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Charlotte Germann, 19, aus Altdorf, hat die Matura im vergangenen Sommer geschafft und sich dann erst mal für mehrere Wochen in einer SAC-Hütte auf 2300 Metern verschanzt. Jetzt studiert sie in Basel Germanistik und Nordistik. Sie bezeichnet sich als «bewegungsfreudig, produktiv, pflegeleicht, naturlieb und mit schwarzem Humor ausgestattet». an der EURO 08 das fängt ja gut an www.ubs.com/check-in © UBS 2008. Alle Rechte vorbehalten. Möchten Sie an den Schnittstellen der Finanzdienstleistung als Applikationsentwickler/in schalten und walten? UBS, der führende Schweizer Finanz- dienstleister, bietet Ihnen mit «UBS- IT Pro Way-up» eine viel versprech- ende Möglichkeit zur Spezialisierung innerhalb der faszinierenden Welt der Finanzen und Informatik. Die erstklassige zweijährige Ausbildung führt zum eidgenössischen Fähig- keitszeugnis Informatik und eröffnet Ihnen vielfältige Berufsperspektiven. Machen Sie mit uns gemeinsam den nächsten Schritt und besuchen Sie uns auf www.ubs.com/check-in. Übrigens: Die Welt der Bits und Bytes ist für uns längst nicht mehr nur Männersache. Wir freuen uns auch über Bewerberinnen. It starts with you. ab 3

tango 2008-01

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tango ausgabe 2008-01

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Page 1: tango 2008-01

Charlotte Germann, 19, aus Altdorf, hat die Matura im vergangenen Sommer geschafft und sich dann erst mal

für mehrere Wochen in einer SAC-Hütte auf 2300 Metern verschanzt. Jetzt studiert sie in Basel Germanistik und

Nordistik. Sie bezeichnet sich als «bewegungsfreudig, produktiv, pflegeleicht, naturlieb und mit schwarzem

Humor ausgestattet».

an der EURO 08

das fängt ja gut an

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© UBS 2008. Alle Rechte vorbehalten.

Möchten Sie an den Schnittstellen der

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3

Page 2: tango 2008-01

Wärst du lieber sympathischer oder intelligenter?

NUR EINE FRAGE!nur eine Frage!

Sabrina Möhn, 17: «Sympathischer. Dann läuft’s besser in der Liebe…»

Sarah Zoller, 17: «Ich bin doch beides…»

Samuel Rutishauser, 20: «Intelligenter, denn Wissen ist Macht, und Macht ist sexy! »

Samuel Galliker, 18: «Soll das heissen, dass ich weder sympathisch noch intelligent bin?!»

Virginia Alder, 18: «Sympathischer, weil mir gute Freunde wichtiger sind als eine steile Karriere»

Was bleibt dir immer ein rätsel?

Marc Lenz, 17: «Warum das Wochenende nur zwei Tage dauert…»

Sebastian Stübinger, 20: «Gibt es Gott?»

Urban Haelg, 17: «Was war zuerst: Das Huhn oder das Ei?»

Marco Walter, 17: «Kornkreisfelder!»

Jennifer Bossi, 18: «Dass Menschen so ignorant, naiv und un-wissend sein können, obwohl sie Augen, Ohren und ein Hirn haben.»

Gion-Ursin Vincenz, 18: «Warum Frauen zu zweit aufs WC gehen.»

Manuela Nickfeld, 18: «Lehrer...»

nenne den peinlichsten moment deines lebens!

Was ist das Ziel der menschheit?

Was ist schöner: sich verlieben oder verliebt sein?

Nora Jahn, 18: «Sich verlieben! Ich mag Schmetterlinge im Bauch…»

Hans Meier, 20: «Also… das kommt auf die Frau an.»

Ariana Tufek, 17: «Verliebt sein! Weil man sich in dieser Phase näher kommt, miteinander viel Zeit verbringt und diese auch geniesst »

Kim Schönborn, 17: «Sich verlieben, denn ein Rückzug ist noch möglich»

Maja Smuc, 18: «Als ich vor den Augen des schönsten Mannes der Welt in eine Laterne lief…»

Abdurrahman Öztürk, 18: «Wohlstand, Ruhm und ewige Jugend.»

Mike Schwarz, 18: «Ich habe einem Typen eine Ohrfeige gegeben, weil er mein Freundin anbaggerte. Erst danach merkte ich, dass er der Falsche war… »

Manuel Gentsch, 17: «Ich habe mal das WC unter Wasser gesetzt…»

Johanna Lechner, 17: «Nicht zu verblöden! »

umfrage

6 7

Page 3: tango 2008-01

Christian Hambrecht und Max Mäckler

Auf dem Failed-States-Index für 2006 befindet sich Simbab-

we an fünfter Stelle, direkt hinter dem Irak. Die geschätzte Ar-

beitslosenquote liegt bei 75 Prozent, die Inflationsrate beträgt

mittlerweile 1185 Prozent – Tendenz steigend. Seit 1998 ist

die Wirtschaftskraft des Landes um 40 Prozent geschrumpft,

im Jahre 2005 betrug die Wachstumsrate des Bruttoinlands-

produktes –6,5 Prozent. Über 40 Prozent der Bevölkerung ist

jünger als 15 Jahre. Etwa 8 Prozent dieser sehr jungen Gesamt-

bevölkerung von 13 Millionen sind Halb- oder Vollwaisenkin-

der, denn mehr als 20 Prozent der Menschen sind mit HIV infi-

ziert. Aids ist die Todesursache Nummer

eins. Das ist Simbabwe in Zahlen.

Gerade für Kinder, an denen das Land

so reich ist, ist es nicht einfach, zu leben

oder zu überleben. Doch dies öffent-

lich aussprechen? Man schweigt besser,

möchte man sich nicht der speziellen

Zuneigung des allliebenden Landesva-

ters, Robert Mugabe, aussetzen. Er hängt

gerahmt – nein, er prangt – mit staatsmännisch-saurer Miene

im weiten, hell-weissen Terminal des Flughafens Harare. Sein

Antlitz ist das Erste, was man sieht, wenn man den Fuss auf

simbabwische Erde setzt. Aus der Luft blickt man auf sonnen-

verbrannte Landschaft – eine stete Nuancierung von Braun-

tönen, kontrastiert von blitzenden blauen Seen, die aus der

Kargheit wie versprengte Farbkleckse hervorstechen.

Die afrikanische Sonne versinkt rostig-golden;

fahl und staubig fristen die Jacaranda-Bäume zu

beiden Seiten der Strassen ihr karges

Dasein. Sie warten vergeblich auf

Regen. Der Winter ist Trocken-

periode. Verdorrte Wiesen

wechseln mit kärglichen

Bretterbehausungen.

Der Flughafen ist ein Niemands-

land, hohle Fassade der Moderne»

The world is not yet flat Die politischen und wirtschaftlichen Aussichten von Simbabwe sind düster. Den Kindern in einem von Aids, Korruption und Staatsterror geprägten Land eine Zukunft zu geben, ist ein mühseliges und gefährdetes Unterfangen.

topstory

98

Page 4: tango 2008-01

Stallungen. Dazwischen ziehen sich säu-

berlich beschnittene Hecken entlang.

Das ist die Primary School.

Zunächst empfängt uns Mr. Mafunga,

der Direktor der

Schule, mit herzli-

chem Händedruck

und bittet in sein

Büro im kleinen

Administrations-

gebäude. Er gibt

uns einen Über-

blick über die Situ-

ation seiner Schu-

le: Knapp über tau-

send Schüler lernen bei 27 Lehrern, also

40–50 Schüler pro Klasse. Es fehlt min-

destens ein Klassenraum, deshalb findet

immer eine Stunde im Freien statt. An

zehn prähistorischen Computern ler-

nen jeweils fünf Kinder das Arbeiten

mit dem Rechner. Einen Drucker gibt es

nicht, aber ein selbst gemaltes Poster an

der Wand erklärt dessen Funktion. Es

Es ist ein langer Weg bis zur Maize-

lands Primary School, ein zermürben-

der, quälender, wenn man die kleinen

Gestalten mit den wenigen Schulsachen

auf dem Rücken

sieht. Viele Schü-

ler laufen zehn bis

zwölf Kilometer

täglich zur Schule

– hin und zurück.

Nicht alle haben

Schuhe. Ihre El-

tern, sofern sie

noch leben, sind

bitterarme Farmar-

beiter. Unter einer einsamen Baumgrup-

pe in der kahlen, flachen Weite kommen

geduckte Gebäude, von einer niedrigen

Mauer umfriedet, in Sicht. Sie sind weiss

verputzt, haben blaue Fensterläden und

Schrägdächer – entfernt erinnern sie an

Harare ein riesiges Geisterdorf? Der

Verkehr findet an den Strassenrändern

statt: Apathische Gestalten schlappen

durch den Staub; Kinder spielen in

ausgebrannten Autowracks. Leute sit-

zen auf Reifen im spärlichen Schatten

schlanker Gummibäume, lesen vergilbte

Zeitungen, stellen handgefertigte traditi-

onelle Waren zur Schau. Wer kauft hier?

Das SOS-Kinderdorf in der kleinen

Bergbaustadt Bindura, umgeben von

weitem Farmland, ist unser eigentli-

cher Zielort. Es liegt rund zwei Stunden

nordöstlich von Harare. Zusammen mit

unseren zwei grossen Koffern und sechs

unbekannten Erwachsenen, die die sel-

tene Mitfahrgelegenheit nutzen – der

öffentliche Verkehr ist mehr oder we-

niger zum Erliegen gekommen, über ei-

gene Fahrzeuge verfügen die wenigsten

– zwängen wir uns auf die Matratze im

Laderaum des Pick-ups. Es ist eng, sehr

eng.

Apathische Ge-stalten schlappen durch den Staub, Kinder spielen in ausgebrannten Autowracks»

the world is not yet flat

www.fm-studium.ch

Erleben &

GewinnenErleben &

Gewinnen

ins-fm-a4-v5.indd 1 14.2.2008 14:29:59 Uhr

10

Page 5: tango 2008-01

fehlt ausserdem an Schulbüchern – auch

hier teilen sich mehrere Schüler eines

–, an Stiften, Papier, einfach an allem.

Am schlimmsten aber sind die häufigen

Elektrizitätsausfälle, die die Toiletten

mit ihren elektrischen Wasserpumpen

mehrmals pro Wo-

che für Stunden

unbenutzbar ma-

chen. Nachdem

wir all diese Fakten

erfahren haben,

erhebt sich Ma-

funga und betont

noch einmal, dass

dies die Schule für

die Ärmsten der

Armen sei. Unter

seinen Schülern seien etwa 200 Waisen

und viele Kinder in der Gegend kämen

gar nicht in die Schule, da sich die Eltern

dies nicht leisten könnten.

Man führt uns durch die Klassenräu-

me. Sobald wir hereinkommen, sprin-

gen alle Schüler überstürzt auf – ab und

zu fällt ein Stuhl krachend um. Als wir

glauben, den Rundgang beendet zu ha-

ben, weist Mafunga auf einen schmalen,

hohen Eingang mit der Aufschrift «Sto-

rage room». Ein einladender Schwenk

seiner Hand, wir treten ein und bleiben

sofort stehen. Uns bleibt auch nichts

anderes übrig: Es ist ein äusserst enger

ist er Familienoberhaupt geworden und

muss sich seither um seine kleinen Brü-

der kümmern. Sie sind elf und dreizehn

Jahre alt. Vor Jahren schon ist ihr Vater

an Aids gestorben. Von da an sorgte die

Mutter für alles,

verdiente Geld und

erzog ihre Söhne.

Später stellte sich

heraus, dass auch

sie mit dem Virus

infiziert war. In

Ermangelung der

nötigen Medika-

mente baute sie

körperlich schnell

ab und starb 2004.

Archibald und sei-

ne Brüder waren völlig auf sich gestellt,

Grosseltern hatten sie keine mehr. Al-

lerdings gab es noch ein paar entfernte

Verwandte, die – wie so oft in solchen

Fällen – plötzlich auftauchten und den

Jungen einreden wollten, sie selbst sei-

en die neuen rechtmässigen Besitzer des

Hauses. Offenbar hatte die Mutter ihren

ältesten Sohn noch vor ihrem Tod aber

genau darauf vorbereitet. Er wandte sich

an das «Social Center», das ihm juris-

tische Beratung und Schutz bot. Neun

ähnliche Fälle sind allein in diesem Vier-

tel bekannt. Und im ganzen Land dürf-

ten es tausende Kinder sein, die ohne

Verwandte vollkommen auf sich gestellt

aufwachsen.

Auf der Rückreise fällt uns im rie-

sigen Terminal des Flughafens Johan-

nesburg in Südafrika eine grossflächige

Anzeige auf. Ein überdimensionierter

David Beckham tritt gegen einen Adi-

das-Ball. Wir erinnern uns an den Di-

rektor der Primary School Maizelands

aus dem Dorf eine kleine Feier vorberei-

tet. Nach dem Abendessen treffen wir

uns vor einem der Jugendhäuser. Die Ju-

gendlichen leben ab 14 Jahren selbstän-

dig zusammen. Sie unterhalten ihren ei-

genen Gemüsegarten und züchten Hüh-

ner, die sie an die Mütter der Häuser ver-

kaufen, um so ein kleines Taschengeld

zu verdienen. Jetzt sitzen sie gemeinsam

um ein Lagerfeuer und rösten Nüsse

und Maiskörner. Sie erzählen, dass es in

Aerodrome, dem benachbarten Viertel,

bereits seit drei Tagen kein Wasser mehr

gebe. Einige ihrer Freunde von dort kä-

men nun herüber, um zu duschen. Auf

die Frage, wie denn die anderen Bewoh-

ner mit diesem Problem zurechtkämen,

zucken sie die Achseln. Wasser- und

Stromausfälle sind mittlerweile auch

hier im Dorf an der Tagesordnung. Tun

kann man dagegen nichts. Die Jugendli-

chen wollen viel lieber mehr über Euro-

pa erfahren, über die kulturellen Unter-

schiede, die Ausbildungsmöglichkeiten,

den Alltag. Bis spät in die Nacht tau-

schen wir uns aus, während Bobby, das

Musiktalent des Dorfes auf dem traditi-

onellen afrikanischen Instrument spielt,

der dem Xylophon ähnlichen Marimba.

Irgendwann fragt Fideline beiläufig, wie

hoch denn die Lebenserwartung bei

uns sei. Wir stocken, denn wir wissen,

dass es etwa 80

Jahre sind – doch

können wir das

antworten in ei-

nem Land, wo die

Menschen durch-

schnittlich 37 Jah-

re alt werden?

Tags darauf fah-

ren wir durch die

Peripherie Bindu-

ras. Kleine Häuser

und Hütten gleiten

vorüber, die Farbe der Wände schon lan-

ge verblichen, der Putz abblätternd. In

den Vorgärten lagert Müll und Schrott

zwischen dürrem, gelbem Gras und

länglichen Erdfurchen, in denen nichts

wächst. Verrostete, teilweise zertretene

Zäune und Gitter trennen die Behausun-

gen.

Unser letzter Besuch in Bindura ist

zugleich der schwerste. Mit einigen Mit-

arbeitern des Zentrums fahren wir zum

Haus von Archibald und seinen zwei

Brüdern. Archibald ist sechzehn Jahre

alt, erzählen die Betreuer des Social Cen-

ters, wirkt jedoch jünger. Mit 14 schon

Raum, an dessen Wänden 40 Kinder in

zwei Reihen zusammengezwängt sind.

Es ist die erste Klasse. Zwei kleine, hoch

gelegene Fenster lassen spärliches Licht

herein, elektrische Beleuchtung Fehlan-

zeige. Im Türrahmen begrüsst uns die

Lehrerin, und in

der Düsternis am

anderen Ende des

Raums ist eine Ta-

fel auszumachen.

Man fragt sich

verblüfft, wie die

Lehrerin durch die

Menge der eng ge-

drängten Schüler

zur Tafel gelangen

soll. Die kalten

massiven Steinwände, deren Quader-

struktur sich unter der dünnen Weis-

stünchung abzeichnet, lassen an eine

Gefängniszelle denken. Die Kinderköpfe

starren unentwegt in unsere Richtung.

Lapidar bemerkt Mafunga, dass ohne

SOS-Kinderdorf diese Kinder schon lan-

ge keine Schule mehr hätten – denn die

staatliche Finanzierung von 10 Millio-

nen ZIM-Dollars pro Jahr reiche gerade,

um 100 Kugelschreiber anzuschaffen.

Am Abend haben die Jugendlichen

Die staatliche Finanzierung

reicht gerade, um 100 Kugel-

schreiber anzu-schaffen»

Irgendwann fragt Fideline beiläufig, wie

hoch denn die Le-benserwartung bei uns sei. Wir

stocken»

the world is not yet flat

Verlag, Redaktion, Anzeigen tango zeitschrift von/für berufs- und mittelschülerInnen Postfach 2133 9001 St. Gallen Telefon 076 513 28 57 Fax 071 310 13 17 [email protected]

MitarbeiterInnen dieser Ausgabe Anina Albonico Kathrin Bauer Charlotte Germann Christian Hambrecht Michael Hochreutener Markus Isenrich Delila Kurtovic Viktoria Kvetanova Marie Francine Lagadec Max Mächler Melissa Müller Johanna Nyffeler Livio Marco Stöckli Corinne Sutter Rachel Weinblum Fabian Weinmann

Korrektorat Peter Litscher

Gestaltung Moni Rimensberger

Bild Titelseite Kevin Russ photocase.com

S.12–13, S. 32 Peeter Viisimaa istock.com

S.18–21 Rudolf Struzyna photocase.com

S. 50–51 Eva Thöni photocase.com

S. 62–63 photocase.com

Druck AVD Goldach Sulzstrasse 10 9403 Goldach

Auflage 26‘000 Exemplare (1‘300 Schulklassen)

Abonnement Einzelausgabe: Fr. 5.– Jahresabonnement: Fr. 10.–

Erscheinungsweise halbjährlich (15. März / 15. September)

Redaktions- und Anzeigenschluss 15. Februar / 15. August

12 13

Page 6: tango 2008-01

Farm, Mafunga. Es war ihm noch wichtig, uns zum

Abschluss des Rundgangs ein verdorrtes Stoppel-

feld zu zeigen, den Fussballplatz der Schule. Die

Fläche fiel zur einen Seite hin stark ab. Mafunga

trocken: «You see, there is no level playing field for

these kids.» Kannte er den Pulitzer-Preisträger Tho-

mas Friedman, der seinem letzten Bestseller den

programmatischen Titel «The World is Flat», «Die

Welt ist flach» gab? Das globale Spielfeld ist noch

lange nicht eben, die Chancen sind nicht gleich.

Und der Fussballplatz der Primary School ist eine

traurig-schöne Metapher.

Christian Hambrecht, 20, aus Bamberg, und Max Mäckler,

20, aus Frankfurt, wurden als Preisträger des Schülerzei-

tungswettbewerbs des Nachrichtenmagazins «Der Spie-

gel» eingeladen, sich in Simbabwe ein eigenes Bild vom

Lernen und Leben benachteiligter Kinder und Jugendli-

cher in einem der ärmsten Länder der Welt zu machen.

Christian bezeichnet sich als «Querdenker und Stadtneu-

rotiker» und interessiert sich fürs «Filmen, Texten und

Schauspielern». Max («ich bin weltoffen und liberal») liest

gerne und möchte Geschichte studieren.

the world is not yet flat

15

StepUp2_Tango_15.3.08:StepUp2_Tango_15.3.08 14.2.2008 12:44 Uhr Seite 1

jeunesse

jugendgiovent

ùCroix-Rouge suisse

Schweizerisches Rotes KreuzCroce Rossa Svizzera

Page 7: tango 2008-01

Michael Hochreutener Gymnasium Appenzell

Hallo, ich bin Sunshine. Eigentlich

bin ich ein ganz normaler Tibet-Terrier.

Doch mit Amanda Ammann als Frau-

chen hab ich alles andere als ein Hun-

deleben. Denn wer darf sich schon mit

Miss Schweiz im Bett kuscheln? Darauf

sind natürlich alle Hunde in der Nach-

barschaft neidisch. Und ich bin mir si-

cher, dasselbe gilt auch für gewisse Men-

schen!

Ich bin so glücklich, dass Amanda

wieder einmal für eine Weile bei mir ist.

Seit ihrer Wahl fehlt sie mir sehr. Und

dann beginnt ihr Studium schon bald

wieder, und sie geht zurück nach Lau-

sanne in ihre Wohnung, die sie mit ih-

rem Freund Sebastian teilt. Am Anfang

war ich ein bisschen eifersüchtig, aber

mittlerweile habe ich mich mit Sebasti-

an angefreundet.

Ich bin schon zehn Jahre alt. Und so

lange wohne ich auch bei der Familie

Ammann. Hier gefällt es mir wunder-

bar. Schliesslich werde ich so richtig

verwöhnt. Amanda meint zwar, ich be-

komme nur «grusiges» Essen. Aber soll

die doch schwatzen, sie hat ja noch nie

davon probiert. Na ja, früher war das

Essen nicht immer gut. Als ich dann

aber herausfand, dass sie mir immer nur

Katzenfutter gaben, war mir schon klar

warum. Also wirklich, wer kommt denn

schon auf die Idee, einem Hund Katzen-

futter zu geben? Aber mittlerweile werde

ich mit richtigem Hundefutter gefüttert.

Noch lieber hätte ich natürlich das, was

bei der Familie Ammann auf den Tisch

kommt. Aber das kriege ich leider nie.

Dabei habe ich schon so vieles auspro-

biert: Zum Beispiel habe ich furchtbar

traurig gejault, so, als ob jemand ge-

storben wäre. Das hat aber leider nichts

geholfen. Deshalb

gehorche ich ihnen

nur noch dann,

wenn ich gerade

will. Das heisst,

wenn ich etwas zu

fressen bekomme.

Seit Amanda Miss Schweiz ist, hat

sie noch weniger Zeit für mich. Dafür

bin ich jetzt ein richtiger Miss-Schweiz-

Hund. Amanda hat mir eigentlich ver-

sprochen, dass ich mit ihr aufs Titelblatt

der Schweizer Illustrierten darf. Übung

im Posieren habe ich ja jetzt...

Michael Hochreutener, 19, aus Gais, entwickelt sich zu unserem flie-

genden Reporter. Im Sommer 2006 berichtete er für tango aus der nor-

disraelischen Stadt Haifa, die von Hisbollah-Raketen getroffen wurde.

Michaels obiger Artikel ist hingegen zuerst in der Jugendzeitschrift

klugscheisser.ch erschienen. Sein Berufsziel erstaunt uns deshalb nicht:

«Wahrscheinlich irgendwas in Richtung Journalismus.»

«Früher bekam ich nur Katzenfut-

ter zu fressen»

Miss Schweiz Amanda Ammann als Frau-chen zu haben, ist schon etwas Besonderes. Jedenfalls hat der Titel das Leben ihres Tibet-Terriers Sunshine ziemlich auf den Kopf gestellt.

Sunshine, der Promihund

porträt

16 17

Page 8: tango 2008-01

Johanna Nyffeler Kantonsschule Kreuzlingen

Nachdem ich mich bei der nationalen

Vorausscheidung für die Internationa-

len Physik-Olympiade qualifiziert habe,

bin ich sehr aufgeregt. Weniger wegen

der Physikaufgaben, die mich erwarten,

sondern weil ich in ein sehr umstritte-

nes Land reise: in den Iran. Ich habe viel

Negatives über die Politik des iranischen

Präsidenten gehört, zudem ist mir etwas

mulmig, da ich mich während meines

Aufenthalts verschleiern muss. Ande-

rerseits bin ich auch neugierig auf die

Kultur dieses fernen Landes, denn ich

war noch nie ausserhalb Europas – und

schon gar nicht in einem Land, dessen

Sprache und Schrift ich nicht verstehen

kann.

Am Flughafen in Teheran wird un-

ser siebenköpfiges Team freundlich

begrüsst und in einen Raum für «com-

mercially important persons» gebracht,

Frau, Iran, Physik? Passt irgendwie nicht zusam-men. Oder doch? Johanna Nyffeler nahm als einzige Westeuropäerin an der 38. Physik-Olympiade teil. Und fand es grossartig.

Frau,Iran,Physik?

Während den fünfstündigen Prüfungen... Die Teilnehmer/-innen besuchten auch eine Porzellanfabrik

reportage

18 19

Page 9: tango 2008-01

TANGO-FACTS

zwischen Männern und Frauen sind ei-

gentlich nicht erlaubt, und die meisten

jungen Iraner und Iranerinnen scheinen

diese Weisung zu befolgen. Aber es gibt

auch hin und wieder Männer, die mir

zur Begrüssung die Hand geben.

An der Olympiade nehmen

Teilnehmer/-innen

aus über siebzig

Ländern teil, und

ich lerne Jugendli-

che aus so verschie-

denen Ländern wie

Surinam, Schwe-

den, Hongkong,

Brasilien und den

USA kennen. Wir

haben noch immer

Kontakt zueinan-

der, und einige

möchte ich gerne einmal besuchen. Vor-

erst aber beginne ich zu studieren. Aller-

dings nicht Physik, wie man vermuten

könnte, sondern Biomedizin. Denn noch

mehr als für Physik interessiere ich mich

für Heilpflanzen.

gramm zusammenzustellen. An den prü-

fungsfreien Tagen werden die über 300

Jugendlichen in Polizeibegleitung in die

Stadt gefahren, und wir besichtigen ver-

schiedene Moscheen, den Bazar, einen

Blumengarten, ein Forschungszentrum

oder eine Porzellanfabrik.

Am meisten

beeindruckt mich

aber die Freund-

lichkeit der Iraner.

Wenn ich aus dem

Bus schaue, lä-

cheln mir oft Frau-

en zu. Auch wenn

sie oft in schwar-

ze Tücher gehüllt

sind, so erlebe ich

sie als sehr aufge-

schlossen, gebildet

und auch sehr neugierig. Viele Schweizer

denken, die Iranerinnen würden unter-

drückt, doch diesen Eindruck habe ich

überhaupt nicht.

Immer wieder werde ich von den Ira-

nern gefragt, ob ich einen Freund hätte.

Man muss wissen, dass im Iran ausser-

eheliche Beziehungen eigentlich verbo-

ten sind, was aber nicht heisst, dass sich

alle daran halten... Auch Berührungen

wo wir mit Kuchen, Getränken und ira-

nischem Eis bewirtet werden. Mit dem

Bus fahren wir sodann 400 Kilometer

durch die Wüste Richtung Süden. Das

Ziel unserer Reise ist die Millionenstadt

Isfahan, gelegen in einer Oase am Rand

des Zagrosgebirges. Hier werden wir

von zwei iranischen Betreuern in Emp-

fang genommen, die uns während zehn

Tagen begleiten. Die beiden verhandeln

für uns auf dem Bazar und schauen, dass

wir rechtzeitig an den Prüfungen sind.

Besonders zu Beginn macht mir die

Hitze sehr zu schaffen. Bei Temperaturen

weit über 30 Grad muss ich mich als Frau

stets mit langen Ärmeln kleiden und ein

Kopftuch tragen. Zudem macht mir das

Essen Schwierigkeiten, das hauptsäch-

lich aus Reis, Kebab und Poulet besteht.

Doch die Organisatoren geben sich sehr

viel Mühe, uns ein erlebnisreiches Pro-

«Auch wenn sie oft in schwarze

Tücher gehüllt sind, so erlebe ich die

iranischen Frauen als sehr aufgeschlossen,

gebildet und auch sehr neugierig»

Johanna Nyffeler, 19, aus Kaltenbach, studiert

seit letzten Herbst an der Uni Fribourg und

strebt eine Laufbahn in der medizinischen

Forschung an. Ihre Hobbys: Basteln, Program-

mieren, Musik machen, Judo und Lesen.

Physik-OlymPiade die Physik-Olympiade findet jedes Jahr in einem anderen land statt, nächstes Jahr in Vietnam. in der schweiz werden die fünf Teilnehmer/-innen in zwei ausscheidungsrunden bestimmt. infos zu der schweizer Physik-Olympiade gibt’s bei: www.swisspho.ch

Prüfungen die Prüfungen dauern zweimal fünf stunden. es gibt einen theoretischen Teil mit drei aufgaben, im praktischen Teil mussten 2007 mit hilfe eines spektrometers verschiedene messungen durchgeführt werden. eine aufgabe:

Betrachten wir einen Kondensator mit parallelen Platten, wie in Abbil-dung 1 gezeigt. Die Fläche jeder Kondensatorplatte ist A, und der Ab-stand zwischen den beiden Platten ist d. Der Abstand zwischen den Plat-ten ist sehr klein im Vergleich zu den Abmessungen der Platten. Eine Platte ist durch eine Feder (Federkonstante k) mit einer Wand verbunden. Die andere Platte ist fixiert. Bei einem Plattenabstand d ist die Feder we-der gestaucht noch gedehnt. D.h. es wird in diesem Fall keine Kraft auf die Feder ausgeübt. Wir nehmen an, dass die Dielektrizitätskonstante (Permittivität) der Luft zwischen den Platten der Dielektrizitätskonstanten

des Vakuums entspricht. Die Kapazität eines solchen Kondensators mit Plattenabstand d beträgt . Wir laden nun die Platten mit +Q and –Q auf und warten bis das System sein mechanisches Gleichgewicht erreicht hat.

1. Berechnen sie die kraft fe, die die Platten aufeinander ausüben.

2. es sei x die Verschiebung der Platte, die mit der feder verbunden ist. Bestimmen sie x.

3. drücken sie die spannung V (elektrische Potentialdifferenz) zwischen den Platten des kondensators in diesem Zustand durch Q, a, d, k aus.

4. sei C die kapazität des kondensators, die als das Verhältnis der la-dung zur spannung definiert ist. Bestimmen sie C/C

0 als funktion von Q,

a, d, k.

5. Berechnen sie die in dem system gespeicherte gesamtenergie u, aus-gedrückt durch Q, a, d, k.

die lösungen und mehr informationen gibt es hier: www.ipho2007.ir

Die Schweizer DelegationBrücke in Isfahan Johanna (rechts) mit Teamguide Zahra

frau, iran, physik?

20 2121

Page 10: tango 2008-01

Philipp, in welchem Alter hast du mit der Leichtathletik angefangen?

Ich habe erst mit 17 Jahren begonnen, davor habe ich 10

Jahre Fussball gespielt.

Welches sind deine persönlichen Best-zeiten über 100, 200 und 400 Meter?

Die 100 Meter bin ich in 10,86 Sekunden gelaufen, bei 200

Metern liegt die Bestmarke bei 21,73 Sekunden, und mein Re-

kord über 400 Meter beträgt 47,32 Sekunden.

Worin liegt für dich der Reiz der Sprint-distanzen?

Der Vergleich Mann gegen Mann ist faszinierend, wobei

die 400 Meter besonders reizvoll sind: Wer zu schnell anläuft,

bricht oft ein. Wer sich umgekehrt am Start zu wenig zutraut,

kann den Rückstand meist nicht mehr aufholen. Die Rennen

«Studium und Spitzensport ergänzen sich»

Ist ein Nebeneinander von Leistungs-sport und Ausbildung überhaupt möglich? – Der Windischer 400-m- Läufer Philipp Weissenberger ist seit zwei Jahren Mitglied der National-mannschaft und meint: «Ja, definitiv.»

interview

22 23

Page 11: tango 2008-01

werden oft im Kopf entschieden. Wer über 400 Meter ge-

winnt, ist meistens kein Überraschungssieger. In vielen ande-

ren Sportarten spielen das Material oder die Bedingungen eine

Rolle, im Sprint zählt einzig die persönliche Leistung.

Wie oft trainierst du?

Ich trainiere vier- bis fünfmal in der Woche, jeweils zwei

bis drei Stunden. Im Winter stehen Kraft, Schnellkraft (Hügel-

und Treppenläufe, Sprünge) und Ausdauer (Intervalltrainings)

im Vordergrund. Im Sommer spielen Schnelligkeit (30–100

Meter) und Schnelligkeitsausdauer (100–300 Meter) eine

wichtige Rolle.

Welches sind bisher deine grössten sportlichen Erfolge?

Bei den Schweizer Meisterschaften gewann ich in den ver-

gangenen beiden Jahren jeweils Bronze über 400 Meter. Zu-

dem gewann ich mit der Staffel Gold über 4x 400 Meter und

konnte dadurch im Europacup und bei den Militärweltmeis-

terschaften in Indien teilnehmen.

Gab es auch Enttäuschungen?Ja, es gab Rennen, da resultierte eine schlechtere Zeit, als

ich mir zum Ziel gesetzt hatte. Aber das motivierte mich nur,

noch härter zu trainieren. Meistens bin ich nicht enttäuscht,

sondern versuche, die Fehler zu analysieren.

Welche sportlichen Ziele strebst du an?

Eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Peking liegt

im Moment ausser Reichweite. Ein Einzel- und ein Staffelstart

an der EM 2010 in Barcelona scheint ein realistischeres Ziel.

Zudem möchte ich natürlich Schweizer Meister über 400 Me-

ter werden.

Zu deiner Ausbildung: Du hast eine Lehre als Automatiker und begleitend die Berufsmatura gemacht und nun Elektrotechnik an der Fachhochschule Nordwestschweiz studiert. Lehre, Berufs-matura, Studium, Sport – wie bringst du alles unter einen Hut?

Das ist Einstellungs- und Willenssache und erfordert eine

gute Organisation. Das Studium hat Vorrang, rundherum wird

das Training geplant. Doch es bleibt auch Freiraum für ande-

res: Ich klettere und tanze gerne, spiele Fussball oder fahre

Snowboard… Übrigens gehe ich auch gerne einmal einen Kaf-

fee trinken oder ins Kino.

Also sind Studium und Sport auf ho-hem Niveau parallel zu schaffen?

Ja, definitiv, schliesslich kann ich meine Trainingseinhei-

ten individuell festlegen. In den Teamsportarten, wo viele ge-

meinsame Trainingseinheiten absolviert werden müssen, ist

es sicher schwieriger. Die Doppelbelastung ist für mich eine

willkommene Abwechslung, denn ich kann in beiden Berei-

chen völlig abschalten.

Interview: Markus Isenrich

studium und spitzensport ergänzen sich

24

Page 12: tango 2008-01

Melissa Müller (Text) Fabian Biasio (Fotos)

Zwei glockenhelle Stimmen steigen

im Kellergewölbe des Jugendheims em-

por und schwellen zu einem vibrieren-

den Klang an. In der Mitte steht Chorlei-

ter Ben Vatter neben einem klapprigen

Klavier. Konzentriert dirigiert er, als zie-

he er an unsichtbaren Seidenfäden.

22 junge Frauen und Männer wippen

zur Melodie. «All for one!», schmettern

sie in den Raum – «Alle für einen!» Ihr

Gesang ist rein und kraftvoll und fährt

durch Mark und Bein.

Niemand würde vermuten, dass es

sich um einen Chor gefallener Engel

handelt. Die neun männlichen 14- bis

19-jährigen Sänger sind sogenannte

Problemfälle, die Jugendanwälte, Poli-

tiker und Psychologen auf Trab halten.

Sie wohnen im kantonalen Jugendheim

Aarburg und absolvieren dort eine Leh-

re oder ein Berufsvorbereitungsjahr. Die

Öffentlichkeit hat keinen Zutritt zum

Jugendheim, das in einer Trutzburg

untergebracht ist. Die Festung thront

auf einem Fels über dem Städtchen

Aarburg. Erstmals wirft das Schweizer

Fernsehen einen Blick hinter die me-

terdicken Mauern: mit der Doku-Soap

«Chor auf Bewährung», die 13 privile-

gierte Gymnasiastinnen mit 9 Heimbe-

wohnern aus zerrütteten Verhältnissen

zusammenbringt. Zdravko ist einer von

ihnen. Er wurde als Baby in ein Heim

gebracht. «Die Aarburg ist mein neun-

tes Heim», sagt der 14-Jährige. Sein Ziel:

den Schulabschluss hinter sich bringen.

Gymnasiastin Jasmin hat dagegen ande-

re Perspektiven: «Nach der Matura will

ich in St. Gallen Jus und Internationale

Beziehungen studieren.» Auch Annina

will Akademikerin werden – in Recht

oder Publizistik. Im Chor singt sie mit,

«weil bei uns in Zofingen oft von den

‹bösen Buben der Festung› die Rede ist.

Ich will genauer hinschauen.»

Vor den Proben machen sich die

Jungs fein. «Mit den Frauen gibt es ei-

nen geilen Klang», sagt Raffaele, der sich

mit einem der Mädchen gut versteht:

«Annina will alles über mich wissen.

Sie fragt Sachen wie: ‹Häsch e Fründin?

Häsch Problem?›» Luiyi sieht die Sache

«Die Frauen und der Chor gehören zum Heim. Eines Tages gehe ich hier weg und fange neu an.»

Luiyi, KochlehrlingSingen verbindet. In der TV-Doku-Soap «Chor auf Bewährung» kamen sich Gymnasiastinnen und

Bewohner des Jugendheims Aarburg näher.

Chor der gefallenen Engel

reportage

26 27

Page 13: tango 2008-01

Am Anfang hätten sich die Jugendlichen schwer

getan bei den Proben. Sie lümmelten gelangweilt

auf den Stühlen oder tauchten erst gar nicht auf.

Ben Vatter redete ihnen ins Gewissen, bis sie sich

aufrappelten. «Die ganze Gruppe verhält sich im

Alltag engagierter, seit wir singen», sagt Sozialpä-

dagoge Heinz-Günther Sussdorf.

Auch Ramon taut beim Singen auf. Und er hat

mit einer Sängerin angebandelt: In der Chorpause

sieht man die beiden händchenhaltend. In seinem

Zimmer faucht ein Leopard von einem Poster neben

Plakaten der Böhsen Onkelz. «Die Böhsen Onkelz

singen von Kummer und Schmerz», erklärt Ramon.

Später will er als Friedhofsgärtner arbeiten. Marco

will DJ werden. «Hey, das ist das Schönste: wenn

in einem Club alle zu meiner Musik tanzen.» In der

Aarburg absolviert er eine Lehre als Koch – falls

es mit der DJ-Karriere nicht klappt. Und Harrison

denkt darüber nach, Kleinkind-erzieher zu werden.

«Letztes Jahr haben zwölf Jungs ihren Lehrab-

schluss geschafft», sagt Heimleiter Neuenschwan-

Nesanthan schaut neckisch unter sei-

ner Kapuze hervor. Wenn ich nicht in

der Aarburg wär', würde ich in ein Loch

fallen», sagt er. Im Chor singt Nesanthan

den «Schwan» von Gölä. Der schlanke

Tamile zuckt mit den Schultern: «Das

Problem ist nur» sagt er, «dass der

Schwan weiss ist – und ich bin schwarz.»

Dass sieben der neun Chorsänger aus-

ländische Wurzeln haben, ist Zufall: Die

Hälfte der Bewohner der Aarburg sind

Schweizer. Die meisten Jugendlichen

mögen Rap und ahmen die coolen Posen

ihrer Vorbilder nach. Im «Chor auf Be-

währung» üben sie dagegen Mundartlie-

der und Schweizer Rocksongs ein. «Das

ist für diese Hip-Hop-Fans etwa so weit

weg wie eine Sinfonie von Mozart», sagt

Chorleiter Ben Vatter. Er windet den

Jungs ein Kränzchen: «Sie haben keine

Hemmungen, lauthals zu singen.»

Dardan bittet in sein Zimmer. «Nach

dem Singen fühle mich aufgeputscht»,

sagt der sportlich aussehende Albaner.

An einer Wand kleben Fotos von einem

Säugling. «Das ist der Sohn meines Bru-

ders», sagt der 18-Jährige. «Letzte Wo-

che hatte er seinen ersten Geburtstag.»

Ein zärtliches Lächeln breitet sich auf

Dardans Gesicht aus. Nicht im Traum

käme man auf den Gedanken, dass

man mit einem Straftäter plaudert, der,

wie die Mehrheit der 48 in der Aarburg

wohnhaften Jugendlichen, in seiner

Vergangenheit gewalttätig war. «Das ist

aber nicht bei allen der Fall», relativiert

Heimleiter Hans Peter Neuenschwan-

der und verweist auf das Phänomen der

Wohlstandsverwahrlosung: In der Aar-

burg landen auch Jugendliche aus gut

betuchtem Haus die von ihren Eltern

nur mit Geld zufriedengestellt wurden.

«Auch das sind desolate Zustände, ob-

wohl die Familie den Schein wahrt.»

Die Straftaten anderer Heimbewohner

sind sehr unterschiedlich: Töfflidieb-

stahl, Gewalt gegen die Eltern oder in

der Freizeit, vereinzelt auch Sexual- oder

Tötungsdelikte.

mit den Frauen nüchterner. «Ich bin ein

Typ, der vorausdenkt», sagt der fein-

gliedrige Kochlehrling. «Ich grenze klar

ab zwischen dem Heim und dem Leben

draussen. Die Frauen und der Chor ge-

hören zum Heim. Eines Tages gehe ich

von hier weg und fange neu an.» Sajidan

doppelt nach: «Die Frauen gehen nach

der Aufführung wieder, und wir bleiben

hier», sagt er lakonisch. «Unsere Jugend-

lichen legen manchmal ein Machogeha-

be an den Tag. Sie haben ein verzerrtes

Frauenbild», sagt Heimleiter Hans Peter

Neuenschwander. «Sie müssen lernen,

Frauen zu respektieren und sich auch

von unseren Sozialpädagoginnen etwas

sagen zu lassen.»

«Nach dem Singen habe ich immer gute Laune. Das putscht mich auf.»Dardan, 18, Landschaftsgärtnerlehrling

«Hey, das ist das Schönste. Wenn in einem Club alle zu meiner Musik tanzen»

Marco, 17, Kochlehrling

«Die Böhsen Onkelz singen von Kummer und von Schmerz. Das passt zu meiner Situation»Ramon, 19, Zierpflanzengärtner

«Endlich mal Frauen, das find ich gut. Ich möchte Kleinkinderzieher lernen oder Behindertenbetreuer.»Harrison, 17, Schnupperlehrling

chor der gefallenen engel

28 29

Page 14: tango 2008-01

der stolz. «Alle fanden eine Stelle und

konnten fürs Erste in die Gesellschaft in-

tegriert werden.» Eine Studie über dau-

erhafte Erfolge der Resozialisierung gibt

es nicht. «Es kommt jedoch vor, dass ein

Jugendlicher eine Freundin findet, die

ihn weiterbringt als alle professionelle

Pädagogik», sagt er. «Andere erleben ei-

nen Schlüsselmoment, der ihrem Leben

ein überraschende Wendung gibt: Ein

Gespräch. Ein Buch. Erfolg in der Lehre.

Oder eben ein Projekt wie ‹Chor auf Be-

währung›. Darauf hoffen wir.»

Ende der Singprobe: Die Rockschnul-

ze «Heaven» von Gotthard ist verklun-

gen. Die Jugendlichen stürmen ins Freie.

Die Mädchen werden mit dem Auto ab-

geholt. Die Jungs bleiben hinter verrie-

gelten Türen zurück. Auf dem dunklen

Innenhof glühen zwei Zigaretten auf. Es

sind Raffaele und Ramon, sie sind aufge-

wühlt und singen in den Nachthimmel:

«Let me find my piece of Heaven…»

«Wenn ich nicht in der Aarburg wär', würde ich in ein Loch fallen.»

Nesanthan, 17, Malerr

«Die Aarburg ist mein neuntes Heim. Mein Ziel: den Schulabschluss hinter mich bringen.»Zdravko, 14, Schüler

Melissa Müller, 29, brach einst die Kanti nach drei Jahren ab, machte

verschiedene Praktika und entschied sich für den Journalismus. Im Mo-

ment arbeitet sie als Volontärin für die «Schweizer Familie», wo die-

ser Beitrag zuerst erschien. «Wenn ich an die Mittel- und Berufsschule

zurückdenke, dann kommt mir spontan Folgendes in den Sinn: Pickel,

Prüfungsstress, Frontalunterricht – zum Glück habe ich das hinter mir.»

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Page 15: tango 2008-01

Livio Marc Stöckli Wirtschaftsmittelschule Liestal

Im Dienst ohne Waffe. Ein Lachen, mehr ein Schluchzen,

drang aus seiner Gasse in die noch dunklere Stadt. Kaum merk-

bar und ohne Einfluss lagen Geldstücke, Fetzen vom Reichtum

Krankhafter und Reicher, um ihn verstreut in alle Himmelsrich-

tungen, in denen, auch wenn’s nur der Gütige, der Stille und

Furchtlose sahen, seit geraumer Zeit die Sonne missfiel, sogar

sich selbst. In seinem braunen Mantel beschaute er die grosse

Welt und war und blieb froh, dass er ihr nie wirklich anver-

traut wurde, auch wenn es ihn fror. Noch Zeit.

Marschierende Massen, Paradengang, Einklang erseh-

nend, immer noch, wo er doch schon längst übertrieben war.

Die Gasse vermochte das hypnotisierende Trommeln zu ver-

schlingen in ihrer Einzigartigkeit, die sie prägte und so wun-

dervoll erscheinen liess. Diese Gasse beherbergte ihn wie

eine Mutter es zu tun pflegte, schütze ihn vor den Bomben

und der Mitteilungswelt, die grob durch die breiten Strassen schritt und diese noch breiter pflügte. Er konnte nicht mehr

gehen, lag blutend, halb totgetrampelt in der schützenden

Gasse und obwohl es Zeit war, hörte er keine Kirchenglocke.

Noch war Zeit.

Es war jemand in der Nähe, denn die Leute schrien; ein

Magier musste es sein, jemand, der einst auf eine Wiese kam

und einen Wald hinterliess und nun im Jubel tauchte und

seine Schätze zu werten wusste. Zitternde, abgemagerte Hän-

de küssten seit Tagen den Grund des Gassengrabens. Eine

Abend-Serenade tänzelte durch seine Gasse und umhüllte ihn

mit Schweigen, stützte ihn, schwebte mit ihm über Köpfe von

Singenden, und sein Blut befleckte ihre Hemden, deren Weiss

grau war. Von weit läutete die Totenglocke. Die Zeit war nicht

mehr.

Livio Marc Stöckli, 19, aus Pratteln, liebt es, den Soundtrack seines

Lebens zusammenzustellen und auf Bänken die Welt zu betrachten.

Berufsziel: «den Regen umzudrehen.» Selbstcharakterisierung: «Kaum

kann ich mich vom Winde unterscheiden, der vergesslich die Höhen

über der Stadt streichelt. Der Rest wurde verweht.»

GassenweltEr konnte nicht mehr gehen, lag blutend, halb totgetrampelt in der schützenden Gasse und obwohl es Zeit war, hörte er keine Kir–chenglocke. Noch war Zeit.

«The dwarf with his hands on backwards sat, slumped like a half-filled sack on tiny twisted legs from which

sawdust might run, outside the three tiers of churches built

in honour of St Francis, brother of the poor, talker with birds, over whom

he had the advantage of not being dead yet.»

Assisi, Norman MacCaig

kurzgeschichte

3332

Page 16: tango 2008-01

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34

tango

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Page 17: tango 2008-01

TANGO-FACTS

LES FLEURS DU MAL Vor 150 Jahren erschien in Paris der erste Gedicht-band von Charles Baudelaire mit dem Titel «Les Fleurs du Mal» («Die Blumen des Bösen»). Das Echo auf den schmalen Band war gewaltig – nur kam es nicht vonseiten der Literaturkritik, sondern von der Staatsanwaltschaft. Baudelaire wurde we-gen «Gotteslästerung und Beleidigung der öffent-lichen Moral» zur Streichung von sechs Gedichten und zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt.

Heute gelten «Die Blumen des Bösen» als ein zentrales Gründungsdokument der literarischen Moderne. «Wer dieses Buch öffnet», schreibt der Schriftsteller Michael Krüger, «sollte alle Hoffnung fahren lassen: Es ist ein Brevier der Negativität, in dem nichts von dem ausgelassen ist, was der Lauf der Welt an Unrat und Verderbnis an die Oberfläche gespült hat».

Marie Francine Lagadec Kantonsschule Oerlikon

Im Französischunterricht behandel-

ten wir einige Gedichte von Charles Bau-

delaire, die mir – obwohl ich natürlich

nicht alle Nuancen verstand – gefielen

und mich faszinierten. Das Besondere

war, dass wir die Gedichte auch in Zu-

sammenhang mit anderen Künsten be-

trachteten – beispielsweise mit Musik

und (zeitgenössischen) Illustrationen.

Ich entdeckte so die Poesie ausserhalb

des gewöhnlichen Schulunterrichtes

und wusste nun, dass Baudelaires Ge-

dichte ein Teil meiner Maturarbeit sein

würden.

Da ich jedoch nicht nur die Gedich-

te analysieren wollte, beschloss ich, sie

zu illustrieren. Somit vereinigte ich zwei

meiner Leidenschaften und machte

mich voller Enthusiasmus an die Arbeit.

Um nicht am Aufwand zu scheitern, be-

schränkte ich mich auf die drei Gedichte

«Bénédiction», «L‘invitation au voya-

ge» und «Danse

macabre». Dabei

ging ich vom fran-

zösischen Original

aus.

Für diesen Ar-

tikel habe ich das

Gedicht «Bénédic-

tion» ausgewählt, da es in der Gedicht-

sammlung am Anfang steht und es Bau-

delaires Auffassung von sich als Künst-

ler sowie seine Pflichten zum Thema hat.

Im Gedicht ist die Diskrepanz zwischen

dem Schönen, Künstlerischen und Er-

habenen – also den «fleurs» – und dem

Verdorbenen, Niederträchtigen und Dä-

monischen – dem «mal» – besonders

deutlich gezeichnet. Das Gedicht hin-

terliess bei mir, durch die zahlreichen

kräftigen Bilder, die es hervorruft, einen

starken und bleibenden Eindruck.

Die Illustrationen, die ich dazu an-

fertigte, sind von Hand überarbeitete

Fotografien. Die meisten stammen von

einem dreitägigen Aufenthalt in Paris

während meiner Sommerferien und hal-

ten meine Eindrücke vom «Spleen de Pa-

ris» sowie die Hinterlassenschaften Bau-

delaires fest. Die Überarbeitung machte

ich in den meisten Fällen mit Tipp-Ex,

K u g e l s c h r e i b e r

und Buntstiften.

Die von mir selbst

konzipierten Bilder

begann ich direkt

mit Kugelschrei-

ber oder einem

Tuschestift. Des

Weiteren verwendete ich auch Bilder

von beispielsweise Henri Matisse, die

bereits Illustrationen zu den ausgewähl-

ten Gedichten sind, und überarbeitete

sie so, dass sie meiner Interpretation

entsprachen. Ich wollte mich bezüglich

der Arbeitstechniken und Materialien

nicht auf dünnes Eis begeben, da schon

die Aufgabenstellung genügend an-

spruchsvoll war.

«Im Gedicht wird die Diskrepanz

zwischen dem Schönen, Künstle-rischen und Erha-

benen und dem Verdorbenen, Nieder-trächtigen und Dämo-

nischen spürbar»

In ihrer Maturitätsarbeit setzt sich Marie Francine Lagadec künstlerisch mit Gedichten von Charles Baudelaire auseinander. Innovativ verbindet sie verschiedene Gestaltungstechniken so miteinander, dass reale Wirklich-keiten kombiniert mit imaginären Vorstellungen neue poetische Welten ergeben.

Les Fleurs du Mal

report

36 37

Page 18: tango 2008-01

Wenn nach des Himmels mächtigen Gesetzen

Der Dichter kommt in diese müde Welt,

Schreit seine Mutter auf, und voll Entsetzen

Flucht sie dem Gott, den Mitleid selbst befällt.

«Warum gebar ich nicht ein Nest voll Schlangen,

Statt dieses Spottgebilds verwünschter Art!

Verflucht die Nacht, in der mein Bauch empfangen,

Da flüchtiger Lust so bittre Strafe ward!

Was wähltest du mich aus von allen Frauen,

Dem blöden Mann zur ekelvollen Wut,

Was werf ich nicht die Missgeburt voll Grauen

Gleich einem Liebesbrief in Feuersglut!

Doch ich will deinem Hasse nicht erliegen,

Ich wälz ihn auf das Werkzeug deines Grolls

Und will den missratnen Baum so biegen,

Dass keine Frucht entspringt dem faulen Holz.»

So presst sie geifernd ihren Grimm zusammen,

Nichts ahnend von des Himmels Schluss und Rat,

Und schürt sich in Gehenna selbst die Flammen

Für ihre mütterliche Freveltat.

Segen

1

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6

les fleurs du mal

3938

Page 19: tango 2008-01

Indessen zieht ein Engel seine Kreise,

Und der Enterbte blüht im Sonnenschein,

Und zu Ambrosia wird ihm jede Speise

Und jeder Trank zu goldnem Nektarwein.

Zum Spiel taugt Wind ihm, Wolken und Gestirne,

Berauscht von Liedern zieht er durch sein Reich,

Und traurig senkt der Engel seine Stirne,

Sieht er ihn sorglos, heitern Vögeln gleich.

Berauschen will ich mich an Weihrauch und Essenzen,

An Wein und Huldigung mich trinken satt,

Und da er göttergleich mich will bekränzen,

Werd ich beherrschen ihn an Gottes Statt!

Und will die Posse mir nicht mehr gefallen,

Pack ich ihn mit der schwachen, starken Hand,

Mit meinen Nägeln wie Harpyenkrallen

Zerfleisch ich ihn, bis ich sein Herze fand.

Gleich einem jungen Vogel fühl ichs zittern,

Zuckend und rot wirds meiner Hände Raub,

Und um mein Lieblingstier damit zu füttern,

Werf ich es voll Verachtung in den Staub!»

Zum Himmel, zu dem ewigen Strahlensitze

Hebt fromm der Dichter seine Hände auf,

Und seines lichten Geistes weite Blitze

Verhüllen ihm des Volks blindwütigen Häuf:

«Dank, dir, o Gott, der uns das Leid liess werden,

Das uns erlöst aus tiefer Sündennacht,

Das reine Elixier, das schon auf Erden

Die Starken deiner Wonnen würdig macht!

Dem Dichter wahrst du deiner Sitze besten

Inmitten seliger Legionen Schar,

Ich weiss, du lädst ihn zu den ewigen Festen

Der Herrlichkeit und Tugend immerdar.

Ich weiss, nicht Welt noch Hölle macht zum Hohne

Den einzigen Adel, den der Schmerz verleiht.

Ich weiss, auf meinem Haupt die Wunderkrone

Muss leuchten über Welt und Ewigkeit.

Ich weiss, dass Schätze, die versunken schliefen,

Dass Gold und Edelstein aus finstrem Schacht,

Dass Perlen, die du hebst aus Meerestiefen,

Nicht würdig sind für dieser Krone Pracht.

Denn sie ward aus dem reinsten Licht gesponnen,

Das der Urflamme heiliger Herd besass,

Des Menschen Blick, die leuchtendste der Sonnen

Erlischt vor ihrem Glanz wie mattes Glas.»

Denn alle, die er liebt, voll Scheu ihn messen;

Weil seine Sanftmut ihren Groll entfacht,

Versuchen sie ihm Klagen zu erpressen,

Erproben sie an ihm der Rohheit Macht.

Sie mischen eklen Staub in seine Speisen,

Beschmutzen jedes Ding, dem er sich naht.

Was er berührt, sie heuchelnd von sich weisen,

Und schreien «wehe», kreuzt er ihren Pfad.

Auf öffentlichem Markt, wie eine Dirne,

Höhnt laut sein Weib: «Da mir sein Beten gilt,

So will ich auch vom Sockel bis zur Stirne

Vergoldet sein gleich einem Götzenbild.

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Marie Francine Lagadec, 18, aus Regensdorf,

besucht die Kantonsschule Oerlikon. Sie zeich-

net leidenschaftlich gerne, tanzt, liest und

besucht oft Museen und Theater. «Ich bin

charakterstark und scheue vor Anstrengung

nicht zurück. Ich entscheide mich meist sehr

schnell, bin aufbrausend, launisch, verletz-

lich und anspruchsvoll», sagt die zukünftige

Kunststudentin.

les fleurs du mal

4140

Page 20: tango 2008-01

Kathrin Bauer Gymnasium Mühldorf am Inn

«Ich will dich nicht erschrecken, aber du bist schwan-

ger!» Nadine kann es nicht glauben, will es nicht glauben.

Sie starrt auf den Bildschirm. Dieses Ultraschallbild soll ein

Baby zeigen? In ihrem Bauch?! Aber... sie ist doch erst 14!

Gedanken und Gefühle überfluten sie. Reissen sie mit. Krei-

sen um das Baby, ihre Eltern und landen schliesslich bei Lex

(Name geändert), dem Vater des Babys. Wie

sie ihn in Mühldorf kennen lernte. Wie sie

sich in ihn verliebte – in den 24-Jährigen

mit den vielen Tattoos und Piercings.

Wie sie zum ersten Mal bei ihm in der

Wohnung war und… wie er ihr Druck

machte: «Komm, is’ doch nichts dabei.»

Nadine wollte eigentlich nicht mit ihm

schlafen. Aber sie musste ihn unbedingt ha-

ben, also tat sie es

doch. Irgendwann

fand sie heraus, dass Lex fremdging,

und machte Schluss. Die grosse Liebe

war vorbei, nicht aber die Angst: Die

Angst, die sie seit jener Nacht verfolg-

te, die Angst schwanger zu sein.

Nadine starrt immer noch auf die

weissen Flecken am Monitor. «Soll ich

es deiner Mutter sagen, wenn sie zum

Putzen kommt oder möchtest du?»,

fragt Dr. Karsten. Aber Nadi-

ne kann es nicht. Sie soll

dann halt erst einmal in die

Schule gehen und nachher

wiederkommen, meint der

Arzt. Wie betäubt verlässt sie die

Praxis. Auf dem Weg zur Schule nimmt sie nichts

wahr. Niemanden. Als ob es die Menschen um sie

herum nicht gäbe. Nur noch sie

und dieses Kind in ihrem Bauch.

Und Angst...

In der Schule vertraut sie

sich einigen Freunden an. Ver-

stehen kann sie keiner. «Mit

wem?» «Wann?» «Wenn ich

schwanger wäre, würde ich es

zur Adoption freigeben.» «Ich

würde die Treppe solange rauf-

und runterlaufen, bis ich das

Kind verliere.» «Ich würde abtreiben.» «Sie haben

recht», denkt Nadine, «ich will das Baby nicht. Ich

will es nicht. Ich kann das nicht!»

Als sie am Nachmittag die Tür zum Arztzimmer

öffnet, kauert ihre Mutter auf einem Stuhl und

weint. Nadine fühlt sich schlecht, weil ihre Mut-

ter ihr nicht mehr vertrauen kann. Langsam geht

Nadine zu ihr und stellt sich hinter sie. «Von wem

ist es?» – «Er ist 15, aus Waldkraiburg. Ich kenne

ihn schon lang», lügt Nadine. Sie schafft es einfach

nicht, ihr die Wahrheit zu erzählen: Dass es der Typ

ist, von dem ihr die Mutter immer abgeraten hat.

Der Typ mit den vielen Tattoos und Piercings, der

fast doppelt so alt ist wie sie. An diesem Tag put-

zen sie gemeinsam die Praxis. Nadine staubt gerade

das Fensterbrett mit den Topfblumen ab, als ihre

Mutter meint: «Du, ich werde das Gefühl nicht los,

dass du mir nicht die Wahrheit sagst.» – «Das Baby

ist von Lex.»

In der nächsten Woche geht Nadine nicht in die

Schule. Sie verlässt kaum ihr Zimmer und weint. Sie

hat Angst. Angst vor dem Baby. Angst, dass es ihr

Leben auf den Kopf stellen wird. Noch in derselben

Woche geht sie mit ihrer Mutter zum Aldi, wo Lex

arbeitet. Nadine legt Süssigkeiten auf das Fliess-

band. An der Kasse sitzt er: die Haare zurückgegelt,

Das Ende der Kindheit

reportage

44 45

Page 21: tango 2008-01

löst sich die Freundschaft ganz.

Jetzt ist sie 17, hat ihren Schulab-

schluss nachgeholt und sucht Arbeit.

Nicos Vater ist ihr egal. Den Kleinen mit

den rotblonden

Locken und den

dunke lb raunen

Kulleraugen hat er

noch nie gesehen.

Nadine will ihn

ihm auch nicht

zeigen. Bis heute

hat er keinen Unterhalt bezahlt. Er ist

immer wieder umgezogen, um sich da-

vor zu drücken.

Doch Nadine ist froh, dass es damals

zu spät für eine Abtreibung war. Heute

würde sie ihren kleinen Schatz nicht

mehr hergeben. Nie! Sie ist stolz auf Nico

und das Schönste ist, dass er sie braucht.

Sie wünscht sich einen Vater für ihn,

der Verantwortung übernimmt und ihr

hilft, auf eigenen

Beinen zu stehen.

Man sieht ihr an,

dass sie zehn Jah-

re «übersprungen»

hat. Aber diese Zeit

möchte sie jetzt

nachholen. So geht

sie abends wieder

öfter aus oder zu

einer Freundin, ein-

fach um zu reden. Sie wünscht sich, dass

es keine Vorurteile mehr gegenüber jun-

gen Müttern gibt. Dass es nicht heisst:

«Die können sich doch nicht um ein

Kind kümmern!»

Als ich sie noch frage, ob ich in mei-

ner Reportage ihren Namen ändern soll,

sagt sie bestimmt: «Nein. Es ist passiert

und ich stehe dazu.»

stützt sie. Dank ihrer Hilfe kann sich

Nadine im siebten Monat auf ihr Baby

freuen. Sie hat jetzt auch einen Namen

für ihr Kind: Nico.

Kurz vor der Geburt trifft sie Lex

zufällig noch einmal. Er steht an einer

Tankstelle, die Hände in den Hosenta-

schen. Seit er von ihrer Schwangerschaft

erfahren hat, versteckt er sich. Nadine

ist mit einer Freundin unterwegs. Sie

schreit ihn an. Er schaut ihr nicht in die

Augen. Nicht einmal auf ihren Bauch.

Vier Wochen später wird Nadine ins

Krankenhaus gebracht. Vor der Entbin-

dung hat sie sich gewünscht, dass Nico

bald kommt. Aber als es so weit ist, geht

ihr alles zu schnell.

Nach der Geburt

registriert sie nicht

einmal, wie die

Krankenschwester

Nico in ein Tuch

wickelt und ihr auf

den Bauch legt. Es

ist 21 Uhr. Sie will

nur noch schlafen.

Zwei Tage später

möchte sie ihn neben sich haben. Noch

hat Nadine Angst, ihn auf den Arm zu

nehmen. Er wirkt so zerbrechlich.

Nico stellt Nadines Leben auf den

Kopf. Sie hat keine Freizeit mehr, kann

ihre Freunde nicht treffen. Vormittags,

wenn ihr Vater babysittet, paukt sie in

der Schule, nachmittags muss sie Nico

füttern, wickeln und sich um ihn küm-

mern, abends lernt sie, und oft raubt

der Kleine ihr den Schlaf. In der Schule

denkt keiner daran, auch ihre Freunde

nicht. «Hey Mann, was geht denn mit

dir ab, du Loserin!», hört sie oft. Nicht

einmal ihre beste Freundin Isabelle, die

ihr einst Hilfe versprochen hatte, kann

sie verstehen. Sie hört auf einmal auf,

Nadine anzurufen. Nach einem Streit

seine Lederjacke lässig über den Stuhl geworfen,

cool wie immer. Wut kommt in Nadine auf. «War-

um hast du mir bloss Druck gemacht? Warum? We-

gen dir bin ich schwanger. Wegen dir!», brüllt sie

ihn an. «Das macht 6.25», lautet seine Antwort.

«Und du willst 24 sein, du Feigling», denkt sie und

verlässt wortlos den Laden.

Nadine weiss, dass es für eine Abtreibung zu spät

ist. Eine Woche später sitzt sie wieder in der Schu-

le. «Die Klasse kriegt Zuwachs, Nadine ist schwan-

ger.» Obwohl sie findet, dass ihr Klassenlehrer das

gut rübergebracht hat, möchte Nadine einfach auf-

stehen und abhauen. Nicht die Schwangere sein.

Nicht wie ein Tier im Zoo von ihren Mitschülern

angegafft werden. Als sie in der Pause ihre Schuhe

anziehen will, kommen Mädchen zu ihr, die Nadine

nicht leiden können. «Heb mal dein T-Shirt hoch,

sieht man schon was?» – «Warum kümmern sich

diese Idioten nicht um ihren Dreck?», schiesst es

Nadine durch den Kopf. «Warum hilft mir keiner?

Warum?»

Nadine will reden. Mit jemandem, der sie

versteht, versteht, wie sie sich fühlt. So

jemanden findet sie bei der Schwan-

gerschaftsberatung. Die Frau

dort hört ihr zu, verurteilt

sie nicht, sondern unter-

Kathrin Bauer, 16, aus Neumarkt Sankt Veith, bezeichnet sich als «neu-

gierig, unternehmungslustig, gern unter Leuten» und möchte später

einmal Journalistin werden. Sie schreibt bereits heute fleissig Artikel

für die Schülerzeitung, liest, reitet und spielt gerne Klavier. Sie würde

gerne ein halbes Jahr nach England oder in die USA gehen.

das ende der kindheit

46 47

Page 22: tango 2008-01

Anina Albonico Kantonsschule Küsnacht

Anna stand im Regen. Einfach so. Sie stand da, allein, völlig

allein und versuchte die kalten Tropfen zu fühlen. Es war kein

Sommergewitter. Das Wasser war eiskalt, als wollte es die Käl-

te in ihrem Herzen verstärken. Annas Lippen glichen einem

Eisblock, doch sie nahm es nicht wahr. Alles, was sie fühlte,

war die Kälte. Diese ungewohnte, vernichtende Käl-

te mitten im Sommer.

Ein paar Tage zuvor hatte es die Sonne noch ge-

geben. Anna wusste das,

doch sie konnte sich nicht

mehr erinnern. Vergessen

waren alle warmen Momen-

te und die feinen Strahlen

des Lichts. Sie sah und fühlte

nur noch die dunkle Nässe um sich herum. Der

Regen half ihr, ihren Körper zu beruhigen. Er fuhr in sie, durch-

nässte die kleinsten Stellen ihres Daseins und verhinderte das

Ausbrechen von Gefühlen, die sie noch nicht zulassen konnte.

Aber das Wichtigste war, dass er ihr Herz gefrieren liess.

Er hatte gesagt, sie sei es. Sie sei diejenige, die er an seiner

Seite haben wolle. Für immer. Bis August. Dann aber war der

Regen gekommen, und alles war anders geworden.

Anna wusste nicht, was sie hätte besser machen können.

Sie hatte ihm alles gegeben. Sie würde ihm auch jetzt noch

alles geben, auch wenn es falsch war. Der Regen schaffte es

nicht, alles von ihr wegzuwaschen. Sie konnte seine Hände

überall auf ihrem Körper spüren.

Die Stränge, die sie beide zusammengehalten hatten, schie-

nen stark. Wetterfeste Seile, die, wie es ihr damals schien, je-

dem noch so wilden Gewitter hätten entgegenwirken können.

Doch es war nie eines gekommen. Der Himmel war stets blau

gewesen. Natürlich hatte es ab und zu eine Wetterveränderung

gegeben, doch zu mehr als einem leichten Regen war es nie

gekommen. Der Himmel war unnatürlich blau und auf keine

Gewitter vorbereitet. Einzig der Wind hatte angefangen, leicht

und leise an den Blättern der Bäume zu rütteln, war zuerst

sanft durch die Hügel geweht und hatte die Seile ins Flattern

gebracht. Schliesslich hatte er Wolken aufziehen lassen und

die Gefühle davongetragen.

Und dann machte sie den entscheidenden Fehler.

Er sagte, es täte ihm leid. Ein Blick von ihm, und vergessen

waren der Regen, die Schmerzen und die Kälte. Zu verführe-

risch war die Aussicht gewesen, ihn wieder spüren zu können.

Nicht mehr diese endlose Leere in sich dulden zu müssen. Zu

sehr hatte sie sich danach gesehnt, nicht mehr allein auf ihre

Träume warten zu müssen.

Sie versuchte sich erneut einzureden, das sei das Glück. Zu

sehr in ihrer Traumwelt ver-

strickt, wollte sie nicht sehen,

was anderen unübersehbar

schien.

Das Glück blieb nicht lan-

ge. Anna sass da und zähl-

te die Tage. In ihrem Kopf

herrschte Chaos. Der Sommer

am Strand. Das unterkühlte

Hotelzimmer. Das leuchtend

farbige Riesenrad. Die Rosen.

Sie versuchte, einen Grund zu finden und alle Fragen aufzuklä-

ren, für die nur er allein die Antwort kannte.

Irgendwann würde sie sehen können, dass es einen Sinn

hatte. Alles.

Sie hatte ihm alles gegeben. Sie würde ihm auch jetzt noch alles geben, auch

wenn es falsch war.

Anina Albonica, 19, aus Erlenbach, hat sich

nach der Matura an der Kantonsschule Küs-

nacht nach Neuseeland aufgemacht und will

bald Geschichte und Soziologie studieren.

Anina: «Ich kann nicht ohne meine Freunde,

TV-Serien, die Farbe Türkis und labellos sein

und bin auf der auf der Suche nach einer Auf-

gabe im Leben.»

Er hatte gesagt, sie sei es. Sie sei diejenige, die er an seiner Seite haben wolle. Für immer. Bis August. Dann aber war der Regen gekommen, und alles war anders geworden.

Im Regenkurzgeschichte

49

Page 23: tango 2008-01

Ich war ein Jahr mit meinem Freund zusammen, doch vor zwei Monaten hat er Knall auf Fall Schluss gemacht. Weil er die Schule wechseln müsse und viel Zeit mit Fusball verbringe, habe er keine Zeit mehr für mich! Meine Freundin rief ihn an und fragte ihn, ob er mich noch liebe, was er bejahte, aber dennoch habe er keine Zeit. Ich möchte ihm irgendwie sagen, dass er mir sehr viel bedeutet, und mit ihm vernünftig sprechen, aber ich weiss nicht, wie ich das anstellen soll. Bitte helft mir.

Ich bin mit meiner Freundin seit sechs Monaten zusammen, und ich liebe sie wirklich sehr. Wir hatten bisher noch keinen Sex und auch sonst kaum Zärtlichkeiten. Ich bin 20, sie ist ein Jahr jünger. Am Anfang dachte ich, es liege daran, dass sie einfach noch nicht so weit ist. Natürlich versuche ich es immer wieder, zärtlich zu werden, indem ich sie streichle oder so. Wenn ich sie darauf anspreche, sucht sie nach Ausreden… Ich getraue mich schon fast nicht mehr, sie zu berühren, weil ich Angst vor ihrer abweisenden Reaktion habe. Was ist los mit ihr? Was kann ich machen? Kann es sein, dass sie schlechte Erfahrungen machte oder gar vergewaltigt wurde? Wie soll ich mich verhalten?

Ich verstehe, dass du deinen Ex-Freund zurückhaben möchtest. In einer Beziehung kommen bei den Partnern manchmal die Gedanken oder die Gefühle auf, dass man für den Partner nicht der Richtige sei, sei dies, weil man zu wenig «gut» ist oder nicht das geben kann, was das Gegenüber scheinbar verdient. Vielleicht hilft es, wenn du ihn bittest, sich mit dir an einem neutralen Ort zu treffen. So kannst du ihm deine Situation und deine Gefühle mitteilen. Vielleicht kannst du ihm auch sagen, dass du nicht verlangst, dass er sich jede freie Sekunde mit dir beschäftigt, und dass du es verstehst, dass er viel Zeit mit Fussball verbringt. Wenn er abblockt, so versuche, mit einer Kollegin oder einem Kollegen über deine Situation zu sprechen. Unternimm etwas, geh fort, ins Kino, lenke dich ab. Alle Menschen entwickeln verschiedene Rituale, um mit negativen Erlebnissen trotzdem auf eine gute Weise abzuschliessen und so das Leben wieder geniessen zu können. Alles Gute, dein tschau

Versuche, mit deiner Freundin zu reden und ihr zu sagen, dass du sie liebst, dass du dich danach sehnst, sie zu berühren, mit ihr zu schlafen, und dass du dir Sorgen machst um sie, aber auch um eure Beziehung. Du kannst sie fragen, ob sie eine Erklärung hat für ihr Verhalten und ob sie etwas Schlimmes erlebt hat. Sollte sich dein Verdacht bestätigen, könntest du deiner Freundin Mut machen, sich bei einer Opferberatungsstelle zu melden und sich dort Unterstützung und Hilfe zu holen. Sollte sich dein Verdacht nicht bestätigen, weil nichts dergleichen passiert ist oder sich deine Freundin nicht bewusst daran erinnert oder es auch verdrängt, kannst du sie fragen, wie sie sich denn eure Beziehung weiter vorstellt. Was sie sich wünscht, was sie für Vorstellungen hat und ob sie vor etwas Angst hat. Liebe Grüsse vom tschau

Beziehungen

Sexualität

MEIN EX-FREUND LIEBT MICH NOCH, ABER…

WARUM BLOCKT SIE IMMER AB?

Meine Schwester leidet an Ess-Brechsucht. Bei jeder Mahlzeit schlägt sie sich so richtig den Bauch voll, und sie isst auch laufend nebenbei Süssigkeiten. Danach geht sie immer ins Bad und erbricht. Sie braucht wohl ernsthaft Hilfe, um ihre Essgewohnheiten in den Griff zu bekommen. Wenn ich sie frage, ob es ihr gut gehe, sagt sie immer ja, ab und zu meckert sie über bestimmte Vorfälle in der Schule, aber sonst sagt sie nichts. Sie spricht zwar sehr viel, aber nicht über ihre Emotionen... Ich möchte ihr gerne helfen, aber ich weiss nicht wie, da sie sich ja nicht helfen lassen will. Habt ihr eine Idee, was ich beziehungsweise unsere Familie tun kann, um meiner Schwester zu helfen?

Es ist verständlich, dass du und deine Eltern euch um eure Schwester Sorgen macht. Viele junge Frauen leiden an Essstörungen, und es ist meistens so, dass sie dies so lange wie möglich vor ihrem Umfeld und auch vor sich selbst verstecken. Daher ist das Gespräch und die Konfrontation von aussen ein wichtiger, oft entscheidender Anstoss für die Betroffenen, sich Hilfe zu holen. Versucht dabei nicht vorwurfsvoll oder wertend zu sein. Du kannst ihr mitteilen, dass ihr euch Sorgen macht. Ihr könnt aber auch versuchen, ihr bei den verschiedensten Gelegenheiten ein positives Feedback zu geben, das nicht im Zusammenhang mit dem Essen steht («Du siehst heute sehr schön aus», «Du hast das super gemacht», etc.). Für mehr Informationen und Tipps zum Thema kannst du ausserdem die Arbeitsgemeinschaft Essstörungen (www.aes.ch) kontaktieren. Viel Mut und Kraft und alles Gute, dein tschau.

MEINE SCHWESTER LEIDET AN BULIMIEWohlsein

Was kann ich tun, um meiner Schwester, die an Ess-Brechsucht leidet, zu helfen? Ab welchem Alter ist es erlaubt, Wasserpfeife zu rauchen? Warum blockt meine Freundin immer ab, wenn ich zärtlich werden möchte? Wie sollen wir ein Gespräch mit unserem Lehrer führen? – Das Beratungsteam von tschau.ch beantwortet deine Fragen.

Mein Ex-Freund liebt mich noch, aber...

beratung

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Page 24: tango 2008-01

TANGO-FACTS

Auf der Beratungsplattform www.tschau.ch findest du viele Antworten, Informationen und Tipps zu den Themen Beziehungen, Sex, Wohlsein, Lebenswelt, Schule und Job. Wenn du keine Antwort findest, kannst du auf der Website deine persönliche Frage anonym stellen und erhältst innerhalb von drei Tagen eine Antwort.

Mit deinem Einverständnis werden einzelne Fragen und Antworten auf tschau.ch veröffentlicht und im tango abgedruckt. tschau.ch wird neu von der Schweizer Kin-der- und Jugendförderung Infoklick.ch betrieben und finanziell unterstützt von der Gesundheitsförderung Schweiz, dem Bundesamt für Gesundheit sowie mehre-ren Kantonen.

Wir haben ein Problem mit einem Lehrer. Er ist sicher fachlich kompetent, allerdings ist er eine pädagogische Niete. Wie können wir ein Gespräch mit ihm vorbereiten und uns bei der Schulleitung beschweren, sodass wir ernst genommen werden?

Eine Person zu kritisieren ist nicht immer einfach, vor allem wenn die Rollen so verteilt sind wie bei Schülern und Lehrern. Grundsätzlich ist wichtig, dass ihr zusammentragt, was mit der Lehrperson nicht gut ist, aber auch das, was sie gut macht. In einem nächsten Schritt könnt ihr eure Wünsche an sie zusammentragen. Beim Gespräch selber ist es wichtig, dass ihr in sogenannten Ich-Botschaften Rückmeldung gebt («Ich fühle mich nicht wohl, wenn Sie...», «Ich kann dem Unterricht nicht folgen, wenn Sie...»). Es ist gut, wenn dies verschiedene Schüler/-innen übernehmen und nicht nur eine Person spricht, damit die Lehrperson merkt, dass es viele unter euch gibt, die Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsstil haben. Versucht am Schluss des Gesprächs ganz konkrete Abmachungen zu treffen und schreibt sie gemeinsam auf. Hilfreich ist, wenn ihr den Lehrer vorinformiert, über welche Themen ihr mit ihm sprechen möchtet und in welchem Rahmen, damit er sich vorbereiten kann. Falls das Gespräch und die Abmachungen keine Früchte tragen, solltet ihr zur Schulleitung. Auch hier bittet ihr zuerst um ein Gespräch und bringt dann eure Kritik, euer Lob und eure Wünsche an. Vielleicht gibt es bei euch im Schulhaus einen Schulsozialarbeiter oder einen Schulpsychologen. Falls ja, könnt ihr diese Person fragen, ob sie euch beim Gespräch unterstützt. Liebe Grüsse, dein tschau

Beziehungen

WIE SOLLEN WIR EIN GESPRÄCH MIT UNSEREM LEHRER FÜHREN?

Ab welchem Alter ist Shisha-Rauchen eigentlich erlaubt?

Es gibt keine gesetzlichen Bestimmungen, die vorgeben, ab welchem Alter das Rauchen von Tabak (egal, ob in Form von Zigaretten oder Wasserpfeife) erlaubt ist. Es gibt aber gesetzliche Bestimmungen, welche den Kauf bzw. den Verkauf von Tabak einschränken. Diese Bestimmungen sind jedoch von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Im Kanton Zürich beispielsweise wurde das Mindestalter für den Verkauf von Tabakprodukten bei 16 Jahren festgesetzt. Übrigens: Das Wasserpfeifenrauchen ist zwar erst seit Kurzem Gegenstand der Tabakforschung. Doch eindeutig ist, dass die gesundheitsgefährdenden Rauchpartikel und Nikotin keinesfalls im Wasserbad der Pfeife verschwinden. Zählt man die Probleme der Mund- und Zahnhygiene hinzu, so sollte man sich die Teilnahme am genüsslichen Dampfritual besser zweimal überlegen. Liebe Grüsse, dein tschau

AB WELCHEM ALTER IST SHISHA-RAUCHEN ERLAUBT?Sucht und Drogen

mein ex-freund liebt mich noch, aber...

bei der Stadtpolizei Zürich.

Ich bin Polizist

Polizistin oder Polizist in der grössten SchweizerStadt zu sein, ist spannend und anspruchsvoll – imStreifenwagen, auf dem Motorrad, auf dem See, inUniform oder in Zivil. Für diese aussergewöhnlicheAufgabe brauchen Sie Motivation, Besonnenheit undeine gute Ausbildung.

Aufgeweckte, kontaktfreudige 20- bis 35-jährigeSchweizerinnen und Schweizer mit Berufsabschluss,Matur oder anerkanntem Diplom bilden wir währendzwei Jahren bei vollem Lohn zu verantwortungsbewuss-ten, kompetenten Polizistinnen und Polizisten aus.Unsere künftigen Mitarbeitenden sollten körperlich fitund mental belastbar sein.

Tag für Tag an vorderster Front dabei sein. Ein ange-sehener, vielseitiger und fordernder Beruf! Wenn Sie dieHerausforderung annehmen möchten, bestellen Sie dieBewerbungsunterlagen bei der Stadtpolizei Zürich:Personalwerbung Polizeischule, Postfach, 8023 Zürich,Telefon 044 411 92 16/17 oder über www.stadtpolizei.ch

Pirmin 31,Handballer

RZ_Persins_2332_Handballer 29.8.2006 8:34 Uhr Seite 1

Bleistift oder Laptop?Sie wünschen sich eine pädagogische Ausbildung, die Tradition und Innovation verbindet? An der Pädagogischen Hochschule des Kantons St.Gallen erwartet Sie nicht nur in dieser Beziehung ein bestens ausgewogenes Studium.

Weitere Informationen: Pädagogische Hochschule des Kantons St.Gallen, Notkerstrasse ��, ���� St.Gallen, Telefon ��� ��� �� �� oder www.phsg.ch

LUST, BEI

MITZUMACHEN?

MEHR INFOS SEITE 34 UND 35

53

Page 25: tango 2008-01

Ziemlich viele Obdachlose treiben

sich hier herum. Irgendwie unheimlich.

Einer spricht mich an, wir reden über

das Wetter und die Schweiz. Nach lan-

gem Schweigen sagt er: «We’re not dan-

gerous, we’re just humans. Just like you.

Don’t go to Switzerland and tell them

that there are that many homeless peo-

ple. We are not homeless, we are free.”

Mit diesen Worten verabschiedet er sich,

ich bleibe noch eine Weile sitzen.

Clubbing«Copacabana», unser erster Club. Eine

einzige Katastrophe. Anstehen, Aus-

weiskontrolle, Einlass. Ich fühle mich

wie am Zoll: Metalldetektoren und Se-

curity. Sie kontrollieren die Taschen und

nehmen uns die Zigaretten weg. «Will

I get them back?», will ich aufgebracht

wissen. Keine Antwort. Okay, Eintritt

zahlen. Für 18- bis 20-Jährige 25 Dollar

Eintritt, ab 21 Jahren 15 Dollar! Der Club

sieht edel aus, in der Mitte Tanzfläche,

drumherum DJ-Pult und

Bar. Wir wollen uns

etwas zu trinken

holen. Was?! Keine

Getränke an Gäste

unter 21. Nicht einmal Wasser…

Langsam werde ich sauer, ich will

eine rauchen gehen. Und da, der Hö-

hepunkt des Desasters: An der Aus-

gangstüre steht ein übergrosser Sicher-

heitsmensch und versucht mir klarzu-

machen, dass «Gäste» unter 21 nicht

mehr hereinkommen, wenn sie einmal

draussen waren! Ich bin stinksauer und

motze herum. Er sagt, der Staat habe das

so verschärft, um den Zigarettenkonsum

von «Minderjährigen» zu verhindern.

Aufgebracht verlassen wir den Club.

Draussen werden wir von einem Trans-

vestiten gefragt, ob wir Girls

mögen, da gäbe

es so einen Club... Schnell, Taxi neh-

men, schlafen gehen.

Chinatown / Little ItalyMan könnte jeden Block in ganz

New York nach seinem Geruch erken-

nen. Chinatown

riecht komisch.

Naja, Chinatown

ist komisch. Al-

les mit chinesi-

schem Schriftzug,

schräge Shops mit

undefinierbarem

Verkaufsgut, end-

lose Strassen mit

gefälschter Ware.

Wir werden oft an-

gesprochen: «Miss,

Gucci Bag?»

Staten IslandAnkunft auf Staten Island. Neue

Welt. Keine Hochhäuser, keine geraden

Strassen, keine Menschen. Sieht alles

ziemlich verlassen aus. Mit dem Bus zu

einer Bekannten.

Begrüssung, Smalltalk bis zum Haus.

Der Weg ist sehr steil, die Häuser ziem-

lich klein. An der Ecke ein kleiner Sto-

re, davor ein Jeep, aus dem laute Musik

dröhnt. Ein paar Männer stehen da he-

rum und rauchen.

Wir gehen ins Haus. Sehr dunkel hier

drin. Unaufgeräumt, klein. Sie hat vier

Kinder, zwei Jungen, zwei Mädchen.

Was mir zuerst auffällt, ist der riesi-

ge, extrem moderne Fernseher, der die

Hälfte des Raumes ausfüllt. Kika bringt

uns «Soda» in Plastikbechern.

Der Raum der Jungs besteht

nur aus Spiderman-Möbeln, Spi-

Delila Kurtovic, Kantonsschule am Brühl

Remember, remember… zwei Wochen New York. Dreizehn

Stunden Flug, ein flaues Gefühl in der Magengegend, arger Ni-

kotinentzug. Endlich Ankunft, 12:04 pm. Verschlafen, total

überfordert, steigen wir aus, lassen uns unsere Fingerabdrücke

nehmen, die Augen durchlasern und nehmen ein Taxi zum

Hotel. Schnelle Dusche, umziehen. Here we go!

Time Square9:00 pm. Ich steige aus dem gelben Taxi, kann es

kaum fassen. Wie ein Jahrmarkt, nur viel grösser,

riesig. Überall farbige Lichter, Menschenmassen.

Unbeschreiblich. Ich halte die Hand meiner besten

Freundin. Sie schaut mich an: «Glaubst du das?

Daaamn!»

Wir staunen und staunen, laufen ein Stück,

setzen uns dann auf eine riesige Treppe und re-

den, beobachten die Leute. Stunden vergehen,

und es wird einfach nicht langweilig. Men-

schen, Hektik, Polizeisirenen, Gerüche,

Plakate, Werbung, Styles. Ich weiss gar

nicht, worauf ich meine Aufmerksamkeit

richten soll.

Central ParkEs wird langsam dunkel, ich gehe ein

langes Stück, setze mich dann auf eine

Bank. Eichhörnchen, so weit das Auge

reicht. Ich bin entzückt. Es wird

langsam dunkel.

Stunden verge-hen, und es wird

einfach nicht langweilig: Men-schen, Hektik, Polizeisirenen, Gerüche, Pla-

kate, Werbung, Styles

So viele Menschen, so viel zu tun: NYC

Von Brooklyn nach Staten Island, vom Battery Park Manhattans über die 125th Harlems zur Queensbridge. Abstrakt, dieser Ort. Unglaublich, diese Menschen.

reportage

54 55

Page 26: tango 2008-01

derman-Postern

und einem Fern-

seher. Das Zimmer

der Mädchen ist

ganz in rosa. Prin-

zessinnen-Betten,

Prinzessinnen-Pos-

ter, und nicht zu

vergessen: das TV-

Gerät. Auch das Schlafzimmer hat einen

riesigen Fernseher und ein riesiges Bett.

Die Kinder essen «Jellybread» (Toast

mit seltsamem glibberigen Zeug drauf)

und fragen uns, ob wir auch welches

wollen. Sieht nicht sehr appetitlich aus.

Es ist gegen neun. Kika trommelt

die Kinder zusammen. Jeder bekommt

einen Löffel von irgendwelchem Sirup,

die Älteste muss Tabletten schlucken.

Vitamine, die Krankenkasse bezahle es.

Wofür? Die Kinder hätten zu wenig von

diesem, zu wenig von jenem.

Subway

Mit der Subway nach Hause, es ist

etwa 7:00 pm. Komisch, aber ich mag die

Stimmung in der U-Bahn. Kahle, weisse

Wände, Werbung, aufdringlich weisses

Licht, überall Verbotstafeln.

Die Fahrt ist lärmig, und selten redet

jemand. Ich spüre die Anonymität. Nie-

mand kennt irgendjemanden, niemand

interessiert sich für irgendjemanden. So

viele Menschen, so viel zu tun. Keine

Zeit für irgendetwas, keine Zeit für ir-

gendjemanden. Die müden Augen mei-

den Blickkontakt. Jeder will seine Ruhe

nach einem harten Arbeitstag.

In der 52th Street steigt ein älterer

Afroamerikaner in den Wagen und be-

ginnt, Psalme vorzutragen. Alles aus-

wendig. Kaum jemand hört ihm zu.

Er wird immer aggressiver, schreit

und verkündet: «You’re all sin-

ners, you will burn in hell!»

45th Street, drei Jugendliche

betreten den Wagen, schalten

ihren Ghettoblaster ein und

beginnen zu breakdancen.

In diesem engen Gang,

der überall Stangen zum

Festhalten hat, break-

dancen sie. Ich bin hin und weg.

Vor mir steht immer noch der alte,

graubärtige Afroamerikaner in seinen

zerfetzten Hosen und predigt, übertönt

von der lauten Hip-Hop-Musik. Einer

der Breakdancer macht zum Schluss

einen Salto. Dann gehen sie mit ihren

umgedrehten Mützen und wollen Geld.

Sie sammeln ein paar Dollars, bedanken

sich und steigen aus, gefolgt vom alten

Prediger. Es ist wieder ruhig im Wagen.

Eine ganze Weile später steigt ein

richtig alter Mann mit einer Gitarre ein.

Langes, graues Haar, langer, grauer Bart.

Er beginnt zu singen. Kaum zu glauben,

doch es klingt wirklich schön: «Guan-

tanamera…»

Ich sehe eine wunderschöne junge

Frau mit riesigem Afrolook an, die lä-

chelt und mitsingt.

Delila Kurtovic, 18, aus St. Gallen, liest und schreibt gerne.

Sie geht oft in den Ausgang, mag es aber auch, einfach

nichts tun. Sie bezeichnet sich als «laut, lustig, ver-

rückt, kreativ und stur». – «Berufs- und/oder Studi-

enziel? Keine Ahnung!»

Vor mir steht immer noch der alte, graubärtige Afroamerikaner in seinen zer-fetzten Hosen und predigt,

übertönt von der lauten Hip-Hop-

Musik

so viele menschen, so viel zu tun, so viel ruhm: nyc

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Page 27: tango 2008-01

Viktoria Kvetanova Kantonsschule Frauenfeld

Ich sehne mich nach einem Ort, an

dem meine Familie ist. Ich sehne mich

nach einem Ort, an dem man meinen

Namen richtig ausspricht. Ich sehne

mich nach einem Ort, an dem alle Os-

tern gleich feiern wie ich. Ich sehne

mich nach meiner Heimat. Ich sehne

mich nach der Slowakei.

Meine Kindheit, ganze elf Jahre mei-

nes Lebens, verbrachte ich dort, in der

Hauptstadt, in Bratislava. Und fünf

Jahre schon lebe ich in der Schweiz. Ei-

gentlich hätten es nur zwei sein sollen.

Inzwischen wurden es dann aber drei,

vier, fünf… und das Ende ist noch lange

nicht in Sicht.

Als mein Vater sagte, dass wir um-

ziehen, habe ich nur genickt und „okay»

gesagt, als würde ich es verstehen. Doch

das tat ich nicht. Ich war nur ein Kind

und verstand die Welt der Erwachsenen

samt ihren Problemen nicht. Ich wusste

nur, dass meine eigene Welt auf einmal

zusammenbrach. Der Gedanke, alles,

was ich hatte, zu verlassen, jagte mir

schreckliche Angst ein. Ich hatte damals

kein Verständnis für die Situation mei-

ner Eltern. Alles, was für mich zählte

und was ich wahrnahm, war, dass ich

alle meine Freunde verlassen musste.

Am schlimmsten war der letzte

Schultag. Plötzlich waren alle gegangen,

und ich stand ganz alleine da mit meiner

Zwischen zwei Welten

Wenn mir die Frage gestellt wird, wo ich hingehore, kann ich sie nicht beantworten. Fruher hatte ich so fort gesagt: «in die Slowakei», heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich sehne mich nach einer Heimat.

reportage

6160

Page 28: tango 2008-01

de, in denen sie mir schrieben, wie sehr

sie mich vermissten. Ich las sie jeden Tag,

und immer liefen mir Tränen die Wangen

hinunter. Die Briefe waren die Verbindung

zur alten Heimat.

In der Schule lief es nicht schlecht,

meine Noten waren gut. Doch was mir

fehlte, waren Freunde. In der Pause stand

ich meistens allein, nur manchmal ka-

men Mädchen, jünger als ich, und fragten

mich aus Mitleid, ob ich mit ihnen spielen

möchte. Natürlich empfand ich es als un-

angenehm, mit Schülerinnen aus tieferen

Klassen zu spielen. Oft wurde ich mitten

im Unterricht traurig, ging auf die Toilet-

te und weinte. Wenn meine Augen nicht

mehr rot waren, kehrte ich zurück. Auch das Tur-

nen war mir eine Qual. Mussten wir Zweierteams

bilden, wollte niemand mit mir zusammen sein.

Als dann eines der Mädchen übrig blieb und diese

Last auf sich nehmen musste, wurde sie von allen

gefragt, ob das in Ordnung sei. Sie dachten wahr-

scheinlich, ich würde es nicht hören. Doch ich hör-

te es. Und ich verstand.

In der 6. Klasse beherrschte ich die Sprache

inzwischen so gut, dass die Gespräche einfacher

wurden und ich mich als Teil der Klasse zu fühlen

begann. Als mich dann einmal eine Mitschülerin fragte: «Wieso hast du

dich eigentlich so verändert?», wusste ich, dass ich es geschafft hatte.

In der Sekundarschule dann fand ich richtig gute Freunde, wofür ich

sehr dankbar war. Als ich die Klasse verliess, um an eine andere Schule zu

gehen, musste ich weinen. Je wohler ich mich in der Schweiz fühlte, desto

mehr schien ich mich jedoch meiner eigentlichen Heimat zu entfremden.

Die Freunde, die früher so wichtig für mich gewesen waren, entfernten

sich immer mehr. In den Ferien bemerkte ich, dass ich die Leute, über

die sie redeten, nicht kannte

und dass ich die Wörter, die

sie benutzen, nicht verstand.

Es wurde immer schwieriger,

gemeinsame Themen zu fin-

den.

Noch immer allerdings

sind die Ferien in der Slowa-

kei sehr schön. Bloss wird der

Abschied allmählich nüchterner. Was sich früher immer in Begleitung

von Tränen abspielte, nehme ich heute problemlos hin. Nur bei meiner

Grossmutter fällt es mir schwer. Wenn sie mich umarmt und fragt: „Wer-

de ich dich je wieder sehen?», kann ich die Tränen nicht zurückhalten.

„Klar sehen wir uns wieder, in ein paar Monaten sind wir ja wieder da»,

sage ich ihr zwar. Doch wenn sie am Fenster steht und mir zuwinkt, bis

ich aus ihrer Sicht verschwinde, schleicht sich die Frage auch in meinen

Kopf ein. Und wenn ich in der Schweiz ankomme und Postkarten von

Freunden im Briefkasten finde, denke ich, dass mein Zuhause doch in der

Schweiz ist. Ich bin hier glücklich, was will ich mehr?

Die Schweiz ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Früher mussten

wir jedes Jahr eine Aufenthaltsbewilligung einholen. Jetzt haben wir sie

für fünf Jahre. Auch das betrachte ich als Zeichen, dass wir im Moment

hierher gehören.

Wenn mir die Frage gestellt wird, wo es mir besser gefalle, kann ich

sie nicht beantworten. Früher hätte ich sofort gesagt: «in der Slowakei»,

heute bin ich mir nicht mehr

so sicher. Ich weiss, irgend-

wann wird der Moment kom-

men, wo ich mich zwischen

den zwei Staaten und auch

zwischen meiner Familie und

meinen Freunden entschei-

den muss. So lebe ich zwi-

schen zwei Welten.

Trauer und dem Gefühl von vollkom-

mener Leere. Ich bemühte mich, nicht

zu weinen, lächelte stattdessen und tat

so, als wäre alles in bester Ordnung.

Ich versuchte, mich selbst davon zu

überzeugen, wie schnell die Zeit verge-

hen würde, bis ich zurückkehren wür-

de. Schliesslich würde ich ja bereits in

drei Monaten Ferien haben…

In der Schweiz kam ich in die fünfte

Klasse. Schon vom ersten Tag an fühlte

ich mich fremd. Mein Vater begleitete

mich dahin, übergab mich dann mei-

nem Klassenlehrer, und schon war er

weg. Ich sass allein im Schulzimmer,

bis die Schulglocke läutete. Dann kam

die Klasse herein. Sie redeten wild durcheinander, in einer Sprache, die

mir nichts sagte. Niemand setzte sich neben mich. Erst am nächsten Tag

nahm ein Mädchen, das vorher krank gewesen war, diesen Platz ein. Ich

habe an diesem Tag nicht viel mit den anderen gesprochen. Ich wusste

nicht worüber, und wenn mir etwas einfiel, wusste ich nicht, wie ich es

sagen sollte.

So richtig eingelebt habe ich mich in diese Klasse nicht. Ich hatte stets

das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Doch ich muss auch zugeben, dass ich

in dieser Zeit ziemlich verschlossen war. Ich hing noch immer an der

Slowakei, an meinen alten Freunden. Ich wartete darauf, die zwei Jahre

hinter mich zu bringen. Zuhause stapelten sich die Briefe meiner Freun-

«Sie redeten

wild durch-

einander, in

einer Spra-

che, die ich

nicht ver-

stand. Nie-

mand setzte

sich neben

mich.» «Ich bin hier

glucklich,

was will ich

mehr?»

«Die Briefe

waren die

Verbindung

zur alten

Heimat»

Bratislava an der Donau Viktorias Familie und Bekannte in Bratislava

Viktoria Kvetanova, 16, aus Bussnang, liebt Sprachen und Sport. Sie bezeichnet

sich als «aktiv, offen für Neues, manchmal leider ziemlich zickig».

Hobbys: Musik, Freunde, Shopping, Tanzen, Jogging.

zwischen zwei welten

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Page 29: tango 2008-01

Fabian Weinmann Bündner Kantonsschule

Ein lauer Frühlingsmorgen in einem Vorort von Zürich, die

Wiesen und kleinen Vorgärten waren mit Frost bedeckt. Die

Knospen begannen sich langsam durch die aufgehende Sonne

zu öffnen und nach einer Weile bedeckten verschiedene Far-

ben das eintönige Grün.

Herr Sander kuschelte sich tiefer unter die warme Bettde-

cke, die mit einem spiessigen Muster geschmückt war. Ein

schriller Ton erklang. Er quälte seinen schweren Körper Rich-

tung Wecker, hob seinen Arm an und schlug auf den Stören-

fried, dieser kippte auf die Nachttisch-

kante und fiel auf den Laminatboden.

Der Apparat zerbrach in seine kleinsten

Einzelteile.

Herr Sander schwang die Decke zur

Seite, raffte sich auf und sass müde auf

der Bettkante. Er blickte sich um, um zu

sehen, ob seine Frau noch schlief, aber

sie war nicht mehr im Schlafzimmer.

Herr Sander schlenderte ins nahelie-

gende Klo und machte dort seine Routineabläufe. Einige Zeit

später kam er schlaff aus dem Bad heraus, noch immer trug er

einen weissen Badeanzug, auf dem links auf Brusthöhe seine

Initialen eingenäht waren: «PS» für Peter Sander.

Er trat in das Wohnzimmer ein, das durch eine Bambus-

wand von der Küche getrennt war und erblickte seine Frau

mit einer Zeitung in den Händen. Sie hielt die Zeitung genau

auf Augenhöhe. Als er näher trat, wandte sich von der Lektüre

ab, schaute ihn an und sagte: «Hast du gut geschlafen?» Er

antwortete: «Es war ein bisschen kalt diese Nacht, fandest du

nicht auch?» Frau Sander erhob sich und sagte: «Ich konnte

mich ja an dich heranschmiegen.» Er nickte und liess sich in

den braunmelierten Sessel fallen, der sich vor einem grossen

Wintergartenfenster befand, links daneben ein kniehohes

Tischlein mit einer Glasplatte.

Gertrud verschwand schnell hinter

der Trennwand und kam nach ein paar

Minuten mit frisch gebrühtem Kaffee

zurück, inzwischen stand Peter vor dem

Fenster und blickte die Landschaft an.

Er nahm seinen Kaffee entgegen und

bedankte sich mit einem Kopfnicken bei

seiner Gattin. Der Kaffeegeruch stieg in

seine Nasenhöhle,

er blickte hinab

in seine rötliche

Tasse, starrte auf

die hellbraune

Flüssigkeit, die am

Tassenrand schon

eine feine Kruste

bildete, und über-

legte sich, ob die-

ses Getränk überhaupt trinkbar sei. Herr

Sander drehte seinen Kopf Richtung

Gertrud, die gerade einen Artikel fertig

gelesen hatte, er blickte sie verwundert

an und murmelte: «Was ist denn das für

ein Getränk!?» Seine Frau blickte ihn

verständnislos an und sagte: «Mensch,

Peter, das ist Kaffee, das trinkst du jeden

Tag zum Frühstück.»

Herr Sander setzte sich hin und starr-

te aus dem Fenster hinaus.

«‹Mensch, Peter, das ist Kaffee, das trinkst du jeden Tag zum Frühstück›, sagte sie»

Fabian Weinmann, 18, aus Davos, besucht in Chur die FMS. Seine Hob-

bys sind Snow- und Skateboarden, Gitarrespielen und mit Freunden an

Konzerte gehen.

Gertrud verschwand hinter der Trennwand und kam nach ein paar Minuten mit frisch gebrühtem Kaffee zurück, inzwischen stand Peter vor dem Fenster und blickte die Landschaft an. Er nahm seinen Kaffee entgegen und bedankte sich mit einem Kopfnicken bei seiner Gattin.

Das braune Getränk

kurzgeschichte

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Corinne Sutter, 22, hat soeben ihre Ausbildung zur Primarlehrerin been-

det. Sie fertigt gerne Karikaturen an, spielt Geige und Klavier, schreibt,

tanzt, singt und sagt von sich: «I’m a liveaholic».

Schule 2020

das hört ja gut auf

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