Recht auf Waffenbesitz eintritt.Die NRA bezeichnet sich selbst als"die ältesteBürgerrechtsorganisation der USA".Nach eigenen Angaben sind 4,2Millionen Personen und 10.700Vereine Mitglieder der NRA.

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auf dem Rasen vor seinem Hauserschossen hatte, erregte dieGemüter. Von allen Seiten hageltees Protest: Das Urteil seiverfassungswidrig. Es sei gegen dengesunden Menschenverstand unddas Rechtsempfinden. DerVerurteilte hätte Selbstjustiz verübtund das Recht verletzt. Er sei einamerikanischer Held und hätteseine Familie beschützt. Er sei eingewalttätiger Irrer. Er sei einMärtyrer für ein hehres Ziel, fürviele hehre Ziele.

Inmitten all dieser Aufregungstudierte Hannah an der Universitätund schrieb, kaum vorstellbar,

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Einsen, und bewarb sich anmedizinischen Hochschulen -Aktivitäten, auf denen ihrbedrängter Vater dogmatischbestand.

"Er wollte es einfach nichtzulassen, dass mein Leben durch alldie 'Dummheit' ruiniert würde. Sohat er es gesagt."

Und Hannah wurde von fast jedermedizinischen Hochschuleangenommen, bei der sie sichbeworben hatte, trotz desDilemmas, in dem ihr Vater steckte.Sie sagte zu mir: "Wenn überhaupt,hat mir die ganze Geschichte wohlgeholfen, angenommen zu werden.

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Sein Fall war ein Grund dafür."Als sie ihre Erzählung beendet

hatte, nahm Hannah aus ihrerkleinen Lederhandtasche einPapiertaschentuch und begann, ihreWangen und die Flecken auf ihrerBluse abzutupfen - obwohl sich gutsichtbar auf dem kleinen Tisch zuihrer Linken eine volle Schachtelmit Papiertüchern befand.

"Sie sehen also, ich brauche nichtwirklich eine 'Therapie'. Aber ichwürde wirklich gerne mitjemandem reden. Ich will aufkeinen Fall so deprimiert sein,wenn ich mit dem Medizinstudiumanfange. Ich weiß nicht - meinen

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Sie, dass wir uns einige Male treffenkönnten?"

Hannah hatte mich gerührt mitihrer Geschichte und ihremVerhalten. Ich empfand großesMitgefühl für sie, und das sagte ichihr auch. Im Stillen fragte ich mich,wie viel Hilfe sie wohl tatsächlichwürde annehmen können, von mir,der psychologischenTraumatherapeutin, die sieangerufen hatte, weil sie meinenNamen in einem Zeitungsartikelgelesen hatte. Wir vereinbarten,dass wir uns für eine Weile einmalwöchentlich treffen würden, so dassHannah mit jemandem reden

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konnte. Die medizinischeHochschule, für die sie sich letztlichentschieden hatte, war in Boston,und auf das Drängen ihrer Mutterhin war sie unmittelbar nach ihremAbschluss am College in den Ostengezogen, damit sie sich einlebenkonnte, bevor die Vorlesungenbegannen, weit weg von demWahnsinn zu Hause. Ihre Muttermeinte, die Angelegenheit mitihrem Mann sei "negativ" für ihreTochter. Ich hatte selten eine solcheUntertreibung gehört undversicherte Hannah, dass esvollkommen in Ordnung sei, wennwir uns hin und wieder treffen

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würden.Nachdem sie gegangen war, ging

ich eine Weile in meinem Büro aufund ab und sah aus dem Fensterhinaus über die "Back Bay" vonBoston, ging hinüber zumSchreibtisch und schob einigePapiere auf dem breiten,unaufgeräumten Schreibtisch hinund her, um dann wieder an dasFenster zu treten, wie ich es häufigzu tun pflege nach einer Sitzung, inder mir jemand vieles erzählt hat,aber nicht annähernd die ganzeGeschichte. Als ich so auf- undabging, interessierten mich wenigerdie juristischen und politischen

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Fragen des Wer, Was, Wann undWo als vielmehr die ewige Frage derPsychologie nach dem Warum.

Hannah hatte nicht nach demWarum gefragt - "Warum hat meinVater geschossen? Warum hat erden Mann nicht einfach laufenlassen?" Ich überlegte, dass sie esvielleicht emotional nicht fertigbringen konnte, nach dem Warumzu fragen, da die Antwort zubelastend hätte sein können. Diegesamte Beziehung zu ihrem Vaterstand auf dem Spiel. Und vielleichtwar dies der Grund, warum siemich brauchte - um ihr bei derNavigation durch die möglichen

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Antworten auf diese bedrohlicheFrage zu helfen. Vielleicht war ihrVater im Affekt des Momentsgefangen gewesen, hatte fastversehentlich den Schussabgefeuert und den Eindringlingtödlich in den Kopf getroffen,"durch puren Zufall", wie es derAnwalt ausgedrückt hatte. Odervielleicht hatte ihr Vater tatsächlichgeglaubt, dass seine Familie inGefahr sei, und seinBeschützerinstinkt war mit ihmdurchgegangen. Oder vielleicht warHannahs Vater, derFamilienmensch, dieser normale,bürgerliche Schuldirektor, ein

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Killer.In den folgenden Sitzungen, im

Sommer und später im Herbst, alsHannah ihr Medizinstudiumaufnahm, erzählte sie mir mehrüber ihren Vater. Bei meiner Arbeithöre ich oft von Verhaltensweisenund Ereignissen, an die sich derPatient selbst im Laufe seinesLebens gewöhnt hat, die mir aberentschieden abnorm und manchmalalarmierend erscheinen. Diese Artvon Schilderung bekam ich bald vonHannah zu hören. Als sie ihrenVater beschrieb - wenn sie auchoffenkundig glaubte, von gänzlichunspektakulären Begebenheiten zu

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erzählen -, gewann ich das Bildeines gefühlskalten Menschen,dessen niederträchtiges undherrschsüchtiges Verhalten michschaudern ließ. Ich verstand immerbesser, warum meine intelligentejunge Patientin wie in einem Nebelverloren war, wenn es darum ging,ihren Vater als das zu sehen, was erwar.

Ich erfuhr, dass seine hübscheFrau und seine Tochter, dieexzellente Schülerin, für HannahsVater eher Trophäen waren alsmenschliche Wesen, und dass er sievöllig ignorierte, wenn sie krankwaren oder andere Probleme

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hatten. Aber liebevoll legte Hannahdie herzlose Behandlung durchihren Vater anders aus.

"Er ist sehr stolz auf mich",erzählte sie, "oder zumindest habeich das immer geglaubt - unddeswegen erträgt er es nicht, wennich Fehler mache. Als ich in dervierten Klasse war, hat ein Lehrereinmal eine Notiz an meine Elterngeschickt, dass ich meineHausaufgaben nicht machen würde.Danach hat Papa zwei Wochen langnicht mit mir gesprochen. Ich weiß,dass es zwei Wochen waren, weilich diesen kleinen Kalender hatte -ich habe ihn immer noch irgendwo

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-, auf dem ich die Tagedurchgestrichen habe, einen nachdem anderen. Es war, als würde ichplötzlich nicht mehr existieren. Eswar furchtbar. Oh, ich weiß nochein gutes Beispiel, noch nicht solange her: Ich war schon an derHigh School - seiner High School,wissen Sie? -, als ich diesenriesigen, hässlichen Fleck aufmeiner Wange bekam." Sie zeigteauf eine makellos glatte Stelle inihrem hübschen Gesicht. "Er hatdrei Tage lang kein Wort mit mirgesprochen, mich nicht malangesehen. Er ist soperfektionistisch. Ich glaube, er will

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mit mir angeben, und wenn etwasnicht in Ordnung ist, kann er dasnicht. Manchmal mache ich mirdeswegen Vorwürfe, aber ichglaube, ich kann ihn verstehen,mehr oder weniger."

Hannah beschrieb einen Zeitraumin ihrer Kindheit, als ihre Mutterschwer krank und fast drei Wochenim Krankenhaus gewesen war.Hannah glaubte, dass ihre Muttersich eine Lungenentzündungzugezogen hatte, aber sie sagte: "Ichwar zu klein, ich kann mich kaumdaran erinnern". Hannahs Tantehatte sie in dieser Zeit gelegentlichmitgenommen, um ihre Mutter zu

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besuchen. Aber ihr Vater hatteseine Frau kein einziges Malbesucht, als sie im Krankenhauslag, und als sie wieder nach Hausekam, war er verärgert undaufgebracht - er befürchtete, wieHannah es ausdrückte, dass seineblasse und geschwächte Frau "nichtwieder so schön werden würde, wiesie es früher gewesen war".

Über Hannahs hübsche Mutter"gibt es nicht viel zu erzählen",erzählte sie mir. "Sie ist lieb undsanft. Sie hat sich immer liebevollum mich gekümmert, vor allem, alsich noch klein war. Sie mag gern imGarten arbeiten und engagiert sich

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für wohltätige Zwecke und so. Sieist wirklich eine wunderbare Dame.Oh, und sie war 'homecomingqueen'* ihrer High School. Papaerzählt das gerne.

* Anmerkung des Übersetzers:

"Homecoming" ist ein jährlichwiederkehrendes traditionellesFest, das von vielen US-amerikanischen High Schools,Fachhochschulen undUniversitäten begangen wird, meistim späten September oder imOktober. Dabei werden ehemaligeSchüler und Studenten festlichempfangen, meist im Rahmen einer

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zentralen Veranstaltung, zumBeispiel einem Bankett oderFootball-Spiel.

Traditionell werden Ehemalige,die sich besondere Verdienste umdie Schule erworben haben, vonihren Klassenkameraden zur Wahlfür den "Homecoming Court"vorgeschlagen. Nachdem dieKandidaten aufgestellt worden sind,werden der "Homecoming King"und die "Homecoming Queen" vonder gesamten Schülerschaft durchgeheime Abstimmung gewählt.

Als ich Hannah eindringlich nach

der Reaktion ihrer Mutter auf das

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gleichgültige Verhalten ihres Vatersfragte, antwortete sie: "Ich weißnicht. Also, um ehrlich zu sein, esgab Vorfälle, die mich an MamasStelle wirklich wütend gemachthätten; aber sie hat sich nie beklagt.Sie geht einfach so ihre eigenenWege. Wie gesagt, sie ist eine liebe,sanfte Dame - das würde Ihnenwohl jeder sagen, der sie kennt -und ich glaube, dass ihr sanftesWesen es mit sich bringt, dass siesich nie wirklich durchgesetzt hat.Jedenfalls geht sie jederKonfrontation mit Papa aus demWeg. Ich glaube, ich würde totumfallen, wenn sie jemals mit ihm

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streiten würde. Sie ist die perfekteDame. Ihre einzige kleineSchwäche, wenn man dasüberhaupt so nennen will, ist ihreEitelkeit. Sie ist wunderschön, undich glaube, sie weiß das, und sieverbringt viel Zeit damit, ihr Haarund ihren Körper zu pflegen und so.Ich glaube, das sieht sie als ihreeinzige Stärke auf der Welt an,wenn Sie verstehen, was ichmeine."

Hannah sah mich fragend an, undich nickte, um zu zeigen, dass ichverstand, was sie meinte.

"Und das muss man ihm lassen -was das angeht, ist Papa sehr nett

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zu ihr. Er schickt ihr Blumen, wenner nicht da ist, und immer sagt erihr, wie schön sie ist. Ich glaube, soetwas bedeutet ihr sehr viel."

"Er schickt ihr Blumen, wenn ernicht da ist?", fragte ich sie. "Wo ister dann?"

Als ich diese Frage stellte - "Wo ister dann?" -, wurde HannahsHaltung etwas unsicher. Sierutschte auf ihrem Stuhl hin undher und sagte eine Weile gar nichts.Schließlich antwortete sie: "Ichweiß es eigentlich nicht. Ich weiß,dass das wohl ein bisschen dürftigklingt, aber ich weiß es nicht.Manchmal ist er sehr spät nachts

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nach Hause gekommen, odermanchmal war er sogar das ganzeWochenende weg. Mama hat erBlumen geschickt - also wirklich, eswar eine Sache zwischen denbeiden. Es war sehr seltsam, alsohabe ich versucht, es nicht zubeachten."

"Seine Abwesenheiten warenseltsam?"

"Ja, also ... so habe ich dasjedenfalls empfunden. Ich weißnicht, was Mama darüber denkt."

"Haben Sie eine Idee, wo er beisolchen Gelegenheiten gewesensein könnte?", insistierte ich,vielleicht etwas zu hartnäckig; aber

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es schien ein wichtiger Punkt zusein.

"Nein. Ich habe immer versucht,es zu ignorieren", wiederholte sie.Dann begann sie erneut, meineBücherregale zu studieren.

In der darauffolgenden Wochestellte ich Hannah die naheliegendeFrage, ob ihr Vater ihr oder ihrerMutter gegenüber jemals körperlichgewalttätig gewesen sei. Hatte er siejemals geschlagen?

Ihre Miene hellte sich auf und sieantwortete eifrig: "Nein, nein. Sowas hat er nie gemacht. Ich kannmir das überhaupt nicht vorstellen.Also, wenn irgendjemand mir oder

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Mama wehtun würde, ich glaube, erwürde ihn umbringen."

Ich wartete einen Moment, um ihrdie Tragweite ihrer Aussage klarwerden zu lassen, aber sie bliebungerührt. Sie änderte wieder ihreKörperhaltung und bekräftigte ihreAntwort: "Nein. Er hat uns niegeschlagen. Nichts dergleichen istjemals passiert."

Sie war unerklärlich erleichtert,mir so zu antworten, und irgendwiewollte ich ihr glauben, dass ihrVater im Kreis seiner Familie niegewalttätig gewesen war. Abernachdem ich fünfundzwanzig Jahrelang Traumapatienten behandelt

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habe, weiß ich, dass körperlicheGewalt tatsächlich eine dererträglicheren Arten ist, einenMenschen zu missbrauchen.

Ich versuchte es mit einer anderenTaktik. Ich sagte: "Ich weiß, dass SieIhren Vater lieben, und gerade jetztmüssen Sie diese Liebe festhalten.Aber alle Beziehungen haben ihreProbleme. Gibt es nichts, was Sie anihm ändern würden, wenn Siekönnten?"

"Ja, das stimmt vollkommen. Ichmuss ihn halten. Und er verdientwirklich die größte Anteilnahmevon allen Leuten, gerade jetzt...".

Sie machte eine Pause, drehte sich

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und blickte in Richtung derDoppeltür meines Büros hintersich. Dann drehte sie sich wiederum und sah mich lange an, als obsie meine Beweggründe einschätzenwollte, und sagte schließlich: "Aberda Sie wissen wollen, was ichändern würde - es gibt datatsächlich eine Sache."

Sie lachte kurz und freudlos aufund errötete bis an die Wurzelnihres glänzenden schwarzenHaares.

"Und zwar?", fragte ich so sachlichwie möglich.

"Also, es ist ziemlich albern,wirklich. Es ist, also ... manchmal

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flirtet er mit meinen Freundinnen,auf eine gewisse Art, und das störtmich sehr. Also wirklich, jetzt, woich es laut ausspreche, klingt esnoch lächerlicher. Ich sollte michwohl nicht so sehr daran stören.Aber ich kann nicht anders."

"Er flirtet mit Ihren Freundinnen?Wie meinen Sie das?"

"Ungefähr seit der siebten Klasse... Einige meiner Freundinnen sindwirklich hinreißend, wissen Sie?Besonders eine, sie heißt Georgia ...Na ja, jedenfalls flirtet er mit ihnen.Er zwinkert ihnen zu, packt sie undkitzelt sie. Und manchmal macht erBemerkungen, die ich ziemlich

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gewagt finde - also zum Beispiel:'Na, Georgia, heute ohne BHunterwegs?' oder so was - abervielleicht lege ich das auch falschaus. Oh Mann, jetzt, wo ich darüberrede, klingt es wirklich bescheuert,finden Sie nicht auch? Ich solltemich wirklich überhaupt nichtdavon stören lassen."

Ich antwortete: "Wenn ich anIhrer Stelle wäre, würde es michsehr stören, glaube ich."

"Wirklich?" Einen Moment langrichtete sie sich ermutigt auf, sacktedann aber wieder zusammen."Wissen Sie, an der High School, dieer leitet - die High School, die ich

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besucht habe -, haben einige Elterntatsächlich behauptet, dass seinVerhalten ihren Kindern gegenüber'unpassend' sei. Es gab drei Vorfälledieser Art, glaube ich; zumindesthabe ich dreimal davon gehört. Icherinnere mich, dass die Elterneinmal wirklich aufgebracht waren.Sie nahmen ihre Tochter von derSchule. Danach unterstützten ihnalle. Sie meinten, dass es wirklichtraurig sei, dass heutzutage ein soherzensguter, freundlicher Manneiner solchen Perversitätbeschuldigt werden könne, nur weiler eine Schülerin umarmt habe oderso."

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"Und was meinen Sie?""Ich weiß nicht. Wahrscheinlich

werde ich dafür, dass ich das sage,in der Hölle schmoren oder so, aberich weiß es wirklich nicht -wahrscheinlich, weil ich so viel vonseinem Verhalten mitbekommenhabe, das man sehr leicht falschauslegen könnte, wissen Sie? Ichmeine, wenn Sie der Schuldirektorsind, sich an eine bildhübscheSechzehnjährige von hintenheranmachen und sie an denHüften packen, können Sie wohlerwarten, dass die Eltern ziemlichsauer werden, wenn sie davonerfahren. Ich weiß nicht, warum er

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das nicht begreift."Dieses Mal versuchte Hannah

nicht, eine Bestätigung ihrerMeinung von mir zu hören. Siestarrte wieder die Bücherregale anund schwieg.

Schließlich sprudelte es in einemkurzen, gehetzten Wortschwall ausihr hervor: "Und wissen Sie nochetwas? Ich habe das noch niejemandem erzählt, und ich hoffe,dass Sie nicht schlecht von mirdenken, weil ich es Ihnen sage; abereinmal kam dieses Mädchen, dasich kenne - nicht sehr gut, aber siewar auch an der Schule - in derBücherei zu mir, setzte sich neben

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mich und fing an, etwas zuschreiben. Sie lächelte und schrieb:'Weißt du, was dein Vater mir überCentral High gesagt hat?' und schobmir den Zettel zu. Ich schrieb,'Keine Ahnung. Was denn?', unddaraufhin schrieb sie: 'Er hat zu mirgesagt, dass Central High wie einSex-Büfett* ist.' Sex-Büfett hatte siein große Anführungszeichengesetzt. Ich war so wütend, dass ichbeinahe geheult hätte. Ich liefhinaus, und dann wusste ich nicht,was ich mit dem Zettel machensollte; also habe ich ihnzusammengeknüllt und in dieTasche gesteckt, und als ich nach

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Hause gekommen bin, habe ichStreichhölzer geholt und ihn in derSpüle verbrannt."

Der Wortschwall war vorüber, undsie blickte hinunter auf denrostfarbenen Teppich.

"Das tut mir so Leid, Hannah. Siehaben so etwas wirklich nichtverdient. Es muss sehr peinlich fürSie gewesen sein undherzzerreißend. Aber warum habenSie befürchtet, ich würde schlechtvon Ihnen denken, wenn Sie mirdas erzählen?"

Mit einer Stimme, die viel jüngerklang als ihre 22 Jahre, antwortetesie: "Ich hätte es geheim halten

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sollen. Es ist illoyal."Hannah und ich setzten unsere

gemeinsamen Sitzungen fort. AmAnfang von vielen unserer Treffenerzählte sie mir von merkwürdigentelefonischen Nachrichten, die ihreMutter zu Hause erhielt.

"Nach der Nacht des Einbruchskonnten wir eigentlich keine Anrufemehr beantworten. Es riefen soviele sogenannte Reporter an undso viele Verrückte. Inzwischen lässtMama einfach den * Anmerkung des Übersetzers: In

der englischen Ausgabe wird derAusdruck "sexual Cafeteria"

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verwendet. Eine "Cafeteria" ist imamerikanischen Sprachgebrauchein Restaurant oder eineImbissstube mit Selbstbedienung.

Anrufbeantworter laufen, und

wenn jemand anruft, mit dem siesprechen will, nimmt sie den Hörerab. Es ist wohl in Ordnung so; dieNachrichten von den Verrücktenlöscht sie einfach. Aber seit kurzemerhält sie diese seltsamenNachrichten über Drogen oder so.Sie regt sich furchtbar darüber auf.Sie sind völlig irre - ich meine, nochirrer als die der anderenVerrückten."

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"Hat sie Ihnen vom Inhalt dieserNachrichten erzählt?", fragte ich.

"Ja, schon. Sie regt sich so auf; esist ein bisschen schwierig, sicheinen Reim drauf zu machen, wassie am Telefon erzählen, aberhauptsächlich geht es wohl darum,dass sie Papa beschuldigen, Drogengestohlen zu haben oder so.Lächerliches Zeug - aber es gehtMama wirklich an die Nieren. Siehat gesagt, dass sie irgendwelche'Informationen' aus unserem Hausgefordert hätten, sonst würden sieihm wehtun. Ich glaube, sie habenimmer wieder von 'Informationen'geredet und dass sie ihm wehtun

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würden. Aber es ist nichts im Haus,und, also, Papa ist ja nicht da. Er istim Gefängnis."

"Hat Ihre Mutter der Polizei vondiesen Nachrichten erzählt?"

"Nein. Sie befürchtet, dass siePapa damit in Schwierigkeitenbringen könnte."

Für einen Moment fiel mir keinepassende Antwort auf diese letzteBemerkung ein, und als ich stillwar, ergänzte Hannah sich undsagte: "Ich weiß, ich weiß. Es istunlogisch."

Während Hannahs erstem Jahr ander medizinischen Hochschulehatte ihre Mutter vielleicht ein

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Dutzend dieser unverständlichenund beängstigenden Nachrichtenerhalten, und immer noch hattenweder die Mutter noch die Tochterder Polizei davon berichtet.

Im Mai beschloss Hannah,hinüberzufliegen und ihreninhaftierten Vater zu besuchen. Wirsprachen darüber, wie emotionalschmerzlich ein solcher Besuch fürsie sein würde, aber sie war dazuentschlossen. Wir führten mehrereGespräche über ihre bevorstehendeReise, um sie vorzubereiten aufunterschiedliche Situationen, denensie ausgesetzt sein könnte, und aufdie Gefühle, mit denen sie würde

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fertig werden müssen, wenn sieihren Vater im Gefängnis besuchte.Aber nichts hätte Hannah odermich auf das vorbereiten können,was dann tatsächlich passiert ist.Rückblickend betrachtet meine ich,dass er ein Stadium erreicht hatte,in dem er ein Publikum für seineGerissenheit suchte, eineGemütsverfassung ähnlich der vonSkip, als er seine kleine Schwesteran das Seeufer lockte. Mir fällt keinanderer plausibler Grund dafür ein,warum Hannahs Vater seinerTochter gegenüber plötzlich somitteilsam hätte sein sollen. WasHannah betrifft - sie hatte mir nicht

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mitgeteilt, dass sie die Absichthatte, ihren Vater zur Rede zustellen. Vielleicht war sie sichvorher selbst nicht darüber klar.Aus meiner Sicht ist ihr Verhaltenbei ihrem Besuch im Gefängniseines der besten Beispiele dafür,wie viel ein Mensch über einenanderen Menschen wissen kann,ohne sich dessen bewusst zu sein,das ich jemals erlebt habe.

Als sie nach Boston zurückgekehrtwar, erzählte sie mir Folgendes vonihrem Gespräch. Ich vermute, dassnoch mehr besprochen wurde; aberdies ist alles, was Hannah mirdavon erzählt hat. Sie begann unter

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Tränen und beschrieb dieabstoßende und entwürdigendeProzedur, der man sich unterziehenmuss, wenn man einen Häftling imGefängnis besuchen will. Dannhörte sie auf zu weinen underzählte den Rest in völliger Ruhe,mit einem gewissen rationalenAbstand.

Sie sagte: "Ich hatte befürchtet,dass er jämmerlich undniedergeschlagen aussehen würde;aber so war es überhaupt nicht. Ersah gut aus. Er sah ... ich weiß nicht- lebendig aus, ja, das ist dasrichtige Wort. Seine Augenfunkelten. Ich habe ihn früher

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schon so gesehen, aber ich habewirklich nicht erwartet, dass er imGefängnis so sein würde. Er schiensich über meinen Besuch zu freuen,er hat nach meinen Zensurengefragt. Ich hatte erwartet, dass erauch nach Mama fragen würde,aber das tat er nicht. Also habe ichmir gedacht: Warum soll ich esaufschieben? Und so habe ich ihngefragt."

Sie erzählte das, als ob ich wüsste,was sie meinte, aber ich hatte keineAhnung. Ich sagte: "Was haben Sieihn gefragt?"

"Ich habe ihn gefragt: 'Was hat derMann im Haus gesucht, Papa?' Er

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sagte: 'Welcher Mann?' Aber ich binsicher, dass er wusste, wen ichmeinte. Er schien nicht verlegenoder peinlich berührt zu sein oderso. Ich sagte: 'Der Mann, den duerschossen hast.' Er hat nichteinmal mit der Wimper gezuckt. Ersagte nur: 'Ach so, der Mann. Er hatein paar Namen gesucht. Aber erhat sie nicht gefunden, das kann ichdir garantieren.' "

Hannah hatte geredet, ohne michanzusehen. Jetzt suchte sieBlickkontakt zu mir und sagte: "Dr.Stout, sein Gesichtsausdruck ... Ersah aus, als ob wir über etwasredeten, was ihm S p a ß machen

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würde. Am liebsten wäre ichweggelaufen, aber ich bingeblieben."

"Ich wusste nicht, dass Sie ihn dasfragen wollten. Sie sind großartig."

"Es war furchtbar", fuhr sie fort,anscheinend, ohne gehört zu haben,dass ich ihr Verhalten bewunderte."Ich sagte: 'Also kanntest du ihn?'Und er sagte: 'Natürlich kannte ichihn. Warum sollte ich einen völligUnbekannten umbringen?' Unddann hat er gelacht. Er hat gelacht,Dr. Stout."

Sie sprach mich immer nochdirekt an, wenn auch mitbeträchtlicher emotionaler Distanz

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zum Thema, und fuhr fort: "Unddann sagte ich: 'Hast du etwas mitHeroin zu tun?' Darauf hat er nichtdirekt geantwortet. Er hat mir nurgesagt, ich sei clever. Ist das zufassen? Er hat zu mir gesagt, ich seiclever."

Sie schüttelte ungläubig den Kopfund schwieg eine Weile.

Schließlich half ich ihr weiter undfragte: "Haben Sie ihm noch andereFragen gestellt, Hannah?"

"Ja. Ja, das habe ich. Ich habegesagt: 'Hast du jemals jemandenanders umgebracht?' Und wissenSie, was er geantwortet hat?" Dannwar sie wieder still.

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Nach einer Weile antwortete ich:"Nein, das weiß ich nicht. Was hater gesagt?"

"Er hat gesagt: 'Ich nehme denfünften Verfassungszusatz* inAnspruch.'"

Erst dann begann Hannah wiederzu weinen, dieses Mal völligungehemmt. Ihre plötzliche,herzzerreißende Trauer um denVater, den zu haben sie geglaubthatte, erinnerte mich an ein Zitatvon Emerson**, nach dem von allenArten, einen Menschen zuverlieren, der Tod die freundlichsteist.

Sie weinte lange. Nachdem ihre

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Tränen aber schließlich versiegtwaren, stellte ich erleichtert fest,dass sie in der Lage war, an ihreeigene Sicherheit zu denken. Sietrocknete ihr Gesicht mit einerHandvoll Papiertüchern aus derSchachtel neben ihr, sah mich anund sagte mit fester Stimme: "DieAnwälte werden ihn rausholen,wissen Sie. Aber was soll ich dennnun machen?"

Und ich hörte mich selbstantworten, resolut und mit sehr vielmehr mütterlicherEntschlossenheit, als ichgewöhnlich in Therapiesitzungenan den Tag lege: "Sie werden sich

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selbst schützen, Hannah." * Anmerkung des Übersetzers: Der

fünfte Verfassungszusatz ("FifthAmendment") der USA bestimmtunter anderem, dass einAngeklagter sich nicht selbstbelasten muss.

** Anmerkung des Übersetzers:

Ralph Waldo Emerson, 1803 -1882,US-amerikanischer Schriftsteller.

Was kann der Gewissenhafte

gegen den Skrupellosenunternehmen?

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Soziopathen sind keineswegsdünn gesät. Im Gegenteil, siestellen einen beachtlichen Anteilder Bevölkerung. Wenn auchHannahs Erlebnis besondersbewegend und persönlich war, ist esnahezu unmöglich, dass ein in derwestlichen Welt lebender Menschauf seinem Lebensweg nichtmindestens einer solchen Personbegegnet, auf die eine oder andereArt.

Menschen ohne ein Gewissenerleben Gefühle sehr viel anders alsSie oder ich, und Liebe können sieüberhaupt nicht fühlen - oder einebeliebige andere positive Bindung

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zu ihren Mitmenschen. DiesesDefizit, das nur schwer zuverstehen ist, reduziert das Lebenauf ein endloses Spiel versuchterDominanz über andere Menschen.Manche Soziopathen sind physischgewalttätig, wie Hannahs Vater.Viele sind es jedoch nicht undziehen es vor, gegen andere zu"gewinnen", indem sie ihreRaubzüge im Geschäftsleben, alsFreiberufler oder in der Politikausüben - oder einfach, indem sieeinen Menschen nach dem anderenin parasitären Beziehungenausnutzen, wie Sydneys Nicht-Ehemann Luke.

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Zum jetzigen Zeitpunkt istSoziopathie "unheilbar"; überdieshaben Soziopathen fast nie dasBedürfnis, "geheilt" zu werden. Inder Tat erscheint es alswahrscheinlich, dass bestimmteKulturkreise, gerade unserwestlicher, antisozialeVerhaltensweisen aktiv fördern,darunter Gewalt, Mord undKriegstreiberei.

Diese Fakten sind für die meistenMenschen nur schwer zuakzeptieren. Sie sind anstößig,diskriminierend und beängstigend.Aber sie als einen realen Aspektunserer Welt zu begreifen und zu

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akzeptieren ist die erste der"Dreizehn Regeln für den Umgangmit Soziopathen im Alltag", die ichPatienten wie Hannah und anderenMenschen, die sich und ihre Liebenschützen wollen, mit auf den Weggebe.

Hier sind die dreizehn Regeln: DREIZEHN REGELN FÜR DEN

UMGANG MIT SOZIOPATHEN IMALLTAG 1 . Die erste Regel lautet, dass

man es akzeptieren muss, dasseinige Menschen buchstäblich keinGewissen haben.

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Diese Menschen sehen nur seltenaus wie Charles Manson oder einMarsmensch. Sie sehen aus wie wir.

2 . Im Konflikt zwischen

Ihrem Instinkt und dem Ansehen,das die vermeintliche Rolle -Lehrer, Arzt, Führungsperson,Tierfreund, Humanist, Vater oderMutter - einer Person impliziert,vertrauen Sie Ihrem Instinkt.

Ob Sie es nun wollen oder nicht -Sie sind ein ständiger Beobachtermenschlichen Verhaltens, und Ihreungefilterten Eindrücke, mögen sieauch alarmierend und vermeintlichabwegig erscheinen, könnten Ihnen

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weiterhelfen, sofern Sie daszulassen. Ihr inneres Ich begreift,ohne dass es ihm gesagt wird, dassbeeindruckende und ehrbarklingende Etiketten keineswegseinem Menschen ein Gewissenverleihen, der von Anfang an keineshatte.

3 . Wenn Sie eine neue, wie

auch immer geartete Beziehungerwägen, beachten Sie den Dreisatzder Lüge hinsichtlich derBehauptungen und Versprechungeneiner Person und derVerpflichtungen, die sie hat.Machen Sie den Dreisatz der Lüge

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zu ihrer persönlichen Leitlinie.Eine Lüge, ein gebrochenes

Versprechen oder eine einmalvernachlässigte Verpflichtungkönnte durchaus einMissverständnis sein. Zwei könntendie Folge eines schwerwiegendenFehlers sein. Aber d r e i Lügenbedeuten, dass Sie es mit einemLügner zu tun haben, undVerlogenheit ist die Quintessenzgewissenlosen Verhaltens.Begrenzen Sie den Schaden undsuchen Sie das Weite, so schnell Siekönnen. Sofort zu gehen - wenn esauch schwer fallen mag - isteinfacher, als es später sein wird,

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und weniger kostspielig.Ihr Geld, ihre Arbeit, ihre

Geheimnisse, ihre Zuneigungsollten Sie nicht einem Dreifach-Lügner anvertrauen. Ihre kostbarenZuwendungen wären verschwendet.

4 . Stellen Sie Autorität

infrage.Abermals - trauen Sie ihrem

Instinkt und Ihren Bedenken, vorallem, wenn Sie es mit einemMenschen zu tun haben, derbehauptet, dass Unterdrückung,Gewalt, Krieg oder eine beliebigeandere Missachtung IhresGewissens die Patentlösung für ein

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bestimmtes Problem sei. VerhaltenSie sich auch dann, oder geradedann, so, wenn alle anderen um Sieherum vollständig aufgehört haben,Autorität infrage zu stellen. RufenSie sich in Erinnerung, was unsStanley Milgram über denGehorsam gelehrt hat: Mindestenssechs von zehn Menschen werdeneiner offiziell wirkendenAutoritätsperson in ihrer Mitteblind und bis zum bitteren Endegehorchen.

Die gute Nachricht ist, dassUnterstützung von anderen dieMenschen dazu ermutigt, Autoritätinfrage zu stellen.5 2 Bestärken Sie

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Ihre Mitmenschen darin, so wie Sieselbst Autoritäten mit Skepsis zubegegnen.

5 . Fallen Sie nicht auf

Schmeichelei herein.Komplimente sind wunderbar -

besonders, wenn sie ehrlichgemeint sind. Im Gegensatz dazu istSchmeichelei übertrieben und intrügerischer Weise an unser Egogerichtet. Sie ist das Rohmaterialgefälschten Charmes und deutetfast immer auf manipulativeAbsichten hin. Manipulation durchSchmeichelei ist manchmalharmlos und gelegentlich

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heimtückisch. Setzen Sie sich überIhr geschmeicheltes Ego hinwegund denken Sie daran,Schmeicheleien mit Vorsicht zubegegnen.

Diese Regel über Schmeichelei giltfür Einzelpersonen, aber auch aufder Ebene von Gruppen und sogarganzen Nationen. Durch diegesamte menschliche Geschichtehindurch bis heute ist stets derAufruf zum Krieg durch dieschmeichelhafte Behauptungbegleitet worden, dass die eigenenStreitkräfte einen Sieg erringenwürden, der die Welt zum Besserenändern würde, einen Triumph der

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Moral, gerechtfertigt durch seinhumanistisches Ergebnis,einzigartig in seinerübermenschlichen Anstrengung,rechtschaffen und Anlass zu großerDankbarkeit. Seit den Anfängen derGeschichtsschreibung sind allegroßen Kriege auf diese Weise inSzene gesetzt worden, auf allenSeiten des jeweiligen Konflikts, undin allen Sprachen wurde stets inVerbindung mit dem Wort Kriegdas Adjektiv heilig am häufigstenverwendet. Man könnte sich leichtauf den Standpunkt stellen, dass dieMenschheit Frieden erlangenwürde, wenn die Völker der

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Nationen endlich diesemeisterhafte Schmeicheleidurchschauen würden.

Ebenso wie ein Individuum sich,angespornt durch dieSchmeicheleien einesManipulators, töricht verhaltenkann, ist übertriebenerPatriotismus mit einem Treibsatzaus Schmeichelei eine gefährlicheSache.

6 . Falls erforderlich, überdenken

Sie Ihre Vorstellung von Respekt.Nur allzu oft verwechseln wir

Furcht und Respekt. Und je mehrwir uns vor einem Menschen

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fürchten, desto mehr halten wir ihnfür eine Respektsperson.

Ich habe einen geflecktenBengalkater, den meine damalsnoch sehr kleine Tochter auf denNamen "Muscle Man" getauft hat,da er selbst als kleines Kätzchenschon wie ein Profiringer aussah.Inzwischen ist er erwachsen undsehr viel größer als die meistenanderen Hauskatzen. Seinegewaltigen Krallen ähneln denenseiner wilden asiatischenVorfahren, aber er hat ein sanftesund friedliches Gemüt. Die kleinebuntgefleckte Katze meinerNachbarn besucht ihn gelegentlich.

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Anscheinend hat dieseNachbarkatze einefurchteinflößende, raubtierhafteAusstrahlung und versteht sichhervorragend darauf, andere Katzendurch ihren bösen Blickeinzuschüchtern. Muscle Man, miteinem Lebendgewicht von fünfzehnPfund im Gegensatz zu ihrensieben, krümmt sich und zieht denKopf ein, schlotternd vor Angst undin hündischer Ergebenheit, wannimmer sie im Umkreis von 20Metern auftaucht.

Muscle Man ist ein wunderbarerKater. Er ist warmherzig undliebevoll und liegt mir sehr am

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Herzen. Trotzdem würde ich gerneglauben, dass einige seinerReaktionen primitiver sind alsmeine eigenen. Ich hoffe, dass ichnicht den Fehler mache, Furcht undRespekt zu verwechseln, denndamit würde ich mich selbst zumOpfer machen. Wir sollten unseregroßen Primatengehirne dazuverwenden, unsere animalischeNeigung zu überwinden, sichRaubtieren zu beugen, sodass wirdie reflexhafte Verwechslung vonFurcht und Ehrfurcht entwirrenkönnen. In einer perfekten Weltwürden wir nur auf die Starken,Gütigen und moralisch

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Couragierten instinktiv mitmenschlichem Respekt reagieren.Eine Person, die ihren Nutzendaraus zieht, jemandeneinzuschüchtern, ist schwerlich einsolcher Mensch. Für Gruppen undNationen ist die Entschlossenheit,Respekt und Furcht zuunterscheiden, noch wichtiger. DerPolitiker, sei er nun unbedeutendoder überragend, der das Volkständig durch Warnungen vor derBedrohung durch Verbrechen,Gewalt oder Terrorismusverängstigt und dann seinesolchermaßen geschürte Furchtdazu benutzt, Zustimmung zu

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erlangen, ist wahrscheinlich eherein geschickter Hochstapler als einlegitimer politischer Führer. Dieshat sich ebenfalls im Laufe dermenschlichen Geschichte immerwieder gezeigt.

7 . Lassen Sie sich nicht auf

das Spiel ein.Intriganz ist das Werkzeug des

Soziopathen. Widerstehen Sie derVersuchung, sich mit einemverführerischen Soziopathen zumessen, ihn auszutricksen, ihnpsychologisch zu analysieren oderauch nur mit ihm herumzualbern.Abgesehen davon, dass Sie sich auf

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seine Ebene herabließen, würdenSie sich auch davon ablenken, waswirklich wichtig ist, nämlich sichselbst zu schützen.

8 . Am besten kann man sich

vor einem Soziopathen schützen,indem man ihm aus dem Weggehtund jede Art von Kontakt oderKommunikation ablehnt.

Psychologen pflegen nur ungernzu empfehlen, jeglichen Kontakt zuvermeiden, aber in diesem Fallemache ich mit voller Absicht eineAusnahme. Die einzig wirksameMethode, mit einem Menschenumzugehen, den Sie als

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Soziopathen erkannt haben, ist es,ihn gänzlich aus Ihrem Leben zuverbannen. Ein Soziopath lebt völligaußerhalb des Gesellschaftsvertragsund daher ist es gefährlich, ihn inBeziehungen oder anderegesellschaftliche Arrangementseinzubinden. Fangen Sie in Ihreneigenen Beziehungen und Ihremgesellschaftlichen Leben damit an,ihn zu meiden. Sie werden seineGefühle nicht verletzen. So seltsames auch klingen mag: Soziopathenhaben keine Gefühle, die verletztwerden könnten, auch wenn sieetwas anderes vorzutäuschenversuchen.

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Vielleicht werden Sie IhrerFamilie und Ihren Freunden nichterklären können, warum Sie einebestimmte Person meiden.Soziopathie ist erstaunlichschwierig zu erkennen und nochschwieriger zu erklären. Meiden Siedie Person trotzdem.

Falls eine völlige "Kontaktsperre"unmöglich ist, versuchen Sie,diesem Ziel so nahe wie möglich zukommen.

9. Stellen Sie Ihren Hang infrage,

allzu leicht Mitleid zu empfinden.Respekt sollte den Gütigen und

moralisch Couragierten vorbehalten

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bleiben. Mitleid ist eine weitere,sozial wertvolle Reaktion, und essollte für unschuldige Menschenreserviert sein, die reale Schmerzenzu ertragen oder einfach Pechgehabt haben. Stellen Sie hingegenfest, dass Sie häufig eine Personbemitleiden, die fortgesetzt Sie oderandere Menschen verletzt und diesich aktiv um Ihr Mitgefühlbemüht, ist es fast sicher, dass Siees mit einem Soziopathen zu tunhaben.

In diesem Zusammenhangempfehle ich, dass Sie IhrBedürfnis, immer und unter allenU m s t ä n d e n h ö f l i c h zu sein,

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ernsthaft infrage stellen. Fürnormale Erwachsene in unseremKulturkreis ist es wie ein Reflex, einBenehmen an den Tag zu legen, daswir für "zivilisiert" halten, undhäufig ertappen wir uns dabei,unwillkürlich die Form zu wahren,obwohl uns jemand in Ragegebracht, wiederholt angelogen hatoder in den Rücken gefallen ist.

Scheuen Sie sich nicht, ernsthaft,ruhig und sachlich aufzutreten.

1 0 . Versuchen Sie nicht, die

Unverbesserlichen zu bessern.Eine zweite (dritte, vierte und

fünfte) Chance ist für Menschen,

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die ein Gewissen haben. Haben Siees mit einer Person zu tun, die keinGewissen hat, dann sollten sieversuchen, tief durchzuatmen undIhren Schaden zu begrenzen.

Irgendwann müssen die meistenMenschen die wichtige, wenn auchenttäuschende Lektion des Lebenslernen, dass wir, unseren noch sonoblen Absichten zum Trotz, dasVerhalten - geschweige denn denCharakter - anderer Menschennicht steuern können. AkzeptierenSie diese Tatsache desmenschlichen Lebens undvermeiden Sie es, sichironischerweise in demselben

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Verlangen zu verstricken, das er hat- dem Verlangen, andere zubeherrschen.

Falls Sie nicht nach Dominanzstreben, sondern h e l f e n wollen,dann sollten Sie nur denjenigenhelfen, die auch tatsächlich Hilfewünschen. Ich nehme an, dass Siefeststellen werden, dass ein Menschohne Gewissen nicht dazu zählt.

Das Verhalten des Soziopathen istnicht Ihre Schuld, in keiner Weisewie auch immer. Es ist auch nichtIhr Auftrag. I h r Auftrag ist Ihreigenes Leben.

11 . Lehnen Sie es ab, aus Mitleid

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oder einem beliebigen anderenGrund einem Soziopathen dabei zuhelfen, seinen wahren Charakter zuverheimlichen.

"Bitte erzähl das niemandem" -dieser Appell, oft unter Tränen undenorm zerknirscht hervorgebracht,ist das Markenzeichen von Dieben,Kinderschändern - undSoziopathen. Hören Sie nicht aufdiesen Sirenengesang. AndereMenschen verdienen es sehr vielmehr, gewarnt zu werden, als esSoziopathen verdienen, dass Sieihre Geheimnisse bewahren.

Falls jemand ohne Gewissendarauf besteht, Sie würden ihm

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etwas "schulden", rufen Sie sich insGedächtnis, was Sie jetzt hier lesenwerden: "Du schuldest mir etwas"ist - durchaus wörtlich genommen -seit Jahrtausenden und auch heutenoch die Standardzeile vonSoziopathen. Rasputin hat das zurrussischen Zarin gesagt; HannahsVater hat es impliziert, als sie imGefängnis das aufschlussreicheGespräch mit ihm hatte.

Wir neigen dazu, die Behauptung"du schuldest mir etwas" alsverpflichtend zu empfinden, aber esstimmt einfach nicht. Hören Sienicht darauf. Und außerdemignorieren Sie bitte den Spruch: "Du

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bist genau wie ich". Sie sind esnicht.

12. Schützen Sie Ihre Psyche.Lassen Sie es nicht zu, dass ein

Mensch ohne Gewissen - oder gareine Serie solcher Individuen -Ihnen den Glauben an das Gute imMenschen nimmt. Die meistenMenschen haben ein Gewissen. Diemeisten Menschen können lieben.

13. Ein erfülltes Leben ist die beste

Rache. Nachwort

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Noch immer treffe ich michgelegentlich mit Hannah.

Ihr Vater wurde auf Bewährungaus der Haft entlassen, aber in denletzten sechs Jahren hat sie ihnweder getroffen noch auch nur mitihm gesprochen. Dieser Verlust unddie Gründe dafür bleiben für sieeine Quelle großer Traurigkeit.

Ihre Mutter und ihr Vater sindinzwischen geschieden, nichtaufgrund seiner gewalttätigen,kriminellen Aktivitäten - dieHannahs Mutter und die restlicheGesellschaft nach wie vor nichtwahrhaben wollen - sondern, weilsie ihn mit einer neunzehnjährigen

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ehemaligen Schülerin im Betterwischt hat.

Hannah hat ihr Medizinstudiummit Auszeichnung abgeschlossen,ein Beweis ihrer Intelligenz undStärke. Aber bald erkannte sie dasOffensichtliche - dass es ihresVaters Ehrgeiz gewesen war, der siezur Ärztin werden ließ, und nichtihr eigener Wunsch. Er hatte damitnur sein eigenes Prestige steigernwollen.

Allen Widrigkeiten zum Trotz hatHannah sich - neben ihremtrockenen Humor - die Fähigkeitbewahrt, liebevollen undvertrauenswürdigen Menschen

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nahe zu sein. Als sie der Medizinden Rücken gekehrt hatte, erzähltesie mir zum Beispiel, dass der Eiddes Mediziners, "vor allen Dingenkeinen Schaden zu verursachen",überhaupt nicht auf ihren Vaterpasst.

Sie hat sich an mehrerenjuristischen Hochschulen beworbenund ist angenommen worden. Siehat sich entschieden, ein Institut zubesuchen, das eine Spezialisierungzum Fachanwalt fürMenschenrechte anbietet.

NEUN

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die Ursprünge des gewissens Warum sollte irgendein Tier, auf

sich selbst gestellt und durchallerlei Signale als eigenständigesWesen definiert und beschrieben,sich entscheiden, sein Lebenhinzugeben, um einem anderen zuhelfen?

—Lewis Thomas Da es jenseits eines Zweifels

belegt ist, dass in der Natur dasRecht des Stärkeren gilt53 - warumsind nicht alle Menschen Killer wieHannahs Vater? Warum gehorchtdie Mehrzahl der Menschen

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meistenteils einem siebten Sinn,der ihnen befiehlt, nicht zu töten,obwohl sie von einer solchen Tatauf die eine oder andere Artprofitieren könnten? Und dieseFrage gilt auch für wenigerschwerwiegende Übertretungen:Warum fühlt man sich in der Regelschuldig, wenn man stiehlt, lügtoder andere Menschen verletzt?

Wir haben bereits die Frageerörtert, was Soziopathieverursacht, und so liegt es nahe, diedamit verbundene Frage zu stellen:Was sind die Ursprünge desGewissens? In gewisser Hinsicht istdies eine nicht nur verbundene,

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sondern bessere und tiefgründigereFrage. Seit Charles Darwin 1859sein Werk The Origin of Speeles("Die Entstehung der Arten")veröffentlichte, haben vielfältigewissenschaftliche Theorien sich mitder Vorstellung auseinandergesetzt,dass alle Lebewesen - einschließlichdes Menschen - sich nach demGesetz der natürlichen Ausleseentwickelt haben könnten. Nachdiesem Gesetz, das auchvolkstümlich als das "Gesetz desDschungels" bekannt ist, werdenEigenschaften, die das Überlebenund die Fortpflanzung - und somitdas Fortbestehen - der jeweils

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eigenen genetischen Komponentenbegünstigen, die Tendenz haben, inder jeweiligen Population erhaltenzu bleiben. Wenn ein körperlichesMerkmal oder ein bestimmtesVerhalten den Individuenunzähliger Generationen in vielenLebenslagen und Lebensräumensolchermaßen einen glücklichenÜberlebensvorteil verschafft, dannkann es in kleinen Schritten und imLaufe undenklicher Zeiträume zumBestandteil des allgemeinengenetischen Bauplans derjeweiligen Art werden.

Das Gesetz der natürlichenAuslese hat dazu geführt, dass Tiger

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Krallen haben, Chamäleons ihreFarben wechseln, Ratten offeneRäume meiden, Opossums sich totstellen und Affen große Gehirnehaben, weil Tiger mit Krallen,getarnte Eidechsen, unauffälligeNagetiere, simulierendeBeutelratten und schlaue Primatentendenziell länger überleben undmehr Nachkommen zeugen könnenals ihre Artgenossen. DieseNachkommen wiederum könnenbesser als ihre weniger glücklichenSpielkameraden, die nicht durchihre Gene mit natürlichen Waffen,Tarnungstechniken,überlebensfördernder Ängstlichkeit,

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schauspielerischen Fähigkeitenoder überlegener Intelligenzausgestattet sind, überleben undsich fortpflanzen.

Aber nach diesem völligamoralischen Gesetz desDschungels - welchen möglichenNutzen könnten dieEinschränkungen undInterventionen eines mächtigenMoralempfindens für dieIndividuen einer räuberischen Art -denn der Mensch ist austechnischer Sicht ein Raubtier -haben? Man stelle sich zumBeispiel einen großen weißen Haimit einem anspruchsvollen

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Gewissen vor. Wie lange würde erüberleben? Was könnten alsowomöglich die evolutionärenUrsprünge des menschlichenGewissens sein?

Lassen Sie uns dieseungewöhnliche Frage andersformulieren. Bitte stellen Sie sicheine Gruppe von Menschen aufeiner kleinen, abgelegenen Inselmit begrenzten Ressourcen vor.Welche Art von Individuum hätteauf lange Sicht die besserenÜberlebenschancen - eine ehrliche,moralische Person oder einrücksichtsloser Mensch wie Skip?Die liebenswürdige und

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mitfühlende Jackie Rubensteinoder Doreen Littlefield? Sydneyoder der unbeirrbar mit sich selbstbeschäftigte Luke? Hannah oderHannahs Vater? Falls einige andereMenschen auf der Insel wären, mitdenen die Überlebenden über vieleGenerationen Nachkommen zeugenkönnten - und angenommen, dassSoziopathie zumindest teilweiseerblich bedingt ist -, würden wirnicht schließlich eine Insel haben,die hauptsächlich durch Menschenohne Gewissen bevölkert wäre?Würde nicht dann diesesoziopathische Bevölkerung sichgedankenlos daranmachen, die

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Ressourcen der Insel vollständig zuerschöpfen und anschließendaussterben? Und falls dann dochnoch Menschen mit Gewissen aufder Insel zu finden wären, wo dasÜberleben schwierig wäre undRücksichtslosigkeit sich auszahlenwürde - welche natürlichenEinflüsse könnten womöglich ihrenSinn für Moral gefördert haben?

Gerade wegen dieser für dieEvolutionstheorie anscheinendunmöglichen Herausforderunghaben Naturalisten, Soziobiologen,vergleichende Psychologen undPhilosophen sich seit langem fürdie Ursprünge der Selbstlosigkeit

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bei den Menschen und anderenTieren interessiert. Wann immerwir das Verhalten der sogenanntenhöheren Tiere sorgfältigbeobachten, stellen wir einescheinbar unüberwindlicheZweiteilung zwischeneigennützigem Überlebenswillenund starkemGemeinschaftsinteresse fest. Undnatürlich ist diese Zweiteilungnirgendwo extremer ausgeprägt alsbei der menschlichen Art. Wirkonkurrieren erbittert miteinanderund lehren unsere Kinder, sich demWettbewerb zu stellen. Wirfinanzieren Kriege und

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Massenvernichtungswaffen. Wirfinanzieren aber auch Stiftungen,soziale Wohlfahrtsprogramme undObdachlosenheime und versuchen,unsere Kinder - genau dieselbenKinder - zu lehren, gutherzig zusein.

Unsere Art hat sowohl einenNapoleon als auch eine MutterTeresa hervorgebracht. Allerdingshätte nach der fundamentalenEvolutionstheorie Mutter Teresaniemals geboren werden dürfen, daanscheinend weder Nächstenliebenoch ein Gefühl für Gut und Böseirgendetwas mit dem Gesetz desDschungels zu tun haben. Was geht

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hier also vor? Wie David Papineauin seiner in der New York Timeserschienenen Kritik von MattRidleys Buch The Origins of Virtue("Ursprünge der Tugend") gefragthat: "Wenn die netten Kerle immerdie Letzten waren, als unsereVorfahren die afrikanische Savannenach Nahrung durchkämmten,warum ist Moral für uns heute soselbstverständlich?"

Und Menschen sind keineswegsdie einzigen Tiere, die sich selbstlosverhalten können.Thomsongazellen hüpfen zurWarnung ihrer Artgenossen auf undab, wenn sie ein Raubtier sehen,

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womit sie ihre eigenenÜberlebenschancen schmälern,aber die Fluchtchancen der Herdeverbessern. Schimpansen teilen ihrFleisch und manchmal sogar ihreliebsten Früchte untereinander. DerPsychobiologe Frans de Waal hatberichtet, dass Raben mit lautenRufen die Entdeckung eineskostbaren Kadavers dem Schwarmmitteilen und sich damit der Gefahreines Angriffs durch Wölfeaussetzen.54

Geht es ans Überleben, bestehtoffensichtlich ein gewisserInteressenskonflikt zwischen demIndividuum und der Herde / der

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Gemeinschaft / dem Schwarm.Erklärungen für die Ursprünge dervon Evolutionspsychologen sobezeichneten "altruistischenVerhaltensweisen" beziehen sichzumeist auf die Selektionseinheitder Evolution. Werden nurIndividuen durch die natürlicheSelektion als Überlebende"ausgewählt" oder könnte vielleichtdie Auslese auf der Ebene derGruppe stattfinden und somit dasÜberleben ganzer Populationen voranderen begünstigen?

Falls das "Überleben desTüchtigsten" sich nur auf dasIndividuum als Selektionseinheit

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bezieht, ist es fast unmöglich, dieEntstehung von Selbstlosigkeit zuerklären - aus demselben Grund,aus dem der gnadenlose Skip,Doreen, Luke und Hannahs Vatersehr wahrscheinlich als Individuendie anderen auf der einsamen Inselüberleben würden. Falls jedoch dieSelektionseinheit die Gruppe alsGanzes ist, kann ein gewisses Maßan Altruismus erklärt werden. Es istganz einfach so, dass eine Gruppe,die sich aus Individuenzusammensetzt, die kooperierenund füreinander sorgen, sehr vielwahrscheinlicher als Gruppeüberleben wird, als andererseits ein

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Kollektiv von Individuen, dielediglich miteinander konkurrierenkönnen oder keine gegenseitigeAnteilnahme hegen. Geht es umsÜberleben, wird diejenige Gruppeerfolgreich sein, die in gewissemMaße als Einheit agiert und nichtdie Gruppe, in der jedes einzelneIndividuum ohne Rücksicht auf dieanderen nach dem eigenen Vorteilstrebt.

Gruppenselektion und ihregesamten Implikationen auf unserewahre Natur wird unter denAnhängern der Evolutionstheoriesehr kontrovers diskutiert, waszeigt, dass die Theorie der

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Evolution an sich noch nichtabgeschlossen ist. Frühe Theorienzur Gruppenselektion zogen dieMöglichkeit in Betracht, dass es amAnfang eng verbundene Gruppenaltruistischer Individuen gegebenhaben könnte (Säugetiere, diedurch ihr Verhalten Artgenossenwarnten, Vögel, die ihrem SchwarmNahrung signalisierten, großzügigePrimaten, etc.), die durchGruppenselektion begünstigtwerden konnten. Diese nur dürftigbegründete Annahme -Ansammlungen von Altruisten ausblauem Himmel heraus - irritierteviele Gelehrte, die sie dann als

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unwissenschaftlich verdammthaben.

Im Jahr 1966 veröffentlichteGeorge C. Williams von derUniversität Chicago denmittlerweile klassischen ArtikelAdaptation and NaturalSelection55("Anpassung undnatürliche Auslese"), in dem er dieAuffassung vertrat, dassGruppenselektion theoretischmöglich sei, aber wahrscheinlichnicht in freier Natur vorkommenwürde. Williams vertrat dieMeinung, dass weder die Gruppen o c h das Individuum diefundamentale Selektionseinheit sei,

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sondern das Gen selbst. BeiLebewesen, die sich sexuellfortpflanzen - im Gegensatz zuOrganismen, die Klone erzeugen -,sei das Gen das einzige Element,das sich (mehr oder weniger) genauim Laufe der Zeit selbstreproduziere. Kinder seien keineexakten Kopien ihrer Eltern, aberG e n e s i n d ziemlich genaueNachbildungen ihrer selbst. Unddaher beharrte Williams darauf,dass das Gen das einzige Elementsein müsse, das von der natürlichenAuslese effektiv benutzt werdenkönne. Mit anderen Worten: Das"Überleben des Tüchtigsten" sei das

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Überleben der tüchtigsten Gene(oder vielmehr der in ihnenkodierten Informationen), nichtnotwendigerweise das Überlebender tüchtigsten einzelnen Tiere oderGruppen. Für Williams existiertenIndividuen und Gruppen lediglich,um als temporäre Trägergenetischer Informationen zudienen.

Und zehn Jahre später, 1976,erweiterte Richard Dawkins inseinem noch immer populärenBuch The Selfish Gene56* Williams'genzentrierte Theorie und die durchden Biologen W. D. Hamilton57

eingeführte Idee der

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V e r w a n d t e n s e l e k t i o n , dieparadoxerweise die Entstehungselbstlosen Verhaltens beiIndividuen durch die Einführungvon "Egoismus" auf der Ebene desGens neu erklärt. Dies ist eineetwas seltsam anmutende Idee undbedarf daher der Erklärung.

Verwandtenselektion bedeutet,dass Teile des genetischen Bauplanseines Individuums (der einzigebiologische Aspekt desIndividuums, der sozusagen eineChance auf "Unsterblichkeit" hat)besser bestehen könnten, wenn dasIndividuum nicht nur seine eigenenÜberlebens- und

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Fortpflanzungschancen schützenwürde,

* Anmerkung des Übersetzers:

Dieses Buch ist 1978 in deutscherÜbersetzung unter dem Titel Dasegoistische Gen im Springer-Verlag(Berlin) erschienen.

sondern auch diejenigen anderer

Individuen, die Teile seinergenetischen Konstruktion mit ihmgemein haben. Verhielte es sichseinen Blutsverwandten gegenübergroßzügig und beschützend, würdeihr verbesserter Überlebens- undReproduktionserfolg die Anzahl

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seiner eigenen Gene in künftigenGenerationen erhöhen, da es vieleGene mit seinen Verwandtengemein hätte.

Natürlich soll der Begriff"egoistisches Gen" nicht etwaimplizieren, dass die DNS eindenkendes, fühlendes Ding miteigenen Bedürfnissen sei. Dawkinshat den Ausdruck "egoistischesGen" als Metapher verwendet. Ermeinte damit, dass die Merkmaleeiner Art durch Gene bestimmtwerden, die die Individuen sodenken, fühlen und agieren lassen,dass dadurch der Fortbestandderselben Gene im Genpool

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optimiert wird, unabhängig von denAuswirkungen dieser Gedanken,Gefühle und Verhaltensweisen aufdas Individuum selbst. Wenn zumBeispiel mein Gehirn es mirermöglicht, emotionale Bindungeneinzugehen und ich für meineVettern und Kusinen eine so großeZuneigung empfinde, dass ich meinObst mit ihnen allen teilen würde,mag vielleicht mein individuellesLeben verkürzt werden; aber imDurchschnitt ist dieWahrscheinlichkeit, dass meineGene in der Bevölkerungfortbestehen werden, um einVielfaches gestiegen, da meine

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Vettern und Kusinen einen Teilmeiner Gene mit mir gemeinhaben. Und zu denjenigen Genen,die ich zum Genpool beigesteuerthabe, indem ich die Leben meinerVetter und Kusinen verlängerthabe, könnten sehr wohl die Genezählen, die mich meineemotionalen Bindungen fühlenlassen.

Mit anderen Worten: Die Gene füremotionale Bindungen sind"egoistisch" in dem Sinne, dass sieexistieren, um ihre eigeneVerbreitung zu steigern, und zwarohne Rücksicht auf dasWohlbefinden oder sogar das

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Weiterleben der einzelnen Kreatur.Wie es in dem berühmten Zitat vonSamuel Butler heißt: "Ein Huhn istdie Methode eines Eis, ein anderesEi zu machen."

Da wir mit unseren Eltern,Geschwistern und Kindern dengrößten Anteil unserer genetischenAusstattung teilen, sind vieleEvolutionisten der Meinung, dassVerwandtenselektion der Grunddafür ist, dass wir mit unserenEltern, Geschwistern und Kindernselbstloser umgehen als mitentfernteren Verwandten oderFremden. Zudem erklärtVerwandtenselektion, warum wir

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unsere Kinder ernähren undbeschützen, obwohl wir dadurchunsere eigenen Kräfte schwächenund unsere zum Überlebennotwendigen Ressourcen mindern.Aus dieser Sicht ist das Gewissender genetisch programmierteMechanismus, der sicherstellt, dasswir nicht etwa die kleinen Extra-Pakete unseres genetischenMaterials, die zufällig vor unserenFüßen herumlaufen,vernachlässigen.

Was nun unser genetischkonstruiertes Gefühl einesGewissens gegenüber denerwähnten entfernteren

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Verwandten und Fremden angeht -genzentrische Evolutionistenschlagen vor, dass ihre Version dernatürlichen Auslese Genebevorzugt, die "gegenseitigenAltruismus" zum Ergebnis hätten,oder Verhaltensweisen, derenSumme mehr als Null ergibt, beidenen also alle Beteiligtengewinnen würden ("win-winbehaviors"), wie zum BeispielArbeitsteilung, Streben nachFreundschaft, Kooperation undKonfliktvermeidung. SolcheVerhaltensweisen würden durchGefühle wie Dankbarkeit,Anteilnahme und das Gewissen

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vermittelt werden, und so würdensolche Emotionen bei dernatürlichen Auslese der Gene einenVorteil bedeuten.

Aber in einer Neuauflage der Ideeder Gruppenselektion haben andereEvolutionstheoretiker, darunterDavid Sloan Wilson und StephenJay Gould, die biologischen undVerhaltenswissenschaftenbeschworen, die Möglichkeit inBetracht zu ziehen, dass dieEvolution durchaus auf mehrEbenen als nur der genzentrischenstattgefunden haben könnte. DerNaturalist Gould hatForschungsergebnisse aus der

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Paläontologie erneuert untersuchtund besteht darauf, dass dienatürliche Auslese auf mehrerenEbenen stattfindet, vom Gen überdas Individuum bis hin zur Gruppeund sogar - oder gerade - der Art.Überdies vertritt er die Auffassung,dass Kräfte, die sehr viel abrupterals die natürliche Auslese und sehrviel schneller als in biologischenZeiträumen wirken - Ereignisse wieglobale oder fast globaleKatastrophen -, den Lauf derEvolution merklich beeinflussthaben und das wieder tun könnten.

Die verschiedenen Ebenen dernatürlichen Auslese stehen

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wahrscheinlich im Widerstreitzueinander, insbesondere inHinsicht auf altruistischeVerhaltensweisen und Emotionenwie dem Gewissen. Auf der Ebenedes Gens und auch auf der Ebeneder Gruppe ist das Gewissenadaptiv, und die natürliche Auslesewürde es bevorzugen. Aber auf derEbene des individuellenLebewesens könnte das Fehleneines Gewissens manchmal nochvorteilhafter für das Überlebensein. Somit ist es denkbar, dass dieNatur ständig bei der Mehrzahl derMenschen ein Gewissen fördert,während sie auf einer anderen

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Ebene permanent einen kleinerenAnteil von Individuen unterstützt,der ohne die neurobiologischenFundamente der emotionalenBindung und des Gewissensgedeiht.

Der Evolutionist David SloanWilson hat gesagt: "Es gibtzwingende intellektuelle undpraktische Gründe, zwischenVerhaltensweisen zu unterscheiden,die erfolgreich sind, weil sie auf derEbene der Gruppe zur Organisationbeitragen und solchen, dieerfolgreich sind, weil sie dieOrganisation auf Gruppenebenestören. Darin liegt die Bedeutung

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der Worte 'egoistisch' und'selbstlos', 'moralisch' und'unmoralisch' im allgemeinenSprachgebrauch."59 Was Wilson aufdiese Weise beschreibt, ist dieselbeverwirrende und nur allzu vertrauteZweiteilung: Die Mehrheit, die inihrem Denken und Fühlen danachstrebt, Konflikte zu minimieren, beiBedarf zu teilen und ihr Leben mitden von ihnen geliebten Menschengemeinsam zu leben, und dieMinderheit, die von Konfliktenprofitiert und für die das Lebennicht mehr und nicht weniger ist alsein ewiger Wettstreit umDominanz.

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Und so erkennen wir, dass selbstauf der fundamentalstenbiologischen Ebene der Zwistzwischen Gut und Böse älter ist alsdie Menschheit. Allerdings wird derWettstreit wohl in uns sein Endefinden, und sein Endergebnis wirddavon abhängen, wie wir dengewaltigen Herausforderungenbegegnen, die der Mensch in dieWelt getragen hat, darunter auchdas Problem der Soziopathie. AufWegen, die wir gerade erst zuverstehen beginnen, hat dienatürliche Auslese ein gewissesMaß an Altruismus unter denMenschen entstehen lassen und

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dabei geholfen, eine menschlicheArt zu formen, die mit der Fähigkeitzu lieben ausgestattet ist und sichdurch die leise Stimme desGewissens untereinanderverbunden fühlt. Mindestens 96Prozent von uns sind im Grunde sobeschaffen. Wie wir letztlich dievon den anderen 4 Prozentverursachten Probleme desÜberlebens der Art lösen können,kann man zum jetzigen Zeitpunktnicht wissen.

Heinz im Dilemma Wenn wir nun unsere

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Aufmerksamkeit von derEvolutionspsychologie auf dieEntwicklungspsychologie richten,kommen wir zu der interessantenFrage, wie sich das Gewissen beimenschlichen Kindern entwickelt.Erblüht das Gewissen aufnatürliche Weise in der Psyche derKinder, während ihre anderengeistigen Fähigkeiten entstehen,oder erwerben und justieren Kinderihr Gefühl für Moral durchLebenserfahrung, durch Lektionen,die ihnen von Familie, Gesellschaftund Kultur vermittelt werden?

Das Gewissen als Emotion ist ausdieser Sicht noch nicht erforscht

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worden; aber wir können vieldaraus lernen, was über seinenintellektuellen Partner, diemoralische Abwägung, bekannt ist.Moralische Abwägung ist derDenkprozess, der dem Gewissenassistiert und ihm hilft zuentscheiden, was zu tun ist. Wennwir es versuchen, können wirunsere moralische Abwägung mitWorten, Konzepten und Prinzipienbeschreiben.

Joe war mit moralischerAbwägung beschäftigt, als er mitgequältem Gewissen in seinemAudi auf dem Weg zur Arbeit warund versuchte, sich darüber klar zu

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werden, ob er an dem wichtigenMeeting im Büro teilnehmen odernach Hause zurückkehren sollte,um seinen Hund Reebok zu füttern.Das Gewissen war, wie wir wissen,Joes intervenierendes Gefühl derVerpflichtung, das seineremotionalen Bindung zu seinemHund entsprang. MoralischeAbwägung war der Prozess, durchden er entschieden hat, woringenau diese Verpflichtung bestandund wie sie zu erfüllen war. (Wiesehr wird der Hund unter seinemHunger leiden? Könnte erverdursten? Was ist wichtiger, dasMeeting oder Reebok? Was ist das

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richtige Verhalten?)Woher kommt sie, diese beinahe

universelle Fähigkeit, moralischeund ethische Fragen jeglicher Artabzuwägen, von der Frage, ob mannun den Hund füttern sollte odernicht, bis hin zu der Frage, ob maneine Atomrakete abschießen sollteoder nicht?

Die systematische Untersuchungder moralischen Abwägung begannum 1930 mit dem SchweizerPsychologen Jean Piaget. In einemseiner einflussreichsten Werke, Dasmoralische Urteil beim Kinde,60hatPiaget die Ansichten von Kindernüber Autorität, Lügen, Stehlen und

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das Konzept der Gerechtigkeituntersucht. Er begann, indem erdetaillierte Beobachtungen vonKindern unterschiedlichen Altersüber ihr Verständnis von Regelnund durchgeführten Spielen undihre Interpretation moralischerDilemmata protokollierte. Piagethatte einen "strukturellen" Ansatz;das heißt, dass seiner Meinungnach menschliche Wesen sichschrittweise psychologisch undphilosophisch entwickeln, dass alsojeder kognitive Entwicklungsschrittauf den vorangegangenen aufbautund dass alle Kinder die Schrittedieser Entwicklung in derselben

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Reihenfolge vollziehen.Piaget beschrieb zwei allgemeine

Stufen der Moralentwicklung. Dieerste Stufe ist die "Moral desZwangs" oder "moralischerRealismus", auf der Kinder Regelngehorchen, weil sie Regeln alsunabänderlich ansehen. Auf dieserschwarz-weißen Stufe derAbwägung glauben kleine Kinder,dass eine bestimmte Handlungentweder absolut richtig oderabsolut falsch ist und dass einMensch zwangsläufig für falschesund aufgedecktes Verhalten bestraftwird; eine Erwartung, die vonPiaget als "immanente Sanktionen"

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bezeichnet wurde. Die zweite vonPiaget beschriebene Stufe ist die"Moral der Kooperation" oder"Reziprozität". Auf dieser Stufeempfinden Kinder Regeln als relativund als unter bestimmtenUmständen modifizierbar, und ihrKonzept von Gerechtigkeitberücksichtigt die Absichtenanderer Menschen. Ältere Kinderkönnen ihren Standpunkt"dezentrieren" (ihn wenigeregozentrisch machen), undmoralische Regeln werden alswichtig für das Funktionieren derGesellschaft angesehen und nichtnur als ein Weg, ein für den

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Einzelnen unerwünschtes Ergebniszu vermeiden.

In der Tradition von Piaget undauch beeinflusst von dem US-amerikanischen Philosophen JohnDewey begann der Psychologe undPädagoge Lawrence Kohlberg61

seine Arbeit über moralischesUrteilsvermögen in den spätenSechzigerjahren des vorigenJahrhunderts am Zentrum fürmoralische Bildung der Harvard-Universität. Kohlbergs Ziel war es,herauszufinden, ob es tatsächlichuniverselle Stufen derMoralentwicklung gibt.

Kohlbergs Theorie basiert auf

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Interviews mit Knaben im Alterzwischen sechs und sechzehnJahren in den USA, Taiwan,Mexiko, der Türkei und auf dermexikanischen Halbinsel Yucatan.Im Laufe dieser Interviews hörtensich die Kinder zehn Geschichtenan, die jeweils ein wie auch immergeartetes moralisches Dilemmaenthielten. Die bekannteste dieserGeschichten, eine kleine, vor fastvierzig Jahren entstandene Skizze,weckt direkte Assoziationen zu dergegenwärtigen Kontroverse umPharmakonzerne und die Kostenrezeptpflichtiger Medikamente. Siebeschreibt das Dilemma des Heinz

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und lautet sinngemäßfolgendermaßen:

Heinz' Frau liegt mit einerseltenen Art von Krebs im Sterben.Die Ärzte sagen, dass es einMedikament gäbe, das sie rettenkönnte; eine Radiumverbindung,die ein Drogist in Heinz'Heimatstadt kürzlich entdeckt hat.Die Zutaten für die Droge sindohnehin teuer, und der Drogistberechnet überdies das Zehnfachedessen, was es ihn kostet, dasMedikament herzustellen. DerDrogist bezahlt zweihundert Dollarfür das Radium und berechnetseinen Kunden zweitausend Dollar

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für eine kleine Dosis. Heinz bittetjeden, der ihm einfällt, ihm Geld zuleihen. Trotzdem bekommt er nurtausend Dollar zusammen. Heinzerklärt dem Drogisten, dass seineFrau ohne die Droge sterben würdeund bittet ihn, ihm das Medikamentbilliger oder auf Kredit zuverkaufen. Aber der Drogistantwortet: "Nein, ich habe dieDroge entdeckt will damit Geldverdienen." Heinz verzweifelt. Erbricht in den Laden des Drogistenein und stiehlt die Droge für seineFrau. Durfte Heinz das tun?

Kohlberg interessierte sichvorrangig weniger für das Ja oder

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Nein der Antworten der Kinder aufdie Frage "Durfte Heinz das tun?",als vielmehr für ihre zu derjeweiligen Antwort führendeArgumentation, die erprotokollierte. Auf der Basis seinerzahlreichen Interviews kam er zudem Ergebnis, dass Kinder eineruniversellen Route vonEigeninteresse zuprinzipiengesteuertem Verhaltenfolgen, die als ein dreistufigesModell der Moralentwicklungbeschrieben werden kann. Die dreiStufen der Moralentwicklungerfordern zunehmend komplexeund abstrakte Denkmuster, wobei

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jede Stufe die vorangegangeneersetzt, während das Kind kognitivheranreift.

Nach Kohlbergs Theorie derMoralentwicklung argumentierenKinder zwischen sieben und zehnJahren auf der "präkonventionellenStufe", auf der sie sich der Autoritätvon Erwachsenen unterordnen undRegeln ausschließlich auf der Basisihrer Erwartungen von Strafe undBelohnung befolgen. Kohlberg hieltdie präkonventionelleArgumentation kleiner Kinder fürim Wesentlichen "prämoralisch".Die typische "prämoralische"Antwort auf Heinz' Dilemma wäre:

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"Nein, Heinz hätte das nicht tunsollen, weil er nun bestraft werdenwird."

Im Alter ab etwa zehn Jahrenbeginnen Kinder, auf der"konventionellen Stufe" der Moralzu argumentieren (konventionellim Sinne der Gesellschaft), auf derihr Verhalten durch die Ansichtenanderer und dem Bedürfnis nachKonformität bestimmt wird. Aufdieser Stufe wird die Unterordnungunter Autoritäten zu einem Wert ansich, ohne Bezug zu unmittelbarenBelohnungen oder Strafen oderübergeordneten Prinzipien.Kohlberg war der Meinung, dass

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mit dem Erreichen des dreizehntenLebensjahres die meistenmoralischen Fragen auf derkonventionellen Stufe beantwortetsind. Die konventionelleArgumentation zu Heinz' Diebstahlwäre: "Nein, er hätte die Drogenicht stehlen sollen. Diebstahlverstößt gegen das Gesetz, das weißdoch jeder."

Im Laufe des Heranwachsensentwickeln sich einige wenigeMenschen laut Kohlberg über diekonventionelle Stufe hinaus auf diedritte und höchste Stufe, die er"postkonventionelle Moral"genannt hat. Diese dritte Stufe

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erfordert es, dass das Individuumabstrakte moralische Prinzipienformuliert und nach ihnen handelt,um sein Gewissen zufrieden zustellen, anstatt die Zustimmunganderer zu erstreben. Auf derpostkonventionellen Stufe lässt diemoralische Abwägung diekonkreten Regeln der Gesellschafthinter sich; das Individuum hatinzwischen erkannt, dass dieseRegeln ohnehin häufig imWiderspruch zueinander stehen.Seine Abwägung wird stattdessenvon flexiblen, abstrakten Konzeptenwie Freiheit, Würde, Gerechtigkeitund der Achtung für das Leben

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geleitet. Im Falle von Heinz könnteeine Person, die auf derpostkonventionellen Stufeargumentiert, durchaus daraufbestehen, dass menschliches Lebenwertvoller sei als Geld und dass derSchutz des Lebens ein moralischesGebot sei, das vor demgesellschaftlichen Verbot desDiebstahls Vorrang habe. ("Ja, dasist ein schwieriges Problem, aber esist verständlich, dass Heinz dielebensrettende Droge gestohlen hat,die ihm der Drogist aus Gründendes Geldes vorenthalten hat.")

Kohlberg meinte, dass die meistenMenschen die Stufe der

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postkonventionellen moralischenAbwägung nicht vollständigerreichen, auch als Erwachsenenicht; denn als er ältere Knabenund junge Männer für seineStudien interviewte, fand er, dassweniger als 10 Prozent eindeutigauf der dritten Stufeargumentierten. Als eine Fußnotemöchte ich hier anmerken, dassdiese Meinung von Kohlberg, solltesie denn zutreffen, helfen könnte,den befremdlichen Umstand zuerklären, dass die öffentlicheEmpörung über die vorstehenderwähnten reichenPharmakonzerne sich in sehr engen

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Grenzen hält. Vielleicht neigen diemeisten Menschen, insbesondereUS-Amerikaner, dazu, dieEigentumsansprüche des Drogistenzu akzeptieren: "Ich habe die Drogeentdeckt und will damit Geldverdienen." Die Achtung desEigentums vor allen anderenAspekten einer Situation ist einMerkmal konventionellermoralischer Abwägung - zumindestunter in Nordamerikaaufgewachsenen Männern.

Geschlecht und Kultur Welcher Faktor wird von

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Kohlbergs Modell derMoralentwicklung, selbst auf derhöchsten Stufe, nichtberücksichtigt? Antwort:

Die Beziehung zwischen Heinzund seiner Gattin, die sehr vielpersönlicher und vielleichtzwingender ist, als selbst dashöchstentwickelte Verständnis derallgemeinen Achtung vor demLeben.

Und was ist sehr wahrscheinlichder Hauptfehler von KohlbergsVersuchsaufbau? Er besteht darin,dass er ursprünglich seinemoralischen Fragen nur an Knabengerichtet hat. Irgendwie ist es dem

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brillanten SozialwissenschaftlerKohlberg gelungen, die Hälfte dermenschlichen Rasse zu übersehen.

Dieser Unterlassung widmete sich1982 Carol Gilligan in ihrembahnbrechenden Buch In aDifferent Voice: PsychologicalTheory and Women'sDevelopment62* . Als Studentin vonKohlberg war auch Gilligan daraninteressiert, ein universellesStufenmodell derMoralentwicklungweiterzuentwickeln; aber sie war inkeiner Weise einverstanden mit dereingeschränkten Substanz dermoralischen Stufen, die Kohlberg

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vorgeschlagen hatte. Kohlberg hatteihrer Meinung nach ein Modell dermoralischen Abwägung entwickelt,das auf einer "Ethik derGerechtigkeit" basierte, einerVoreingenommenheit für "dieRegeln", seien sie nun konkret oderabstrakt. Gilligan war derAuffassung, dass Kohlberg lediglicheine "Ethik der Gerechtigkeit"erarbeitet hatte, weil er nurmännliche Probanden interviewthatte, und dass ein sehrunterschiedliches Wertesystemzutage treten würde, wenn manFrauen interviewen würde. Siebefragte Frauen, die wichtige

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Entscheidungen für ihr Leben zutreffen hatten, und stellte fest, dassdiese Frauen sich von fürsorglichenMotiven leiten ließen, anstatt über"die Regeln" zu grübeln. Frauen,beschloss Gilligan, folgtenmoralisch einer "Ethik derFürsorge", im Gegensatz zu einermännlichen "Ethik derGerechtigkeit". Sie entwickelte dieTheorie, dass dies so sei, weil * Anmerkung des Übersetzers:

Dieses Buch ist 1982 in deutscherÜbersetzung unter dem Titel Dieandere Stimme - Lebenskonflikteund Moral der Frau im Piper-

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Verlag (München) erschienen. Mädchen sich mit ihren Müttern

identifizierten und mit größererWahrscheinlichkeit im familiärenUmfeld Erfahrungen machten, beidenen zwischenmenschlicheSensibilität eine wichtige Rollespielte.

Gilligan führte eloquent aus, dasskeiner dieser Standpunkte demanderen überlegen war, dass aberdie beiden Ethiken schlicht mitzwei unterschiedlichen Stimmensprachen. Männer sprachen vonBindungen an gesellschaftliche undpersönliche Regeln, während

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Frauen von Bindungen anMenschen sprachen. DieMoralentwicklung von Frauenbasierte laut Gilligan nicht nur aufÄnderungen der kognitivenFähigkeiten, sondern auch aufreifebedingten Änderungen derWahrnehmung des Selbst und desgesellschaftlichen Umfelds.

Das postkonventionelle Urteileiner Frau über Heinz' Dilemmawürde die Bedeutung seinerBeziehung zu seiner Frauberücksichtigen und womöglichauch betonen, dass die Forderungdes Drogisten unmoralisch sei, daer einen Menschen dem Tode

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anheim geben würde, obwohl er inder Lage sei, das abzuwenden.Gilligan war davon überzeugt, dassdie postkonventionelle Abwägungsich bei Frauen darauf konzentriert,sich selbst oder anderen keinenSchaden zuzufügen, was konkreterund beziehungsorientierter ist - undin vielerlei Hinsichtanspruchsvoller - als einallgemeines Prinzip wie dieAchtung vor dem Leben.

Dank Carol Gilligan wissenPsychologen und Pädagogeninzwischen, dass moralischeAbwägung mehrere Dimensionenhat und dass die Entwicklung der

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Moral bei Menschen sehr vielkomplexer ist, als wir zunächstgeglaubt haben. In den vergangenenzwanzig Jahren haben neuereStudien gezeigt, dass Frauen wieMänner sowohl eine "Ethik derFürsorge" als auch eine "Ethik derGerechtigkeit" in ihrer jeweiligenmoralischen Abwägung anwendenmögen. Diese beiden Stimmensprechen in einem komplexen Chor,und die Unterschiede zwischen denGeschlechtern sind sehr vielverschlungener als eine einfache,unzweideutige Trennlinie zwischenallen Frauen und allen Männern.

Wir wissen inzwischen auch, dass

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es wahrscheinlich keineuniversellen Stufen derMoralentwicklung gibt, die allemenschlichen Wesen überalldurchlaufen, selbst wenn wir diemenschliche Rasse qua Geschlechtzweiteilen. Kultureller Relativismusexistiert selbst in der Domäne derMoral. Und wenn moralischeAbwägung zwei Dimensionen hat,einerseits Gerechtigkeit undandererseits Fürsorge, warum dannnicht drei Dimensionen - oderHunderte oder mehr? Warum nichtso viele Perspektiven, wie esmenschliche Lebenslagen, Idealeund Wege gibt, Kinder zu erziehen?

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Ein Beispiel für die Bedeutung vonUmfeld und Kultur für dasmoralische Urteilsvermögen ist dieArbeit von Joan Miller und DavidBersoff an der Universität Yale.64

Miller und Bersoff haben US-amerikanische Kinder undErwachsene aus New Haven,Connecticut, im Vergleich mithinduistischen Kindern undErwachsenen aus Mysore inSüdindien untersucht. Sie weisendarauf hin, dass die US-amerikanische Kultur ein sehrindividualistisches Selbstbildfördert - Selbstbestimmung undpersönliche Leistung, für Knaben

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wie auch für Mädchen -, imGegensatz zur hinduistischenKultur, die beide Geschlechter einKonzept wechselseitigerAbhängigkeiten lehrt - den Wertdauerhafter Bindungen an andereMenschen und der Unterordnungpersönlichen Ehrgeizes unter dieZiele der Gemeinschaft.

In ihren Untersuchungen derMoralentwicklung fanden Millerund Bersoff, dass indische Hindusdazu neigen, zwischenmenschlicheVerpflichtungen als gesellschaftlichdurchsetzbare moralische Geboteanzusehen, im Gegensatz zu derUS-amerikanischen Sicht, dass

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solche Pflichten Gegenstandpersönlicher Entscheidungen seien.So würde zum Beispiel die Frage, obman für seine Schwester mit Down-Syndrom sorgen solle, nachdem dieEltern dazu nicht mehr in der Lagewären, von einem US-Amerikanerals eine Entscheidung angesehenwerden, die zwar moralischeImplikationen hätte, aber dochseine freie Entscheidung wäre.Dieselbe Situation würde voneinem indischen Hindu als einfeststehender moralischerImperativ (Dharma) angesehenwerden. Er würde erwarten, dassdie Familie die Erfüllung dieser

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Pflicht durchsetzen würde, solltedas notwendig sein. Überdiesglauben Inder, dasszwischenmenschlicheVerpflichtungen ohnehinnatürlicher Bestandteil desselbstverständlichen Verhaltens dermeisten Menschen seien, imGegensatz zu der Haltung von US-Amerikanern, die glauben, dassgesellschaftliche Erwartungen undpersönliche Wünsche fast immerim Gegensatz zueinander stündenund dass man irgendwie einen"Kompromiss" zwischen ihnenfinden müsse.

Solche Unterschiede in

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Wertesystem und früher Erziehungsind bedeutsam, und sie führen zuvielfältigen Unterschieden bei dermoralischen Abwägung inverschiedenen Kulturen. Miller undBersoff berichten, dasshinduistische Inder, Männer wieFrauen, in ihrer Entwicklung voneiner "Perspektive derPflichterfüllung" geprägt werden,einer Dimension des moralischenUrteils, die sowohl von der "Ethikder Gerechtigkeit" als auch der"Ethik der Fürsorge" abweicht.Abschließend stellen sie fest:"Unsere Ergebnisse implizieren,dass sich qualitativ

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unterschiedliche Normen derzwischenmenschlichen Moral in derUS-amerikanischen und derhinduistischen indischen Kulturentwickelt haben, die diegegensätzlichen in der jeweiligenKultur vorherrschendenSelbstbilder reflektieren."

Und doch, trotz der vielenunterschiedlichen Prozesse desmoralischen Urteils, die sich inverschiedenen menschlichenKulturkreisen entwickelt haben,ergibt die abschließende Analyse,dass im Kern der Sache etwasTieferes und Konstanteres existiert.Dieses konstante psychische

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Element ist das Gefühl einesunlösbaren Widerstreits zwischenmoralischen Kräften. Eineallgemeine Vorstellung von Gutund Böse als Dualität desmenschlichen Lebens scheinterstaunlicherweise völlig universellzu sein (zumindest fürSozialwissenschaftlererstaunlich).65 Gut gegen Böse istdas zeitlose, kulturübergreifendemenschliche Drama; und dieUntertöne eines anscheinenduniversellen moralischen Konfliktswerden ohne weiteres von beidenGeschlechtern in allen Kulturenerkannt. Ich würde erwarten, dass

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eine Frau aus Südindien diesesfundamentale Verständnis einerTeilung der moralischen Domänehätte, und sie würde dasselbe vonmir erwarten. Wenn es zumBeispiel um den armen,verzweifelten Heinz geht, wird es -unabhängig von einem Urteil, wieer sein Dilemma auflösen sollte,was er also t u n oder unterlassensollte - eine allgemeine, womöglichstillschweigende Übereinstimmungzwischen den Kulturen darübergeben, dass Heinz sich in seinerVerpflichtung einem geliebtenMenschen gegenüber von Beginnan auf höherem moralischen

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Niveau bewegt und dass deregoistische Drogist sich verwerflichverhält.

Es gibt keine globaleÜbereinstimmung imintellektuellen Prozess dermoralischen Abwägung selbst - derArt, wie wir moralische Dilemmatareflektieren und zu einerspezifischen Entscheidunggelangen. Aber gibt esÜbereinstimmung in unserenemotionalen Reaktionen auf denmoralischen Konflikt zwischen Gutund Böse, einen fast universellensiebten Sinn, der verlässlich alleunsere kulturellen Unterschiede

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und staatlichen Grenzen ignoriert?Und falls ja - wie ist er

beschaffen? Die universelle Bindung Den letzten Abschnitt dieses

Kapitels über die Ursprünge desGewissens beginne ich am Morgendes 11. September 2003 zuschreiben. Gewöhnlich schätze ichRuhe, während ich arbeite; aber andiesem Morgen habe ich denFernseher im Nebenzimmereingeschaltet, so dass ich dieStimmen der Kinder hören kann,die dort, wo früher die Türme des

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World Trade Centers gestandenhaben, die einzelnen Namen derMenschen verlesen, die an diesemOrt umgekommen sind. Früher andiesem Morgen hatte ich mich vonmeiner Tochter verabschiedet, alssie sich auf den Weg zur Schulemachte, ebenso wie am Morgen des11. September zwei Jahre zuvor. DerUnterschied war, dass vor zweiJahren die ganze Welt sichzwischen unserem Abschied undihrer Rückkehr aus der Schuleverändert hatte.

Ich spüre, wie leicht die Flut vonEmotionen noch immer kommt,obwohl seitdem zwei Jahre

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verstrichen sind.Von allen unerwarteten

Reaktionen, die ein Menschwährend einer Katastropheempfinden kann, war für mich eineder erstaunlichsten das plötzlicheund sehr bewusste Gefühl derVerbundenheit mit allen Menschen,die ich jemals im Leben seit meinerKindheit kennen gelernt hatte, mitallen Menschen, die mir jemals,vielleicht auch nur kurz, wichtiggewesen waren, mit jedemMenschen, für den ich jemalsZuneigung empfunden hatte. In denTagen nach dem 11. September2001 erinnerte ich mich an

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Menschen, die ich seit Jahren - oderzum Teil seit Jahrzehnten - nichtgetroffen oder an die ich womöglichnicht einmal gedacht hatte. Ichhabe ihre Gesichter in fastirritierender Klarheit vor mirgesehen. Ich hatte keine Ahnung,wo viele dieser Menscheninzwischen lebten, da es so langeher war, seit wir uns getroffenhatten; aber ich hatte das hilfloseVerlangen, zum Telefon zu greifenund sie alle anzurufen. Ich wolltesie fragen, wie es ihnen ging -meine Englischlehrerin vor vielenJahren an der High School in NorthCarolina, eine Zimmergenossin am

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College, der gutherzigeLadeninhaber in Philadelphia, beidem ich gelegentlich einkaufte undder manchmal Lebensmittel anBedürftige verschenkte, nicht ohneseine anderen Kunden zurDiskretion zu verpflichten. Wie ginges ihnen? Die, die ich erreichenkonnte, rief ich an. Niemand wardarüber auch nur im geringstenerstaunt. Wir meldeten uns einfachuntereinander.

Moralische Abwägung - die Art,wie wir über moralische Dilemmatanachdenken - ist alles andere alseinheitlich und universell. Sie wirdvon Alter und Geschlecht

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beeinflusst. Sie unterscheidet sichzwischen verschiedenen Kulturenund sehr wahrscheinlichLandstrichen oder gar einzelnenHaushalten. So werden zumBeispiel meine Ansichten über denTerrorismus und das, was wirdagegen tun sollten, sich ein wenigvon denen meines Nachbarnunterscheiden, und sie werden sichfast zwangsläufig unterscheidenvon den Überzeugungen vonMenschen, die durch Ozeane undKontinente von mir getrennt sind.Aber gewissermaßen alsmenschliches Rätsel bleibt bei fastallen von uns - mit einigen

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bemerkenswerten Ausnahmen -eine Konstante, und zwar das tiefeGefühl der Verbundenheit zuunseren Mitmenschen. EmotionaleVerbundenheit ist ein Teil dermeisten Menschen, bis hinunter zuden Molekülen, aus denen unsereKörper und Gehirne konstruiertsind, und manchmal werden wirnachdrücklich daran erinnert. Esfängt in unseren Genen an unddurchdringt von dort aus alleunsere Kulturen, Überzeugungenund viele Religionen - es ist derSchatten eines Flüsterns über denKeim der Einsicht, dass wir alleEins sind. Und was immer ihre

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Ursprünge auch sein mögen - diesist die Quintessenz des Gewissens.

Z E H N bernies entscheidung: warum ein

leben mit gewissen besser ist Glücklich bist du, wenn deine

Gedanken, Reden und Taten imEinklang sind.

—Mahatma Gandhi Falls Sie völlig frei von einem

Gewissen sein könnten, ohnemoralische Skrupel und ohnejegliches Schuldbewusstsein - was

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würden Sie wohl aus Ihrem Lebenmachen? Wenn ich jemandem dieseFrage stelle, was ich oft getan habe,ist die typische Antwort:"Großartig!" oder "Ach, du meineGüte ..." - gefolgt von Schweigen,das von angestrengtnachdenklichem Stirnrunzelnbegleitet wird, als sei die Frage ineiner Sprache gestellt worden, dienur halb verständlich sei. Danngrinsen oder lachen die meistenMenschen, anscheinend peinlichberührt von der Autorität desGewissens über ihr Leben undantworten sinngemäß: "Ich weißnicht genau, was ich tun würde,

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aber ich würde mich sicherlichanders verhalten als jetzt."

Nach dem "Großartig" und einerkurzen Pause lachte ein besondersphantasievoller Mann leise in sichhinein und sagte: "Vielleicht wäreich der Diktator eines Kleinstaatesoder so etwas." Er sagte das, als obeine solche Ambition schlauer undbeeindruckender sei als diegesellschaftlich wertvollefreiberufliche Laufbahn, die ertatsächlich eingeschlagen hatte.

Wäre es schlauer, kein Gewissenzu haben? Wären wir glücklicher?Wir wissen, dass menschlicheGemeinschaften in Schwierigkeiten

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wären - ganze Nationen vonSoziopathen, jeder von ihnen nurauf seinen eigenen Vorteil aus. Aberrealistisch auf der persönlichenEbene betrachtet - wären Sie oderich als Individuen glücklicher undbesser gestellt, wenn wir dieEinschränkungen des Gewissensabschütteln könnten? Manchmalscheint es so. UnehrenhafteMenschen halten Positionen derMacht und Wirtschaftsbetrügerkaufen Privatjets und Yachten,während wir verantwortungsvollarbeiten und mit "vernünftigen"Ratenzahlungen das Autoabbezahlen. Aber wie lautet die

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wahre Antwort? Haben Soziopathenaus psychologischer Sicht wirklichein besseres Leben als unsereins,oder ist es doch irgendwie dasglücklichere Schicksal, einGewissen zu haben?

In ironisch funktioneller Weisesind wir von Anfang an von derNatur selektiert worden, umsoziale, teilende Wesen zu sein;unsere Gehirne sind in emotionalerVerbundenheit untereinanderverdrahtet und mit einem Gewissenausgestattet. Oder vielmehr sindwir alle bis auf einige, wenigeAusnahmen diesem Pfad gefolgt.Manche haben von einem anderen,

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aber ebenso geschäftsmäßigenAusleseprozess profitiert und sindzu Gaunern geworden, gleichgültiggegenüber ihren Brüdern undSchwestern, mit emotionalunverdrahteten Gehirnen, die durchund durch selbstsüchtige Pläneausbrüten. Aus der Perspektive des21. Jahrhunderts mit den Augen derPsychologie beurteilt: Über welchesdieser beiden uralten Lager lässtsich sagen, dass es das bessereGeschäft mit der menschlichenNatur gemacht hätte, die sozialVerantwortungsvollen oder dieSoziopathen?

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Die Schattenseite des Gewinnens Es wäre schwierig, die

Feststellung zu widerlegen, dassMenschen, die in keiner Weisedurch ein Gewissen beeinträchtigtwerden, manchmal zu Macht undReichtum kommen, zumindest füreine Weile. Zu viele Kapitel dermenschlichenGeschichtsschreibung, von derallerersten Zeile bis hin zu denjüngsten Einträgen, handeln vonden enormen Erfolgen militärischerInvasoren und Eroberer, vonRäuberbaronen und Begründernvon Imperien. Solche Menschen

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sind entweder schon zu lange totoder zu privilegiert, um formell mitden Mitteln der klinischenPsychologie untersucht zu werden.Geht man allerdings von einigenihrer wohlbekannten und vielfältigdokumentierten Verhaltensweisenaus, müssen wir - auch ohne ihrePunktzahl auf der Pd-Skala zukennen - annehmen, dass eineerkleckliche Anzahl von ihnen keinin emotionalen Bindungen zuanderen verwurzeltes,intervenierendes Gefühl derVerpflichtung zeigen würde. Mitanderen Worten: Manche vonihnen waren - und sind -

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Soziopathen.Die Lage wird dadurch noch

fataler, dass ihre Zeitgenossen fürgewöhnlich brutalen Eroberern undStaatengründern mit Ehrfurchtbegegnen; zu Lebzeiten werden siegerne als Vorbilder für die gesamtemenschliche Rasse angesehen.Zweifellos sind unzähligeMongolenjungen im 13.Jahrhundert mit Geschichten überden unbezwingbaren DschingisKhan zu Bett gebracht worden, undman fragt sich, welche dermodernen Helden, die wir unsereneigenen Kindern anpreisen, letztlichals von rücksichtslosem Egoismus

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getrieben in die Geschichteeingehen werden.

Auch für sexuelle Eroberungen istdie Abwesenheit eines Gewissensdurchaus nützlich. Zur Illustrationmöge ein Sprössling desselbenlegendären Tyrannen dienen: TushiKhan, dem ältesten Sohn vonDschingis Khan, wurde nachgesagt,vierzig Söhne gezeugt zu haben -qua Geburtsrecht konnte er sich dieschönsten Frauen unter deneroberten Völkern aussuchen. Dieanderen Besiegten wurdenroutinemäßig zusammen mit ihrenSöhnen abgeschlachtet. Einer vonDschingis Khans zahlreichen

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Enkelsöhnen, der Gründer derYuan-Dynastie Kublai Khan, hattezweiundzwanzig legitime Söhneund stockte seinen Harem jährlichum dreißig Jungfrauen auf. Undwährend ich dies schreibe, habenfast 8 Prozent der männlichenBevölkerung in der Region desfrüheren mongolischen Imperiums,fast 16 Millionen an der Zahl,annähernd identische Y-Chromosomen.66 Dies bedeutetnach Ansicht von Genetikern, dassetwa 16 Millionen Menschen des 21.Jahrhunderts den Stempel vonDschingis Khans Erbe vonVölkermord und Vergewaltigung im

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13. Jahrhundert in sich tragen.

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Dschingis Khan war eineAusnahme unter densoziopathischen Tyrannen, da erkein gewaltsames oderschmachvolles Ende fand.Stattdessen stürzte er 1227 währendder Jagd vom Pferd. Die meistenÜbeltäter, die Völkermord oderMassenvergewaltigungen begangenhaben, nehmen sich schließlichselbst das Leben oder werdenumgebracht, häufig durch ihreaufgebrachte Gefolgschaft, der eszuviel geworden war. Caligulawurde durch einen seiner eigenenLeibwächter gemeuchelt. Von Hitlernimmt man an, dass er sich in den

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Mund geschossen hat; seine Leichesoll mit Dieseltreibstoff verbranntworden sein. Mussolini wurdeerschossen und seine Leiche aufeinem öffentlichen Platz an denFüßen aufgehängt. RumäniensDiktator Nicolae Ceausescu undseine Frau Elena wurden amWeihnachtstag 1989 durch einErschießungskommando getötet.Der kambodschanische Pol Potstarb in einer kleinen Hütte alsGefangener seiner ehemaligenGenossen; seine Leiche wurdeunter einem Haufen Müll undAutoreifen verbrannt.

Globale Soziopathen finden

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gewöhnlich kein gutes Ende, unddieser Hang zu einem steilenNiedergang findet sich auch unterden lokalen Größen. Letzten Endesscheint Soziopathie ein Spiel fürVerlierer zu sein, unabhängig vonseiner Dimension. So hat zumBeispiel Hannahs Vater allesverloren, was ihm lieb und teuerhätte sein sollen. Als er fünfzigwurde, hatte er seinen Job verspielt,seine Stellung in der Gemeinde,seine wunderschöne Frau und seineliebende Tochter, und das alles fürdas Hochgefühl, ein kleinesRädchen im Heroinhandel zu sein.Und am Ende wird er wohl an einer

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Kugel durch seinen Kopf sterben,aus der Waffe eines anderenKleinkriminellen. Luke, derbettelarme Ex meiner PatientinSydney, hat auch alles verloren, waswertvoll war - seine Frau, seinenSohn, ja, sogar seinenSwimmingpool. Super Skip, der sichin seiner Arroganz für zuunangreifbar und clever hält, umvon einem Gremium wie der"Securities and ExchangeCommission" zu Fall gebracht zuwerden, wird wohl eineÜberraschung erleben, sobald dieSEC ihm ernsthaft zusetzt. "Dr."Doreen Littlefield wird - obwohl sie

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genug Verstand hat, tatsächlicheinen Doktorgrad zu erwerben -stattdessen als Hochstaplerin voneiner zunehmend obskurerenStellung zur anderen wechseln unddabei dieselben ermüdenden Spielemit den von ihr beneidetenanständigen Leuten spielen, bis siesich nicht länger verstecken kann.Mit fünfzig werden ihre Reisen undihre unkontrolliertenBegehrlichkeiten ihr Bankkontogeleert und ihr Gesicht zu demeiner gelangweilten Siebzigjährigenverunstaltet haben.

Die Liste solcher trostlosenLebensläufe ließe sich beliebig

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fortsetzen. Im Gegensatz zu einemanscheinend populären Glaubenbringt rücksichtsloses Verhalten amEnde keineswegs einenLöwenanteil der guten Dinge desLebens ein. Ganz im Gegenteil, mankönnte sogar sagen, dass für einenaußerordentlich geduldigenBeobachter eine probate Methodezur Erkennung eines Soziopathenwäre, bis zu dessen Lebensende zuwarten und festzustellen, ob er sichruiniert hat, teilweise oder garvollständig. Hat er wirklich das, wasSie gerne in ihrem Leben sehenwürden, oder ist er stattdessenisoliert, ausgebrannt und

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gelangweilt? Ist es nichtschockierend, wie tief dieMächtigen fallen können?

Seit wir begonnen haben,Aufzeichnungen über Kriege,Besetzungen und Projekte desVölkermords zu machen, haben dieHistoriker immer wiederfestgestellt, dass ein bestimmterTypus eines katastrophalen,amoralischen Schurken wieder undwieder in die menschliche Rassehineingeboren wird. Kaum habenwir uns von einem befreit, tauchtirgendwo auf dem Planeten einanderer auf. Aus Sicht derBevölkerungsgenetik enthält diese

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Beobachtung wohl ein KörnchenWahrheit. Und da wir solcheMenschen nicht verstehen, da ihrePsychologie den meisten von uns sofremd ist, können wir sie oft nichterkennen oder abwehren, bevor sienicht die Menschheit aufunergründliche Weise geschädigthaben. Aber, wie Gandhi mitStaunen und Erleichterungfestgestellt hat: "Am Ende kommensie immer zu Fall - man denke nur,immer!"

Das gleiche Phänomen spielt sichauch im kleineren Rahmen ab.Alltägliche Menschen ohne einGewissen bringen Kummer über

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ihre Familien und Gemeinden; aberam Ende haben sie einen Hang zurSelbstzerstörung. KleineSoziopathen könnten lange genugüberleben, um einige der anderenauf unserer imaginärenWüsteninsel zu dominieren,womöglich auch einige Genevererben; aber in letzterKonsequenz würden siewahrscheinlich an den Füßenaufgehängt werden.

Einer der Gründe für diesesletztliche Scheitern istoffensichtlich, besonders bei Fälleninfamer Despoten wie Mussolinioder Pol Pot, die von wütenden

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vormaligen Anhängern getötet undverstümmelt worden sind: Wennman genug Menschen unterdrückt,beraubt, ermordet und vergewaltigt,werden schließlich einige von ihnensich zusammentun und Racheüben. Wir können das auch in derwesentlich weniger epischenGeschichte von Doreen Littlefielderkennen: Die Chancen standenimmer gegen sie, und schließlichbeging sie zufällig den Fehler, diefalsche Person gegen sichaufzubringen. Aber es gibt weitere,weniger offensichtliche Gründe fürdas letztliche Scheitern einesLebens ohne Gewissen - Gründe,

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die nicht in der Wut andererMenschen, sondern in derPsychologie der Soziopathie selbstliegen.

Und der erste dieser Gründe istschlicht und ergreifend Langeweile.

Ist das alles? Wenn wir auch alle wissen, was

Langeweile ist, erleben doch diemeisten normalen Erwachsenennur selten pure Langeweile. Wirsind gestresst, gehetzt und besorgt,aber selten wirklich gelangweilt -zum Teil, eben weil wir so gestresst,gehetzt und besorgt sind. Wenn wir

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uns einmal nicht um irgendetwaskümmern müssen, empfinden wirdas gewöhnlich als eine Atempause,nicht als Monotonie. Um ein Gefühldafür zu bekommen, wie schiereLangeweile sich anfühlt, müssenwir an unsere Kindheitzurückdenken. Kinder undHeranwachsende sind oftgelangweilt, so sehr gelangweilt,dass sie es kaum ertragen können.Ihr während der Entwicklung völlignormales Bedürfnis nachStimulation, der Drang,Entdeckungen zu machen undständig etwas Neues zu lernen, wirdoft in einer Welt langer

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Autofahrten, regnerischerNachmittage und Schulaufgabennicht befriedigt. Für ein Kind kannLangeweile qualvoll sein, wie eineMigräne oder ein starker Durst, dernicht gelöscht werden kann. Siekann so sehr schmerzen, dass dasarme Kind am liebsten lautschreien oder mit lautem Gepolteretwas an die Wand werfen würde.Man könnte extreme Langeweile alseine Art Schmerz bezeichnen.

Zum Glück haben wirErwachsenen nicht mehr diesesBedürfnis nach ständigerStimulation. Trotz unsererBelastungen leben wir zumeist auf

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einem durchaus zu bewältigendenNiveau der Erregung, wederunerträglich überreizt nochunterstimuliert - mit Ausnahmevon Soziopathen. Soziopathenhaben berichtet, dass sie fastständig nach zusätzlicherStimulation gieren. Manche habendas Wort süchtig verwendet, alsozum Beispiel s ü c h t i g nachNervenkitzel, süchtig nach Risiko.Solche Süchte entstehen, weil diebeste (und vielleicht die einzige)nachhaltige Therapie fürUnterstimulation unserGefühlsleben ist, und zwar so sehr,dass in einigen Lehrbüchern der

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Psychologie die Begriffe Erregungu n d emotionale Reaktion fastaustauschbar verwendet werden.Wir werden stimuliert durch unserebedeutsamen Bindungen,Interaktionen und glücklichen undunglücklichen Momente, die wirzusammen mit anderen Menschenerleben; und Soziopathen habenkein solches Gefühlsleben, das sieerleben könnten. Sie sind nicht inder Lage, die manchmalentsetzliche, manchmal spannende,aber immer vorhandene Erregungzu erleben, die mit echtenBindungen zu anderen Menschenunvermeidlich einhergeht.

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Laborexperimente mitelektrischen Schlägen und lautenGeräuschen67 haben gezeigt, dassselbst die physiologischenReaktionen (Schwitzen, Herzrasenetc.), die normalerweise durchgespannte Erwartung und erlernteFurcht hervorgerufen werden, beiSoziopathen sehr viel schwächerausgeprägt sind. Als adäquateStimulation bleiben denSoziopathen nur ihre Machtspiele,und solche Spiele werden sehrschnell alt und schal. Wie bei einerDroge muss das Spiel wieder undwieder gespielt werden, größer undbesser, und das könnte - abhängig

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von den Ressourcen und Talentendes jeweiligen Soziopathen -unmöglich sein. Und so können füreinen Soziopathen die Qualen derLangeweile fast chronisch sein.

Das Bedürfnis, die Langeweilegelegentlich auf chemischem Wegezu lindern, ist einer der Gründedafür, warum Soziopathen anfälligfür Alkohol- undDrogenmissbrauch sind. Einewichtige Komorbiditätsstudie,68 die1990 im Journal of the AmericanMedical Association veröffentlichtwurde, kommt zu dem Ergebnis,dass bis zu 75 Prozent derSoziopathen alkoholabhängig sind

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und 50 Prozent andere Drogenmissbrauchen. Und so sindSoziopathen häufig Süchtige imherkömmlichen Sinne, zusätzlichzu ihrer im übertragenen Sinnebestehenden Sucht nach Risiko. Mitihren "Höhepunkten" und Gefahrenbietet die Drogenszene mehr alseine Attraktion für dieGewissenlosen; in der Drogenszenefühlen sich viele Soziopathen amwohlsten.

Eine andere, 1993 im AmericanJournal of Psychiatryveröffentlichte Studie69 ergab, dassunter den Süchtigen, die ihreDrogen intravenös konsumierten

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und mit antisozialerPersönlichkeitsstörungdiagnostiziert worden waren, 18Prozent HIV-positiv waren.Dagegen wurden unter Süchtigen,die ihre Drogen intravenöskonsumierten und nicht mitantisozialer Persönlichkeitsstörungdiagnostiziert worden waren, nur 8Prozent HIV-positiv getestet. Dashöhere Risiko einer HIV-Infektionunter Soziopathen ist vermutlichauf ihr riskanteres Verhaltenzurückzuführen.

Diese Zahlen bringen uns zurückzu einer Frage, die ich im erstenKapitel gestellt habe: Ist das Fehlen

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eines Gewissens das Ergebnis einerAnpassung, oder ist es eineGeistesstörung? Eine funktionelleDefinition des BegriffsGeistesstörung ist ein psychischerZustand, der eine schwerwiegend"gestörte Lebenstüchtigkeit" ("lifedisruption") verursacht, alsogravierende und außergewöhnlicheEinschränkungen der Fähigkeiteiner Person, gemäß ihrerallgemeinen Gesundheit undIntelligenz zu funktionieren. Dergesunde Menschenverstand sagtuns, dass das Vorhandensein einerder bekannten Geistesstörungen -schwere Depressionen, chronische

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Ängste, Paranoia, etc. -wahrscheinlich eine leidvoll"gestörte Lebenstüchtigkeit"verursachen würde. Aber wie stehtes um das Fehlen von etwas, das wirgewöhnlich als rein moralischeEigenschaft ansehen? Wie steht esum das Fehlen eines Gewissens?Wir wissen, dass Soziopathen sichfast nie in Therapie begeben. Leidensie aber trotzdem unter "gestörterLebenstüchtigkeit"?

Ein Weg, sich dieser Thematik zunähern, ist die Überlegung, waseinem Soziopathen im Lebenwichtig ist: Gewinnen undDominanz. Und sich dann die

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seltsame Frage zu stellen: Warumerreichen n i c h t alle SoziopathenPositionen mit großer Machtfülle?Bedenkt man ihre fokussierteMotivation und dieHandlungsfreiheit, die aus demFehlen eines Gewissens erwächst,sollten sie alle überragendepolitische Leitfiguren oderinternationale Topmanager seinoder zumindest hochgestellteBerater oder Diktatoren vonKleinstaaten. Warum gewinnen sienicht immer?

Denn das tun sie nicht.Stattdessen sind die meisten vonihnen ziemlich unbedeutend und

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darauf beschränkt, ihre kleinenKinder oder eine deprimierte Frauzu beherrschen oder vielleicht einpaar Angestellte oderArbeitskollegen. Eine erheblicheAnzahl von ihnen ist im Gefängnis,wie Hannahs Vater, oder gefährdenihre Karriere oder ihr Leben. Nursehr wenige sind märchenhaft reichwie Skip. Noch weit weniger sindberühmt. Ohne jemals einen großenEindruck auf der Welt zuhinterlassen, sind die meisten vonihnen im Niedergang begriffen undwerden völlig ausgebrannt sein,wenn sie in die Jahre gekommensind. Zeitweilig können sie uns

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berauben und quälen, ja, aberletztlich sind sie gescheiterteExistenzen.

Aus der Sicht des Psychologensind selbst jene inprestigeträchtigen Positionen,selbst die berühmten Namen, nurgescheiterte Existenzen. Für diemeisten Menschen entsteht Glückdurch die Fähigkeit, zu lieben, seinLeben nach höheren Prinzipien zuleben (jedenfalls meistens) undeinigermaßen zufrieden mit sichselbst zu sein. Soziopathen könnennicht lieben, sie haben perdefinitionem keine höherenPrinzipien, und fast nie fühlen sie

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sich wohl in ihrer Haut. Sie sindlieblos, amoralisch und chronischgelangweilt, selbst die wenigenunter ihnen, die reich und berühmtwerden.

Und sie fühlen sich nicht nur ausLangeweile unwohl in ihrer Haut.Die absolute Egozentrik vonSoziopathen schafft einindividuelles Bewusstsein, das fürjedes kleine Wehwehchen undZiepen des Körpers überaussensibel ist, für jeden flüchtigenSchmerz in Kopf oder Brustkasten.Und Ohren, die sehr begierig undbesorgt jeder Sendung in Radio undFernsehen lauschen, die von

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Ungeziefer, Umweltgiften oderähnlichem Ungemach berichtet. Daseine Sorge und sein Bewusstseinausschließlich auf ihn selbstgerichtet ist, leidet der Menschohne Gewissen manchmal unterquälenden hypochondrischenReaktionen,70 gegen die selbst derquengeligste Neurotiker rationalwirkt. Eine kleine Verletzung durcheine Papierkante ist eingravierendes Ereignis, und einHerpesbläschen ist der Anfang vomEnde.

Das vielleicht bekannteste Beispielder Obsession des Soziopathen mitseinem Körper ist Adolf Hitler, der

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Zeit seines Lebens einHypochonder war und panischeAngst hatte, an Krebs zuerkranken.71 In dem Versuch, denKrebs in Schach zu halten und umeine lange Liste anderereingebildeter Krankheiten zuheilen, schluckte er "Heilmittel",die von seinem bevorzugtenLeibarzt Dr. Theodor Morell eigensfür ihn zusammengebraut wurden.Viele seiner Tabletten enthieltenhalluzinogene Gifte, und sovergiftete sich Hitler allmählichselbst, bis er tatsächlich krankwurde. Wahrscheinlich aus diesemGrunde wurde ein - reales - Zucken

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seiner rechten Hand immerauffälliger, und ab Mitte 1944verbot er Filmaufnahmen von sich.

Manchmal verwendenSoziopathen ihre Hypochondrie alsStrategie zur Vermeidung vonArbeit. Gerade geht es ihnen nochgut; aber dann wird es Zeit,Rechnungen zu bezahlen oder sicheinen Job zu suchen oder einemFreund beim Umzug zu helfen, undplötzlich haben sie Schmerzen imBrustkasten oder fangen an zuhumpeln. Und eingebildetegesundheitliche Probleme undGebrechen tragen einem oft einebevorzugte Behandlung ein, zum

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Beispiel den letzten Sitzplatz ineinem überfüllten Raum.

Durchweg besteht Abneigunggegen beständige Leistung undstrukturierte Projekte, undnatürlich steht diese Vorliebe fürMüßiggang einem Erfolg in derrealen Welt sehr im Wege. Tag fürTag morgens aufzustehen und fürlange Stunden zu arbeiten wird fastnie ernsthaft in Betracht gezogen.Soziopathen ziehen einBetrugsmanöver, den schnellen"Deal" oder eine geschickte Intrigebei weitem dem täglichenEngagement im Beruf, einemlangfristigen Ziel oder einem Plan

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vor. Selbst wenn Soziopathen inhochrangigen Jobs angetroffenwerden, sind das in der RegelPositionen, in denen sich dastatsächlich (oder auch nicht)vollbrachte Pensum an harterArbeit leicht verschleiern lässt oderin denen sich andere somanipulieren lassen, dass sie dieArbeit verrichten. In einem solchenRahmen kann bisweilen eincleverer Soziopath durchvereinzelte, spektakuläreLeistungen die Dinge am Laufenhalten oder durch Schmeichelei undCharme oder Einschüchterung. Erstellt sich als abwesender

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Verantwortlicher oder als"Regenmacher" oder dasunersetzliche "kapriziöse Genie"dar. Er braucht häufig Urlaub oderAuszeiten, in denen seinetatsächlichen Aktivitäten etwasundurchsichtig bleiben. BeständigeArbeit, der wahre Schlüssel zudauerhaftem Erfolg -Beharrlichkeit, Verlässlichkeit,Sorgfalt -, schmeckt zu sehr nachVerantwortung.

Leider gelten dieseeinschränkenden Faktoren auch fürjene Soziopathen, die mitbesonderen Begabungen undTalenten geboren wurden. Zu

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intensiver Hingabe und täglicherArbeit, die notwendig wären, umseine Kunst, Musik oder einbeliebiges anderes kreatives Projektzu entwickeln und zu vermarkten,ist ein Soziopath gewöhnlich nichtfähig. Wenn Erfolg zufällig erreichtwerden kann, mit nur sporadischemEinsatz, dann vielleicht; wenn aberdie Kunst einen stetigenpersönlichen Einsatz verlangt, dannist sie verloren. Letztlich hat einMensch ohne Gewissen das gleicheVerhältnis zu seinen eigenenBegabungen wie zu anderenMenschen: Er vernachlässigt sie.

Und Soziopathie ist fast immer ein

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Solo-Programm, eine weitereStrategie, die gelegentlich für einegewisse Zeit funktionieren mag,aber nur selten auf lange Sicht. Dasie beharrliche Egoisten sind, habenMenschen ohne Gewissen keinenTeamgeist. Der Soziopath kümmertsich nur um sich selbst. Im Umgangmit anderen Menschen oder einerGruppe probiert er es zunächst mitLüge, Schmeichelei undEinschüchterung. DieseErfolgsstrategien sind sehr vieldürftiger und kurzlebiger als echteBeziehungen, Führung undpersönlicher Einsatz. Ziele, die ineiner Partnerschaft oder einer

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Gruppe durch einegemeinschaftliche Anstrengunghätten erreicht werden können,werden gewöhnlich durch denabsoluten Egoismus desSoziopathen torpediert. DieseLaufbahn hin zum letztlichenScheitern wird typischerweise vonberüchtigten Tyrannen genommenund auch von unzähligen wenigerprominenten soziopathischenArbeitgebern, Kollegen undEhegatten.

Wenn der Nervenkitzel derManipulation anderer Menschendie Oberhand gewinnt, wie es beiSoziopathie der Fall ist, werden alle

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anderen Ziele überschattet. Dieresultierende "gestörteLebenstüchtigkeit" kann - wenn siesich auch davon unterscheidet -ebenso schwerwiegend sein wie diedurch schwere Depressionen,chronische Angstzustände, Paranoiaund andere Geisteskrankheitenverursachten Einschränkungen.Und der emotionale Bankrott derSoziopathie bringt es mit sich, dassder Soziopath nie in der Lage seinwird, authentische emotionaleIntelligenz zu entwickeln, einVerständnis dafür, wie Menschenfunktionieren - eine unersetzlicheLeitlinie für das Leben in der Welt

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der Menschen. Wie Doreen, dietatsächlich glaubt, sie könne ihrepersönliche Macht durch dasVerunglimpfen anderer Menschenausbauen, wie Skip, der sich allzeitimmun wähnt gegen dieGesellschaft und ihre Regeln, wieder gestürzte Diktator, derfassungslos ist angesichts deshasserfüllten,verhandlungsunwilligen Mobs"seiner Genossen", neigt einMensch ohne Gewissen - selbst eingerissener - dazu, ein kurzsichtigesund überraschend naivesIndividuum zu sein, das schließlichdurch Langeweile, finanziellen Ruin

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oder eine Kugel umkommen wird. Das extreme Gewissen Und doch ist der bezwingendste

Grund für den Wunsch, einGewissen zu besitzen, statt frei vonihm zu sein, nicht etwa die Liste derruinösen Nachteile, die Soziopathiemit sich bringt. Nein, das Bestedaran, mit Moral ausgestattet zusein, ist die profunde und strahlendschöne Gabe, die uns in der Hülledes Gewissens - und nur darin -zuteil wird. Die Fähigkeit zu liebenist mit dem Gewissen verbunden,so wie der Geist mit dem Körper

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verbunden ist. Das Gewissen ist dieVerkörperung der Liebe unddurchdringt umfassend unserebiologische Konstruktion. Es lebt indem Teil des Gehirns, deremotional reagiert, und zumNutzen unserer Lieben, wenn sieAufmerksamkeit, Hilfe oder gar einOpfer von uns brauchen. Wir habenbereits gesehen, dass ein Mensch,der außerstande ist zu lieben, auchkein echtes Gewissen haben kann,da das Gewissen ein auf unserenemotionalen Bindungen zu anderenMenschen beruhendes,intervenierendes Gefühl derVerantwortlichkeit ist. Jetzt kehren

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wir diese psychologische Gleichungum: Die andere Wahrheit ist, dassein Mensch, der kein Gewissen hat,auch nie wirklich lieben kann.Subtrahiert man den Imperativ derVerantwortlichkeit von Liebe, bleibtnur ein dünnes, drittklassiges Ding- der Wille zu besitzen, und das istmitnichten Liebe.

Kurz nach den Anschlägen des 11.September 2001, mit denen einbesonders finsteres und aggressivesKapitel unserer Geschichtebegonnen hat, sagte mir meinFreund Bernie, der Psychologe,ohne zu zögern, dass er sich für einGewissen entscheiden würde, trotz

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der scheinbaren Zweckmäßigkeiteines Daseins ohne Gewissen, dasser aber nicht sagen könne, warum.Ich glaube, dass Bernies intuitiveEntscheidung auf derunauflöslichen Verbindungzwischen dem Gewissen und derFähigkeit zu lieben beruhte, unddass Bernie, vor die Wahl gestelltzwischen aller Macht, allem Geldund Ruhm der Welt und demPrivileg, seine eigenen Kinderlieben zu können, sich auf der Stellefür Letzteres entscheiden würde.Zum Teil, weil er ein guter Menschist; aber auch, weil Bernie ein guterPsychologe ist und etwas darüber

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weiß, was wirklich die Menschenglücklich macht.

Es gibt das Streben nach Besitzund Dominanz, und es gibt dieLiebe. Ob er nun seineBeweggründe in dem betreffendenMoment benennen konnte odernicht - durch seine Entscheidungfür das Gewissen hat derPsychologe Bernie de facto dieLiebe gewählt, und das überraschtmich keineswegs. Dominanz kanneinen temporären Nervenkitzelproduzieren, aber sie macht denMenschen nicht glücklich - imGegensatz zur Liebe.

Aber kann es nicht auch ein Zuviel

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an Gewissen geben? Gibt es nichtPsychologen, die behauptet haben,dass Menschen - weit davonentfernt, glücklich zu sein - durchihr Gewissen tyrannisiert und inschwere Depressionen getriebenwerden können?

Ja und nein. Freud hat beobachtet,dass ein zu aktives Über-Ich seinenBesitzer in die Depression undwomöglich gar den Selbstmordtreiben könne. Aber das Über-Ich,diese maulende, disziplinierende,nach frühen Erlebnissenverinnerlichte Stimme ist nicht dasGewissen. Und auch nicht das, wasPsychologen als "ungesunde

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Scham" ("unhealthy shame")bezeichnen - wobei es sich nichtwirklich um Scham handelt imSinne einer Reaktion auf begangeneMissetaten, als vielmehr um denirrationalen, durch negativeBotschaften während der Kindheiteingeimpften Glauben, dass diegesamte eigene Person irgendwieschlecht, abstoßend, wertlos sei.Selbst ein bisschen ungesundeScham ist zu viel, aber ungesundeScham ist kaum das normaleGewissen, das ein intervenierendesGefühl der Verantwortlichkeit istund nicht ein destruktives Gefühlvon Wertlosigkeit und Elend. Wenn

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zeitgenössische Psychologenbehaupten, zuviel Gewissen seiGift, ist ihre Wortwahl unüberlegt.Stattdessen meinen sie ungesundeScham - oder ein schrilles Über-Ich,das Überstunden macht.

Das Gewissen, unser siebter Sinn,ist ein völlig anderes Phänomen. Esist ein Gefühl der Verpflichtung,das auf Liebe basiert. Und so bleibtdie Frage: Ist ein extremesGewissen belastend oder erhebend?

Um zu verstehen, wie sich einstark ausgeprägtes Gewissen auf diePsyche auswirkt, können wir dieLebensläufe und Zufriedenheit vonMenschen betrachten, die ihr

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angeborenes Gefühl einesGewissens zu einem besondersstarken emotionalen Muskelausgebildet haben. Jeder von unskönnte verschiedene Personen alsseine moralischen Heldenbenennen, von historischen oderöffentlichen Figuren bis hin zuMenschen, die wir persönlichgekannt oder die uns mit ihremmoralischen Verhalten beeindruckthaben. In einer systematischenStudie über solche Menschen habenAnne Colby am "Radcliffe's HenryMurray Research Center" undWilliam Dämon am "Department ofEducation" der Brown University

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ihre eigene Auswahl getroffen.72

Beunruhigt wegen desgegenwärtigen von ihnen soempfundenen Mangels anmoralischer Führung haben Colbyund Dämon dreiundzwanzigPersonen ausgewählt, die sie fürmoralische Vorbilder hielten, elfMänner und zwölf Frauen, derenmoralisches Engagementhervorragende Beiträge in vielenFeldern erbracht hat, darunterBürgerrechte und bürgerlicheFreiheiten, die Bekämpfung vonArmut und Hunger,Religionsfreiheit, Umweltschutzund Frieden. Diese dreiundzwanzig

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Personen gehörenunterschiedlichen Rassen,Religionen undGesellschaftsschichten an undhaben unterschiedliche Ziele, aberein Merkmal verbindet sie: Einaußergewöhnlich starkausgeprägtes Gewissen, ein"überentwickeltes" Gefühl derVerantwortung für dasWohlergehen ihrer Mitmenschen.Aus der Perspektive einesPsychologen repräsentieren sie inemotionaler und geistiger Hinsichtdas den hier dargestelltenSoziopathen diametralentgegengesetzte Extrem.

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Unter den moralischen Vorbildernvon Colby und Dämon finden sichVirginia Foster Durr, die zurBürgerrechtsaktivistin gewandelteSüdstaatenschönheit, die als ersteRosa Parks* in die Arme schloss, alsdiese aus dem Gefängnis entlassenwurde; Suzie Valadez, die vieleJahre damit verbracht hat, fürTausende von armen Mexikanern inCiudad Juarez Nahrung, Kleidungund medizinische Versorgung zuorganisieren; Jack Coleman,vormals Rektor des HaverfordCollege, der für seine Auszeitenbekannt wurde, in denen er alsStraßenarbeiter, Müllmann und

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Obdachloser gelebt hat; derGeschäftsmann Cabell Brand, dersich der Gründung des Vereins"Total Action Against Poverty" inRoanoke, Virginia, verschriebenhatte; und Charleszetta Waddles,Gründerin der "Perpetual Mission",die ihr Leben der Fürsorge für Alteund Arme, ledige Mütter,Prostituierte und misshandelteKinder in Detroit, Michigan,gewidmet hatte.

Die Forscher studiertenAutobiographien und mündlicheÜberlieferungen und führtenausführliche Interviews mit jedemihrer dreiundzwanzig Vorbilder und

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deren Mitarbeitern. In ihrem BuchSome Do Care: ContemporaryLives of Moral Commitment("Manche haben Mitgefühl:Zeitgenössische Lebensläufemoralischen Engagements")präsentieren sie ihre Ergebnisseund berichten, dass es verblüffendeÜbereinstimmungen zwischenPersonen mit einem extremausgeprägten Gewissen gibt. DieAutoren bezeichnen diesegemeinsamen Charakteristika als(1) "Gewissheit", (2) "Positivität"und (3) "Einheit des Selbst mitmoralischen Zielen". "Gewissheit"beschreibt eine außergewöhnliche

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Klarheit der Überzeugungen derVorbilder darüber, was rich-

* Anmerkung des Übersetzers:

Rosa Louise Parks (1913 - 2005)war eine farbige US-amerikanischeBürgerrechtlerin. Sie wurde am 1.Dezember 1955 in Montgomery,Alabama, verhaftet, weil sie sichweigerte, ihren Sitzplatz im Bus füreinen männlichen weißen Fahrgastzu räumen. Ihr ziviler Ungehorsamgegen die Rassendiskriminierunglöste den "Montgomery BusBoycott" aus, der neben anderenProtesten als Anfang der schwarzenBürgerrechtsbewegung in den USA

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gilt. tig sei, und auch ihr Empfinden

einer eindeutigen persönlichenVerantwortung, nach diesenÜberzeugungen zu handeln."Positivität" drückt dielebensbejahende Einstellung derVorbilder aus, die außerordentlicheFreude an ihrer Arbeit und ihren -oft auch angesichts vonEntbehrungen oder gar Gefahren -ausgeprägten Optimismus. Und die"Einheit des Selbst mit moralischenZielen" der Vorbilder beschreibt dieIntegration ihrer moralischenHaltung mit ihrem Verständnis der

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eigenen Identität und die subjektivempfundene Gleichheit ihrermoralischen und persönlichenZiele.

"Einheit" bedeutet, dass dasGewissen für solche Menschennicht nur eine Orientierungshilfeist. Es ist ihr Wesen. In demVersuch, sein Verständnis seinerpersönlichen Identität zubeschreiben, erklärte eines derVorbilder, Cabell Brand, in einemInterview: "Ich bin, was ich tunkann und wie ich mich jederzeitfühle - an jedem Tag, in jedemMoment ... Es fällt mir schwer,zwischen meiner Person, meinen

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Zielen und meinen Handlungen zutrennen."

Colby und Dämon hielten diesesdritte Merkmal, die "Einheit desSelbst mit moralischen Zielen", fürihr wichtigstes Ergebnis und vonentscheidender Bedeutung für dasVerständnis des Gewissens undseiner Auswirkungen. Wenn dasGewissen hinreichend mächtigwird, vereint es anscheinend diemenschliche Psyche in einzigartigerund nützlicher Weise, und statteine "gestörte Lebenstüchtigkeit" zuverursachen, kann ein extremesGewissen das Lebensglück deutlichsteigern. Colby und Dämon

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schreiben dazu: "Unsere Vorbilderhaben sich durch dieentmutigenden Eindrücke vonArmut und Not nicht beirren lassen,da alles, was sie für ihrenpersönlichen Erfolg brauchten, dieproduktive Erfüllung ihrermoralischen Mission war." Inunbewusster Missachtung derTendenz unserer Kultur, Gewissenund Eigeninteresse als Gegensätzezu sehen, haben Colbys undDämons Vorbilder "ihr eigenesWohlbefinden und persönlichesInteresse in moralischen Begriffendefiniert und waren - mit sehrwenigen Ausnahmen -

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außerordentlich glücklich underfüllt". Weit davon entfernt, ihnenLeid zu bringen oder sie zu Trottelnzu machen, hat ihraußergewöhnliches Gefühl derVerpflichtung gegenüber anderenMenschen sie glücklich gemacht.

Das Gewissen, unser Gefühl derVerantwortlichkeit untereinander,ermöglicht uns einZusammenleben, in unseremZuhause und auf unseremPlaneten. Es hilft, unserem LebenSinn zu verleihen, und stehtzwischen uns und einem ödenDasein sinnloser Wettkämpfe. Einstark ausgeprägtes Gefühl des

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Gewissens kann moralische Ziele,persönliche Wünsche undSelbstverständnis integrieren - wirwerden zu unseren guten Taten;und daher scheint ein extremesGewissen ein seltener, passgenauerSchlüssel für menschliches Glückzu sein.

Und so folgt hier der bestepsychologische Rat, den ichanzubieten habe: Wenn Sie sich inunserer Welt umsehen undversuchen herauszufinden, was vorsich geht und wer "gewinnt" -wünschen Sie sich nicht, wenigerGewissen zu haben. Wünschen Siesich mehr.

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Preisen Sie Ihr Schicksal. Mit einem Gewissen werden Sie

vielleicht nie genau das tun können,was Ihnen beliebt, oder das, was Sietun müssten, um leichte oderdauerhafte Erfolge in dermateriellen Welt zu erreichen. Undso werden Sie vielleicht nie großefinanzielle oder politische Machtüber andere Menschen erringen.Vielleicht werden Sie nie über denRespekt der Massen gebieten oderüber ihre Furcht. Im Gegenteil, Siekönnten schmerzlichen Attackendes Gewissens ausgesetzt sein, die

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Sie durchaus dazu bringen könnten,gegen Ihre eigennützigenBestrebungen zu handeln. Undvielleicht werden Sie Ihr ganzesLeben lang hart arbeiten und dieVerlockungen kindlicherAbhängigkeit aufgeben müssen, umIhre eigenen Kinder gedeihen zusehen. Sie könnten sich selbst vonZeit zu Zeit in der Schlinge einesSoziopathen verfangen, und wegenIhrer Skrupel werden Sie vielleichtnie in der Lage sein, sichzufriedenstellend an den Menschenzu rächen, die Sie verletzt haben.Und, ja, wahrscheinlich werden Sienie der Diktator eines Kleinstaates

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werden.Aber Sie werden Ihre schlafenden

Kinder im Bett ansehen und dieseunerträgliche Woge der Ehrfurchtund Dankbarkeit erleben können.Sie werden andere Menschen inIhrem Herzen tragen können,nachdem sie längst verblichen sind.Sie werden wahre Freunde haben.Im Gegensatz zu den Wenigen, diehohl und auf Risiko versessen sindund denen ein siebter Sinn fehlt,werden Sie Ihren Lebensweg imvollen Bewusstsein der warmenund tröstenden, provozierenden,verwirrenden, bezwingenden undmanchmal beglückenden

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Gegenwart anderer menschlicherWesen gehen, und in BegleitungIhres Gewissens werden Sie dieMöglichkeit haben, das allergrößteRisiko einzugehen - das, wie wiralle wissen, darin besteht zu lieben.

Das Gewissen ist wahrlich dasbessere Angebot von Mutter Natur.Sein Wert ist im grandiosenRahmen der Geschichteoffensichtlich, und wie wir imnächsten Kapitel sehen werden, istes für uns selbst im alltäglichenUmgang mit Freunden undNachbarn wertvoll. Lassen Sie unsnun versuchen, in Gesellschaft dergesamten Nachbarschaft einen Tag

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mit einer bedauernswertenSoziopathin namens Tillie zuverbringen. Von Tillie können wirlernen - wenn auch sie selbst es nielernen wird -, dass dank einesGewissens auch alltäglicheErlebnisse sich lohnen.

E L F der tag des murmeltiers* Was nicht gut für den Schwarm

ist, ist auch nicht gut für die Biene.—Marc Aurel Tillie ist ein Mensch, den der

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PersönlichkeitstheoretikerTheodore Millon73 als "streitlustigePsychopathin" ("abrasivepsychopath") bezeichnen würde. Sieist eine Soziopathin, aber ihr fehlt -für sie betrüblich - der beiSoziopathen übliche Charme unddie Raffinesse. Stattdessen verhältsie sich, um mit Millon zusprechen, "unverhohlen und grobstreitlustig und zänkisch", und"alles und jeder ist einwillkommenes Ziel für ihreNörgeleien und Attacken". Tilliesbesondere Begabung besteht darin,auch die kleinste, subtilsteAndeutung eines Konflikts

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aufzugreifen und sie mit großenGezeter aufzubauschen. Sie brilliertdarin, Feindseligkeit und Bitterkeitzu erzeugen, wo vorher keine warund ist darauf spezialisiert, fürgewöhnlich sanftmütige undfriedliebende Menschen zuprovozieren.

In Tillies Universum hat Tillieimmer Recht, und sie erbaut * Anmerkung des Übersetzers: Der

"Groundhog Day" (Tag desMurmeltiers) ist ein traditionellesFest, das mancherorts in den USAund Kanada gefeiert wird. Am 2.Februar eines jeden Jahres, dem

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"Candlemas Day" (Lichtmess), wirdeine Prognose über den weiterenVerlauf des Winters getroffen. Dazuwerden öffentlich und manchmalim Rahmen von VolksfestenWaldmurmeltiere ("groundhogs")aus ihrem Bau gelockt. Wenn dasTier "seinen Schatten sieht", alsodie Sonne scheint, soll der Winternoch weitere sechs Wochenanhalten. Die Voraussage basiertalso auf einer Art Bauernregel zumWetter an diesem Tag.

sich selbstgerecht daran, ihren

anscheinend allgegenwärtigen undstets irgendwie irrigen Gegnern zu

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widersprechen und sie zufrustrieren. Ihre Mission im Lebenist es, die Welt zu korrigieren, eineBerufung, der sie ohne Zögern oderGewissen nachgeht. Auf dieserMission vermisst sie dieWertschätzung ihrer Mitmenschen,womit sie zusätzlich ihr Verhaltenihnen gegenüber rechtfertigt.

Heute morgen hat Tillie einMurmeltier im Garten hinter ihremHaus entdeckt. Während sie es vonihrem Wintergarten aus beobachtet,setzt es sich auf seinen rundenSchenkeln im Gras auf und wendetsein wachsames kleines Gesicht injede Richtung, als würde es Tillies

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Grundstück vermessen. Als Tilliedie Schiebetür öffnet, um es bessersehen zu können, erstarrt das Tierfür einen Moment, bevor es davonwatschelt und am Rande desRasens im Boden verschwindet, aneinem Punkt, wo Tillies Grundstückan das ihrer Nachbarn Catherineund Fred grenzt.

Tillie merkt sich, wo sein Bau seinmuss, und stellt sich dann auf dieTerrasse, eine weißhaarige,siebzigjährige Frau in einemblaukarierten Hauskleid - siekönnte der Welt wie der Archetypeiner gütigen und weisen alten Frauerscheinen. Wie sie interessiert

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über den Rasen schaut, könnte einzufälliger Beobachter denken, dassihre Miene und untersetzte Gestaltsich nicht allzu sehr von derErscheinung des Murmeltiersunterscheiden.

Tillies Nachbarn am Hang auf deranderen Seite ihres Hauses, Gretaund Jerry, frühstücken zufälligauch im Wintergarten und könnenTillie auf ihrer Terrasse sehen. Siesind zu weit entfernt, um dasMurmeltier zu bemerken. Alles, wassie sehen können, ist diesiebzigjährige Tillie, wie sieregungslos in ihrem blauweißenKleid dasteht.

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Die fünfunddreißigjährige Greta,Leiterin des örtlichenWarenhauses, sagt zu ihrem MannJerry, einem Bauunternehmer:"Verdammt, ich wünschte, diesefürchterliche Frau würde einfachvon hier wegziehen. Wie langewohnt sie inzwischen hier?"

"Fünfzehn Monate", antwortetJerry.

Greta lächelt grimmig. "Aber werzählt schon die Tage, oder? Ichweiß, ich sollte mir nicht wünschen,dass jemand von hier verschwindet;aber sie ist so unglaublich gemein.Und dominant. Ich weiß nicht, wiesie sich überhaupt selbst ertragen

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kann."Jerry seufzt und sagt: "Vielleicht

könnten wir ihr Haus kaufen."Greta will lachen, als ihr klar wird,

dass Jerry es ernst meint. Plötzlicherkennt sie, dass ihr für gewöhnlichgleichmütiger Ehemann Tillieebenso verabscheut wie sie selbst.Sie fröstelt und fühlt sich einbisschen schuldig und geht zurückin die Küche, um noch etwasfrischen Kaffee zu holen.

Als sie zurückkommt, starrt Jerryimmer noch die alte Frau auf ihrerTerrasse an. Er sagt: "Nein, wirkönnen es uns nicht leisten, ihrHaus zu kaufen. Vielleicht zieht sie

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ja einfach weg. Man sollte denken,dass jemand wegziehen würde,wenn er in der gesamtenNachbarschaft so verhasst ist wiesie."

Greta stellt fest: "Na ja, also dieSache ist ja, dass man bestimmtüberall, wo sie auftaucht, so auf siereagiert."

"Ja, wahrscheinlich. Wo hat siefrüher gelebt?"

"Keine Ahnung", antwortet Greta.Dann, mit einem aufkeimendenGefühl der Dankbarkeit, dass Jerryihre Gefühle teilt, sagt sie: "Ist es zufassen? Ich glaube, es war letzteWoche, als sie mich angerufen und

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gesagt hat, wir sollten in unseremKamin kein Feuer mehr machen.Sie sei 'allergisch gegen Holzrauch' -wie findest du das?"

"Was7. Davon hast du mir nichtserzählt! Das ist irre!" Jerry ballt dieFäuste und ändert dann sein Urteil."Nein, das ist nicht irre. Es isteinfach nur dummes Zeug. Wirwerden ein Feuer in demverdammten Kamin machen undzwar heute Abend. Also, ich werdenoch etwas mehr Holzhereinbringen, bevor ich zur Arbeitfahre."

"Aber es soll heute richtig warmwerden."

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"Ja, und?"Diesmal lacht Greta tatsächlich.

"Weißt du, wie wir uns anhören?"Jerry sieht seine Frau verlegen an,

und seine Mundwinkel wandernnach oben. Er öffnet die geballtenFäuste und knackt ein paarmal mitden Knöcheln, um sich zuentspannen.

Die Nachbarin von Greta undJerry auf der gegenüberliegendenStraßenseite und drei Häuser weiterist eine ältliche Witwe namensSunny. Genau in diesem Momentdenkt auch Sunny daran, wiegemein Tillie doch sei, obwohl sieTillie nicht auf deren rückwärtiger

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Terrasse sehen kann wie Greta undJerry. Gestern hatte Tillie diePolizei gerufen, weil Sunny ihr Autoauf der Straße vor ihrem eigenenHaus geparkt hatte. Sunny hatteschon immer ihr Auto auf derbreiten Fläche zwischen der Straßeund ihrem Haus geparkt, seit ihrMann vor zehn Jahren das Zeitlichegesegnet hatte, weil sie Angst davorhat, mit dem Auto von der Einfahrtin den Verkehr zurückzusetzen. Einjunger Polizist kam und forderte sieauf, ihr Auto in der Einfahrt zuparken. Er entschuldigte sichmehrfach, sagte aber trotzdem, dassTillie im Recht sei. Es sei ein

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Verstoß. Sunny hat ihr Frühstücknoch nicht beendet, und schongraut ihr vor der bevorstehendenFahrt zum Lebensmittelgeschäft, dasie ganz allein das Auto wirdzurücksetzen müssen. Sie könnteheulen. Und das Auto war nichteinmal in der Nähe von TilliesHaus!

Während Sunny betrübt auf dieStraße schaut, beschließt Tillie aufihrer hinteren Terrasse, dass dasMurmeltier fürs Erste nicht wiederauftauchen wird. Sie geht zurückins Haus, wo sie nicht mehr vonGreta und Jerry, die immer nocham Hang frühstücken, gesehen

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werden kann. Während Greta undJerry ihren Kaffee austrinken undversuchen, über etwas anderes zureden, geht Tillie in ihrer Küche ansTelefon und ruft Catherine an, ihredirekte Nachbarin, mit der sienunmehr ein Murmeltier teilt.

Catherine ist Lehrerin in dersechsten Klasse. Sie ist seit ihremzweiundzwanzigsten LebensjahrLehrerin gewesen, und nun naht ihrsechzigster Geburtstag heran. Sieüberlegt, sich zur Ruhe zu setzen;aber der Gedanke macht sie traurig.Ihr Unterricht und die Kinderbedeuten ihr alles in der Welt, undsie will nicht ernsthaft aufhören zu

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arbeiten. Ihr Mann Fred, der siebenJahre älter ist und bereits imRuhestand, hat Verständnis für sieund Geduld.

"Wann immer du bereit bist",pflegt er zu sagen. "Ich magohnehin gern im Hausherumwuseln und Kleinigkeitenreparieren." Und dann lachen siebeide. Fred ist kaum in der Lage,eine kaputte Glühbirne zu ersetzen.Bis er widerwillig vor einem Jahrden Posten aufgegeben hatte, war erRedakteur bei der Lokalzeitunggewesen. Er ist ein guter, ruhiger,gebildeter Mann, der ebenfallsseine Arbeit geliebt hat; er schreibt

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noch immer ehrenhalber in derRubrik "Menschliches" eineKolumne unter dem Titel:"Menschen, die man kennen sollte."

Als das Telefon klingelt, sitzt Fredim Wohnzimmer und liest,während Catherine in der Küche istund im Begriff, zeitig zur Arbeit zufahren. Das Klingeln des Telefonsso früh am Morgen erschrecktCatherine. Schnell nimmt sie denHörer ab.

"Hallo?""Catherine", sagt Tillie

unvermittelt und stößt das Wortaus, als sei sie verärgert.

"Ja, hier spricht Catherine. Tillie?

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Meine Güte, Tillie, es ist sieben Uhrmorgens. Geht es Ihnen gut?"

"Ja, mir geht es gut. Ich habe ebenein Murmeltier im Garten gesehenund dachte mir, dass Sie dasvielleicht interessieren würde."

"Ein was? Ein Murmeltier?""Ja, hinten zwischen unseren

Grundstücken.""Tja, das ist ... interessant. Muss

wohl niedlich gewesen sein, oder?""War es wohl. Na ja, ich weiß, dass

Sie beschäftigt sind. Ich dachte nur,dass Sie von dem Tier wissensollten. Wir können später darübersprechen, bis dann."

"Äh, ja. Wir reden später, also bis

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dann, Tillie."Catherine legt verwundert den

Hörer auf und Fred ruft: "Was wardenn das?"

Sie geht ins Wohnzimmer, wo ermit seinem Buch sitzt, undantwortet: "Das war Tillie."

"Aha", sagt Fred und rollt mit denAugen. "Und was hat sie gewollt?"

"Sie wollte mir mitteilen, dass siehinter dem Haus ein Murmeltiergesehen hat."

"Warum wollte sie dir dasmitteilen?"

Catherine schüttelt langsam denKopf und sagt: "Ich habe nicht diegeringste Ahnung."

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"Ach, Tillie!", exklamiert Fred undhebt den rechten Arm inspöttischem Salut über den Kopf.

Als Catherine ihre morgendlicheRoutine beendet, fühlt sie sich einbisschen beunruhigt und etwasunwohl, da sie weiß, dass bei Tilliedie Handlung sich stets verdichtetund die Auflösung wahrscheinlichanmaßend und unerfreulich seinwird. Aber sie kann sich beimbesten Willen nicht vorstellen, wases mit dem Murmeltier auf sichhaben könnte. Will Tillie esloswerden? Holt Tillie indirekt ihreErlaubnis ein? Und davon einmalabgesehen - Catherine und Fred

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haben seit dreißig Jahren in genaudiesem Haus gelebt und noch keineinziges Mal ein Murmeltier aufdem Gelände gesehen. Wie seltsam.

Als sie im Begriff ist, sich auf denWeg zur Schule zu machen, klingeltdas Telefon ein zweites Mal. Sienimmt an, dass es wieder Tillie seinmuss, aber stattdessen ist es eineandere Nachbarin, die nette,zurückhaltende Sunny, und sie istin Tränen aufgelöst. Sunny erzähltCatherine, dass Tillie sie genötigthätte, ihr Auto in ihrer Einfahrt zuparken, und nun säße sie in derFalle. Könnte ihr vielleicht jemandhelfen? Könnten Catherine und

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Fred sie vielleicht heute zum Ladenfahren? Als sie von dieser neuestenHeldentat Tillies hört, rötet sichCatherines Gesicht vor Wut; abersie versichert Tillie so ruhig siekann, dass Fred sieselbstverständlich zum Ladenfahren würde. Vielleicht gegenMittag? Außerdem würde Fred denPolizeichef sehr gut kennen, undvielleicht könne man ja irgendwiedas Problem mit Sunnys Parkplatzlösen.

Während sie im Laufe des Tagesihre sechste Klasse unterrichtet,vergisst Catherine dieAngelegenheit mit Tillie; als sie

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aber gegen halb fünf nach Hausekommt, fällt ihr der Anruf amfrühen Morgen wieder ein, undwieder fühlt sie sich zunehmendunwohl. Sie hatte beabsichtigt, vordem Abendessen ein Nickerchen zumachen; aber als sie sich auf dasBett setzt, wird ihr ungutes Gefühlplötzlich stärker, und es zieht sieans Fenster. Das Schlafzimmer istim ersten Stock, und von hier aushat Catherine einen freien Blicküber den gesamten hinteren Teildes Grundstücks und auch TilliesRasen hinter dem Haus. Der Tagwar für die Jahreszeitungewöhnlich warm gewesen, und

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die hübschen Forsythien, die Fredam hinteren Ende ihresGrundstücks gepflanzt hatte, hattenzu blühen begonnen. Sie blickthinaus über den ausgedehntenRasen hinter dem Haus auf dielange Forsythienhecke mit kleinengelben Blüten; dahinter liegt dergraubraune Schatten des nochunbelaubten, unter Naturschutzstehenden Waldes, der alleGrundstücke auf dieserStraßenseite begrenzt.

Und außerdem sieht sieseltsamerweise Tillie, die mittenauf ihrem Rasen steht. Sie trägtimmer noch ihr blauweiß kariertes

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Kleid und außerdem inzwischeneinen breitkrempigen Strohhut, alswolle sie damenhaft ein wenigGartenarbeit verrichten.

Aber Tillie gärtnert nie.Catherine beobachtet aus ihrem

Schlafzimmerfenster, wie Tillie sichauf dem Gelände umsieht, etwas zuerspähen scheint und zu derbetreffenden Stelle marschiert. Siebückt sich und hebt mitoffensichtlicher Anstrengung einObjekt vom Boden auf, das fürCatherine wie ein großer, weißerStein aussieht, der in Größe undForm einer Wassermelone ähnelt.Als sie etwas genauer hinschaut,

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stellt Catherine fest, dass es sichtatsächlich um einen Stein handelt,um einen kleinen Findling, fast zuschwer für Tillie. Aber Tillieumklammert den Stein mit beidenArmen und beginnt in gekrümmter,unsicherer Haltung in RichtungForsythien zu watscheln.

Eine Bemerkung aus demTelefongespräch am Morgenkommt Catherine in den Sinn -"hinten zwischen unserenGrundstücken" -, und in diesemMoment weiß Catherine genau, wasTillie vorhat. Der Bau desMurmeltiers! Tillie will mit demStein die Höhle des Murmeltiers

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verstopfen, von dem sie Catherineerzählt hat.

Catherine ist entsetzt. Sie fühltsich benommen und ihr ist übel, alsob sie Zeugin eines Mordes würde.Sie muss etwas tun; aberhinauszugehen und Tillie frontalzur Rede zu stellen wäre so, alswolle sie mit einer tollwütigenWölfin diskutieren. In Wirklichkeithat Catherine - obwohl sie sich dasnur ungern eingesteht - generellAngst vor Tillie aus Gründen, diesie nicht einmal in Worte fassenkann. Warum sollte sie vor einerziemlich unbedeutenden,siebzigjährigen Frau Angst haben?

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Und wie konnte Tillie wissen, dasssie sie gerade jetzt vom Haus ausbeobachten würde? Wusste sie estatsächlich?

Catherine fängt an, imSchlafzimmer auf- und abzugehen,vom Fenster zu dem altenKleiderschrank aus Eiche undwieder zurück ans Fenster. Siesieht, wie Tillie unbeholfen denStein an einer Stelle kurz hinter denForsythien fallen lässt, in der Mittezwischen zwei kleinenWeidenbäumen am Waldrand.Catherine merkt sich die Stellesorgfältig. Dann geht sie zurückzum Kleiderschrank und starrt sich

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in dem antiken Spiegel an.Während Tillie versucht, lose Erdevon ihrem Kleid zu schütteln, unddann über den Rasen zurück zurTerrasse stolziert, starrt Catherineweiterhin im Spiegel in ihre eigenenAugen. Das arme, kleine Tierchen,denkt sie ständig. Was soll esmachen, wenn es in der Höhleeingesperrt ist?

Schließlich weiß Catherine, wassie zu tun hat. Und sie muss es Frederzählen; er kann helfen.

Fred hatte im Zeitungsverlageinige seiner alten Freundebesucht. Als er nach Hause kam,erzählte Catherine ihm, was Tillie

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getan hatte. Er sagte: "Na, diesmalhat Tillie wohl zwei Fliegen miteiner Klappe erwischt."

"Wieso?""Dich und das kleine Murmeltier,

euch beide." "Ach so. Ja, das stimmtwohl, oder?", sagt Catherineschlechtgelaunt.

"Sieht so aus. Bist du sicher, dassich nicht rübergehen und es mit ihrausdiskutieren soll?"

"Ja. Sie würde es einfach wiedermachen. Ich will dem Murmeltierhelfen, so dass es in Sicherheit ist.Kommst du mit?"

"Habe ich eine Wahl?"Catherine lächelt und nimmt ihn

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in die Arme. "Eigentlich nicht", sagtsie.

Sie bereiten gemeinsam dasAbendessen zu, wie es ihreGewohnheit ist, und warten bisetwa neun Uhr. Draußen ist es jetztvöllig dunkel. Fred willTaschenlampen mitnehmen; aberCatherine befürchtet, dass Tillie siesehen könnte.

"Sie wird wissen, dass wir ihnbefreit haben, und ihn einfachmorgen wieder einsperren."

"Wir müssen wenigstens einemitnehmen, um seinen Bau zufinden, wenn wir da sind."

"Ja, das stimmt. Okay, vielleicht

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eine ganz kleine Lampe? Aber wirschalten sie erst an, wenn wir dasind."

Sie setzen sich imSchneckentempo auf dem Rasen inBewegung, um in der Dunkelheitnicht zu stolpern. Fred führt undCatherine folgt ihm, mit den Armenausgestreckt wie eineSchlafwandlerin, um ihrGleichgewicht zu halten. Als sie dashintere Ende des Rasens erreichthaben, folgen sie derForsythienhecke bis zum Ende.Dann macht Catherine ingespannter Erwartung, wie einKind, einen Schritt in die noch

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tiefere Dunkelheit dahinter undhofft, dass sie mit den Händen undnicht ihrem Gesicht eine derWeiden finden wird.

Sie ertastet einen Zweig, holt tiefLuft und flüstert: "Okay, Fred. DieTaschenlampe."

Fred nimmt die Lampe aus seinerTasche, hält sie dicht über demBoden und schaltet sie an. Nacheiner Weile finden sie denmelonengroßen Stein, schneller, alssie hoffen konnten, da er glatt undweiß ist und sich von der dunklenErde abhebt. Catherine atmet ausund schiebt eine lose Haarsträhnehinter ihr linkes Ohr. Sie und Fred

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bücken sich und heben den Steinhoch. Es kommt ein erstaunlichkleines Loch im Boden zumVorschein, bedenkt man, dass esvon einem fetten kleinenMurmeltier benutzt wird.

Catherine hat den Impuls, mit derLampe in das Loch zu leuchten, umnach dem Bewohner zu sehen. Aberdann wird ihr klar, dass sie nichtviel würde sehen können und dasssie das Tier verschrecken könnte.

Arm in Arm stolpert sie mit Fredunter Flüstern und unterdrücktemGelächter zurück zum Haus.

Tillie hat sie nicht gesehen. Als sievon ihrer Mission zurückkommen,

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hatte Tillie bereits, wie üblich, seitmehreren Stunden getrunken undgeschmollt. Sie sitzt auf dem Sofa inihrem Wohnzimmer und schenktsich Glenlivet ein in dem Versuch,die Monotonie ihres Lebens und dieIdiotie, mit der sie sich ständigherumplagen muss, zu ertränken.Das einzige, was diesen Abend voneinem beliebigen anderenunterscheidet, ist die Ansammlungvon Umzugskartons um sie herum.

In ihrem benebelten Zustandbeglückwünscht sie sich zu ihrerbrillanten Idee, dieses Mal kein "ZUVERKAUFEN"-Schild aufzustellen.Sie denkt bei sich: "Ich werde diese

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Kretins überraschen - sie werdenAugen machen, diese Idioten!"

Der Nichtsnutz vonGrundstücksmakler erzählt ihrständig, dass sie sich selbst schadet,wenn sie kein Schild aufstellt, undeigentlich meint sie, dass sie aufeine bessere Offerte warten sollte.Der Käufer hat weniger als den vonihr geforderten Preis geboten. AberTillie kann nicht warten. Sie mochtenoch nie warten. Ihre Zeit wirdkommen, und zwar morgen früh.Und dann wird jedermann in dieserganzen fürchterlichenNachbarschaft durch ihren Umzugvöllig schockiert sein. Das steht für

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sie fest. Der Makler begreift nicht,warum Diskretion wichtig ist, aberer ist ein Trottel - warum also aufihn hören? Sie hat schon früherVerluste weggesteckt, wenn sieschnell aus einem Haus ausziehenwollte. Es gehört alles zum Spiel,denkt sie sich. Gehört alles zumSpiel. Man kann nicht an einem Ortleben, wo die Leute nicht auf einenhören. Und ihnen zum Abschiedeinen kräftigen Hieb zu versetzenist äußerst wichtig.

Tillie hat von ihrem verstorbenenVater ein Treuhandvermögengeerbt, aus dem sie den größten Teilihres Lebens ihren Unterhalt

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bestritten hat. Heutzutage pflegt siezu sagen, sie sei "im Ruhestand",aber sie hat nie richtig gearbeitet.Als sie noch jünger war, hat siemanchmal Aquarelle gemalt, abernie eines davon verkauft. Sie würdegerne stattlichere Häuser kaufen,aber ihre elende Mutter ist immernoch am Leben, und so kann sienicht an den Rest des Geldes heran.Ihre Mutter ist fast hundert Jahrealt und immer noch nichtgestorben. Tillie sitzt in diesenschrecklichen bürgerlichenVororten fest, wohl wissend, dasssie sich von Rechts wegen einenaufwändigeren Lebensstil leisten

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können sollte. Sie besuchtregelmäßig ihre Mutter, da siekeinesfalls enterbt werden will; unddie bettlägerige alte Frau erinnertsie immer an einen halbgerupftenWellensittich, der in seinem Käfigkrächzt. Was sie zu sagen hat, istungefähr genauso interessant.

Eigentlich ist gar nichts sonderlichinteressant, wirklich. Das Nagetierzu ersticken war für ein paarMinuten eine Abwechslung, und siehofft, dass Catherine zugesehenhat. Es würde sie der Schlag treffen.Aber dann war das Projektabgeschlossen, und es gab nichtsanderes zu tun. Sie kann sich nicht

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vorstellen, was diese absurdenLeute um sie herum tun; siescheinen immer so ausgelastet zusein, während sie durch ihrebelanglosen Leben hetzen. Siemüssen erbsengroße Gehirnehaben.

Sie schenkt sich noch einen Drinkein und kippt ihn hinunter. EinBild, das sie gemalt hat als sie etwazwanzig war, ist noch nicht in einenKarton gepackt und hängt über demunbenutzten Kamin, soausgeblichen, dass man das Motivim Schatten des spärlicherleuchteten Zimmers kaumerkennen kann.

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Zusammengekauert sitzt sie aufdem Sofa, blickt hinauf zu dem Bildund erinnert sich dunkel an dieStrandszene, die sie vor vielenJahrzehnten gemalt hat. Dann siehtsie nur noch die funkelnden Sternevor ihren Augen, auf die sie an denmeisten Abenden ihres Lebenswartet, bevor sie ins Koma sinkt.

Der nächste Tag ist ein Samstag,ein bisschen kühler als gestern, mitkeiner Wolke am Himmel.

Auf der anderen Seite der Straße,ein paar Häuser weiter, öffnetSunny die Spitzengardinen vorihrem Vorderfenster, und als dasSonnenlicht hereinströmt, genießt

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sie den erhebenden Anblick ihresAutos, das dort geparkt ist, wo eshingehört - auf der Straße. Und dortwird sie es auch weiterhin parken.Fred hat gestern nach demMittagessen mit dem Polizeichefgesprochen und alles für sieg e r e g e l t . "Freih eit", atmet sieerleichtert auf. Sie überlegt, was siefür Fred und Catherine tun kann.Vielleicht könnte sie ihnen etwasbacken. Bei der Vorstellung, wiesehr die beiden sich darüber freuenwürden, bekommt sie noch bessereLaune.

In dem Haus am Hang hat Gretaein freies Wochenende, und sie und

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Jerry schlafen lang. Als sieallmählich wach werden und hinausin den Wintergarten gehen, umKaffe zu trinken, bemerken sieeinen großen Umzugswagen inTillies Einfahrt.

"Ist das wirklich wahr?", fragtJerry und starrt den Lastwagen an."Oder sind wir noch im Bett undträumen?"

"Das muss ein Traum sein", sagtGreta und starrt ebenfalls. "Ichhabe nie ein Verkaufsschildgesehen. Hast du jemals ein Schildda drüben gesehen?"

"Nein."In diesem Moment kommen zwei

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Männer in Overalls aus TilliesHaus; zwischen sich tragen sie einSofa. Greta und Jerry sehen sich anund beginnen zu lachen. Jerry lachtso sehr, dass er etwas von seinemKaffee verschüttet.

Greta fragt ihn, "Was meinst du,warum hat sie dasgeheimgehalten?"

"Was sind überhaupt ihreGründe? Aber das ist doch jetztnicht mehr wichtig, oder?Unglaublich."

Greta wird für einen Momentnachdenklich und sagt dann: "Wasmeinst du, wie alt ist sie?"

"Ich weiß nicht. Jedenfalls nicht

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mehr jung.""Ich frage mich, ob sie jemals

Kinder hatte. Herrje - kannst du dirvorstellen, eines ihrer Kinder zusein?"

"Noch schlimmer - kannst du dirvorstellen, sie zu sein?"

"Also, meinst du, sie müsste unsLeid tun?", fragt Greta.

Jerry grinst und macht eineabschätzige Handbewegung inRichtung der entferntenUmzugsszene. "Nun, da bin ichnicht sicher, mein Schatz. Aberwenn wir sie bemitleiden wollen,dann doch bitte beim Frühstück,okay? Denk an den Strudel!"

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"Ja!", sagt Greta und schmatztgenüsslich. Sie nimmt dieKaffeebecher, und die beiden gebenden Blick aus dem Wintergartenauf, um sich dem Gebäck in derKüche zu widmen.

Da sie in dem Haus neben Tilliewohnen, bemerken auch Catherineund Fred die Aktivitäten derMänner aus dem Umzugswagenund fragen sich, warum sie nie einVerkaufsschild gesehen oder vonTillie gehört haben, dass siewegzieht. Fred rollt wieder mit denAugen, und Catherine schüttelt denKopf. Aber dann werden sie erneutvon einem Anruf abgelenkt, dieses

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Mal von ihrer Tochter und demSchwiegersohn, die ankündigen,dass sie in zwei Wochen mit ihrervierjährigen Tochter Katie zu einemBesuch herüberfliegen werden.Catherine ist außer sich vorAufregung, und Tillies Umzug, derweiterhin draußen stattfindet, istvergessen.

Zwei Stunden später, als derLastwagen vor Tillies Haus abfährt,bekommt das niemand mit. Alles istwieder ruhig.

Hinter dem Haus von Catherineund Fred, bei den Forsythien amentfernten Ende der Hecke, kraxeltdas Murmeltier aus seinem zweiten

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Loch und richtet sich so weit wiemöglich auf seinen kurzenHinterbeinen auf. Seine schwarzenÄuglein glitzern im hellenSonnenlicht, als es zu einem großenweißen Stein hinübersieht, der inder Nähe seines ersten Loches liegt,am anderen Ende der gelben Hecke.Dann blickt es auf, in Richtung desleeren Hauses von Tillie.Schließlich wird seineAufmerksamkeit von einemBüschel Löwenzahn gefesselt, dasaus der weichen Erde vor ihmsprießt. Ein weiteres, etwaskleineres Murmeltier zwängt sichaus dem Loch. Sie setzen sich in

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Murmeltier-Fasson hin, genießengemeinsam ein entspanntesMittagessen frischer Stiele, undtrollen sich dann in den Wald.

Z W Ö L F das gewissen in seiner reinsten

form: die Wissenschaft plädiert fürdie moral

Er ist kein perfekter Muslim, der

sich satt isst und seinen Nachbarnhungern lässt.

—Mohammed Was nützt es einem Menschen,

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wenn er die ganze Welt gewinntund seine eigene Seele verliert?

—Jesus Der Mann, der das Atom zu

spalten weiß, aber keine Liebe imHerzen trägt, wird zu einemUngeheuer.

—Krishnamurti Auf die eine oder andere Weise ist

ein Leben ohne Gewissen eingescheitertes Leben. Diejenigenunter uns, die lieben und einGewissen besitzen, haben wirklichgroßes Glück, selbst im alltäglichenLeben von Arbeit, reflexartigem

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Geben und Nehmen und kleinenFreuden.

Und in der Regel ist das Gewissengenau das: reflexartig undalltäglich. Ohne Fanfaren undzumeist unbemerkt verleiht dasGewissen unseren normalen undspontanen alltäglichenInteraktionen mit jedem und allemum uns herum stückchenweiseSinn. Catherine und Fred habennicht an hochfliegende Idealegedacht, als sie sich daranmachten,das Murmeltier zu befreien - das,wie sich dann herausstellte,überhaupt nicht eingesperrt war.Sie waren nicht pflichtbewusst oder

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mutig, nicht sonderlich effektiv undbestimmt nicht rational. Eserschien ihnen einfach richtig, demTier zu helfen, und es gab ihnenirgendwie ein gutes Gefühl. DenStein zu versetzen war, um eine alteund universell verstandeneRedewendung zu verwenden, "gutfür ihre Seelen".

Was das Gewissen betrifft, ist diewestliche Kultur im Laufe derJahrhunderte vom Glauben an einunabänderliches, gottgesandtesWissen um Richtig und Falsch überden Glauben an das FreudscheKonzept eines strafenden Über-Ichszu der Auffassung gelangt, dass das

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Gewissen auf unserer normalenund positiven Verbundenheituntereinander basiert. Als einintervenierendes Gefühl derVerantwortlichkeit, das in unserenemotionalen Bindungen wurzelt,hat sich das Gewissen zu einemrein psychologischen Konstruktentwickelt. Aber in gewisserHinsicht schließt sich derphilosophische Kreis zu seinenkirchlichen Anfängen und lässt sodas Gewissen zu einemBerührungspunkt zwischenPsychologie und Spiritualitätwerden, zu einem Thema, bei demdie Empfehlungen der Psychologie

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und die Lehren der bedeutendstenreligiösen und spirituellenTraditionen der Welt völligübereinstimmen. In einerbemerkenswerten Konvergenz -selbst die radikalen Materialistenund die Mystiker treffen sich hier instillschweigender Übereinkunft -stimmenVerhaltenswissenschaften,Evolutionspsychologie und alletraditionellen Theologien darinüberein, dass es außerordentlichvorteilhaft ist, ein starkes Gewissenzu haben, und dass das völligeFehlen eines Gewissens in allerRegel in die Katastrophe führt,

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sowohl für Gruppen als auchIndividuen.

Ein Psychologe würde sagen, dassunser Verhalten uns natürlicherscheint (oder "ichgerecht"), wennwir Verantwortung für dasWohlergehen anderer übernehmen,und dass unser Lebensglückdadurch gesteigert wird. In derBibel heißt es schlicht: "Geben istseliger denn Nehmen". AlsPsychologin kann ich Ihnenversichern, dass das Fehlen einesauf emotionalen Bindungenbasierenden, intervenierendenGefühls der Verantwortlichkeit zueinem endlosen und für gewöhnlich

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vergeblichen Streben nachDominanz führt und eine schwergestörte Lebenstüchtigkeit undschließlich Verfall mit sich bringt.Buddha hat es so gesagt: "Alles, waswir sind, entsteht aus unserenGedanken. Spricht oder handelt einMann mit reinen Gedanken, folgtihm das Glück wie ein Schatten, derihn nie verlässt."

In ihrer psychologischen Studievon Menschen mit einemaußergewöhnlichen Gewissenschreiben Anne Colby und WilliamDämon: "Eine Positivität, dieOptimismus, Liebe und Freudeumfasst, ist ... eng verbunden mit

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Moral, wie wir an den Lebensläufenunserer Vorbilder erkennenkönnen." Und auch hier stimmtBuddha zu; er sagt: "Um sicherdurch das Labyrinth desmenschlichen Lebens zu gehen,braucht man das Licht der Weisheitund die Führung der Tugend."

Und natürlich gibt es auch dieGoldene Regel, die die ältestewechselseitige Ethik dermenschlichen Rasse ist und dievielleicht prägnanteste undfunktionellste Moralphilosophie,die jemals ersonnen wurde.Konfuzius hat lediglich ein nochälteres chinesisches Sprichwort zu

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Papier gebracht, als er schrieb:"Was man selbst nicht wünscht, dasfüge man anderen nicht zu", und alsJesus gesagt hat: "Alles nun, wasihr wollt, das die Menschen euchtun, ebenso sollt auch ihr ihnentun", bezog er sich auf einaltüberkommenes jüdischesSprichwort, das befahl: "Was dirverhasst ist, das tu auch deinemNächsten nicht an! Dies ist dasGesetz: Der ganze Rest istKommentar." Das Mahabharatasagt den Anhängern desHinduismus: "Dies ist die Summedes Dharmas: Füge keinem anderenzu, was dir Schmerzen bereiten

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würde, wenn es dir zugefügtwürde." Und auch in denNaturreligionen findet sich dieGoldene Regel - die Joruba inNigeria sagen: "Bevor einer mitspitzem Stock ein Küken sticht, soller es erst an sich selbst probieren,um zu fühlen, wie es schmerzt."Und Schwarzer Elch, der religiöseFührer der Lakota*, hat gelehrt:"Alle Dinge sind unsereVerwandten; was wir allemzufügen, das fügen wir uns selbstzu. Alles ist in Wirklichkeit Eins."

Die wenigen Religionen, die dasPrinzip der wechselseitigen Moralnicht befolgen, sind in heutiger Zeit

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entstanden und lassen im Grundegenommen durch ihren eisigenCharakter die warmherzige Moralder urtümlichen Goldenen Regel alsnoch attraktiver erscheinen. ZurIllustration könnte man das"Creativity Movement" anführen,eine militant antisemitische undantichristliche Gruppierung, diesich früher als "World Church ofthe Creator" bezeichnet hat. DieseReligion beruht auf der Liebe zur"Weißen Rasse" und schreibt vor,alle Menschen anderer Rassen zuhassen. Innerhalb dieser Doktrin istjeder, der nicht "Weiß" ist, perdefinitionem ein Angehöriger der

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"Schlammrassen". Die zentraleMaxime des Creativity Movementlautet: "Ist etwas gut für die WeißeRasse, ist es höchste Tugend; istetwas schlecht für die Weiße Rasse,ist es schlimmste Sünde." Es istnicht überraschend, dass es daslangfristige Ziel des CreativityMovement ist, die Weltherrschaftder "Weißen Rasse"herbeizuführen.

Im willkommenen Gegensatz dazuglauben die meisten religiösen undspirituellen Traditionen an dieGoldene Regel und auch an die eineoder andere Variante derÜberzeugung von Schwarzer Elch:

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"Alles ist in Wirklichkeit Eins". DieUnteilbarkeit, das Einssein("oneness") ist für einigeReligionen ein fundamentalererGrundsatz als für andere. Währendzum Beispiel die judäisch-christliche Tradition ihre Anhängeranweist, ihre Nachbarn zu lie-

* Anmerkung des Übersetzers: Die

Lakota sind ein Unterstamm derSioux-Indianer und gehören zurnordamerikanischenUrbevölkerung.

ben, lehrt der fernöstliche

Mystizismus, dass Individualität -

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das Ego - von vornherein eineIllusion ist, dass wir nicht von Gottoder einander verschieden sind unddaher, in einem spirituellen Sinne,unsere Nachbarn sind. In seinemB u c h Peace Is Every Step74*versucht der vietnamesischeBuddhismus-Lehrer Thich NhatHanh diesen Aspekt fernöstlichenDenkens für Abendländer zuerklären, indem er von "inter-sein"spricht. Wir seien unentrinnbar unduntrennbar mit jedem und allem imUniversum verbunden, und dieserZustand des Interseins sei derGrund, warum wir nicht egoistisch(und eitel) individuelle Besitztümer

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und Macht anstreben sollten.Der Glaube an die Unteilbarkeit

ist ebenfalls - wenn auch wenigeroffensichtlich - ein Bestandteil derjudäisch-christlichen Tradition. Als1939 abermals ein verheerenderVersuch, die Weltherrschaft zuerlangen, Europa erschütterte, hieltder jüdische Theologe undPhilosoph Martin Buber in Tel Avivvor dem Nationalkongress jüdischerLehrer Palästinas eine Rede.75 Erbeendete seine Ausführungen mitden Worten: "Nichts bleibt, als wasüber dem Problemungetüm desheutigen Abgrunds, wie über denAbgründen von je, sich erhebt, der

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Flügelschlag des Geistes und dasschaffende Wort. Aber wer aus derEinheit sehen und hören kann, wirdauch wieder schauen undvernehmen, was sich ewig schauenund vernehmen lässt. Der Erzieher,der dazu hilft, den Menschenwieder zur eigenen Einheit zubringen hilft dazu, ihn wieder vordas Angesicht Gottes zu stellen."

In welcher Tradition auch immersie angewandt werden mögen -spirituelle Praktiken mit dem Ziel,ein Bewusstsein für Intersein zuschaffen, haben oft denfaszinierenden psychischen

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* Anmerkung des Übersetzers:Dieses Buch ist 1991 in deutscherÜbersetzung unter dem Titel Ichpflanze ein Lächeln: Der Weg derAchtsamkeit im Goldmann-Verlag(München) erschienen.

Nebeneffekt, dass sie ihren

ergebensten Anhängern ein hohesMaß irdischen Glücks vermitteln,fast unabhängig von den äußerenUmständen. In dem BuchDestructive Emotions: A ScientificDialogue with the Dalai Lama76*,einer Kollaboration desPsychologen Daniel Goleman undSeiner Heiligkeit, dem Dalai Lama,

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schreibt Goleman: "Der reine Aktder Anteilnahme am Wohlergehenanderer scheint von sich aus daseigene Wohlergehen zu steigern."In jüngerer Vergangenheit hat sicheine wachsende Zahl vonWissenschaftlern diesem Eindruckangeschlossen. Auf einem Kongressüber Wissenschaft und Geist imJahr 2002, der auch vom DalaiLama besucht wurde, merkte derrenommierte australischeNeurobiologe Jack Pettigrew an:"Wenn man nach Dharamsala[Heimstatt der tibetischenGemeinde im indischen Exil] reist,steigt man im mittwinterlichen

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Nebel auf und kommt im hellenSonnenschein heraus - es ist, alsstiege man zum Himmel auf. Waseinem sofort auffällt, sind dieglücklichen, lächelnden Gesichterder Tibeter, die nicht viel haben,schreckliche Entbehrungenertragen mussten und dochglücklich sind. Nun denn: Warumalso sind sie glücklich?"

Der Dalai Lama selbst ist daraninteressiert, diese Fragewissenschaftlich zu beantwortenund eine weltliche Methode zufinden, um das mitfühlendeBewusstsein für Intersein zuschaffen, das von überzeugten

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Anhängern der tibetisch-buddhistischen Meditation erlangtwird. Zu diesem Zweck hat er eineinternationale Serie von Dialogenzwischen Wissenschaftlern undBuddhismus-Gelehrten initiiert,deren bislang letzter 2003stattgefunden hat und unteranderem vom "Mind and LifeInstitute" in Colorado und dem"McGovern Institute of theMassachusetts Institute of * Anmerkung des Übersetzers:

Dieses Buch ist 2003 in deutscherÜbersetzung unter dem Titel Dialogmit dem Dalai Lama: Wie wir

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destruktive Emotionen überwindenk ö n n e n im Hanser-Verlag(München) erschienen.

Technology" gefördert wurde. Er

erhofft sich von diesen Dialogenpraktische Lösungsansätze für diedestruktiven Stimmungen, diesowohl die Buddhisten als auch dieWissenschaftler für die Ursachenmenschlicher Konflikte und Leidenhalten.

Als Psychologin bin ich besondersangetan von der Beschreibung desDalai Lama jener Menschen, die ichals Soziopathen bezeichnen würdeoder als frei von einem auf der

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Verbundenheit mit anderenbasierenden, intervenierendenGefühl der Verpflichtung. Erbezeichnet solche Individuen als"Menschen, die kein gutentwickeltes menschliches Lebenhaben." Namentlich hat der DalaiLama über die Anschläge auf dasWorld Trade Center gesagt:"Technologie ist eine gute Sache,aber ihr Einsatz durch Personen,die keine gut entwickeltenmenschlichen Leben haben, kannkatastrophal sein."77

In dem Maße, wie die Fähigkeiteiner Person, ein gut entwickeltesmenschliches Leben zu haben,

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durch ihre eigenen grauen Zellenerleichtert oder beschränkt wird,unterstreicht diese buddhistischeSicht der Soziopathie eine derinteressantesten Konvergenzenüberhaupt, und zwar die vonReligion und Neurobiologie.Vielleicht ist Soziopathie eineLektion des Lebens, die nicht durcheine bestimmte körperlicheFähigkeit oder Behinderung gelehrtwird, sondern durch emotionaleDebilität. Mit anderen Worten:Manche Menschen müssen lernenwie es ist, keine Beine zu habenoder sehr schön oder ein Bettler zusein, während andere, die kein

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Gewissen haben, lernen müssen,was es bedeutet, sich nicht umandere Menschen sorgen zukönnen. Darin liegt eine Ironie,denn dieser Zustand des Karmaskönnte, wenn man so will, einenGrund darstellen, Soziopathenbemitleidenswert zu finden - so wiewir ein blindes Waisenkindbemitleiden würden, ob wir nun andie Wege des Karmas glauben odernicht.

Wenn auch die Bedeutung vonAnteilnahme und dem Gefühl desEinsseins von der Psychologieerkannt worden ist, hat allerdingsdie psychologische Forschung

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bislang noch keine direktenVerfahren entwickelt, diesesBewusstsein zu erlangen - und solässt sie Soziopathen undinsbesondere unsere gesünderenJünger ziemlich im Stich, wenn esum die Stärkung des Gewissensgeht. Als Wege, dieLebenszufriedenheit zu steigern,empfehlen Psychologenzunehmend eine Moralerziehungfür normale Kinder undWohltätigkeit und ehrenamtlicheBetätigungen für Erwachsene; aberPsychologen haben sich traditionellmehr für Bestrebungen interessiert,die "interpersonelle Abgrenzung zu

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stärken" und die "Selbstsicherheitzu trainieren". In dieser Hinsichterinnert mich die Psychologie imVergleich zur Spiritualität an denhungrigen Reisenden in der uraltenindischen Parabel "Der Stein derweisen Frau". Eine Version dieserParabel, deren Urheber seitMenschengedenken vergessen ist,findet sich in einer Sammlung vonErzählungen,79 die von ArthurLenehan zusammengetragen wurdeund 1994 - ironischerweise - bei"The Economics Press" erschienenist:

Eine weise Frau reiste durch die

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Berge und fand in einem Flusseinen kostbaren Edelstein. Amnächsten Tag traf sie einen anderenReisenden, der hungrig war, und dieweise Frau öffnete ihren Beutel, umihren Proviant zu teilen. Derhungrige Reisende sah denkostbaren Edelstein und bat dieFrau, ihm den Stein zu geben, wassie ohne Zögern tat.

Der Reisende zog von dannen undfrohlockte ob seines Glücks. Erwusste, dass der Wert des Steinsunermesslich war und ihm bis ansEnde seiner Tage ein sorgenfreiesLeben bieten würde. Aber einigeTage darauf kehrte er zurück, um

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der weisen Frau den Steinzurückzugeben.

"Ich habe nachgedacht", sagte er."Ich weiß, wie wertvoll der Stein ist- aber ich gebe ihn dir zurück in derHoffnung, dass du mir etwas nochWertvolleres geben kannst. Gib mirdas, was du in dir trägst und wasdich bewog, mir den Stein zugeben."

Die weisen und glücklichen

tibetischen Buddhisten, und mitSicherheit der Dalai Lama selbst,erinnern an Colby und DämonsVorbilder mit extrem ausgeprägtemGewissen, wie zum Beispiel Suzie

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Valadez, die die Armen in Mexikospeiste und den ehemaligenCollege-Rektor Jack Coleman, derversucht hat, sein Gefühl desInterseins und seine Anteilnahmezu stärken, indem er alsStraßenarbeiter, Müllmann,Obdachloser lebte. Sowohl diebuddhistischen Mönche als auchdie psychologischen Vorbilderillustrieren, dass das durch einextremes Gewissen entstehendeBewusstsein das Leben einesMenschen besser und ihn selbstglücklicher macht. Dieses Glück istnicht das Produkt einer kognitivenStrategie und entsteht auch nicht

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durch Abschieben derVerantwortung für vorübergehendeMisserfolge auf den Kosmos,während man dauerhafte Erfolgeder eigenen Leistung zuschreibt. ImGegenteil, Colby und Dämon habenberichtet, dass die meisten ihrermoralischen Vorbilder hartnäckigeRealisten waren in Hinsicht auf dieUmstände des menschlichenLebens und ihre eigenen,beschränkten Möglichkeiten, dieseUmstände zu verändern. Nein, stattauf bloßer kognitiver Anpassungberuht ein außergewöhnlichesGewissen auf der starken undbestärkenden Empfindung, Teil

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eines größeren Ganzen zu sein.In der Tat, das Gewissen scheint

der Nexus von Psychologie undSpiritualität zu sein; er offenbartsich durch die mittlerweilegewonnenen Erkenntnisse derPsychologen über die einzigartigerhebenden Auswirkungen einerMoral, die auf emotionalerVerbundenheit beruht. In religiösenund spirituellen Begriffen wird dasErleben an diesem Genlocus durchEinssein, Unteilbarkeit oderIntersein bezeichnet; in derPsychologie wird es Gewissen oderMoral genannt. Wie immer man esauch nennt, es ist ein starker

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Integrator menschlichen Denkens,Fühlens und Verhaltens, der inunserer urzeitlichen biologischenVergangenheit verwurzelt ist. Durchunsere Gene, unser Gehirn undvielleicht letztlich durch unsereSeele ist es zu einer schützenden,produktiven und ausgleichendenKraft in unserem psychischen undsozialen Leben geworden, und seitJahrtausenden hat es unseretranszendenten Traditionen und dievortrefflichsten Exponenten dermenschlichen Rasse beeinflusst.Das Gewissen ist die kleine, leiseStimme, die seit den Ursprüngenunserer Art uns sagen will, dass wir

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evolutionär, emotional undspirituell Eins sind, und dass wiruns entsprechend verhaltenmüssen, wenn wir Frieden undGlück erlangen wollen.

Das Gewissen, und zwar einzigund allein das Gewissen, kann unsaus unserer Haut in die Haut einesanderen zwingen oder gar zumKontakt mit dem Absoluten. Esbasiert auf unseren emotionalenBindungen zu anderen. In seinerreinsten Form wird es Liebegenannt. Und, wie wunderbar,sowohl Mystiker als auchEvolutionspsychologen, die sichüber nicht viel anderes einig sind,

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stimmen darin überein, dass einMensch kraft seines normalenWesens mit größererWahrscheinlichkeit liebevoll seinwird als bösartig. DieseSchlussfolgerung signalisiert eineatemberaubende Abweichung vonunserem üblichen, zynischerenSelbstbild.

Theologen und Wissenschaftlersind sich ebenfalls darüber einig,dass es zweierlei menschlicheFehler gibt, die unsere imAllgemeinen gütige Naturkonterkarieren. Der erste Fehler istder Drang des Einzelnen, andereMenschen und die Welt zu

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beherrschen. Dieser Impuls bringtdie Illusion mit sich, dassDominanz ein erstrebenswertes Zielsei - eine Illusion, die in dersoziopathischen Psyche amhartnäckigsten fixiert ist. Und derzweite tragische Fehler ist diemoralische Ausgrenzung. Wirkennen die endlosen Gefahren, diees mit sich bringt, den "Anderen"zum Untermenschen abzustempeln- das andere Geschlecht, die andereRasse, den Ausländer, den "Feind",vielleicht sogar den Soziopathenselbst -, und deshalb ist die Frage,wie man mit dem moralischGeächteten verfahren solle, eine

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aus theologischer undpsychologischer Sicht so schwierige.Wie begegnen wir der potenziellkatastrophalen Herausforderungdurch Menschen, dieschlechterdings "kein gutentwickeltes menschliches Lebenhaben"? Bis jetzt hat diePsychologie diese Frage völligunbeantwortet gelassen, obwohl siezunehmend dringlicher wird, da dieZeit verstreicht und Technologiegrößere Verbreitung findet. Dennschließlich lernt auch der Teufeldazu.

Geht es um die Frage, wer sichglücklicher schätzen kann - der

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Mensch, der rücksichtslos nur seineeigenen Interessen verfolgt, oderSie, der Sie ihrem Gewissenverpflichtet sind - nun, ich bitte Sieerneut, sich vorzustellen, welch einMensch Sie wären, wenn Sie keinensiebten Sinn hätten. Aber diesesMal, während Sie sich Ihrenenormen Einfluss und Reichtumausmalen oder Ihr Leben alsunbekümmerter Müßiggänger,denken Sie bitte daran, wie dasGewissen - und nur das Gewissen -ein Leben bereichern kann und wiees Ihres bereichert hat. Stellen Siesich in aller Klarheit das Gesichteines Menschen vor, den Sie mehr

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als Ihren gesamten irdischen Besitzlieben, jemanden, für den Sie ohneZögern in ein brennendes Gebäudelaufen würden, sollte das notwendigsein - Vater oder Mutter, einenBruder, eine Schwester, einenlieben Freund, IhrenLebenspartner, Ihr Kind. VersuchenSie, sich dasselbe Gesichtvorzustellen - das Gesicht desVaters, der Mutter, einer Tochter,eines Sohnes -, wenn es weint vorKummer oder friedlich und fröhlichlächelt.

Und nun stellen Sie sich für einenMoment lang vor, dass Sie diesesGesicht endlos anschauen könnten,

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ohne irgendetwas zu fühlen - keineLiebe, keinen Wunsch zu helfenoder auch nur zurückzulächeln.

Aber verweilen Sie nicht zu langebei dieser beklemmenden Leere -wenn sie auch lebenslang anhaltenwürde, wären Sie ein Mensch ohneGewissen, ein Mensch, der ohneReue jegliche Schandtat begehenkönnte. Kehren Sie stattdessenzurück zu Ihren Gefühlen. In IhrerVorstellung, schauen Sie dasGesicht an, das Sie lieben,streicheln Sie eine Wange, hörenSie ein Lachen.

So segnet das Gewissen jeden Tagunsere individuellen Leben mit

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Sinn. Ohne es wären wir emotionalhohl und gelangweilt und würdenunsere Tage damit vertun, selbsterfundenen, eintönigen, törichtenSpielen nachzugehen.

Für die meisten von uns ist dasGewissen fast immer so normal, soalltäglich und so spontan, dass wires gar nicht bemerken. Aber dasGewissen ist auch viel größer, alswir es sind. Es ist die eine Seiteeiner Konfrontation zwischen deruralten Splittergruppe desamoralischen Egoismus, die schonimmer psychologisch und spirituellverdammt war, und einem Kreismoralischer Seelen, der ebenso

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zeitlos ist. Als Psychologin undMensch entscheide ich mich ich fürdie Menschen, die ein Gewissenhaben, die liebevoll und fürsorglichsind, für die großzügigen undsanftmütigen Seelen. Ich werde ammeisten berührt vonPersönlichkeiten, die derÜberzeugung sind, dass manniemanden verletzen darf und dassHerzensgüte richtig ist und derenHandlungen in aller Stille und anjedem Tag ihres Lebens diese Moralbefolgen. Sie sind eine autonomeElite. Sie sind alt oder jung. Sie sindseit Jahrhunderten von unsgegangen, sie sind das Ungeborene,

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das morgen zur Welt kommen wird.Sie entstammen jeglicher Nation,Kultur und Religion. Sie sind dieExponenten unserer Art mit einemhervorragenden Bewusstsein undklaren Zielen. Und sie sind - undwaren es schon immer - unsereHoffnung.

anmerkungen Einführung: Ein GedankenspielSiehe K. Barry et al. (1997),

"Conduct Disorder and AntisocialPersonality" in "Adult Primary CarePa t i e n t s " , J o u r n a l o f FamilyPractice 45: 151-158; R. Bland, S.

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N e w m a n und H. Orn (1988),"Lifetime Prevalence of PsychiatricDis o rde rs in Edmonton", ActaPsychiatrica Scandinavica 77: 24-32; J. Samuels et al. (1994), "DSM-III Personality Disorders i n theCommunity", American Journal ofPsychiatry 151: 1055-1062; und U.S.Department o f Health and HumanServices , Substance Abuse andMental Health StatisticalS o u r c e b o o k , Rockville, MD:Substance Abuse and MentalHealth Services Administration1991.

1 Seit zweihundert Jahren wurdedie Soziopathie in der westlichen

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Welt unterschiedlich definiert undmit einer Reihe verschiedenerBezeichnungen belegt. Einedetaillierte Darstellung solcherBezeichnungen und Diagnosenfindet sich in T. Millon, E.Simonsen und M. Birket-Smith," H i s t o r i c a l Conceptions ofPsychopathy i n t h e United Statesand Europe" i n Psychopathy:Antisocial, Criminal, and ViolentBehavior (T. Millon et al., Hrsg.),New York: Guilford Press 1998.

2 American PsychiatricA s s o c i a t i o n , Diagnostic andStatistical Manual o f MentalDisorders, 4. Ausg., Washington,

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D.C.: American PsychiatricAssociation 1994. Für detaillierteBeschreibungen und Kritiken derFeldversuche der APA zurValidierung der aktuellenDiagnosekriterien, siehe The DSM-IV Personality D i s o rd ers (W.Livesley, Hrsg.), New York: GuilfordPress 1995.

3 Siehe zum Beispiel R. Hare(1996), "Psychopathy: A ClinicalConstruct Whose Time Has Come",Criminal Justice and Behavior 23:25-54-

4 Der allgemein akzeptierteBegriff ist "Flachheit des Gefühls"("shallowness of emotion"), obwohl

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im Falle der Soziopathie"Abwesenheit von Gefühl"( " a b s e n c e o f emotion") einezutreffendere Beschreibung wäre.

5 M . Stout (2001), The Myth ofSanity: Divided Consciousness andthe Promise of Awareness, NewYork: Viking Penguin.

6 R. Hare e t a l . (1990), "TheRevised Psychopathy Checklist:Descriptive Statistics, Reliability,and Factor Structure",Psychological Assessment 2: 338-341.

7 R. Hare (1999), WithoutConscience: The Disturbing Worldof the Psychopaths Among Us, New

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York: Guilford Press, S. 207.8 H. Cleckley (1976), The Mask of

Sanity, 5. Ausg., St. Louis, MO:Mosby, S. 90.

10 Für eine Übersicht derForschung über Probleme, dieSoziopathie mit sich bringt, siehe D.Black und C. Larson (2000), BadBoys, Bad Men: ConfrontingAntisocial Personality Disorder,Oxford: Oxford University Press.Siehe auch D. Dutton mit S. Golant( 1 9 9 5 ) , The Batterer: APsychological Profile, New York:Basic Books; G. Abel, J. Rouleauund J. Cunningham-Rathner(1986), "Sexually Aggressive

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Behavior" i n Forensic Psychiatryand Psychology (J. Curran, A.M c G a rry u n d S. Shah, Hrsg.),Philadelphia: F. A. Davis; L.G r o s s m a n u n d J. Cavenaugh(1990), "Psychopathology andDenial in Alleged Sex Offenders",Journal of Nervous and MentalDisease 178: 739-744; J. Fox und J.L e v i n ( 1 9 9 4 ) , Overkill: MassMurder and Serial Killing Exposed,New York: Plenum Press; u n d R.Simon (1996), Bad Men Do WhatGood Men Dream, Washington,D.C.: American Psychiatric Press.

11 Black Sabbath (1970), "Luke'sWall/War Pigs", Paranoid. Warner

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Bros. Records.1 2 Fitzgerald, Tender Is the

Night.

Kapitel 1. Der siebte Sinn13 Siehe G. Evans (2002),

Mediaeval Commentaries on theSe n t e n c e s of Peter Lombard,Leiden, NY: E. J. Brill.

14 Siehe Augustinus, Confessions(H. Chadwick, Übers.), Oxford, OH:Oxford Press 1998; und R. Saarinen(1994), Weakness of the Will inMedieval Thought from Augustineto Buridan, Leiden, NY: E. J. Brill.

15 Siehe Summa Theologiae: AConcise Translation (T.

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M cDermott , H r s g . ) , Allen, TX:Thomas More 1997; B. Kent (1989),"Transitory Vice: Thomas Aquinason Incontinence", The Journal ofthe History of Philosophy 27: 199-223; und T. Potts (1980),Conscience in Medieval Philosophy,Cambridge: Cambridge UniversityPress.

16 Siehe S. Freud, The Ego andthe Id i n The Standard Edition ofthe Complete Psychological Workso f Sigmund F r e u d ( ] . Strachey,Hrsg.), New York: W. W. Norton1990; und S. Freud, Civilisation andIts Discontents, ibid.

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Kapitel 2. Menschen aus Eis: DieSoziopathen

R . Hare, Without Conscience, S.208.

17 J. Goodall (2000), Through aWindow: My Thirty Years with theChimpanzees ofGombe, New York:Houghton Mifflin, S. 210-211.

Kapi te l 3 . Wenn das normale

Gewissen schläftE. Staub (1989), The Roots of Evil:

The Origins of Genocide and OtherGroup Violence, Cambridge:Cambridge University Press. Siehea u c h E . Staub (2001),"Ethnopolitical and Other Group

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Violence: Origins and Prevention"i n Ethnopolitical Warfare: Causes,Consequences, and PossibleSo l u t io n s (D. Chirot u n d M.Seligman, Hrsg.), Washington, D.C.:American PsychologicalAssociation; u n d N. Smith (1998)," T h e Psycho-Cultural Roots ofGenocide", American Psychologist53: 743-753-

19 Für Beschreibungen undBeispiele dissoziativer Zustände,siehe M. Stout, The Myth of Sanity.Für eine Abhandlung der möglichenAuswirkungen dissoziativerPhänomene auf ganzePopulationen, siehe L. deMause

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( 2002) , The Emotional Life ofNations, New York: Karnac.

20 S. Milgram (1963), "BehavioralStu dy of Obedience", Journal ofAbnormal and Social Psychology67: 371-378. Siehe auch S. Milgram

(1983), Obedience to Authority:An Experimental View, New York:Pe re n n i a l ; u n d Obedience toAuthority: Current Perspectives onthe Milgram Paradigm ( T . Blass,Hrs g .) , Mahwah, NJ: LawrenceErlbaum Associates 2000.

22 S. Marshall (1978), Menagainst Fire: The Problem of BattleCommand in Future War,Gloucester, MA: Peter Smith, S. 30.

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23 D. Grossman (1996), OnKilling: The Psychological Cost ofLearning to Kill in War andSociety, Boston: Back Bay Books, S.xv.

24 P. Watson (1978), War on theMind: The Military Uses andAbuses of Psychology, New York:Basic Books, S. 250.

25 ] . Stellman u n d S. Stellman(1988), "Post Traumatic StressDisorders among AmericanLegionnaires in Relation to CombatExperience: Associated andContributing Factors",Environmental Research 47: 175-210. Diese Studie mit 6810 zufällig

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ausgewählten Veteranen untersuchtdie Beziehung zwischen PTSD undTötungsbereitschaft und war dieerste Studie, die Kampfleistungquantifiziert hat.

Kapitel 4. Der netteste Mensch der

Welt26 Vielfach wurde versucht,

zwischen verschiedenen Variantenvon Soziopathen zu unterscheiden.Eine der interessantestenTypologien ist die von TheodoreMillon. Er unterscheidet zehnSubtypen der Psychopathie:begehrlich ("covetous"),prinzipienlos ("unprincipled"),

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unaufrichtig ("disingenuous"),risikobereit ("risktaking"),rückgratlos ("spineless"),aufbrausend ("explosive"),streitlustig ("abrasive"), boshaft("malevolent"), tyrannisch("tyrannical") und bösartig("malignant"). Er merkt an, dass"die Zahl 10 keineswegs speziellist... Taxonomien können gröberoder feiner sein." MiltonsTaxonomie wird beschrieben in T.Millon und R. Davis, "Ten Subtypesof Psychopathy" i n Psychopathy:Antisocial, Criminal, and ViolentBehavior (T. Millon et al., Hrsg.)

27 Siehe R. Hare, K. Strachan und

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A. Forth (1993), "Psychopathy andCrime: A Review" in ClinicalApproaches to Mentally DisorderedOffenders (K. Howells u n d C.Hollin, Hrsg.), New York: Wiley;u n d S. Hart and R. Hare (1997),"Psychopathy: Assessment andAssociation with Criminal Conduct"in Handbook of Antisocial Behavior(D. Stoff, J. Breiling und J . Maser,Hrsg.), New York: Wiley.

Kapitel 5. Warum das Gewissen

Scheuklappen trägt28 Siehe L. Ro bins (1974),

Deviant Children Grown Up: ASociological and Psychiatric Study

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of Sociopathic Personality,Huntingdon, NY: KriegerPublishing.

29 B. Wolman (1999), AntisocialBehavior: Personality Disordersfrom Hostility to Homicide,Amherst, NY: Prometheus Books, S.136.

30 Siehe D. Cox, S. Stabb und K.Bruckner (1999), Women's Anger:Clinical and DevelopmentalP e r s p e c t i v e s , Philadelphia:Brunner-Routledge; L. Brown(1999), Raising Their Voices: ThePolitics of Girls' Anger, Cambridge,MA: Harvard University Press, S.166; L. Brown (1994)> "Educating

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the Resistance: Encouraging Girls'Strong Feelings and Critical Voices"(eine Arbeit, die präsentiert wurdeauf der 20th Annual Conference ofthe Association of Moral Education,Calgary/Banff, Canada; C. Gilligan( 1 9 9 1 ) , ..Women's PsychologicalDevelopment: Implications forPs y ch o th e rapy ", Women andTherapy 11: 5-31; und L. Brady(1985), "Gender Differences inEmotional Development: A Reviewof Theories and Research", Journalof Personality 53:102-149.

31 Siehe D. Kindlon u n d M.Thompson (2000), Raising Cain:Protecting the Emotional Life of

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Boys, New York: Ballantine Books,S. 99.

K a p i t e l 6 . W i e man die

Erbarmungslosen erkennt32 Enthalten in R. Overy

(2001), Interrogations: The NaziElite in Allied Hands, 1945, NewYork: Viking Penguin, S. 373.

K a p i t e l 7 . D i e Wurzeln der

Selbstgerechtigkeit: Was verursachtSoziopathie?

33 Für eine detaillierteDarstellung solcher Ergebnisse,siehe L. Eaves, H. Eysenck und N.Martin (1989), Genes, Culture and

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Personality, New York: AcademicPress.

34 Für eine Übersicht derZwillingsstudien, die die Pd-Skalaeingesetzt haben, siehe H.Goldsmith und I. Gottesman(1996), "Heritable Variability andVariable Heritability inDevelopmental Psychopathology" inF r o n t i e r s i n DevelopmentalPsychopathology (M. Lenzenwegerund J. Haugaard, Hrsg.), Oxford:Oxford University Press.

35 M. Lyons et al. (1995),"Differential Heritability of Adultand Juvenile Antisocial Traits",Archives of General Psychiatry 52:

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906-915.36 Siehe T. Widiger et al. (1994),

"A Description of the DSM-III-Rand DSM-IV Personality Disorderswith the Five-factor Model ofPersonality" in PersonalityDisorders and the Five-factorModel (P. Costa u n d T. Widiger,Hrsg.), Washington, D.C.: AmericanPsychological Association; u n d C.Cloninger ( 1 987) , "A SystematicMethod for Clinical Description andClassification of PersonalityVariants", Archives of GeneralPsychiatry 44: 579-588.

37 Siehe L. Willerman, J. Loehlinu nd J. Horn (1992), "An Adoption

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and a Cross-Fostering Study of theMinnesota Multiphasic PersonalityInventory (MMPI) PsychopathicDeviate Scale", Behavior Genetics22: 515-529-

38 Für vertiefende Informationenüber die Herleitung der Erblichkeitpsychopathischer Störungen undanderer Charakteristika, siehe P.McGuffin und A. Thapar, "Geneticsand Antisocial PersonalityDisorder" in Psychopathy:Antisocial, Criminal, and ViolentBehavior (T. Millon et al., Hrsg.);und D. F a l c o n e r (1989),Introduction to QuantitativeG e n e t i c s , Edinburgh: Churchill

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Livingstone.39 Siehe S. Williamson, T. Harpur

und R. H a r e (1991), "AbnormalProcessing o f Affective Words byPs y c h o pa t h s " , Psychophysiology28: 260-273; und J. Johns und H.Quay (1962), "The Effect o f SocialReward on Verbal Conditioning inPsychopathie and Neurotic MilitaryOffenders", Journal o f Consultingand Clinical Psychology 26: 217-220.

40 J . Intrator et al. (1997), "ABrain Imaging (SPECT) Study ofSemantic and Affective Processingin Psychopaths", BiologicalPsychiatry 42: 96-103.

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41 Sie h e R. Hare, WithoutConscience.

42 J. Bowlby (1969), Attachmentand Loss, New York: Basic Books.

43 Für eine Darstellung derBindungstheorie, siehe D. Siegel(1999), The Developing Mind: HowRelationships and the BrainInteract to Shape Who We Are, NewYork: Guilford Press.

44 Für weitergehendeInformationen über CeausescusGeburtenpolitik, siehe G. Kligman(1998), The Politics of Duplicity:C o n t r o l l i n g R e p r o d u c t i o n inCeausescu's Romania, Berkeley:University of California Press.

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45 Siehe P. Pluye e t al . (2001),"Mental and Behavior Disorders inChildren Placed in Long-Term CareInstitutions in Hunedoara, Cluj andTimis, Romania", San te 11: 5-12;u n d T. O'Connor u n d M. Rutter(2000), "Attachment DisorderBehavior Following Early SevereDeprivation: Extension andLongitudinal Follow-up. Englishand Romanian Adoptees Team",Journal of the American Academyof Child and Adolescent Psychiatry39: 703-712.

46 Siehe M. Lier, M. Gammeltoftu n d I. Knudsen (1995), "EarlyMother-Child Relationship: The

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Copenhagen Model of EarlyPreventive Intervention TowardsMother-Infant RelationshipDis tu rbance s ", Arctic MedicalResearch 54:15-23.

47 J. Murphy (1976), "PsychiatricLabeling in Cross-CulturalPerspective: Similar Kinds ofDisturbed Behavior Appear to BeLabeled Abnormal in DiverseCultures", Science 191:1019-1028.

48 Siehe P. Cheung (1991), "AdultPsychiatric Epidemiology in Chinain the 1980s", Culture, Medicine,and Psychiatry 15: 479-496; W.C o m p t o n e t a l . (1991), "NewMethods in Cross-Cultural

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Psychiatry: Psychiatric Illness inTaiwan and the United States",American Journal of Psychiatry148: 1697-1704; H.-G. Hwu, E.-K.Y e h u n d L. Change (1989),..Prevalence of PsychiatricDisorders in Taiwan Defined by theChinese Diagnostic InterviewS c h e d u l e " , Acta PsychiatricaScandinavica 79: 136-147; und T.S a t o u n d M. Takeichi (1993),"Lifetime Prevalence of SpecificPsychiatric Disorders in a GeneralMedicine Clinic", General HospitalPsychiatry 15: 224-233.

49 Siehe Psychiatric Disorders inAmerica: The Epidemiologic

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Catchment Area Study (L. Robinsu n d D . Regier, Hrsg.), New York:Free Press 1991; und R . Kessler etal. (1994), "Lifetime and 12-MonthPrevalence of DSM-III-RPsychiatric Disorders in the UnitedS t a t e s " , Archives of GeneralPsychiatry 51: 8-19.

50 R. Hare, Without Conscience,S. 177.

51 Siehe D. Grossman, On Killing,S. 185.

Kapitel 8. Der Soziopath von

nebenan5 2 Siehe Obedience to

Authority: Current Perspectives on

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the Milgram Paradigm ( T . Blass,Hrsg.).

Kapitel 9. D i e Ursprünge des

Gewissens53 Das Originalzitat lautet: "Since

we have it on excellent authoritythat nature is red in tooth andc l a w " , s i e h e A. Tennyson, "InMemorium, A.H.H." in Alfred, LordTennyson: Selected Poems (M.B a ro n , Hrs g.) , London: PhoenixP r e s s 2 0 0 3 . M a n beachte, dassTennyson dieses Gedicht 1850verfasst hat, neun Jahre vor derVeröffentlichung von Darwins TheOrigin of Species.

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54 Siehe F. de Waal (2001), GoodNatured: The Origins of Right andWrong in Humans and OtherAnimals, Cambridge, MA: HarvardUniversity Press; und Animal SocialComplexity: Intelligence, Culture,and Individualized Societies (F. deW a a l u n d P. Tyack, Hrsg.),Cambridge, MA: Harvard UniversityPress 2003.

55 G. Williams (1966),Adaptation and Natural Selection,Princeton, NJ: Princeton UniversityPress.

56 R. Dawkins (1976), The SelfishG en e, Oxford: Oxford UniversityPress.

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57 Siehe W. Hamilton (1971),"Selection of Selfish and AltruisticBehavior" in Man and Beast:Comparative Social Behavior(J.Eisenberg und W. Dillon, Hrsg.),Washington, D.C.: SmithsonianInstitution Press.

58 S. Gould ( 2002) , TheStructure of Evolutionary Theory,Cambridge, MA: Harvard UniversityPress.

59 Siehe D. Wilson und E. Sober( 1 9 9 4 ) , Reintroducing GroupSelection to the Human BehavioralSciences", Behavioral and BrainSciences 17: 585-654.

60 J. Piaget (1962), The Moral

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Judgment of the Child, New York:Collier Books.

61 L . Kohlberg (1981), ThePhilosophy of Moral Development,New York: Harper & Row.

62 C. Gilligan (1982), In aDifferent Voice: PsychologicalTheory and Women's Development,Cambridge, MA: Harvard UniversityPress.

63 Siehe zum Beispiel J. Walker," S e x D i f f e r e n c e s in MoralReasoning" i n Handbook of MoralBeh avior and Development (W.Kurtines und J. Gewirtz, Hrsg.),Hillsdale, NJ: Lawrence ErlbaumAssociates 1991.

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64 Siehe J. Miller und D. Bersoff(1995), "Development in theContext of Everyday FamilyRelationships: Culture,Interpersonal Morality, andAdaptation" in Morality inEveryday Life: DevelopmentalPerspectives (M. Killen und D. Hart,H r s g . ) , Cambridge: CambridgeUniversity Press; u nd J. Miller, D.Bersoff u n d R. Harwood (1990),"Perceptions of SocialResponsibilities in India and in theUnited States: Moral Imperatives orPersonal Decisions?", Journal ofPersonality and Social Psychology58: 33-47.

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65 Für zusätzliche Ergebnisseund Thesen zu dieserallgegenwärtigen EigenschaftzwischenmenschlicherBeziehungen, siehe The SocialPsychology of Good and Evil (J.Crocker und A. Miller, Hrsg.), NewYork: Guilford Press 2004.

Kapitel 10. Bernies Entscheidung:

Warum ein Leben mit Gewissenbesser ist

66 T. Zerjal et al. (2003), "TheGenetic Legacy of the Mongols",American Journal of HumanGenetics 72: 717-721.

67 Siehe zum Beispiel J. Ogloff

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und S. Wong (1990), "Electrodermaland Cardiovascular Evidence of aCoping Response in Psychopaths",Criminal Justice and Behavior 17:231-245. Siehe auch A. Raine und P.V e n a b l e s (1988), "SkinConductance Responsivity inPsychopaths to Orienting,Defensive, and Consonant VowelS t i m u l i " , JournalofPsychophysiology 2, 221-225.

68 D . Regier et a l . (1990),..Comorbidity of Mental Disorderswith Alcohol and Other DrugAbuse: Results from theEpidemiologic Catchment AreaStudy", Journal of the American

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Medical Association 264: 2511-2518.

69 R. Brooner, L. Greenfield, C.Schmidt u n d G. Bigelow (1993),"Antisocial Personality Disorderand HIV Infection AmongIntravenous Drug Abusers",American Journal of Psychiatry150: 53-58.

70 Siehe Guze, R. Woodruff undP. Clayton (1971), "Hysteria andA n t i s o c i a l Behavior: FurtherEvidence of an Association",American Journal of Psychiatry127: 957-960; und L. Robins,Deviant Children Grown Up: ASociological and Psychiatric Study

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of Sociopathic Personality.71 Ein Bericht darüber ist

enthalten in L. Heston und R.Heston (2000), Medical Casebooko f Adolf Hitler: His Illnesses,Doctors, and Drugs, New York:Cooper Square Press.

72 Siehe A. Colby und W. Damon( 1 9 9 2 ) , Some Do Care:Contemporary Lives of MoralCommitment, New York: FreePress, S. 262; und A. Colby und W.D a m o n , " T h e Development ofExtraordinary Moral Commitment"i n Morality in Everyday Life:Development Perspectives (M.Killen und D. Hart, Hrsg.), S. 364.

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K a p i t e l 1 1 . D e r T a g des

Murmeltiers73 Siehe T. Millon und R.

Davis, "Ten Subtypes ofPsychopathy" in Psychopathy:Antisocial, Criminal, and ViolentBehavior (T. Millon et al., Hrsg.)und Anmerkung 26, die sich aufMillons Subtypen bezieht.

Kapitel 12. Das Gewissen in seiner

reinsten Form: Die Wissenschaftplädiert für die Moral

74 T. Hanh (1992), Peace Is EveryStep: The Path of Mindfulness inEveryday Life, New York: Bantam

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Books.75 M. Buber (1965), Between Man

and Man, New York: Collier Books,S. 117.

76 D. Goleman (Moderator),Destructive Emotions: A ScientificDialogue with the Dalai Lama, NewYork: Bantam Dell 2003, S. 12.

77 Mind and Life Institute,Investigating the Mind: Exchangesbetween Buddhism and theBiobehavioral Sciences on How theMind Works, Tonaufhahme,Berkeley, CA: Conference RecordingService, Inc. 2003.

78 S i e h e M. Seligmansbahnbrechendes Buch über positive

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Psychologie, Authentic Happiness:Using the New Positive Psychologyto Realize Your Potential forLasting Fulfillment, New York: FreePress 2002.

79 Eine Version dieser Parabelfindet sich in The Best ofBits andPieces (A. Lenehan, Hrsg.), Faimeld,NJ: Economics Press 1994, S. 73.

80 Ich danke demhervorragenden Gelehrten fürinternationale Beziehungen JamesA. Nathan dafür, mich impersönlichen Gespräch daraufhingewiesen zu haben, dass dertransliterierte hebräische Ausdruckkol demama dakah (diese kleine,

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leise Stimme von innen) aus einerGeschichte über den ProphetenElias stammt, der "Feuersbrünste,Erdbeben und andere Schrecknisseerleben musste, und dann diekleine, stille Stimme Gottes und desGewissens."