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von gottfried knapp V incent van Gogh hat wie kein ande- rer Künstler die Existenz von Din- gen, die ihm begegneten, als Heraus- forderung empfunden, ja als Aufforde- rung, emotional auf die empfundene Krea- türlichkeit zu reagieren. Als er, der Sohn ei- nes Pastors, erkennen musste, dass er dem fast schmerzhaft empfundenen Auf- trag mit geistlich-theologischen Mitteln nicht gerecht werden konnte, hat er nach Ersatzmitteln geistig-kommunikativer Art gesucht und sich auf die Malerei als Medium der emotionalen Äußerung ge- stürzt. Mit ihr konnte er etwas mitteilen von der Zuneigung, ja von der Erregung, die ganz gewöhnliche Objekte und Men- schen in ihm auslösten. Das Malen war an- fangs also fast eine Art von Wiedergutma- chung an Menschen und Dingen, die ihm etwas bedeuteten, die er in ihrer Besonder- heit würdigen wollte, für die er aber sonst nichts tun konnte. Man könnte die ungeheuerliche künst- lerische Entwicklung, die in van Goghs Werk zu erkennen ist, von den ersten Ver- suchen, Gegenstände und Menschen der eigenen Umgebung in ihrer charakteristi- schen Besonderheit sichtbar zu machen, bis zu den manisch insistierenden Farb- Beschwörungen der letzten Bilder, als das Ergebnis eines fast verzweifelten Ver- suchs beschreiben, der empfundenen Komplexität der Welt etwas emotional Ent- sprechendes entgegenzusetzen. Das Zeich- nen und Malen ist also, ähnlich wie das Briefeschreiben, das van Gogh lebenslang mit ähnlicher Intensität betrieben hat, ei- ne Form der Selbstvergewisserung, aber auch der Anteilnahme, an der sich ablesen lässt, was ihn im Inneren beschäftigte. In seinen frühesten Zeichnungen hat van Gogh die Sujets, die er ins Bewusst- sein rücken wollte – karge Landschaften, düstere Bauernkaten und Menschen, de- ren Körper durch harte Arbeit verbogen waren – noch mit naturalistischer Überex- aktheit auf das Papier gestrichelt, als be- fürchte er, durch kleine Unkorrektheiten den Objekten, die er umarmen wollte, Schmerz zuzufügen. In den Gemälden der gleichen Zeit ist Vincent schon deutlich spontaner. Mit erstaunlicher Entschieden- heit setzt er, etwa in den zahlreichen Por- träts von Bäuerinnen, dicke Ölkleckse, die grob aus dem Grund hervorspringen, in die skizzenhaft spontan erfassten Gesich- ter, um anatomische Besonderheiten her- vorzuheben. So bekommen die Gesichtszü- ge die Plastizität und Präsenz einer ge- schnitzten Holzskulptur, obwohl kaum ein Lichtstrahl in das Dunkel eindringt, das sie gefangen hält. Mit präzise geführ- ten Pinselstrichen und einzelnen Farbhie- ben haucht van Gogh den menschlichen Abbildern also Leben ein, er macht Charak- tere sichtbar und zeichnet Schicksale in die herrschende Finsternis. Doch von den bohrenden Strichwiederholungen späte- rer Werke ist er hier noch weit entfernt. Warum Vincent van Gogh in den paar Jahren, die ihm als Künstler zum Arbeiten blieben, die Technik des Farbenauftrags immer wieder verändert und den abzubil- denden Gegenständen angepasst hat, lässt sich von den zeitlich parallel entstan- denen Zeichnungen aus gut erklären. Schon in Holland dürfte Vincent beim Zeichnen von Landschaften gemerkt ha- ben, dass er mit der grafisch und perspek- tivisch korrekten Wiedergabe von Details, mit brav ausgeführten Parallelschraffu- ren die atmosphärischen Besonderheiten eines Orts und eines Augenblicks nicht ausdrücken konnte. Also versuchte er die Empfindungen, die er beim Betrachten des Motivs hatte, ins Zeichnerische zu übersetzen. Da mit der Feder aber nur Stri- che gezogen werden konnten, musste er seine Emotion auf die Striche übertragen. Die gezeichneten Linien bekamen also plötzlich Schwung, sie kreiselten um be- stimmte Gegenstände herum, und wo et- was Wesentliches hervorzuheben war, summierten sie sich auf fast schon körper- liche Weise. So ist in den Zeichnungen von Sonnen- untergängen der riesige, über dem Hori- zont liegende Sonnenball, also der Quell der Helligkeit, die dunkelste Stelle im Bild, denn seine lichtspendende Masse besteht aus einem Gewühl von schwarzen Linien, auf das Tintenpfeile von allen Seiten radi- al zustürzen. Mit einem gewaltigen Auf- wand an bestätigenden Strichen wird hier also die empfundene Gewalt des südli- chen Sonnenlichts gestisch nachvollzo- gen. Die Wirkung dieser Massierung ist enorm: Nie war Licht in der Kunst phy- sisch präsenter als in diesen Strichballun- gen, die den Himmel nicht erhellen, son- dern verdunkeln. Die größten Wirkungen hat van Gogh aber erzielt, als er die in den Zeichnungen erprobte Verdichtungsmethode auf die Malerei und die Farben übertrug. In Paris hat er Stillleben und Stadtansichten meist noch improvisatorisch frei aus hingepin- selten Flächen, kurzen Strichen und Punk- ten zusammengesetzt. In den Landschafts- ansichten und den Selbstporträts aus die- ser Zeit aber besteht die Bildfläche oft nur noch aus farbigen Einzelstrichen, die für sich genommen nichts bedeuten, zusam- men aber ein atmendes, ja erregt vibrieren- des Abbild der Gegenstände liefern. In Arles, Saint-Rémy und schließlich in Auvers-sur-Oise konzentriert sich van Gogh, wenn er nicht gerade einen ge- schätzten Menschen porträtiert, ganz auf das in den Jahren zuvor entwickelte Wir- kungsmittel der zerpflügten Farbfläche. Wie in einem Beschwörungsritual setzt er einen Pinselstrich dicht neben den ande- ren. Mit kurvig kreisenden und notorisch wiederholten Farbgesten modelliert er Ob- jekte aus dem Bildgrund heraus. Ja, die dichte Folge immer gleicher pochender Be- wegungen erweckt den Eindruck, als wür- de sein eigener Pulsschlag den Rhythmus beim Malen diktieren, ja als male er gar mit dem eigenen Blut. Die bildnerische Identifikation mit den Objekten könnte al- so kaum intensiver sein. Der alte Wunsch, den Dingen der Welt mit künstlerischen Mitteln eine Seele einzuhauchen, scheint hier am direktesten in Erfüllung zu gehen. In der Schlucht Les Peiroulets, die er von der Nervenheilanstalt in Saint-Rémy aus besuchen konnte, hat van Gogh 1889 mehrere Bilder gemalt. An ihnen lässt sich die Methode, mit der er damals die Ele- mente einer Landschaft erfasste, beson- ders anschaulich darstellen (unser Bild). Das gekurvte trockene Bachbett, die aus- gewaschenen Nischen unten im Fels und die mit Büschen bewachsenen Steilwände werden mit kurvigen dunklen Haupt- und begleitenden helleren Nebenlinien in den Raum gestellt. Dass in dieser Ansicht die Felsen sehr viel intensiver blau sind als der blaue Himmel darüber, das zeigt, wie van Gogh die am Ort vorhandenen Farben modifizierte und übersteigerte, wenn er vermitteln wollte, was er beim Betrachten der Landschaften verspürte. Viele Maler haben sich von den koloristi- schen Kühnheiten van Goghs zu eigenen Wagnissen inspirieren lassen. Die Frank- furter Ausstellung zeigt, wie in Deutsch- land auf das große Vorbild reagiert wurde. Der Bauernmaler Johann Böckstiegel, die moderne Kunst und Westfalen Seite 18 Der Mythos Ab 23. Oktober im Städel Museum: „Making van Gogh“ Seite 16 Wie in einem Ritual setzt van Gogh Pinselstrich neben Pinselstrich Striche, die die Welt bedeuten Vincent van Gogh hat mit den Mitteln der Malerei eine Antwort auf die Komplexität der Welt zu geben versucht. Die enorme Ausdruckskraft seiner Bilder ist erst Jahrzehnte nach seinem Tod entdeckt worden DEFGH Nr. 241, Freitag, 18. Oktober 2019 SZ SPEZIAL VAN GOGH Die Hänge der „Schlucht Les Peiroulets“ hat van Gogh mit zahllosen Einzelstrichen auf die Leinwand modelliert. Im Gemälde „Ernte in der Provence“ ist die Sommerhitze fast physisch spürbar. BILDER: KRÖLLER-MUSEUM OTTERLO; THE ISRAEL MUSEUM, JERUSALEM/ AVSHALOM AVITAL Irrfahrten Vom Bildnis des Dr. Gachet ist dem Städel nur der Rahmen geblieben 19

Striche,diedieWeltbedeuten€¦ · Die Hänge der „Schlucht Les Peiroulets“ hat van Gogh mit zahllosen Einzelstrichen auf die Leinwand modelliert. Im Gemälde „Ernte in der

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Page 1: Striche,diedieWeltbedeuten€¦ · Die Hänge der „Schlucht Les Peiroulets“ hat van Gogh mit zahllosen Einzelstrichen auf die Leinwand modelliert. Im Gemälde „Ernte in der

von gottfried knapp

V incent van Gogh hat wie kein ande-rer Künstler die Existenz von Din-gen,die ihmbegegneten,alsHeraus-

forderung empfunden, ja als Aufforde-rung,emotionalaufdieempfundeneKrea-türlichkeit zureagieren.Alser,derSohnei-nes Pastors, erkennen musste, dass erdem fast schmerzhaft empfundenen Auf-trag mit geistlich-theologischen Mittelnnicht gerecht werden konnte, hat er nachErsatzmitteln geistig-kommunikativerArt gesucht und sich auf die Malerei alsMedium der emotionalen Äußerung ge-stürzt. Mit ihr konnte er etwas mitteilenvon der Zuneigung, ja von der Erregung,die ganz gewöhnliche Objekte und Men-schen in ihmauslösten.DasMalenwaran-fangs also fast eine Art vonWiedergutma-chung an Menschen und Dingen, die ihmetwasbedeuteten,dieer in ihrerBesonder-heit würdigen wollte, für die er aber sonstnichts tun konnte.

Man könnte die ungeheuerliche künst-lerische Entwicklung, die in van GoghsWerk zu erkennen ist, von den ersten Ver-suchen, Gegenstände und Menschen dereigenen Umgebung in ihrer charakteristi-schen Besonderheit sichtbar zu machen,bis zu den manisch insistierenden Farb-Beschwörungen der letzten Bilder, als dasErgebnis eines fast verzweifelten Ver-suchs beschreiben, der empfundenenKomplexitätderWeltetwasemotionalEnt-sprechendesentgegenzusetzen.DasZeich-nen und Malen ist also, ähnlich wie dasBriefeschreiben, das van Gogh lebenslangmit ähnlicher Intensität betrieben hat, ei-ne Form der Selbstvergewisserung, aberauchder Anteilnahme, ander sich ablesenlässt, was ihn im Inneren beschäftigte.

In seinen frühesten Zeichnungen hatvan Gogh die Sujets, die er ins Bewusst-sein rücken wollte – karge Landschaften,düstere Bauernkaten und Menschen, de-ren Körper durch harte Arbeit verbogenwaren–nochmitnaturalistischerÜberex-aktheit auf das Papier gestrichelt, als be-fürchte er, durch kleine Unkorrektheitenden Objekten, die er umarmen wollte,Schmerz zuzufügen. In den Gemälden dergleichen Zeit ist Vincent schon deutlichspontaner.Mit erstaunlicherEntschieden-heit setzt er, etwa in den zahlreichen Por-träts von Bäuerinnen, dicke Ölkleckse, diegrob aus dem Grund hervorspringen, indie skizzenhaft spontan erfasstenGesich-ter, um anatomische Besonderheiten her-vorzuheben.SobekommendieGesichtszü-ge die Plastizität und Präsenz einer ge-schnitzten Holzskulptur, obwohl kaumein Lichtstrahl in das Dunkel eindringt,

das sie gefangen hält. Mit präzise geführ-tenPinselstrichenund einzelnenFarbhie-ben haucht van Gogh den menschlichenAbbildernalsoLebenein,ermachtCharak-tere sichtbar und zeichnet Schicksale indie herrschende Finsternis. Doch von denbohrenden Strichwiederholungen späte-rerWerke ist er hier noch weit entfernt.

Warum Vincent van Gogh in den paarJahren, die ihmals Künstler zumArbeitenblieben, die Technik des Farbenauftragsimmerwieder verändert und den abzubil-denden Gegenständen angepasst hat,lässt sich vondenzeitlichparallel entstan-denen Zeichnungen aus gut erklären.Schon in Holland dürfte Vincent beimZeichnen von Landschaften gemerkt ha-ben, dass ermit der grafischundperspek-tivisch korrektenWiedergabe vonDetails,mit brav ausgeführten Parallelschraffu-ren die atmosphärischen Besonderheiten

eines Orts und eines Augenblicks nichtausdrücken konnte. Also versuchte er dieEmpfindungen, die er beim Betrachtendes Motivs hatte, ins Zeichnerische zuübersetzen.DamitderFederabernurStri-che gezogen werden konnten, musste erseine Emotion auf die Striche übertragen.Die gezeichneten Linien bekamen alsoplötzlich Schwung, sie kreiselten um be-stimmte Gegenstände herum, und wo et-was Wesentliches hervorzuheben war,summiertensie sichauf fast schonkörper-licheWeise.

So ist in den Zeichnungen von Sonnen-untergängen der riesige, über dem Hori-zont liegende Sonnenball, also der QuellderHelligkeit,diedunkelsteStelle imBild,denn seine lichtspendendeMasse bestehtaus einem Gewühl von schwarzen Linien,auf das Tintenpfeile von allen Seiten radi-al zustürzen. Mit einem gewaltigen Auf-wand an bestätigenden Strichen wird hieralso die empfundene Gewalt des südli-chen Sonnenlichts gestisch nachvollzo-gen. Die Wirkung dieser Massierung ist

enorm: Nie war Licht in der Kunst phy-sisch präsenter als in diesen Strichballun-gen, die den Himmel nicht erhellen, son-dern verdunkeln.

Die größten Wirkungen hat van Goghaber erzielt, als er die in den Zeichnungenerprobte Verdichtungsmethode auf dieMalerei und die Farben übertrug. In Parishat er Stillleben und Stadtansichtenmeistnoch improvisatorisch frei aus hingepin-seltenFlächen,kurzenStrichenundPunk-tenzusammengesetzt. IndenLandschafts-ansichten und den Selbstporträts aus die-ser Zeit aber besteht die Bildfläche oft nurnoch aus farbigen Einzelstrichen, die fürsich genommen nichts bedeuten, zusam-menabereinatmendes, jaerregtvibrieren-des Abbild der Gegenstände liefern.

In Arles, Saint-Rémy und schließlich inAuvers-sur-Oise konzentriert sich vanGogh, wenn er nicht gerade einen ge-schätzten Menschen porträtiert, ganz aufdas in den Jahren zuvor entwickelte Wir-kungsmittel der zerpflügten Farbfläche.Wie in einem Beschwörungsritual setzt ereinen Pinselstrich dicht neben den ande-ren. Mit kurvig kreisenden und notorischwiederholtenFarbgestenmodelliert erOb-jekte aus dem Bildgrund heraus. Ja, diedichteFolge immergleicherpochenderBe-wegungenerwecktdenEindruck, alswür-de sein eigener Pulsschlag den Rhythmusbeim Malen diktieren, ja als male er garmit dem eigenen Blut. Die bildnerischeIdentifikationmitdenObjektenkönnteal-so kaum intensiver sein. Der alteWunsch,den Dingen der Welt mit künstlerischenMitteln eine Seele einzuhauchen, scheinthier amdirektesten inErfüllung zugehen.

In der Schlucht Les Peiroulets, die ervon der Nervenheilanstalt in Saint-Rémyaus besuchen konnte, hat van Gogh 1889mehrereBilder gemalt. An ihnen lässt sichdie Methode, mit der er damals die Ele-mente einer Landschaft erfasste, beson-ders anschaulich darstellen (unser Bild).Das gekurvte trockene Bachbett, die aus-gewaschenen Nischen unten im Fels unddiemit Büschen bewachsenen Steilwändewerdenmit kurvigendunklenHaupt- undbegleitenden helleren Nebenlinien in denRaum gestellt. Dass in dieser Ansicht dieFelsen sehr viel intensiver blau sind alsder blaue Himmel darüber, das zeigt, wievan Gogh die amOrt vorhandenen Farbenmodifizierte und übersteigerte, wenn ervermitteln wollte, was er beimBetrachtender Landschaften verspürte.

VieleMalerhabensichvondenkoloristi-schen Kühnheiten van Goghs zu eigenenWagnissen inspirieren lassen. Die Frank-furter Ausstellung zeigt, wie in Deutsch-land auf das großeVorbild reagiertwurde.

Der BauernmalerJohann Böckstiegel,die moderne Kunstund WestfalenSeite 18

Der MythosAb 23. Oktoberim Städel Museum:„Making van Gogh“Seite 16

Wie in einemRitual setzt van Gogh

Pinselstrich neben Pinselstrich

Striche, die die Welt bedeutenVincent van Gogh hat mit den Mitteln der Malerei eine Antwort auf die Komplexität der Welt zu geben versucht.

Die enorme Ausdruckskraft seiner Bilder ist erst Jahrzehnte nach seinem Tod entdeckt worden

DEFGH Nr. 241, Freitag, 18. Oktober 2019 SZ SPEZIAL

VAN GOGH

Die Hänge der „Schlucht Les Peiroulets“ hat van Gogh mit zahllosen Einzelstrichen auf die Leinwand modelliert. Im Gemälde „Ernte in der Provence“ ist die Sommerhitze fast physisch spürbar. BILDER: KRÖLLER-MUSEUM OTTERLO; THE ISRAEL MUSEUM, JERUSALEM/ AVSHALOM AVITAL

IrrfahrtenVomBildnis des Dr. Gachet ist demStädel nur der Rahmen geblieben 19

Page 2: Striche,diedieWeltbedeuten€¦ · Die Hänge der „Schlucht Les Peiroulets“ hat van Gogh mit zahllosen Einzelstrichen auf die Leinwand modelliert. Im Gemälde „Ernte in der

von johanna pfund

V incentvanGoghliegt inderLuft.Ob-wohlkeinJubiläumansteht,keinbe-sonderes Geburts- und kein beson-

deres Todesjahr, begegnet man demNie-derländer (1853–1890) indenAusstellun-gen dieses Herbstes doch auf Schritt undTritt. Das Museum Barberini in Potsdamwidmet sich ab Ende Oktober den Still-leben des Malers. Das NoordbrabantsMuseum inDen Bosch, in der Heimat vanGoghs, richtet sein Augenmerk auf denFamilien-undFreundeskreis.DasStädel-Museum in Frankfurt schließlich analy-siertdieRezeptiondesMalers inDeutsch-land. „Making van Gogh. Geschichteeiner deutschen Liebe“ ist eine der bis-lang größten Ausstellungen des Hauses.

Der Ausgangspunkt liegt in der eige-nen Sammlung. Das Städel zählte zu denersten Häusern in Deutschland, die einWerk von van Gogh erwarben. Zuerst daseher traditionell gehaltene „Bauernhausin Nuenen“ und die Zeichnung der „Kar-toffelpflanzerin“ 1908, es folgte 1911 das„Bildnis des Dr. Gachet“. Im selben Jahrhatte die Bremer Kunsthalle das „Mohn-feld“ von van Gogh erworben und damiteinen deutschlandweiten Streit über dieErwerbspolitik deutscher Museen ent-facht. DemwachsendenRuhmvanGoghsin Deutschland konnte das nichts anha-ben.Die Ausstellung zeigt aber auch, dassRuhm, mag er später noch so groß sein,keinSelbstläufer ist. „AmMaler vanGoghwird deutlich, dass eine Erfolgsgeschich-te viele Faktoren hat“, resümiert KuratorAlexander Eiling. „Und die Beschäftigungmit van Gogh sagt viel aus über den deut-

schen Kunstmarkt im 20. Jahrhundert.“Eiling hat gemeinsam mit Felix Krämer,der vor zwei Jahren vom Städel an denKunstpalast Düsseldorf gewechselt ist,die Ausstellung vorbereitet. Der Begriff„Making“ ist Programm. Wer hat denMythos des verkannten Künstlers derAvantgarde geschaffen? Wie haben deut-scheGaleristen, Sammler undMaler zumRuhm beigetragen? Und wie groß ist dieBandbreite von van GoghsWerk?

Die beiden Kuratoren stützen sich aufzahlreiche Quellen. Unter anderem vanGoghs Briefe widerlegen den gerade inDeutschland gepflegten Mythos des ar-men Autodidakten, der sich in seinerVerzweiflung ein Ohr abgeschnitten undbald darauf seinem Leben ein dramati-sches Ende gesetzt hat. Nicht alles, wasman zu wissen glaube, treffe zu, sagt Ei-ling. Wie sehr der Maler wirklich unterpsychischenProblemengelittenhat,wirdwohlnieganzgeklärt.DochdiebittereAr-mut, das sei Teil der Legendenbildung.„Er hat in nur zehn Jahren ein beeindru-ckendes Gesamtwerk von über 800 Ge-mälden, 1100 Zeichnungen und einerHandvoll Druckgrafiken geschaffen, unddas gingnicht ohne finanzielle Unterstüt-zung.“Der vier Jahre jüngereBruderTheounterstützte Vincent einLeben lang; auchderOnkel inAmsterdamerteiltedemNef-fen, der sich schon als Kunsthändler undalsPredigerversuchthatte,gezieltAufträ-ge, damit dieser seinEinkommenaufbes-sern konnte.

Und die Frankfurter entdeckten nocheinenweiterenMythos: Der Niederländerhabe keineswegs rauschhaft und ohnePlangearbeitet, imGegenteil. „Er hat sichintensiv Gedankenüber seineMotive undderen Umsetzung gemacht und sich mitderVerkaufbarkeit seinerWerkebeschäf-tigt. Gerade in seinen letzten Schaffens-jahren folgte er vielmehr einem überge-ordneten Konzept. Dabei entwickelte erseine Gemälde oftmals als Pendants oderin Form komplexer Ensembles.“ Kurzum,der Niederländer reflektierte sein Schaf-fen durchaus. „Er hat kompromisslos anseinem künstlerischen Werdegang ge-arbeitet.“

DieMotivwahl spiegelt inmancherHin-sicht sein Leben wider. Als Pfarrerssohnstammte van Gogh aus einem bürgerli-chen Umfeld, er war belesen, und das seidenZeitgenossendurchausbewusstgewe-sen, soEiling. VanGoghhabe sich, geprägtdurch sein calvinistisches Umfeld, auch

immer wieder sozialreformatorischenThemen zugewandt – in der Praxis wie inseiner Malerei. Er arbeitete in Suppenkü-chen, kümmerte sich um Arme. Die Dar-stellung bäuerlichen Lebens, welche dieMaler der Schule von Barbizon wie Jean-François Millet zelebrierten, fasziniertevanGogh.Der„Sämann“entstandnachei-nem Gemälde Millets. Mit seinem FaiblefürdasBäuerlichestandvanGoghnichtal-lein–wieCézanneoderPicasso inszenier-te er sich als einfacher Arbeiter. Sozialre-formatorischesWeltbild,LiteraturundLe-ben flossen zusammen: „DieMalerei wirdzum Ersatz für seine fehlgeschlagenenAmbitionen als Prediger“, sagt Eiling.

Dabei kämpfte der Niederländer seinLeben lang mit dem Makel einer fehlen-den Ausbildung. „Van Gogh war weitge-hendeinAutodidakt“, so Eiling.Das theo-retische Bewusstsein eines Paul Cézanne,dasSendungsbewusstseineinesPaulGau-guin – mit dem er für wenige Monate inArles zusammenarbeitete – fehlten beivan Gogh, ebenso die Grundlagen desZeichnens und der Malerei. „Aber imNachhinein ist das wirkmächtig, manmerkt den Arbeiten den ewigen Kampfmit der Materie, den er auch immer wie-der beschreibt, an.“ Genau das habe ihnüberaus interessant gemacht – für Käu-ferwie auch für die deutschenExpressio-nisten.

In Deutschland setzten Erfolg und Le-gendenbildung im frühen 20. Jahrhun-dert ein. Großen Anteil daran hatte JuliusMeier-Graefe. Der Autor zählte in dieserZeit zu den einflussreichsten Kunst-schriftstellern. Meier-Graefe hatte einigeJahre in Paris gelebt und die „Entwick-lungsgeschichte der modernen Kunst“verfasst, in der die Maler Frankreichseine zentrale Rolle spielten. Über vanGogh schrieb Meier-Graefe wiederholt,zunächst in einemkleinen, überschauba-ren Bändchen, das er nach dem ErstenWeltkrieg zueiner stattlichenMonografieausbaute. Er griff darin die posthumeVerklärung auf, die französische und nie-derländischeAutorenvanGoghzuteilwer-den ließen, die ihn zu einemKunst-Apos-tel stilisierten, der inderNachfolgeChris-ti für seine Malerei lebte und litt. „Er hatihn inderFolgezueinemfürdenMarktat-traktiven Künstler geschrieben“, sagt Ei-ling. Meier-Graefes Werk erhielt spätergar den Untertitel „Roman eines Gottsu-chers“. InderEinleitungschriebderAutorselbst von Legendenbildung. Nicht zu-

letzt ineigenemInteresse,dennerhandel-te mit Bildern van Goghs und verdientegut an der wachsenden Berühmtheit desNiederländers.

Eine ähnliche Zwitterfunktion nahmHugo von Tschudi ein. Gemeinsam mitMeier-Graefehatteer indervon ihmgelei-teten Berliner Nationalgalerie die „Jahr-hundertausstellung deutscher Kunst“vorbereitet, seinUrteil zählte inderKunst-welt. Tschudi, der 1909 an die Pinakothe-ken in München wechselte, gehörte zu-gleich zu den wichtigsten Sammlern vanGoghs. Werke aus seinem privaten Be-stand gingen später anMuseen über. Ge-meinsam mit seiner Frau Angela hatteTschudi schon ab 1903, teils bei Paul Cas-sirer inBerlin,etlicheVan-Gogh-Werkeer-worben. Cassirer zählt ebenfalls zu denzentralen Akteuren beim Bekanntma-chen van Goghs. Er war der erste, der ab1901 Werke von vanGogh in Deutschlandausstellte, zahlreicheWerkewurden überseine Galerie vermittelt.

Doch nicht nur die Kunstexpertenmachten Vincent van Gogh in Deutsch-landberühmt.DieMaler selbst reagiertenstark auf denNiederländer–bildeten sei-neWerke doch eine Projektionsfläche fürdiedeutschenExpressionisten.DieFrank-furter haben für die Schau einige Künst-lerwiederentdeckt: TheovonBrockhusenoder Peter August Böckstiegel beispiels-weise. Beide orientierten sich stark, dochin unterschiedlicher Ausprägung an vanGogh.Wenigbekannt sindauchdieArbei-ten von KünstlerinnenwieMaria Slavonaoder Elsa Tischner-von Durant, diesowohl van Gogh sammelten als auchselbst malten. Die Brücke-Maler wieErnstLudwigKirchneroderKarlSchmidt-Rottluff ließen sich von einer Ausstellungin Dresden 1905 so anstecken, dass EmilNolde spöttisch von „Van Goghiana“sprach. Auch Wassily Kandinsky, MaxBeckmannoderGabrieleMünternahmenImpulse auf, wie das Städel in der Schauzeigt.

Die Ausstellung im Städel zeigt abernichtnur,wievanGoghzueinerBerühmt-heitgeschriebenundgemaltwurde.Sie fä-chert auch die enorme Bandbreite vonvanGoghsWerk auf. Genug Stoff fürwei-tere Ausstellungen.

Zur Ausstellung erscheint im Oktober 2019 im Hir-mer-Verlag der Katalog „Making van Gogh“, heraus-gegeben von Alexander Eiling und Felix Krämer un-ter Mitarbeit von Elena Schroll.

Das Städel Museum ist nur eines von vie-len am FrankfurterMuseumsufer. 13Mu-seen verteilen sich dort auf einen etwa einKilometer langen Uferabschnitt, ebensoviele liegen in unmittelbarer Nachbar-schaft. Es ist das kulturelle Zentrum derStadt. Doch nicht nur etablierte Künstlerhaben ihren Platz in der Bankenstadt.Auch viele junge Künstler sind in Frank-furt und Umgebung ansässig und versu-chen, sich in der Szene zu behaupten.

„DurchdieStudierendenundAbsolven-ten der Frankfurter Städelschule, derHochschule für Musik und DarstellendeKunst und der HfG Offenbach existiertseit jeher eine junge, innovativeKunstsze-ne in Frankfurt, die sich in zahlreichen In-itiativen, freienAusstellungsortenundOff-Spaces widerspiegelt“, sagt Jana Kremin,Sprecherin des Kulturdezernats. Frank-furt stehe jedoch,wievieledeutscheGroß-städte, vor der Herausforderung, Flächenzur kulturellen Nutzung bereitzustellen –neben knapper werdenden Wohnraum.Um die Absolventen der künstlerischenStudienangebote in Frankfurt zu halten,

fördert das Kulturamt etwa 320 Ateliers –verteilt auf zwei Atelierhäuser und zweistädtische Immobilien. „Gleichzeitig wur-de ein Konzept entwickelt, mit dem leerstehendeImmobilien saniertundzugerin-genMietenanfreischaffendeKünstlerver-geben werden. Die Stadt bietet so Künst-lern einen Ort, zu vertretbaren Mieten ar-beiten zu können“, sagt Kremin. „Dieses

Programmfindet deutschlandweit Beach-tung und Nachahmer.“

DasKulturamtvergibtaußerdemregel-mäßig ein Atelierstipendium. Für zwölfMonatewird die Ateliermiete bis zu einemHöchstbetrag von 7000 Euro übernom-men. „Das Stipendium richtet sich an pro-fessionelle Künstler mit akademischemStudienabschluss, die ihren Lebens- undArbeitsmittelpunkt in Frankfurt habenunddiemit ihrerKunsteinewichtigeaktu-elle Position beziehen. Damit wollen wirdas Profil der Frankfurter Kunstland-schaft stärken“, sagtKremin. „DasAtelier-stipendiumist einAnreiz, umKunstschaf-fende langfristig an Frankfurt zu binden.“

Viele Menschen verbinden mit Frank-furt wohl zuallererst das Bankwesen. DieDeutsche Bundesbank und die Europäi-sche Zentralbank haben hier ihren Sitz,ebenso viele Geschäftsbanken. Diese ste-cken nicht nur viel Geld in ihre Gebäude,sondern auch Kunst. Die Kunstsammlungder DZ Bank etwa besteht aus 7500 Wer-ken, die auch inAusstellungen regelmäßigder Öffentlichkeit zugänglich gemacht

werden. „Die Kulturförderung ist bei vie-lenBankeneinwesentlicherBestandteil ih-res gesellschaftlichen Engagements“, sagtKremin. „Dabei setzen die Banken nichtnur auf Partnerschaftenmit bedeutendenKultureinrichtungen inderStadt, sondernfördern auch gezielt junge Talente.“

Zudem unterstützt die Stadt jungeKunstinteressierte. Frankfurter Studen-ten haben freien Eintritt zu den 16 städti-schenMuseen, ebensoKinderundJugend-liche.Mit einemKultur-undFreizeitticketfür Frankfurter unter 18 Jahren, das auchnicht-städtische Museen und den Zoo be-inhaltet, soll dieses Angebot ausgeweitetwerden.FürKinderausHaushaltenmitei-nem Monatseinkommen von weniger als4500 Euro netto ist das Ticket kostenlos,für alle anderen kostet es jährlich 29 Euro.„Das ist einwichtigerAnsatz, umjungeBe-sucher für die Häuser zu gewinnen“, sagtJana Kremin. Frankfurt wird die bundes-weit erste Stadt mit einem solchen Ange-bot sein. „Wir setzen damit ein einmaligesZeichen für die kulturelle Teilhabe jungerMenschen.“ rebecca herber

„Making van Gogh“ ist eine der größten Aus-stellungen, die das Städel je gezeigt hat. 120Werke sind von 23. Oktober 2019 bis 16. Fe-bruar 2020 in den Gartenhallen zu sehen. Al-lein 50 Bilder sind von van Gogh, dazu kom-men Werke von Max Beckmann, Alexej vonJawlensky oder Gabriele Münter.

Das Begleitprogramm reicht weit übersBilderschauen hinaus. Am 2. November lädtdas Haus zur „Vincent Vibes“ -Party mitDrinks und DJs. Am 9. November steht ein„Rendezvousmit Van Gogh“ an, am 30. Janu-ar 2020 ein „Round Table“. Dabeiwerden jun-geWissenschaftler die Forschung zur frühenWahrnehmung van Goghs vorstellen.

Zudem können Besucher zur Vorberei-tung auf die Ausstellung ein Digitorial nut-zen.Man scrollt durch die Seiten, kann einigeBilder betrachten, kleine Informationstextelesen und diese auch weiter ausklappen.Auch steht eine kostenlose Audioguide-Appzur Verfügung. Der Text wurde von Schau-spieler Lars Eidinger eingesprochen.

Erstmals nutzt das Städel das Format desPodcasts. In „Finding Van Gogh“ geht es umdas letzte große Porträt, das der Niederlän-der angefertigt hat, das „Bildnis des Dr. Ga-chet“, das seit einer Versteigerung im Jahr1990 dem Blick der Öffentlichkeit entzogenist. Der Journalist JohannesNichelmann schil-dert die Geschichte des Gemäldes in demfünfteiligen Podcast. Er trifft Zeitzeugen undExperten, die vonder EntstehungdesGemäl-des und von seinerOdyssee zur Zeit desNati-onalsozialismus erzählen.

Neben Familienführungen gibt es auch ei-ne Führung mit ausführlicher Bildbeschrei-bung am 2. November, und am 7. Dezember,begleitet eine Gebärdensprachdolmetsche-rin die Führung.

Geöffnet ist dienstags,mittwochs und amWochenende von 10 bis 19 Uhr, donnerstagsund freitags von 10 bis 21 Uhr. Der Eintrittkostet zwischen 14 und 18 Euro. Weitere In-fos und Online-Tickets unter www.staedel-museum.de REHR

Van Gogh war nichtder arme, verkannte Maler.

Zeit seines Lebensgenoss er finanzielle

Unterstützung

Das Kulturamtvergibt an KünstlerAtelierstipendien

EinMythosentsteht

Die Van-Gogh-Ausstellung zeigt,wie deutsche Galeristen und Künstler

zum Ruhm des Niederländersbeigetragen haben

Kunst in der BankIn Frankfurt fördert nicht nur die Stadt junge Künstler. Auch Geldhäuser engagieren sich

Tanz und Podcast

Die Banken haben sich in Frankfurt eindrucksvolle Gebäude geleistet. Sie investierenaber auch viel in Kunst. FOTO: GETTY

Judith Gerard zierte ihr Bildnis von van Gogh mit Blumen (oben). Das StädelMuseum erwarb 1908 das „Bauernhaus in Nuenen“ und die „Kartoffelpflan-zerin“. BILDER: SAMMLUNG EMIL BÜHRLE, ZÜRICH; STÄDEL MUSEUM, U. EDELMANN (2)

16 SZ SPEZIAL – VAN GOGH Freitag, 18. Oktober 2019, Nr. 241 DEFGH

Page 3: Striche,diedieWeltbedeuten€¦ · Die Hänge der „Schlucht Les Peiroulets“ hat van Gogh mit zahllosen Einzelstrichen auf die Leinwand modelliert. Im Gemälde „Ernte in der

von evelyn vogel

M al ist eseineLandschaft,dannwie-dereinStillleben.AuchSelbstpor-träts finden sich zuhauf und na-

türlich wurden auch die allseits beliebtenSonnenblumennicht verschont. Die Bilderkaum eines Malers wurden so häufig ge-fälscht wie die von Vincent van Gogh. MitschönerRegelmäßigkeit tauchenbis heuteangeblichneuentdeckteOriginaledeshol-ländischenKünstlersauf.Ebensoregelmä-ßig werden sie als Fälschungen entlarvt.Undnur sehrseltenwirdeinWerkvomFäl-schungsverdacht wieder befreit, wie dasGemälde „Mohnblumen in einer Vase“ von1886 aus dem Wadsworth Atheneum inHartford,Connecticut.Erst indiesemFrüh-jahr befanden Spezialisten des Amsterda-mer Van Gogh Museums: Die Mohnblu-men sind echt.

Das 1928vonJacob-Baartde laFaille er-stellte Werkverzeichnis Van Goghs ist imLaufe der Jahrzehnte erheblich ge-schrumpft. Die Auflage von 1970 verzeich-nete 913 Ölgemälde – einige sind bis heutemit Fragezeichen versehen. Der größteundspektakulärsteFälscherskandal inZu-sammenhangmitVan-Gogh-Werkenereig-nete sich aber schon lange vorher, in den20er- und 30er-Jahren in Berlin.

Damals flog der Berliner KunsthändlerOtto Wacker auf, nachdem er 1928 ver-sucht hatte, gefälschte Van Goghs in einerAusstellung bei Cassirer unterzubringen.In einem Gerichtsverfahren, in dem der34-jährigeWacker stets adrett im Zweitei-ler gekleidet auftrat und die gefälschtenBilder wie stumme Zeugen in Reih undGlied an der Wand standen, wie heimlichimGerichtssaalaufgenommeneFotosbele-gen, wurde er 1932wegen Betrugs undUr-kundenfälschung verurteilt. Stefan undNora Koldehoff haben den Fall Wacker indem gerade erschienen Buch „Der vanGogh-Coup. Otto Wackers Aufstieg undFall“ (Nimbus Verlag) minutiös nachge-zeichnet. Zu jener Zeit florierte der Kunst-handel inBerlin.DerKunstsalonvonCassi-rer war eine geschätzte Adresse in der Sze-ne. Und eine ebenso geschätzte Bezugs-quelle fürWerkeVincentvanGoghswar in-nerhalb kürzester Zeit der KunsthändlerOttoWacker geworden.

Deram11.August 1898 inDüsseldorfge-boreneWackerhattesichzunächstmitver-schiedenen Berufen mehr schlecht als

recht durch das Leben geschlagen. Die Fa-milie war über Den Haag und Amsterdamnach Berlin und schließlich in das Maler-dorf Ferch am Schwielowsee in Branden-burg gezogen. Der Vater, gelernter Kunst-schmied,hattesichdasMalenselbstbeige-bracht und betätigte sich mittlerweilehauptberuflich als Künstler. Auch einigederGeschwistermalten, besondersBruderLeonhard.Ottohingegenversuchte,Werkeaus der Familienwerkstatt zu verticken.

NachdemerstenWeltkrieg trat er unterdem Namen Olindo (später Olinto) Lovaëlin selbstgemachten Kostümen als spani-scher Tänzer auf. Schon damals schien eresmit derWahrheit nicht so genau zuneh-men und gab sich als ehemaliges Mitgliedeiner spanischen Balletttruppe aus. DieEinschätzungenseiner tänzerischenQuali-tätengingenauseinander,manchebezeich-neten ihn als Schönheits- und Erotiktän-zer, andere als beeindruckenden Aus-

drucks- und Grotesktänzer. Doch seineAuftrittemüssen ihmwohleinegewissePo-pularität verschafft haben.Dennochbeen-dete er 1924 seine Karriere als Tänzer –undwurde Kunsthändler.

1926 eröffnete er in Berlin eine schickeGalerieundpräsentierte schon imJahrdar-auf eine viel beachtete Ausstellung mitZeichnungen und Aquarellen van Goghs.Der galt längst als Liebling der deutschenKunstszene, seineWerkeerzieltenSpitzen-preiseundhattenauch inDeutschlandEin-zug inMuseenundPrivatsammlungen ge-halten. Wacker knüpfte Kontakte zu demNeffen van Goghs, er ließ sich von ausge-wiesenen Experten wie Jacob-Baart de laFailleGutachtenausstellen,batanderewieden Kunsthistoriker Julius Meier-Graefeum Katalogtexte und erbettelte von zahl-reichen Van-Gogh-Sammlern Leihgaben,die er unter seine Fälschungen mischteund so seine Ausstellungen legitimierte.

Den hauseigenen Bestand an Van GoghshattenvermutlichVater undBruder eigen-händig gepinselt.

UmdieProvenienzenderWerke abzusi-chern, erklärte Wacker, er habe sie aus ei-ner russischen Privatsammlung erhalten,über die er aber keine genaueren Angabenmachen dürfe. Als es zu der Ausstellungbei Cassirer kam, erwachten bei den dorti-gen Organisatoren, Grete Ring undWalterFeilchenfeldt, Zweifel an der Echtheit eini-ger Bilder. Bald schon machte es in Berli-nerGaleristenkreisen die Runde, dassWa-cker gefälschte Van Goghs verkauft hatte.DieSzenewar inAufruhr.VieleKunsthänd-ler nahmen Bilder, die sie überWacker be-zogenundanSammlerundMuseumsleuteim In- undAuslandweiterverkauft hatten,von ihren Kunden wieder zurück. Auchweil alleBeteiligtensoviel zuverlierenhat-ten,dauerte es lange,bis es zueinerAnkla-ge gegen OttoWacker kam.

In dem Aufsehen erregenden Prozesswurdenmehr als 30Werke, dieWacker imLaufe der Jahre als echte Van Goghs ver-kauft hatte, als Fälschungen erkannt. Da-bei machten die Van-Gogh-Experten Juli-usMeier-GraefeundJacob-Baartde laFail-le keineguteFigur.WährendMeier-Graefelange nicht von seiner früheren Einschät-zung abweichen wollte, hatte de la Faille

schon vor Prozessbeginn versucht zurück-zurudern, um seinen Ruf zu wahren. WasihnwieMeier-GraefeundandereKunstex-perten nicht davor schützte, im Laufe desProzesses in der Öffentlichkeit verspottetzu werden. Unter anderem von Kurt Tu-cholsky in der Weltbühne.

OttoWackerwurdeschließlichzueinemJahr und siebenMonaten Gefängnis sowieeiner Geldstrafe in Höhe von 30000 Markverurteilt. Da er das Geld nicht hatte, umdie Strafe zu bezahlen, wurde diese in einezusätzliche Gefängnisstrafe von 300 Ta-gen umgewandelt. So saßWacker bis Ende1934 imKnast.NachderEntlassungwar erfinanziell ruiniert, als Kunsthändler voll-ständig diskreditiert und verschwand ersteinmal von der Bildfläche.

1945 tauchte er schließlich als Tänzerwieder auf. Unter seinem KünstlernamenOlinto Lovaël war er in Weimar engagiertund schrieb auch eigene Tanzstücke – un-ter anderem eine van-Gogh-Hommage. Erwurde Tanzreferent der Deutschen Volks-bühne in Ost-Berlin, künstlerischer Leitervon Tanzprojekten in der DDR und enga-gierte sich in den Fünfzigerjahren für dieKulturpolitik im Sinne der SED.

Otto Wacker starb 1970 in Ost-Berlin.Bis ans Lebensende bestritt er, dass seineVan Goghs Fälschungen waren.

Kurt Tucholsky verspottetedie Kunst-Expertenin der Weltbühne

Tanz am AbgrundOtto Wacker handelte mit gefälschten Van Goghs und versetzte damit die Berliner Kunstszene der Zwanzigerjahre in Aufruhr.

Später machte Wacker als Tänzer Karriere in der DDR. Die Fälschungen bestritt er bis zu seinem Tod

Fast wie eine Kunstgaleriesah der Gerichtssaal

in Berlin aus,als sich dort Anfang der

Dreißigerjahre Otto Wacker(re.) wegen Handels mit

gefälschten Kunstwerkenverantworten musste.An der Wand entlang

aufgereiht waren Bilder,die angeblich Vincent van

Gogh gemalt hatte.FOTO: ULLSTEIN BILD

DEFGH Nr. 241, Freitag, 18. Oktober 2019 SZ SPEZIAL – VAN GOGH 17

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Page 4: Striche,diedieWeltbedeuten€¦ · Die Hänge der „Schlucht Les Peiroulets“ hat van Gogh mit zahllosen Einzelstrichen auf die Leinwand modelliert. Im Gemälde „Ernte in der

von johann kirchberger

S ie verkehrte in den bedeutendstenKünstlerkreisen des Expressionis-mus um Wassily Kandinsky und

Franz Marc, kaufte und sammelte Gemäl-de, unter anderem von van Gogh, CézanneundGauguin,besuchtedieMünchner„Da-menakademie“undmalteselbst.Nachper-sönlichen Schicksalsschlägen geriet sie infinanzielle Schwierigkeiten,musste sich inderZeit nachdemErstenWeltkrieg von ih-ren kostbaren Gemälden trennen und leb-te später in recht ärmlichen Verhältnissenin einer Holzbaracke in Moosburg. Dortstarb sie 1958 im Alter von 82 Jahren: ElsaTischner-von Durant.

„Ich bin so arm geworden, ich hätte dasnie für möglich gehalten“, sagte sie kurzvor ihrem Tod. Geboren wurde sie 1876 alsElsa Baronesse von Durant in Breslau. DerSitz der Familie war das oberschlesischeRittergut Baranowitz. Der materielle Hin-tergrunderlaubte esder jungenFrau, ihrerNeigung nachgehen und den Weg der bil-dendenKunsteinzuschlagen.Um1900leb-te sie in Paris und traf dort mit Vertreterndes französischen Impressionismus zu-sammen. 1901 zog sie nach München undwohnte im Künstlerviertel Schwabing. Bis1907 studierte sie an der sogenannten Da-menakademie, da Frauen der Besuch derAkademie der bildenden Künste damalsverwehrt war. Dort lernte sie auch FranzMarc kennen, der Tieranatomie lehrte.Münchenwar inder spätenPrinzregenten-zeit einer der bedeutendsten Anziehungs-punktefürdiekünstlerischenund intellek-tuellenElitenMitteleuropas.Dass sichDu-rant in diesemMilieu bewegte, beweist ihrerhalten gebliebenes Gästebuch, in demsich 1907 unter anderem die Tänzerin undChoreografin Marie Wiegmann oder dieGattin des Schriftstellers und PublizistenAlexander Roda Roda eingetragen haben.

Im August 1909 heiratete Elsa von Du-rant im Taunus den Augenarzt RudolfTischner, der sich später einenNamenmitPublikationenzurHomöopathieundzupa-rapsychologischen Phänomenen machte.Auch Tischner scheint Sympathie für diebildende Kunst gehabt zu haben, wie Brie-fe an Kandinsky über den Kauf von Holz-schnitten des Künstlers zeigen. Im August1911 zog das Paar nach Freising, wo sichTischner als Augenarzt niederließ. MitdemHaushaltdesEhepaarswarendreiGe-

mäldenach Freising übersiedelt, die schondamals große Besonderheiten darstellten:einFrauenporträtvonVincentvanGogh,ei-ne Landschaft von Paul Cézanne und eineSüdseeszene von Paul Gauguin. Sie wur-den bei der Sonderbundausstellung 1912inKöln gezeigt. ImAusstellungskatalog ist„Frau Elsa Tischner-v.Durant, Freising“als Leihgeberin aufgeführt.

Bei demGemälde vonVincent vanGoghhandelte es sich um eine seiner vier 1890entstandenen Versionen des Porträts derMadame Ginoux nach einer Zeichnungvon Paul Gauguin. Marie Ginoux(1848-1911)wardieBesitzerindesNachtca-fés in Arles, weshalb der Titel von Anfang

an „L’Arlésienne“ lautete, im Katalog derSonderbundausstellung „Arleserin“ ge-nannt. Ginoux sitzt an einem Tisch, denKopf in die Hand gestützt, vor ihr zwei roteingebundene Bücher, eines davon vonCharles Dickens. Das Gemälde befand sichzunächst im Besitz des Bruders von vanGogh,wurdedann inAusstellungennieder-ländischer Museen gezeigt und 1905/06mit anderenGemälden vanGoghs auf eineVerkaufstourdurchKunstgalerien inHam-burg, Dresden, Berlin undWien geschickt.1907 erwarb es die Galerie Bernheim-Jeu-ne in Paris von der Schwägerin van Goghsund zeigte es 1908 in einer Präsentation.Damals oder danach, nicht später als 1912,

muss es Elsa von Durant gekauft haben.Der Preis dürfte etwa 13000 Mark betra-genhaben.Soviel jedenfallszahltederDra-matikerCarl Sternheim für einanderesGi-noux-Porträt van Goghs. In diese Zeit fal-len auch der Kauf der beiden Gemälde vonCézanne und Gauguin. Im Gästebuch derElsa Durant finden sich in der FreisingerZeit Eintragungen bedeutender KünstlerundMuseumsmänner wie Alexej von Jaw-lensky oder Heinz Braune.

ImMärz 1913 kamTochter Elli zurWelt,imOktober zog die Familie nachMünchenund zwei Jahre später in ihr eigenes Hausnach Icking. 1919 ließ sich das Paar schei-den. Danach geriet Durant offenbar in fi-

nanzielle Schwierigkeiten undmusste sichvon ihren Gemälden trennen. Das Gemäl-devonGauguindürfteum1924vonderGa-lerie Druet in Paris gekauft worden sein.Die Arleserin von van Gogh erwarb 1928die in Luzern aufgebaute Dépendance derMünchner Galerie Thannhauser, die dasBild bereits ein Jahr später nach New Yorkverkaufte. Etwas später veräußerte Du-rant auch das Landschaftsbild von Cé-zanneüber dieGalerie Thannhauser andieWitwe des Kunstsammlers Hugo Cassirer.

Elsa von Durant war aber nicht nurSammlerin, sie malte auch selbst. Ihr der-zeit bekanntes Oeuvre umfasst etwa 130Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafi-

ken. Erhalten hat sich unter anderem einPorträt ihres Mannes Rudolf Tischner von1909, das in der Reduzierung der Formensowie der Ausdruckskraft der Farben denEinflussexpressionistischerMalereiwider-spiegelt. Aus späteren Jahren sind zahlrei-cheWerke der Künstlerin erhalten, die beiihren Sommeraufenthalten in der 1930erJahren an der Ostsee entstanden sind.

Von1921an lebteDurantwieder inMün-chen. 1944wurde ihreWohnung inderAin-millerstraßebei einemBombenangriff zer-stört, wobei auch viele ihreWerke verlorengingen. Im selben Jahr nahm sich ihreTochter Elli das Leben. Nach einem zwi-schenzeitlichen Aufenthalt in Erding zog

sie 1948 nachMoosburg,wo auch ihr lang-jährigerMalerfreundJosephMaderwohn-te. Sie lebte dort bescheiden in einer Holz-barackemit Garten.Wegen ihrer prekärenfinanziellen Situation versuchte sie immerwieder die letzten in ihremBesitz befindli-chen Gemälde anerkannter Maler zu ver-kaufen, was nur vereinzelt gelang.

Über ihredrei außergewöhnlichstenGe-mälde ist Folgendes bekannt: Das Gemäl-de von Gauguin, „L’Invocation“, befindetsich heute in der Sammlung der NationalGallery of Art in Washington. Die Land-schaft vonCézanne ging 2002 in einerVer-steigerung von Christie’s in New York für4,4MillionenDollar aneinenPrivatsamm-ler und die Arleserin von van Gogh wurde2006, auch von Christie’s in New York, fürüber 40Millionen Dollar versteigert.

Eine ausführliche Publikation über das Leben vonElsa von Durant findet sich im 44. Sammelblatt desHistorischen Vereins Freising, herausgegeben vonUlrike Götz.

DerBlick ist nach innengekehrt, derMundleichtgeöffnet.WirseheneinhageresMän-nergesicht mit rötlichem Bart über einemlangen Hals. Der Mann trägt eine dunkleKopfbedeckung, unter der sein rechtesOhr hervorschaut. All dies vor einemoran-gefarbenenHintergrund. SelbstwerdiesesBildnichtkennt,meint, esschoneinmalge-sehen zu haben. Unmittelbar fühlt mansich an vanGogh erinnert, an sein „Selbst-porträt mit verbundenem Ohr und Pfeife“von 1889, umdann festzustellen: Das ist erja gar nicht. Sicher, die Farben sind gleich,die Kleidung stimmt im Wesentlichenüberein, und der Blick geht in beiden Fäl-len nach rechts aus dem Bild. Allerdingssind die Farben pastoser, die Pinselstrichegröber, die Haltung wirkt forscher.

Das Gemälde entstand tatsächlich 24Jahre später als sein Vorbild. Der Maler,dersichhier selbstporträtierthat,heißtPe-ter August Böckstiegel. Interessanterwei-se war er gar nicht hager. Er hatte ein vol-les, rundes Gesicht. Offenbar ging es ihmnicht darum, sichmöglichst ähnlich zu se-hen. Das Werk ist vielmehr ein Statement– und zugleich ein geschickter Schachzug.Keiner kann sagen, der Künstler lege seinVorbild nicht offen. Zugleich treten bei al-lerÄhnlichkeitdieUnterschiede inderMal-technik deutlich zutage. Mit diesem Bildsagt Böckstiegel: Ich habe vomMeister ge-lernt, aber ich bin nicht etwa ein Epigone,sondern auf der Höhemeiner Zeit.

Geboren wird Peter August Böckstiegel1889 im westfälischen Arrode, das heuteWerther heißt. Seine Eltern Wilhelm undFriederikestammenausaltenBauernfami-

lien. Sie bewirtschaften einkleinesGrund-stück,undweil das zumLebennicht reicht,arbeitet dieMutter amWebstuhl, derVaterbeiderKleinbahn.Mit 14beginntBöckstie-geleineLehrealsMalerundGlaser inBiele-feld und besucht nebenbei die Fachschuleder Malerinnung. Hier belegt er Kurse beiLudwigGodewols, demer 1907 in dieKlas-se fürMalerei derneugegründeten„Staat-lich-Städtischen Handwerkerschule mitkunstgewerblichen Tagesklassen“ folgt.

MitMitschülern gründet Böckstiegel 1909dieKünstlergruppe „RoteErde“, derenNa-menauf die enge Verbindung zur westfäli-schenHeimathinweist.VorallemfürBöck-stiegel bleibt der Name Programm, es sinddie ländliche Umgebung und ihre Bewoh-ner, die in den meisten seiner Werke dieHauptrolle spielen.Womöglich ist dies derGrund dafür, dass Böckstiegel anders alsandereVan-Gogh-Nachfolger–wiedieVer-

treter derKünstlergruppe „Brücke“–heu-te wenig bekannt ist.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhun-derts ist Bielefeld nicht gerade ein Kulmi-nationsort für moderne Kunst. 1909 reistLudwigGodewolsdeshalbmitseinenSchü-lern nach Hagen, um eine Ausstellung mitfranzösischen Impressionisten zu besu-chen, in der auch zahlreiche Werke vanGoghs zu bestaunen sind. Böckstiegel istbegeistert: „WiegroßwurdemirdasKünst-lerleben im Karl-Ernst-Osthaus MuseuminHagen 1909.WerkevonGauguin,Feuer-bach, Manet, Cézanne, Renoir oder vanGogh, Rodin stürmten auf mich ein. Alleswar ein Singen und Brennen. Es war einTag größter Offenbarung. Ich glaubte, ei-nen Opferaltar betreten zu haben“, erin-nert sich der Künstler später. Als 1912 die„Internationale Sonderbundausstellung“inKölneröffnet, einemit654Werkenriesi-ge Überblicksschaumoderner Malerei ausEuropa, ist nicht nur Böckstiegel elektri-siert. Mit 116 Werken ist van Gogh vertre-ten, und seine eigenwillige Malweise, dieleuchtenden Farben, die schlichten Kom-positionenundseineradikaleHaltungwer-den zumVorbild für eine ganzeGenerationjunger deutscherMaler.

VorallemBöckstiegel istmassiv vonvanGogh beeinflusst. Eine Tatsache, die ernicht zu verstecken sucht. Im Gegenteil.Das Gemälde „Im Steinbruch“, das 1912während einer längeren Wanderschaft alsGeselle entsteht, steckt mit seinem pasto-sen Farbauftrag, den geschwungenen Pin-selstrichen und der leuchtenden Sonnen-scheibe voller Anspielungen auf das Idol.

Zurück in Arrode malt Böckstiegel wie-der das, was ihn umgibt: Die Landschaftder Umgebung, Porträts von Bauernkin-dern und Feldarbeit. 1913 setzt er sein Stu-dium an der Königlichen Kunstakademiein Dresden fort. Seine Umgebung ist nunvon Kultur geprägt, es gibt eine lebendigeKunstszene, und trotzdem ist Böckstiegelenttäuscht: „DerakademischeGeist steck-te tief im getreuen Nachbilden. Alles warSchulmeisterei, ohne eine lebendige Geis-teswelt.“VonseinenKollegenwurdederei-genwilligeMalerausderProvinzalsErneu-erer gefeiert. So schreibtConradFelixmül-ler, mit dem ihn bald eine tiefe Freund-schaft verbindet, dass Böckstiegel mit sei-nem selbstständigen Vorgehen und seinenreinenFarben„eine echteSensation indenfastmüden Studierbetrieb brachte“.

AndersalsvieleKünstler stehtBöckstie-gel dem Ersten Weltkrieg kritisch gegen-über. „Ichhabe“, soerinnert sichderKünst-ler später, „das europäische Geschehenvon 1914 bis 1918 mit allen Fasern meinesIchs gehasst, verflucht und verdammt.“Kurz bevor er im Januar 1915 zum Wehr-dienst eingezogenwird, entsteht eines sei-nerHauptwerke: „Abschied“ zeigtdenMa-lermit seinerVerlobtenHanna (derSchwes-ter vonConradFelixmüller) vor einemdra-matischflammendenHintergrund,diePin-sel wie Waffen gezückt, die Konturen auf-gelöst, die Blicke voller Trauer.

Er gelangt über Breslau, Russland unddie rumänische Walachei in die Ukraineund fertigt eine ganze Reihe von Bildernseiner Kameraden und der ihn umgeben-den Natur an. Erst im April 1919 ist er zu-

rück in Dresden, im Juli heiratet er Hanna.Das Milieu der Großstadt reizt ihn nicht.Böckstiegel isoliert sich und reist immerwieder für mehrere Monate nach Arrode.Er malt zunehmend flächig, lässt unge-mischte Grundfarben in starken Kontras-ten aneinander stoßen, schafft reliefartigeOberflächenundporträtiert einumsande-re Mal seine Eltern und die Landwirte derNachbarhöfe.EssindBilder,die–wegenih-rer Farbigkeit und vermeintlich biederenMotive–aufKritik stoßen,von„Provinzex-pressionismus“ ist die Rede, von „Farben-gekreisch“, „radikalem Getue“.

Böckstiegel verzeichnet Erfolge, dochder große Durchbruch bleibt aus. In denspäten zwanziger Jahren wird seine wirt-schaftliche Situation immer schwieriger.Der Kunstmarkt wendet sich der NeuenSachlichkeit zu, bevor er in der Weltwirt-schaftskrise völlig einbricht. Was folgt, istein unwürdiges Abstrampeln: Unter denNationalsozialisten werden von Böckstie-gel mindestens 91 Werke aus Museen be-schlagnahmt, die heute größtenteils alsverschollen gelten. Der Künstler arran-giert sich, darf weiterarbeiten und verlegtsich auf Blumenstillleben. Eine Zeitlangverdingt er sich auchalsKunsthändler.Vorden Zerstörungen inDresden amEnde desZweiten Weltkrieges flüchtet Böckstiegelerneut in die alte Heimat. Nach dem KriegkanneranseineohnehinbescheidenenEr-folge nicht mehr anknüpfen. AbstrakteKunst ist gefragt, ein „Bauernmaler“, sonannte er sich selbst, wirkt da wie aus derZeit gefallen. 1951 stirbt er und gerät langeZeit in Vergessenheit. sandra danicke

Für die „Arleserin“, einst imBesitz der Künstlerin, wurden40Millionen Dollar bezahlt

Der Meister van Goghbeeindruckt Böckstiegel.

Aber er befreit sich

Elsa Tischner - von Durant um 1900/1905 in ihrem Münchner Atelier. Die „Blumen“ sind eines ihrer Werke. FOTOS: HANS MADER,MOOSBURG; STÄDEL MUSEUM

So reich, so armElsa Tischner-von Durant malte, sammelte Kunst und bewegte sich schon früh in Avantgarde-Kreisen

um Wassily Kandinsky und Franz Marc. Später starb sie in bescheidenen Verhältnissen

Der Bauernmaler aus WestfalenPeter August Böckstiegel orientierte sich an van Gogh und entwickelte doch seinen eigenen Stil – der bald aus der Zeit gefallen war

Ein Selbstporträt vonPeter August Böckstiegel,

das keines ist.Es ist vielmehr eine

Hommage an van Goghund dessen „Selbstporträt

mit verbundenemOhr und Pfeife“.

FOTO: PETER-AUGUST-BÖCKSTIEGEL-

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Page 5: Striche,diedieWeltbedeuten€¦ · Die Hänge der „Schlucht Les Peiroulets“ hat van Gogh mit zahllosen Einzelstrichen auf die Leinwand modelliert. Im Gemälde „Ernte in der

von ira mazzoni

E in vergoldeter Rahmen in einem an-sonsten leerenAusstellungssaal: Pa-thetischer lässt sich der Verlust ei-

nes Schlüsselwerks nicht inszenieren. Derleere Rahmen, der bis 1937 Vincent vanGoghs Bildnis seines Arztes Dr. Gachet dieWürde eines Altmeisters gab, signalisiertzugleich, dass alle Bemühungen um eineLeihgabe des Bildes fehlschlugen.

Aber was heißt leer? In der Ausstellung„Making vanGogh“ ist das 67 auf 57 Zenti-metermessendeWerksopräsent, dass sei-nevonLegendenundGeschichtengenähr-te Aura den historischen Rahmen sprengt.Jeder hat das Bild vor Augen – obwohl esvor bald dreißig Jahren seinen letzten öf-fentlichen Auftritt hatte. Letztlich ist derleere Rahmen auch eine hübsche Parabelüber Wertschätzung, Werte und Derivate,die leistungslos zur Geldvermehrung bei-tragen – solange Zeit keine Rolle spielt.

Das Bildnis des nachdenklichen Dr. Ga-chet ist nicht nur das letzte Portrait, dasderHeilung suchende Vincent vanGogh inden arbeitsintensiven Monaten vor sei-nemSuizid am29. Juli 1890malte, es gilt –belegt durch Briefe des Malers – vielmehrals „sinnbildlichesSelbstportrait“.Mitdie-sem Nimbus verkaufte die Erbin Johannavan Gogh-Bonger das Werk gegen EndedesJahres 1896andenPariserKunsthänd-ler Ambroise Vollard, der es ausstellte undwenigeMonatespäterandie junge,vermö-gendedänischeKünstlerinAliceRubenFa-ber für 300 Franc verkaufte.

EineprivateFotografie lässt ahnen,wel-che Bedeutung das Kunstwerk für dieSammlerin hatte: Sie liegtmatt lächelnd ineinem Bett, an dessen Kopfende MauriceDenis’ Gemälde „Mutter und Kindmit Ap-fel“ postiert ist. Dieses hatte ihrMannPoulWilliam Kuhn Faber 1897 atelierfrischbeim Künstler erworben. Zu ihrer Seite,auf dem Nachttisch steht der noch unge-rahmte Dr. Gachet als hielte er ihre Hand.DasFoto inszeniert so eineverbindende, inParis ausgelebte Kunstliebe anlässlich derGeburt von Fabers Sohn Frans. Langekann das Eheglück der Fabers aber nichtgehalten haben. 1903 gab der mit Ruben-Faber befreundete Maler Mogens BallindenVanGoghbeidemBerlinerKunsthänd-ler Paul Cassirer in Kommission, der sichleidenschaftlich für die vitale Malerei desPostimpressionisten stark machte. Auchdas Madonnenbild von Denis landete beiCassirer. Beide Werke wurden von demAvantgarde-Sammler und KunstmäzenHarry Graf Kessler erworben. Das Bildnisdes Dr. Gachet kostete zu diesem Zeit-punkt bereits 1689 Reichsmark. Bald gabder dynamisch sammelnde Graf das Spät-werkvanGoghsandenPariserKunsthänd-ler Eugène Druet weiter. Nach einer Post-impressionsten-Ausstellung in Londonwar das Porträt museumsreif.

In dem heute leeren, reich verziertenRahmen schickte Druet van Goghs letztesBildnis am 20. Februar 1911 nach Frank-furt amMain. Städeldirektor Georg Swar-zenski machte das Porträt zum Herzstückder gerade imAufbau befindlichen Städti-schen Galerie für moderne Kunst, die ergleichfalls betreute. Die Anschaffung war

ein politisches Statement: gegen national-gesinnte Kreise, die sich gegen alles Fran-zösischewandten;gegenalleTraditionalis-ten, die nur altmeisterliche Maltechnikund Naturalismus gelten lassen wolltenund gegen all die, die von van Goghs Wer-kenprofitierten.Ohnedas privateEngage-ment von Viktor Mössinger, Stadtrat undVorsitzender des Städelschen Museums-Vereins, wäre die Anschaffung Utopie ge-blieben. In Raten zahlteMössinger die vonDruet verlangte Summe von 20000 Francund schenkte dasWerk der Stadt.

In demMuseum, das denCharakter ei-ner weltläufigen Privatsammlung habensollte, erwies sich das Bildnis als schwie-riges Exponat. Dreimal wurde es umge-hängt. Zuletzt – ab 1931 –war das Schlüs-selwerk bei den Expressionisten zu fin-den. Bis dieNationalsozialisten dieMachtergriffen. Schnell musste Swarzenskiseinen Posten als Generaldirektor derstädtischen Museen räumen und sich fürseine Ankaufspolitik vor einem Untersu-chungsausschussverantworten.ZweiJah-re später, imNovember 1935, forderte dieReichskanzlei dringlich die Herausgabe

des Dr. Gachet, um ihn in der Schweiz zuverkaufen. Alfred Wolters, SwarzenskisNachfolger im städtischenMuseumsamt,widersetzte sich und fand beimKulturre-ferenten wie beim Bürgermeister Unter-stützung: Das Bild sei eine Bürgerstif-tung, die bedeutendste Schenkung seitGründung desMuseums.

Indes liefen die ersten Femeausstellun-gen zur „entarteten Kunst“. In drei Be-schlagnahmungswellen wurde die städti-scheGalerie ab 1936unter dieserMaßgabegeplündert. Nach den Expressionisten trafesEnde1937auch„problematischeAuslän-der“:Munch,Gaugin, vanGogh.DerMuse-umsmitarbeiter, der die Transportkisteschloss, konnte die „vorwurfsvollen blau-enAugen“desDoktorsGachetnichtverges-sen. Hermann Göring persönlich bemäch-tigte sich des Bildes und verkaufte es 1938über den Kunsthändler Sepp Angerer anden Privat-Bankier FranzKoenigs in Ams-terdam. Noch bis 1940 bemühte sich dieWitwedeseinstigenStiftersViktorMössin-ger, das Bild zurückzubekommen.

Das Werk hatte indes erneut den Besit-zer gewechselt und befand sich bereits inden USA. Siegfried Kramarsky von derBankLisser&Rosenkranz,–einGeschäfts-partnervonKoenigs–hattedenDr.Gachetüber die Amsterdamer Galerie Cassirer,die vonWalterFeilchenfeld geführtwurde,

zu einer geplanten Van-Gogh-Ausstellungin London und weiter nach New York ge-schickt, bevor er selbst mit seiner Familieemigrierte. In der privaten Kunstsamm-lung der Kramarskys fand Dr. Gachet fürbeinahe ein halbes Jahrhundert ein neuesZuhause. Das Bild soll lange im Salon überdemKamin gehangen haben.

Fastgenau100JahrenachseinerEntste-hung wurde das Bild das letzte Mal in derÖffentlichkeit gesehen. Die Kramarsky-Kinderhattendas fürdieFamiliesozentra-leWerk zunächst als Leihgabe an dasMe-tropolitanMuseumgegeben, als ihreMut-ter hochbetagt schwer erkrankte. VomAuktionshausChristie’sberatenentschlos-sen sie sich 1990 zum Verkauf. Der Zeit-punkt schien günstig: Japanische Interes-senten trieben die Preise für van Gogh inneue Rekordhöhen. SohnWynnKramars-ky verfolgte schon länger eigene Samm-lungsinteressen, förderteKünstlerunder-öffnete nach der Auktion einen eigenen,nicht kommerziellen AusstellungsraumamBroadway.

87Millionen Dollar ließ sich der japani-schePapierfabrikantSaitoRyoeidenunbe-dingten Erwerb desMeisterwerks nach ei-nem dramatischen Bietergefecht kosten.Der neue Eigentümer verkündete, er wolledas Bildnis mit ins Grab nehmen und ver-schloss es in einem Tresor. Seitdem speisteine exzellente Fotoreproduktion das kul-turelle Gedächtnis derMenschheit genau-so wie die Spekulation über das weitereSchicksal des legendären Bildnisses.

Die Frankfurter Ausstellungsmachersind dem Porträt über Mittelsmänner nä-hergekommen.AbereinpersönlicherKon-takt zu den heutigen Eigentümern kamnicht zustande.Leihanfragenbliebenunbe-antwortet. In seinem für die Ausstellungproduzierten, hörenswerten Podcast „Fin-ding van Gogh“ gelangt der Journalist Jo-hannesNichelmannbis zudemunbekann-tenKunstsammler, dernicht nurdieses ei-ne Werk von van Gogh sein eigen nennensoll. Die Erben dieses italienischen Indus-triellen sollen sich gerade über die Frage„behalten oder verkaufen“ zerstritten ha-ben.AuchdervanGogh-KennerStefanKol-dehoff hat seine langjährigen Recherchenweitergeführt und ist andie gleiche Adres-se des unlängst verstorbenen „Lugano-Manns“ geraten (art 10/2019).

Der Kunsthandel – Sotheby’s war beiden jüngstenTransaktionennicht nur ver-mittelnd, sondern auch kreditgebend undzeitweise wohl auch als Eigentümer betei-ligt – hofft auf eine Rückkehr des Dr. Ga-chet. Eine neue Rekordsumme beim Ver-kaufwäreaufgrundderGeschichtedesBil-des und dem Verlangen der Superreichennach sicheren Anlagenwahrscheinlich. Obes dafür einer Bieterschlacht imAuktions-haus bedarf, ist fraglich. Es könnte genau-so gut sein, dass dasWerk einweiteresMaldiskret und steuerfrei von einem Tresor-raum eines Schweizer Zollfreilagers in dennächsten wechselt, ohne dass die Öffent-lichkeitdavonetwasmitbekommt.DieZei-ten, in denen ein museales Bildnis wie dasvon Dr. Gachet Teil des Lebens war, schei-nen endgültig vorbei. Der leere Rahmen inder Ausstellung Making van Gogh ist soauch Sinnbild einer Sinnentleerung.

Hermann Göringsicherte sich das Gemäldeund verkaufte es 1938

Die Irrfahrtendes Dr. Gachet

Von Dänemark nachParis über Frankfurt und New Yorknach Nirgendwo: die Geschichte

eines Van Gogh

Nur kurze Zeit konntesich die dänische

Sammlerin Alice RubenFaber (1866 - 1939) das

„Bildnis des Dr. Gachet“ans Bett stellen, flankiert von

Maurice Denis’ „Madonnamit dem Apfel“ (oben links).Das Bild blieb nicht lange

bei ihr: Es ging bald zurücknach Paris. 1908 kaufte

es der Mäzen ViktorMössinger für dieStädtische Galerie

im Frankfurter Städel.1937 beschlagnahmten

die Nazis das Bild.Dem Städel bliebender Rahmen unddie Radierung.

BILDER: BRIDGEMANIMAGES;

STÄDEL MUSEUM (2)

DEFGH Nr. 241, Freitag, 18. Oktober 2019 SZ SPEZIAL – VAN GOGH 19FOTO

VON

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Page 6: Striche,diedieWeltbedeuten€¦ · Die Hänge der „Schlucht Les Peiroulets“ hat van Gogh mit zahllosen Einzelstrichen auf die Leinwand modelliert. Im Gemälde „Ernte in der

von sabine reithmaier

F ranzMarcwarmitdenNervenamEn-de, als er am 27. März 1907 in denNachtzug nach Paris stieg. Wenige

Stunden zuvor hatte der 27-jährige MalerMarieSchnürgeheiratet, eineelf Jahreälte-reKunstlehrerinanderMünchnerDamen-akademie, und seine Geliebte MariaFranck damit tief verletzt. Die dritte FrauinseinemLiebesleben,AnnetteSimon,hat-te er von der Heirat noch gar nicht infor-miert. Grund genug also für eine Fluchtnach Paris, um seine „schwankende, ge-ängstigte Seele vor denwunderbarenWer-ken vanGoghs zu beruhigen“, wie erMariaFranck schrieb. Ihr, der späteren zweitenEhefrau, teilte er nach seiner Rückkehrauchmit: „VanGogh ist fürmichdie teuers-te, größte und rührendste Malergestalt,die ich kenne. Ein Stück einfachster Naturzu malen und dahin allen Glauben undSehnsucht hineinzumalen, das ist dochdasWürdigste.“

Da derNiederländer zwischen 1908und1909 auch mehrmals in München ausge-stellt wurde, gab es genügendGelegenhei-ten für Marc, seine Eindrücke zu verfesti-gen, zumal er bei der großen Ausstellungim Dezember 1909 den Galeristen Braklund Thannhauser sogar bei der Hängungder 70 Exponate half. Doch auch zuvorschon lässt sich der große Einfluss vanGoghs auf ihn nachweisen. ImHerbst 1907malte er an der Ostsee – er hatte MarieSchnürzu ihrerFamiliebegleitet–mitpas-

tosem Farbauftrag und kurzen Pinselstri-chen die Ölskizze „Frau im Wind“. Marcbraucht dafür nur drei Farben: Grün, Blauund Sandgelb. Van Gogh ist auch mit da-bei, als er sich im Sommer 1908 mit MariaFranck nach Lenggries zurückzieht. Wo-chenlang experimentiert er mit Farben,verbraucht „Kremserweiß I und Cadmiumhellst“ kiloweise, hältMariaMarc später inihren Erinnerungen fest.

Auch die Akte, die er von 1909 an malt,stehen unter dem Einfluss des Niederlän-ders.Marcgehtesnichtmehrumindividu-elle Persönlichkeiten, ermalt flächige, far-bige Körper. Bei seinen „Katzen auf rotemTuch“ (1909/10) stellt er den Bezug zu vanGogh sogar selbst her, als er Neujahr 1910an Maria schreibt: „Für das Katzenbildscheine ich endlich meine Formel zu fin-den. Es ist eine höchst komplizierte Studiegeworden; ich bin sehr begierig auf DeinUrteil. Ichhoffe,morgenganz fertigzuwer-den, das walten Gott und der noch göttli-chere van Gogh.“

Marc sammelt wie sein Vorbild japani-scheFarbholzschnitte. VanGogh,derman-che dieser Motive als Ölgemälde ausführ-te, hatte an seinen Bruder Theo geschrie-ben: „IchbeneidedieJapanerumdieunge-mein saubere Klarheit, die alle ihre Arbei-tenhaben.“AuchMarcbesaßzahlreicheTu-schezeichnungen und Farbholzschnitte.Aus Geldnot handelte er bis Mitte 1910 so-gar mit japanischer Kunst und setzte sichin vielen Zeichnungen und Skizzenmit ja-panischen Bildformen auseinander.

Mit seiner Begeisterung für van Goghund japanischeKunst standMarc nicht al-lein, auch manche seiner Mitstreiter vomBlauen Reiter teilten sie. Zu jener losenKünstlervereinigung, die Marc 1911 ge-meinsam mit Wassily Kandinsky ins Le-ben rief, um Ausstellungen zu veranstal-tenunddengleichnamigenAlmanachher-auszugeben, zählten auch Alexej von Jaw-lensky undMarianne vonWerefkin. In de-ren Salon in der Schwabinger Giselastraßetraf man sich oft zum produktiven Aus-tausch. Das Paar besaß seit 1908 sogar ei-nen eigenen vanGogh: „DasHaus des PèrePilon“. Jawlensky hatte es mit finanziellerUnterstützung seiner Lebensgefährtin ge-kauft. „Als Mensch und Künstler ist er mir

theuer und lieb. Etwas von seiner Hand zubesitzen war seit Jahren mein heißerWunsch“, schwärmte er in einem Brief anJohanna van Gogh-Bonger, die den Nach-lass verwaltete. Er hatte Werke van Goghserstmals 1903 in der FrühjahrsausstellungderMünchner Secession gesehen. Ihn fas-zinierte, dass demNiederländer der InhalteinesBildeswenigerwichtigerwar als Far-be und Rhythmus des Pinselstrichs.

Jawlenskys Begeisterung ging auch aufGabriele Münter über, die sich nur lang-samvom„Naturabmalen“,wie sie esnann-te, befreite. Sie hatte Werke van Goghs imMai 1906 in Paris gesehen, wo sie mit ih-rem Lebensgefährten Kandinsky ein Jahrlebte. Im Sommer 1908, den sie mit Kan-dinsky, Werefkin und Jawlensky in Mur-nau verbrachte, machte sie, wie sie späterschrieb,„nacheinerkurzenZeitderQualei-

nengroßenSprung“.MithilfederFarbege-langte sie zu einer vereinfachten Formge-bungund zu intensiv leuchtendenBildern.„Wenn ichein formalesVorbildhatte–undgewissermaßen war das von 1903 bis 1913der Fall –, so ist es wohl van Gogh durchJawlensky und dessen Theorien (das Spre-chen von Synthese).“ Münter arbeitete oftmitdemrussischenMaler–„einerseits lob-te er gern…andrerseits erklärte er mir

manches“. Mit der Folge, dass sichMünternicht mehr „um nachrechenbare ’richtige’Form der Dinge“ bemühte. „Ich stellte dieWelt dar, wie sie mir wesentlich schien.“SienutztedieFarbe,umEmotionenauszu-drücken und das zu malen, was sie fühlte,nicht das, was sie sah. Sie verknappte Bäu-me, Berge, Häuser zu Bildformeln. VanGoghsWerke lieferten ihrdazueinenwich-tigen Impuls.

Im Jahr 1908 bewies der damalige Städel-Direktor Georg Swarzenski Weitsicht, alser ein erstes Werk von Vincent van Goghfür die Sammlung kaufte, weitere folgtenkurz darauf. Aberwerweiß schon,was gu-teKunst ist, undwie geht einMuseumsdi-rektor heute bei Ankäufen vor? Ein Ge-sprächmit Philipp Demandt, Direktor desStädelMuseums,derLiebieghausSkulptu-rensammlung und der Schirn Kunsthalle.

Worauf legt das Städel bei Neuanschaf-fungenWert?PhilippDemandt: Zumeinennatürlich aufdie Qualität des Werkes, zum anderen aufseine Passgenauigkeit in unserer Samm-lung. Das Städel ist 1815 aus der Privat-sammlungunseresGründershervorgegan-gen und hat damit, anders als viele deut-sche Museen, einen bürgerlichen Hinter-grund, keinen höfischen. Und das zeigtsichauch inderSammlung. ImAltmeister-bereich dominieren die großen Namen inbürgerlichenFormaten, imBereichderMo-derne wiederum hat das Haus sehr frühsehr progressiv gesammelt. Zudem liegtdas Hauptaugenmerk unserer Erwerbun-genaufderMalerei, derGrafikundderFo-tografie, weniger auf der Skulptur.

Oft entscheidet sich erstnachJahren, obWerke wegweisend waren und eventu-ell imWert steigen. Von welchen Fakto-ren hängt die Kaufentscheidung ab?Der Marktwert eines Künstlers hängt vonvielenFaktorenabund ist nicht notwendi-gerweise ein Gradmesser seinermusealenQualität. Auch die Idee desWegweisendenhat sich imZugederAuflösungaller Ismeneigentlich verflüchtigt. Im21. JahrhundertkanndieMalereikeinWettlauf indie Inno-vation mehr sein. Dafür wurde schon zuviel gemalt. Was für uns zählt, sind Sub-stanz und Eigenständigkeit, kurzum: diekünstlerische Qualität. Aber erwarten SiejetztvonmirbittekeineCheckliste.Wirbe-werten ja immeraufBasis langerSeherfah-rung. Und natürlich spiegeln Erwerbun-gen immer auch die Vorstellungen der je-weiligen Direktoren und Kuratoren.Grundsätzlich gilt für uns: Beim Kunster-werb sindDistanz, Geduld undAugenmaßoft wichtiger als Schnelligkeit. Zumal dasStädelkeinKunstverein ist.Vielmehrbeob-achtenwir die Entwicklung vonKünstlernfür Jahre oder Jahrzehnte, ehe wir unszum Kauf entschließen. Aber auch dabraucht esMut, vor allem,wennmananti-zyklisch oder gegen den Mainstreamkauft.

Das Städel hat Werke aus sieben Jahr-hunderten. Sind alle Epochen gleicher-maßen vertreten?Das Städel steht für Schwerpunkte. Beiden Altniederländern und der altdeut-schen Malerei sind wir ungemein stark,denken Sie an van Eyck, an Holbein oderGrünewald. Eines der wichtigsten Rem-

brandt-Gemälde der Welt hängt bei uns,auch einer der schönsten Vermeers, vonBotticelli ganzzuschweigen. InderModer-ne liegt der Fokus auf dem deutschen Ex-pressionismus. Ernst Ludwig KirchnerundMaxBeckmann sind sozusagen unse-re Hauskünstler. Im Bereich der NeuenSachlichkeit und des Surrealismus istnoch Luft nach oben. Unlängst ist uns hierder Erwerb einesHauptwerks vonRichardOelze gelungen, was mich ungemein ge-freut hat! Dabei haben der StädelscheMu-seums-Verein und die Kulturstiftung derLänder sehr geholfen. Unsere Sammlungder Kunst nach 1945 konzentriert sich aufdie deutsche Malerei im internationalenKontext. Hier konnten wir in den letztenJahren dankunsererMäzene imStädelko-mitee substanzielle Erwerbungen tätigen,zuletzt etwa früheWerke vonWalter Stöh-rer und Thomas Scheibitz sowie von Mai-na-MiriamMunsky.

Was würden Sie persönlich am liebstenzukaufen?Ichhätte gerneWerkevonPierreSoulages,BridgetRileyoderDomenicoGnoli–natür-lich Hauptwerke aus der besten Zeit. Abermancheskannmanheutenichtmehrkau-fen,das gehtnurnochgeschenkt.EinDrit-tel aller Werke im Städel sind Geschenke,einBürgermuseumeben.Unlängst stifteteeine langjährige Freundin unseresHausesdem Städel einen wunderbaren Josef Al-bers und einWerk von Hans Hartung.

Digital ist das Städel ja bereits wegwei-send.Was könnte noch kommen?Beim Digitalen und insbesondere in derVermittlungsarbeit sindwir inderTat sehrgut aufgestellt. Wir haben gerade unserenersten Städel Podcast gelauncht, wichtigist auch unsere digitale Museumsinfra-struktur, diewir weiter ausbauenmüssen.Am Ende des Tages aber, so meine festeÜberzeugung, ist ein Museum ein höchstanaloger Ort. Nicht zuletzt aus diesemGrund investieren wir derzeit sehr in diebauliche Substanz des Städel. Das Flui-dumdesOriginals istebennurvordemOri-

ginal zu erleben. Apropos Original: Wasdas Ausstellungsprogramm angeht, sosteht das Städel nicht nur für einen fri-schen Blick auf die großen Namen derKunstgeschichte wie van Gogh. SondernimmerauchfürdieErweiterungdesklassi-schenKanons, fürdieVergessenenunddieÜbersehenen in der Kunstgeschichte. Un-sere Ausstellung zur Malerin Lotte Laser-steinschlossunlängstmitüber 130000Be-suchern.

Im Gegensatz zu vermögenden Privat-leuten verfügen Häuser wie das Städeloder öffentliche Museen nur über be-grenzteMittel.WiegehenSiedamitum?InderTatmussdasStädel rund85Prozentseiner Ausgaben selbst erwirtschaften,das ist ein in Deutschland für einMuseumdieserGröße sicherlich einzigartigerWert.Gelingen kann das nur durch gute Arbeit,die eben nicht nur unsere Besucher an-zieht, sondern, nochwichtiger, unsere vie-len Förderer und Mäzene immer wiederaufs Neue überzeugt. Denn ein MuseumistkeinWirtschaftsbetrieb. EinenGroßteilunseres Budgets verdanken wir unserenFörderern,vomnormalenMitglieddesStä-delschen Museums-Vereins bis hin zumGroßspender. Jeder Beitrag zählt.

Wie könnte sich der entfesselte Kunst-markt auf dieMuseen auswirken?Nun, das ist eineMedaille mit zwei Seiten.Zum einen steigern die Kapriolen desKunstmarkts natürlich die Aufmerksam-keit fürKunst. Zumanderen steigenparal-leldazudieVersicherungssummen insUn-ermessliche. Ein Haus wie das Städel, dasfür seine zwei bis drei großen Publikums-ausstellungenMeisterwerkeaus allerWeltnach Frankfurt holt, spürt das an den Prä-mien.

Welche Tradition des Städel schätzenSiebesonders?Odergibt eseineTraditi-on, die Sie gerne begründenwürden?Die große Identifikation meiner Kollegenhier amHausmit ihrer Arbeit und die Lie-be der Frankfurter zu ihremStädel, das istschon was ganz Besonderes. Und das giltnicht minder für die Schirn Kunsthalleund die Liebieghaus Skulpturensamm-lung. Mich macht das wirklich glücklichund stolz. Und es trägt mich als Direktorsehr. Tradition ist ja nunbekanntermaßennicht das Anbeten der Asche, sondern dieWeitergabedesFeuers.Wasspäterals „De-mandt-Tradition“ erkennbar sein wird,das sollen dann andere entscheiden.

interview: johanna pfund

In die Natur wirdGlauben und Sehnsucht

hineingemalt

Das Wesender Welt

Van Gogh lieferte den Künstlerndes „Blauen Reiters“ wichtige Impulse

Substanz zähltStädel-Direktor Philipp Demandt über Ankäufe und Wiederentdeckungen

Starke Farben und die Landschaft auf Bildformeln reduziert: Gabriele Münters „Allee vor Berg“ (1909). FOTO: PRIVATBESITZ; VG BILD-KUNST, BONN 2019; GALERIE THOMAS, MÜNCHEN

Van GoghVerantwortlich: Peter FahrenholzRedaktion: Johanna PfundAnzeigen: Jürgen Maukner

Philipp Demandt hätte für die Samm-lung des Städel durchaus Wünsche, zumBeispiel Werke von Pierre Soulages. DPA

20 SZ SPEZIAL – VAN GOGH HF2 Freitag, 18. Oktober 2019, Nr. 241 DEFGH

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