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AUSGABE FRüHJAHR 2013 3 FRAGEN NEUE BüCHER IMPULSE: Sünde im System | Mediation in der Gemeinde Was ist unsere Perspektive für die Welt? Praxisbeispiele | Interviews | Leseproben Dietmar Roller im Interview über fairen Handel und blutige Handys von N. T. Wright, Miroslav Volf, Thomas Weißenborn und Johannes Reimer Tat. Ort. Glaube.

Tat.Ort.Glaube

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Praxisbeispiele, Interviews, Leseproben

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A u s g A b e F rü h j A h r 2013

3 F r A g e n

n e u e b ü c h e r

I M P u L s e : Sünde im System | Mediation in der Gemeinde Was ist unsere Perspektive für die Welt?

Praxisbeispiele | Interviews | Leseproben

Dietmar Rollerim Interview über fairen Handel und

blutige Handys

von N. T. Wright, Miroslav Volf,

Thomas Weißenborn und Johannes Reimer

Tat. Ort. Glaube.

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Mit dem Studienprogramm bieten wir in Zusammenarbeit mit der University of South Africa (UNISA) zwei berufsbegleitende und praxisorientierte Studien- und Weiterbildungsmöglichkeiten:

Gesellschaftstransformation (mth)Development stuDies & transformation (m.a.) Unsere Studienprogramme sind:› berufsbegleitend: flexibel 3 bis 5 Jahre › modular: 5 Module im Jahr plus Forschungstage › interdisziplinär: Theologie, Kultur- und Sozialwissenschaften,

Entwicklungszusammenarbeit und Diakoniewissenschaft

› projektorientiert: eigenes Praxisprojekt vor Ort

› international: internationales Dozententeam

mehr informationen: www.mbs-studienprogramm.de

Transformationsstudien

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Transformationsstudien

Editorial

Versöhnung

Wenn Jesus Menschen begegnet, über-rascht er sie immer. Plötzlich eröffnet sich das Geheimnis Gottes, der lebendige Gott wird anschaubar und fassbar. Wer sich auf diese Begegnung einlässt und seine Nach-folge antritt, wird verändert: Sein Herz wird transformiert und lebt nun mit einer neuen Ausrichtung auf das angebrochene Reich Gottes, in dem die Nachfolger mit-arbeiten dürfen. Nun können wir unsere Welt verändern. Die Vollendung behält Gott sich selber vor, aber wir sind hier mit unseren Talenten in die Verantwortung gestellt und handeln, bis er diese Welt vollendet.

In diesem Magazin stellen wir eine ganz Reihe von Beiträgen vor, in denen es um diese vielfältige Mitarbeit in Gottes Reich geht, viele verschiedene Akzente ergeben ein Ganzes, wenn es um den »Tat. Ort. Glaube« geht, wenn es eine »Familie fair-sucht« oder wenn wir mit N. T. Wright neu auf Jesus schauen.

Stöbern Sie und lassen Sie sich inspirieren und transformieren … und lassen Sie uns handeln. Es gibt viel zu tun.

Ihr Klaus Meiß (Geschäftsführer)

InhALt dIeser AusgAbe:

Editorial 3

Dr. Tobias Künkler über Sünde im System 4

Reingelesen: »Tat. Ort. Glaube.« 6

Interview mit Tobias Müller 7

Aus der Praxis: fairlangen.org 8

Rezensionen 10

Unsere Perspektive für die Welt 14

Interview mit Dietmar Roller 16

Informiert: mbs_studienprogramm 18

Aus der Praxis: Alkis, Knackis, Junkies 19

Mediation in der Gemeinde 20

Von der Ausgrezung zur Umarmung 22

mbs-Übersichtsgrafik 23

Impressum 23

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Christliches Engagement muss in die Tiefe gehen – und dort verändern

Worauf will ich hinaus? Dieser Mann steht symbolisch für die Art und Weise, wie Christen typischerweise ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden. Gemein-den und Einzelpersonen, die verstanden haben, dass im Glauben Wort und Tat untrennbar miteinander verwoben sind, helfen sozial benachteiligten Kindern mit Hausaufgabenhilfe, bringen Obdachlo-sen Kaffee, spenden bei einer Hungersnot oder fahren gar mit einem Einsatzteam in ein afrikanisches Land und helfen dort Brunnen und eine Kirche zu bauen.

Das alles sind wertvolle und gute Taten, zu denen wir aufgerufen sind. Und doch: Wenn unser Einsatz für Gerechtigkeit und unsere Übernahme sozialer Verantwor-tung als Christen nur in solchen Aktionen besteht, dann agieren wir letztlich wie der Mann, der immer wieder Menschen aus dem Fluss rettet, sich aber niemals fragt:

Wer um alles in der Welt wirft die ganzen Menschen in den Fluss? Auf unser Enga-gement übertragen fragen wir uns nicht: Wie kommt es, dass so viele Kinder in unserem reichen Land so stark sozial be-nachteiligt sind? Woher kommt das Elend der Obdachlosen in unseren Straßen? Wa-rum kommt es in sogenannten Entwick-lungsländern immer wieder zu Hungers-nöten? Natürlich gibt es nicht nur eine Person oder eine Personengruppe, die die Menschen in den Fluss schmeißt. Verant-wortlich ist vielmehr das, was wir Struktu-ren und Systeme nennen.

Fehler im System

Menschen brauchen Strukturen und Sys-teme, um ihr Zusammenleben als Grup-pen und als Gesellschaft zu organisieren. Beispielsweise braucht jede Gesellschaft ein Wirtschaftssystem, das bestimmt, wie knappe Güter (Nahrung etc.) verteilt und menschliche Bedürfnisse somit gestillt

» Das Böse nistet nicht nur in unseren Herzen.«

Hintergrund

Ein Mann spaziert an einem Fluss. Plötzlich hört er Hilfeschreie. Jemand droht zu er-trinken. Mutig springt er in den Fluss, bekommt den Ertrinkenden zu fassen und zieht ihn an Land. Nur wenige Tage später geschieht an der gleichen Stelle dasselbe: Er sieht jemanden ertrinken, springt hinein und rettet auch diese Person. Zwei Wochen darauf geschieht dieselbe Aktion ein drittes, drei Tage später ein viertes Mal. Auch danach wie-derholt sich der Vorgang noch einige Male.

WAruM MAn sünde nIcht AusschLIessLIch PersönLIch nehMen dArF

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werden. Das Problem jeden Systems ist jedoch: Es kann wie alles in der Welt zum Götzen werden, d.h. es fängt an, sich wie ein Gott zu verhalten. Sind die Systeme zunächst für den Menschen geschaffen, droht jedes System diese Beziehung um-zukehren. So sind wir heute recht eindeu-tig an einem Punkt, wo unser Wirtschafts-system zu einem Götzen geworden ist. Es scheint immer deutlicher, als seien wir Menschen für das Wirtschaftssystem ge-macht und nicht umgekehrt. Hörten Men-schen früher mittels eines Orakels auf die Weisungen der Götter, so scheinen heute viele Politiker mit Furcht und Zittern dar-auf zu horchen, wie »die Märkte« reagie-ren und führen deren alternativlose Wei-sungen aus. Ein anderer Aspekt, wo man diese Umkehrung sieht, ist dass in unserer Welt nahezu alles in die Verwertungslogik der Märkte gerät: Fast alles kann mit Geld erworben werden und der Mensch selbst ist in dieser Logik vor allem Humankapi-tal, »unser wichtigster Rohstoff«.

Man könnte also sagen: Oft sind nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Systeme »gefallen«. Anders gesagt gibt es nicht nur personale, sondern auch strukturelle und systemische Sünde. Das Böse nistet nicht nur in unseren Herzen, sondern auch in den Strukturen. Sünde hat sich gewisser-maßen institutionalisiert. Im Anfangsbild gesprochen stünde strukturelle Sünde für den »Mechanismus«, der die Menschen in den Fluss schmeißt. Persönliche und strukturelle Sünden sind oft zwei Seiten einer Medaille, d.h. sie greifen gut ver-zahnt ineinander: Auf der einen (persön-lichen) Seite gibt es Egoismus, Gier und Sorge, auf der anderen (strukturellen) Sei-te gibt es Strukturen, die Egoismus, Gier und Sorgen systematisch (aus)nutzen,

fördern und anderes Handeln (z.B. selbst-loses) bestrafen.

Strukturen identifizieren und verändern

Wie sollten wir als Christen darauf reagie-ren? Erstens gilt es, das prophetische Amt der Kirche wiederzuentdecken. Dieses besteht darin, ungerechte Strukturen und unterdrückende Systeme zu identifizieren und anzuklagen. Und dies in Art und Wei-se der alttestamentlichen Propheten, also in einer Mischung aus Gesellschaftskritik und Poesie, mit Leidenschaft, analytischer Klugheit, Fantasie und Kreativität. Wir ha-ben den Sieg Christi über alles Böse, über alle Mächte, Gewalten und Systeme zu ver-künden. Christus ist Herr nicht nur über Herzen, sondern über die ganze Welt samt ihrer Strukturen und Systeme. Zweitens sind wir aber auch dazu aufgerufen, an der Transformation dieser Strukturen und Systeme mitzuarbeiten. Wir sind dazu be-rufen, Gottes in Jesus Christus bereits be-gonnenes Reich nicht nur zu verkünden, sondern auch zu verkörpern. Hier heißt es, Verantwortung zu übernehmen in der Gestaltung dieser Ordnungen, z. B. indem man an der Gestaltung einer gerechteren Wirtschaftsordnung oder eines gerechte-ren Bildungssystems mitarbeitet. Dies ist eine aktive Mitarbeit an Versöhnung. n

Dr. Tobias Künkler, studi-enleiter gesellschaftstrans-formation und b. A. social Work sowie dozent für Pädagogik und soziologie am mbs_bibelseminar.

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»Erfolgreich eröffnet« – das kann dankbar nach fünf Jahren über dem Studienpro-gramm Gesellschaftstransformation am Marburger Bildungs- und Studienzent-rum stehen. Gesellschaftstransformation als prozesshaftes Geschehen, das Missi-on und sozialen Wandel gemeinsam in-tegriert, ist vielerorts gefragt. Manchmal kommt es mir so vor, als suchten vor allem jüngere Menschen diesen Ansatz mit der gleichen Sehnsucht, mit der sich verdurs-tende Wüstenwanderer nach einer Oase sehnen. Dennoch ist Nachfrage allein nicht alles und so zeigen die sehr ehrli-chen und teils auch immens selbstkriti-schen, bunt gefächerten Praxisbeispiele, dass es gelingen kann, neue, authentische und attraktive »Ausdrucksformen des Glaubens« zu finden.

Wer sich von Tobias Faix, Volker Brecht und Tobias Müller in den theoretischen Grundsatzartikeln im ersten Buchdrittel entlang der Theologie als Handlungswis-senschaft und einer Einleitung ins Pro-jektmanagement auf den »Weg zu einer Theologie der Tat« führen lässt, ist dann auch gut präpariert, um zu verstehen, mit wie viel Herz und Hirn, mit wie viel Glau-be und Reflexion, mit wie viel Geist und

Mut hier Wege gegangen werden. Diese Wege mögen uns neu und revolutionär erscheinen, schöpfen dabei aber doch nur aus dem reichen, leider oftmals vergesse-nen Schatz der christlichen Kirche, nicht zuletzt auch des Pietismus und der Erwe-ckungsbewegungen.

Ich habe die einzelnen Beiträge die-ses Buchs mit großem Gewinn gelesen. Die darin zutage tretenden Unterschiede in den Ansätzen nehme ich nicht als Un-schärfe, sondern als Bereicherung wahr. Menschen sind verschieden und wenn das Licht des Glaubens sich durch sie bricht, dann entsteht nun eben mal ein ganzes Prisma an Farben. Ach, was wären einfar-bige Regenbögen so langweilig!

In diesem Sinne wünsche ich dem vorlie-genden Band eine weite Verbreitung und aufmerksame Leserinnen und Leser, die sich inspirieren lassen, sodass es immer mehr Beispiele dafür gibt, wie Glaube und Leben verheißungsvoll zueinander fin-den.

Dr. Michael DienerPräses des Evangelischen Gnadauer Gemein-schaftsverbandes und Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz

Reingelesen

Und wie sieht das in der

Praxis aus?

eIn Auszug Aus deM VorWort

Von »tAt. ort. gLAube«, deM

PrAxIsbuch MIt 21 InsPIrIeren-

den beIsPIeLen zWIschen

geMeInde und geseLLschAFt

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Drei Fragen an Tobias Müller, Praxisdozent und Studienleiter an der mbs_akademie so-wie Mitherausgeber von »Tat. Ort. Glaube.«

»Tat. Ort. Glaube.« ist »der Praxisband« – welche Theorie steckt dahinter?

Das Buch gehört in die Reihe Transformati-onsstudien. Die beschäftigt sich mit der Fra-ge, wie Christen und Gemeinden relevant sein können, wo sich die Welt doch ständig ändert und Christen in der Öffentlichkeit zunehmend an Bedeutung verlieren. Dies wird in den ersten vier Bänden aus theologischer, diakonischer und sozialwissenschaftlicher Sicht diskutiert. Band 1 entwickelt eine Theorie des gesell-schaftsrelevanten Gemeindebaus. Die Bände 2 und 3 beleuchten die theologische Bedeutung des Themas »Transformation« und dessen Verhältnis zu anderen wissenschaftlichen Dis-ziplinen. In Band 4 steht der Bereich der Kon-textanalyse im Mittelpunkt und zeigt, wie auf dieser Basis eine Vision und ein konkreter Plan für die eigene Gemeinde entsteht. Im Praxis-band fließt all das zusammen und wird in ver-schiedenen Projekten zum Ausdruck gebracht. Die meisten von ihnen wurden im Rahmen des Studienprogramms Gesellschaftstransformati-on entwickelt.

Wofür stehen die drei Begriffe Tat, Ort und Glaube?

Als Herausgeberteam finden wir, dass diese drei Wörter untrennbar zusammengehören. Jakobus schreibt: »Glaube ohne Werke ist tot.« Der Glaube hat also eine Außenwirkung – auf

meinen Nächsten und meine Umgebung. Da-mit ist der dritte Begriff »Ort« im Spiel. Der Glaube, der sich in konkreten Taten zeigt, ist im jeweiligen Lebensumfeld verankert. Wie Jesus in einer konkreten Zeit an einem ganz konkreten Ort lebte, die Nöte der jeweiligen Menschen wahrnahm und dies Auswirkungen auf sein Handeln hatte, so sind auch wir her-ausgefordert, unseren Mitmenschen zu begeg-nen, sie zu verstehen, Leben zu teilen und ge-sellschaftsrelevant zu sein. So gesehen ist der Glaube ein »Tatort«.

Es geht um neue Ausdrucksformen des christlichen Glaubens – was gehört z. B. dazu?

Wenn die aus dem Glauben hervorgehenden Taten vom jeweiligen Umfeld abhängig sind, dann führt dies unwillkürlich zu einer großen Vielfalt an Ausdrucksformen. Daher steht im Praxisband die »Talentfabrik« für 10 – 13jährige Kinder, die eine Form von Schulsozialarbeit des Kraftwerks Dresden ist, neben der interkultu-rellen Jugendarbeit einer Freien Evangelischen Gemeinde in einer bergischen Kleinstadt und den von einer Kirchengemeinde regelmäßig veranstalteten Spiele- und Begegnungsnach-mittagen für Kinder auf dem Parkplatz eines Supermarktes in einer ostdeutschen Platten-bausiedlung. Der Bogen wird weiter gespannt vom Evangelischen Familienzentrum »Face« in Berlin über verschiedene und sehr unterschied-liche Gemeindegründungsinitiativen zu einem Projekt ganzheitlicher pferdegestützter Päda-gogik für Behinderte.

Die Fragen stellte Ilona Mahel.

» Glaube ist ein Tatort!«

Tobias Müller, Tobias Faix, Stefan Bösner, Volker Brecht (Hg.)

Tat. Ort. Glaube.

Isbn 978-3-86827-385-4 · € 17,95

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aus der praxis

fairlangen.org ist eine Initiative von ELIA, einer jungen, eigenständigen Gemeinde in der Evangelischen Kirche. Die Initiative gibt Menschen im Raum Erlangen Ideen, Tipps und Informationen, wie man nach-haltiger und fairer leben kann.

Auf der Website fairlangen.org werden in den Bereichen »sparen«, »einkaufen«, »le-ben«, »mobil sein«, »aktiv werden« und »in-formieren« konkrete Vorschläge gegeben, wie jeder Erlanger seinen Alltag nachhaltiger und gerechter gestalten kann. So gibt es z.B. Informationen über Ökostrom, einen um-fangreichen Einkaufsführer (fair, bio und regional) und Informationen, wie man sich in Erlangen politisch oder sozial engagieren kann. Darüber hinaus findet man im fairlan-gen.org-Blog und bei Twitter und Facebook regelmäßig aktuelle Informationen. Dabei ist es uns wichtig, deutlich zu machen, dass es nicht darum geht, das ganze Leben auf einmal radikal zu verändern, sondern mit kleinen Schritten zu beginnen.

Das ist unsere Absicht

»Erlangen wird fairer« ist die Kurzfassung der Vision von fairlangen.org. Erlanger Bürger, Unternehmen und Stadtverwal-tung sollen motiviert werden, gerechter und nachhaltiger zu leben. Alle notwendigen In-

formationen und Veranstaltungen sollen sie dazu über die Website bekommen. Unsere Motivation ist der Auftrag Gottes zum Ein-satz für Gerechtigkeit im Sinne einer »globa-len Nächstenliebe« und zur Bewahrung der Schöpfung.

Unserer Ziele sind der Einsatz für soziale Ge-rechtigkeit in der Welt, vor allem für benach-teiligte Menschen in armen Ländern (aber auch in Deutschland) und das Engagement für einen nachhaltigen Umgang mit der Umwelt. Dazu wollen wir uns und alle Leute im Großraum Erlangen motivieren, bei den genannten Zielen mitzumachen. So werden Menschen in Erlangen eingeladen, sich für Gottes Vision einer gerechten und heilen Welt einzusetzen. Dementsprechend sollen durch Website, Veranstaltungen und Koope-rationen Veränderungen in Erlangen bewirkt werden, die sich global auswirken.

Das empfehlen wir weiter

In der Arbeit mit der Initiative fairlangen.org haben wir einiges gelernt, das auch für Pro-jekte in anderen Städten relevant sein kann:

Chancen nutzen: • Wir haben zu einem Zeitpunkt, als es nichts Vergleichbares für Erlangen gab, mit einer Website Informationen über ein faires und

fairlangen.org – fair leben in Erlangen

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(Auszug Aus »tAt. ort. gLAube.«, LeIcht gekürzte FAssung)

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nachhaltiges Leben in Erlangen gesammelt und veröffentlicht. • Wir haben die bei uns vorhandenen Gaben und Interessen genutzt und nicht ein Projekt entwickelt, für das uns wichtige Fähigkeiten fehlten.• Als neuer Akteur in der Stadt bekamen wir positive Reaktionen, vor allem wenn erkannt wurde, dass es uns nicht um eigenen Erfolg geht, sondern darum, schon Vorhandenes zu verbinden und zu fördern.• Außerdem ist Nachhaltigkeit zurzeit ein Thema, das viele Menschen bewegt. Dies haben wir aufgegriffen und ein Angebot für diese Menschen geschaffen.

Klarer Fokus:• Mit der Website haben wir einen klaren Fo-kus auf einen Themenbereich in einer Stadt. Ein ähnliches Projekt ohne lokale oder the-matische Begrenzung wäre für uns zu groß gewesen.

Aktuelle Medien nutzen:• fairlangen.org nutzt die Möglichkeiten des Internets: Eine Website ist für das Anliegen, umfassend und aktuell über Handlungs-möglichkeiten in einer Stadt zu informieren, optimal. Eine gedruckte Broschüre wäre viel aufwändiger und teurer und kann nur sehr selten aktualisiert werden.• Vor allem von lokalen gemeinwohlorien-

tierten Organisationen und Gruppen wer-den die Möglichkeiten des Internets kaum genutzt. Wer eine Website gestalten kann, hat daher die Chance, die Aktionen für das Gemeinwohl mit geringem Aufwand zu un-terstützen. Denkbar sind hier neben Plattfor-men wie fairlangen.org z.B. auch Stadtteil-führer als Website.

Überschaubarer Aufwand:• Die Aufwand für die Aktivitäten von fair-langen.org ist überschaubar. Im Gegensatz zu vielen anderen sozialen Projekten müssen weder täglich mehrere Mitarbeiter einige Stunden Zeit investieren, noch gibt es große Ausgaben.

Vernetzung:• Zu dem Erfolg von fairlangen.org haben auch die zahlreichen und intensiven Koope-rationen beigetragen. Gemeinsam mit ande-ren Personen und Gruppen, die für ähnliche Ziele eintreten, und auch in Zusammenarbeit mit der kommunalen Politik und Verwaltung kann eine relativ kleine Initiative einer Ge-meinde vieles erreichen, was alleine nur sehr schwer möglich wäre.

Daniel Hufeisen arbeitet bei eLIA, der gemeinde, die hinter fairlangen.org steht.

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Wie können Menschen in unserer Gesell-schaft für die Botschaft des Evangeliums gewonnen werden? Johannes Reimer ist davon überzeugt, dass die Neuevangelisie-rung Europas gelingen kann, wenn sich die christliche Gemeinde »reformissionieren« lässt. Er lehnt ein verkürztes Verständnis von Evangelisation ab, das sein Ziel erreicht sieht, wenn Menschen im Glauben auf die Verkündigung geantwortet haben. Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass der Autor sowohl seine jahrelange kulturübergrei-fende Evangelisationstätigkeit als auch Ge-meindeaufbauarbeit und -beratung reflek-tiert und darüber hinaus sein tiefes Wissen über die diskutierte Fachliteratur darlegt.

»Leben, Rufen, Verändern.« ist nicht eine weitere »Theologie der Evangelisation«, sondern eine Handlungstheorie: Evangeli-sation, so ist Reimer überzeugt, kann nur als gesellschaftstransformierende Evangelisati-on verstanden werden. Bedeutend ist, dass Veränderungsprozesse nicht bloß linear festgeschrieben, quasi theoretisch-gewollt, dargestellt werden. Reimer beleuchtet die unterschiedlichen situativen, kontext- und persönlichkeitsbezogenen Faktoren, die eine wichtige Rolle spielen. So kann es nicht um ein »Entweder-Oder« von sozialem En-gagement, Dialog, Proklamation und prä-sentischer Evangelisation durch Vorleben gehen. Reimer entwickelt das in »Die Welt umarmen« dargelegte zyklische Denken und Handeln dieser Dimensionen von Evan-gelisation weiter zu einer Handlungstheo-rie. So werden die Ansätze der Mediation,

der gemeindeorientierten Diakonie, der Gemeinwesenarbeit, einer Willkommens-kultur, die in vielen Gemeinden nicht neu sind, im Kontext der Evangelisation zusam-mengeführt.

»Leben. Rufen. Verändern.« erfindet Evan-gelisation nicht neu, sondern zeigt, wie an bestehende Angebote in Gemeinden wie Gottesdienste, Netzwerke, Hauskreise, etc. angedockt werden kann. Einfühlsam und motivierend zeigt Reimer, wie ein traditio-nelles Verständnis von Evangelisation, das einen evangelistischen Aufbruch in einer Gemeinde blockiert, überwunden werden kann. Der Titel ist daher Programm: Nicht »Rufen. Verändern. Leben.«, sondern »Le-ben. Rufen. Verändern.« n

Gabriel Stängle

rezensionen

Praxisnah, einfühlsam und motivierend»Leben. ruFen. Verändern.« Von johAnnes reIMer

Johannes Reimer

Leben. Rufen. Verändern.

Isbn 978-3-86827-356-4 · 288 seiten € d 15,95

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Herr, bin ich’s? Diese Frage aus der Ge-schichte um die Einsetzung des Abendmahls zieht sich als roter Faden durch »anders le-ben – Eine Familie fairsucht’s« von Thomas Weißenborn. Zum Nachdenken angeregt durch steigende Energiepreise und Lebens-mittelskandale sowie den Umgang unserer westlichen Gesellschaften damit, beginnt eine sechsköpfige Familie ihren Lebensstil zu hinterfragen. Die Sorge darüber, was wir eigentlich alles fraglos hinnehmen bei un-serer Ernährung weitet sich für die Familie des Autors hin zu der Frage, was für prak-tische Auswirkungen es hat, im Alltag als Christ zu leben – in Verantwortung vor Gott, dem Nächsten, der Umwelt und sich selbst. Welchen Anteil hat ein ganz normaler Christ möglicherweise an den Missständen auf dem Planeten, den Gott uns anvertraut hat?

Nach »Christsein in der Konsumgesell-schaft« von Thomas Weißenborn liegt hier nun ein Buch mit den ganz persönlichen Erfahrungen der gesamten Familie vor. Der Leser wird mit hineingenommen in die Ge-danken und Erlebnisse, die Weißenborns dazu gebracht haben, verschiedene Bereiche ihres (Familien-)Lebens umzugestalten.

Oft fängt Veränderung mit Vorbildern an. Deshalb haben Weißenborns sich umge-schaut und nach Menschen gesucht, denen »anders leben« in ihrem Umfeld gelingt. Das führte bis zu den Amisch in den USA. Ein realistischer Vorbildgeber zu sein ge-lingt auch dem Buch sehr gut. Es wird nir-gends drohend der Zeigefinger gehoben

oder auf andere gezeigt, die viel verschwen-derischer leben. Stattdessen stellt Thomas Weißenborn ehrliche, teils ungemütliche Fragen, ausgehend von Fakten zu materiel-len Ressourcen, Arbeitsbedingungen und Umweltfolgen. Natürlich gibt es auch Vor-schläge, was jeder dazu konkret beitragen kann, diese Welt für alle Menschen lebens-werter zu machen, allerdings eher zwischen den Zeilen – es wird nichts aufgedrängt. Wer also eine Anleitung zum Fair-Leben in 3 – 5 Punkten sucht, wird mit diesem Buch nicht glücklich, denn es ist ein Buch der kleinen Schritte. Eine unterhaltsame Lektüre und eine anregende Herausforderung, über den eigenen Lebensstil nachzudenken. n

Rabea und Philipp Welker

Ein Familie fairsucht’s»Anders Leben« Von thoMAs WeIssenborn

Thomas Weißenborn

anders leben – Eine Familie fairsucht’s

Isbn 978-3-86827-371-7 · 144 seiten € d 9,95

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N. T. Wright ist wieder einmal das gelungen, wofür er bekannt ist: Neue wissenschaftli-che Erkenntnisse, tiefgreifende Einblicke in die Welt des ersten Jahrhunderts, biblische Linien und die sich daraus ergebenden He-rausforderungen für die Menschen heute in einem packenden Buch zusammenzubin-den. In leicht verständlicher Weise nimmt der Autor seine Leser mit auf eine faszi-nierende Reise in die Vorstellungswelt des ersten Jahrhunderts. Er erläutert Messiaser-wartungen, Heilsvorstellungen, nationale Sehnsüchte, politische Konfrontationen, Hoffnungen und Enttäuschungen bei den einfachen Menschen. Ausgehend vom Bild des perfekten Sturms, in dem sich mehre-re kleine Stürme zu einem großen Orkan zusammentun, beschreibt er die Welt des ersten Jahrhunderts als eine zutiefst zerris-sene, in der die sich auf das Alte Testament berufenden Hoffnungen Israels auf die im-perialen Machtansprüche Roms treffen und sich dabei der Plan Gottes entfaltet, der von den Propheten schon vorausgesagt, von Je-sus durchlebt und vom Neuen Testament gedeutet wird.

Der Bogen ist dabei weit gespannt: N. T. Wright bleibt nicht im ersten Jahrhundert, sondern erläutert anhand dieser Zeit auch, vor welchen Herausforderungen Kirche und Gemeinden auf diesem Hintergrund heute stehen. Denn derselbe Jesus, der aus dem damaligen Sturm als Herr der Welt hervor-ging, ist es auch heute noch. Wie das in die Gegenwart übersetzt werden kann, zeigt Wright anhand von vier verschiedenen Posi-tionen: Andy glaubt, dass Gott sich ganz von

der Welt zurückgezogen hat. Billy sieht ihn nur im Himmel an der Macht, von wo aus er jeden Augenblick wiederkommen kann. Chris findet Jesus überall in den »Kräften des Guten«, löst damit aber das spezifisch Christliche auf. Davie ist fest davon über-zeugt, dass die Gemeinde nur als »Gegen-kultur« zur Welt erfolgreich sein kann. Alle müssen also ein neues Bild davon bekom-men, wie Jesus jetzt schon durch die das Kreuz tragende Gemeinde seine gegenwär-tige Herrschaft ausübt, die auf die zukünf-tige hinweist.

»Jesus« ist ein Buch, das für alle inter-essant ist, die nicht nur einen Einblick in die Zeit des Neuen Testaments bekommen wollen, sondern auch über die Frage nach-denken, was es in den Stürmen unserer Zeit bedeuten kann, sich zu Jesus als dem Herrn zu bekennen. n

Dr. Thomas Weißenborn

rezensionen

Wer war Jesus wirklich?»jesus« Von n. t. WrIght

N. T. Wright

Jesus – Wer er war, was er wollte und warum er für uns wichtig ist

Isbn 978-3-86827-384-7 · 336 seiten € d 17,95

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Mit »Jesus und der Sieg Gottes« ist das viel-leicht wichtigste Werk von N. T. Wright nun endlich auf Deutsch erschienen. Warum es mit der Übersetzung etwas gedauert hat, wird sofort klar, wenn man das gewichti-ge Werk in der Hand hält. Aber sich vom stattlichen Umfang abschrecken zu lassen, wäre ein bedauerliches Versäumnis. Denn Wrights Untersuchung der Jesusworte und -geschichten aus den ersten drei Evangeli-en ist im Unterschied zu vielen mehr oder weniger aktuellen Aufgüssen ein mutiger, in sich stimmiger und im Blick auf die Texte ungemein erhellender Neuansatz.

Der Neutestamentler aus St. Andrews greift zurück auf Albert Schweitzer, der vor über 100 Jahren erkannte, dass man entwe-der den Ansatz konsequenter Kritik gehen kann (und dann in der Sackgasse radikaler Skepsis landet), oder in Rechnung stellen muss, dass Jesus als Jude im ersten Jahrhun-dert ein ganz anderes Bild von Gottes Ein-greifen in die Weltgeschichte hatte als wir heute.

Wright gibt Schweitzers These eine über-raschende Wendung: Während jener noch geglaubt hatte, Jesus habe den Anbruch des Weltendes erwartet, ordnet Wright die Ver-kündigung vom Reich Gottes in den Hori-zont der jüdischen Prophetie ein: Nicht das Ende der Geschichte Israels und der Welt, sondern ihr Höhepunkt und die entschei-dende Wende nehmen ihren Lauf, und Jesus ist die Schlüsselfigur in diesem göttlichen Drama.

Aus dieser Perspektive liest Wright vie-le Jesusworte, die andere auf Wiederkunft

und Weltende gedeutet hatten, als stimmige Deutungen dessen, was sich durch Jesu Wir-ken und vor den Augen seiner Nachfolger und Gegner ereignet. Aus dem weltfremden Gottmenschen, der primär mit der Frage be-fasst zu sein scheint, wie man nach dem Tod »in den Himmel« kommt, wird ein politi-scher Messias, der damit rechnet, dass Gott durch sein Wirken und seinen Märtyrertod mitten in der »alten« Welt der verheißenen neuen Schöpfung die Tür öffnet.

Die 866 (auch für theologisch interessierte Laien gut verständlichen) Seiten sind eine äußerst anregende Entdeckungsreise, und die knapp 40 Euro kann man kaum besser investieren! n

Dr. Peter Aschoff

Eine anregende Entdeckungsreise»jesus und der sIeg gottes« Von n. t. WrIght

N. T. Wright

Jesus und der Sieg Gottes

Isbn 978-3-86827-383-0 · 866 seiten € d 39,95

Page 14: Tat.Ort.Glaube

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aktuell

Entwicklung Versöhnung TransformationWAs Ist unsere PersPektIVe Für dIe WeLt?

Unbegrenzte Entwicklung?

Der Begriff »Entwicklungshilfe« entstand in den 1950er- und 60er-Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Ko-lonialismus. Ohne die vielfältigen Unter-schiede zu berücksichtigen, wurde die Welt damals in entwickelte und unter-entwickelte Länder eingeteilt. Man ging davon aus, dass es einen universalen Entwicklungspfad gäbe, auf dem die In-dustrieländer Vorsprung haben und den die Entwicklungsländer aufholen müss-ten.

Der Begriff »Entwicklung« kommt zu-nächst aus der Biologie und bezeichnete die Veränderungen von Lebewesen vom Embryostadium bis zur Reife. Seit dem 18.

Jahrhundert wurde damit aber der Gedan-ke einer ständigen Vervollkommnung und unbegrenzten Weiterentwicklung verbun-den. Dieses Konzept wurde ein Teil unse-res Weltbildes, das so selbstverständlich ist, dass es kaum hinterfragt werden kann.

Dieses Weltbild wurde in Europa und Nordamerika durch die industrielle Revo-lution gefördert. Die Produktion von Gü-tern und Dienstleistungen wurde enorm gesteigert, was zu scheinbar ständig stei-gendem Wohlstand führte. Es entstand ein Wirtschaftssystem, das darauf beruht, dass immer neue Bedürfnisse geschaf-fen werden, damit der Anreiz zum Wirt-schaftswachstum bestehen bleibt. Was lag näher, als dieses System auf die gan-ze Welt übertragen zu wollen? Erst in den

Was ist die langfristige Perspektive für die Welt und was hat diese mit dem Auftrag der Christen zu tun? Diese Fragen beschäftigen die Studierenden des neuen Studienpro-gramms »Development Studies & Transformation« am mbs. Neben dem Erwerb von Kenntnissen und Methoden für die Mitarbeit in Entwicklungsprojekten und Missions-werken geht es ihnen darum, das Verständnis von Entwicklung aus biblisch-theologi-scher Sicht zu reflektieren. In diesem Zusammenhang steht die Frage, was die Begriffe »Entwicklung«, »Transformation« und »Versöhnung« miteinander zu tun haben und worin sie sich unterscheiden.

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1970er-Jahren begann man, über die Gren-zen des Wachstums nachzudenken und inzwischen ist man sich einig, dass die in-dustrielle Revolution gefährliche Auswir-kungen auf das weltweite Klima hat. Heu-te steht nachhaltige Entwicklung ganz oben auf der politischen Agenda, aber ob sich Wirtschaftswachstum und Nachhal-tigkeit vereinbaren lassen, bleibt eine of-fene Frage.

Wiederherstellung von Beziehungen

Das biblische Weltbild geht nicht von un-begrenzter Entwicklung aus, sondern von der Wiederherstellung eines ursprünglich guten Zustandes. Der Mensch steht nach 1. Mo 1+2 in einem Geflecht von Bezie-hungen – zu Gott, zu den Mitmenschen, zur Schöpfung und zu sich selbst. Durch die Sünde sind alle diese Beziehungen ge-stört. Die gesamte Schöpfung ist dadurch beeinträchtigt. Sünde drückt sich im Ver-halten einzelner Menschen aus, aber auch durch Strukturen und Systeme, die Men-schen unterdrücken und Gottes Schöp-fung zerstören.

Gottes »Entwicklungsprogramm« ist Ver-söhnung – die Wiederherstellung der ge-störten Beziehungen. Christus wurde Mensch, um die Trennung zwischen Gott und den Menschen zu überwinden und ei-nen Neuanfang zu ermöglichen. Der Hei-lige Geist schenkt Erneuerung, die sich in veränderten Einstellungen und Verhal-tensweisen ausdrückt. So können einzel-ne Menschen, christliche Gemeinden und Gruppen Anstöße zur Veränderung geben und zur Versöhnung beitragen: indem Diskriminierung und Konflikte überwun-den werden, Menschen ein neues Selbst-bild entwickeln können und sorgsam mit

der Schöpfung umgehen. Sie werden da-mit nicht das Paradies schaffen, aber auf Gottes Herrschaft hinweisen, die Hass, Zerstörung und Leiden überwinden wird.

Transformation – auch bei uns

Weil der Begriff »Entwicklung« mit der Vorstellung von unbegrenztem Wachstum belastet ist, verwenden viele Christen lie-ber den Ausdruck »Transformation«. Es geht dabei nicht um das Aufholen eines technischen und wirtschaftlichen Ent-wicklungsvorsprungs, sondern um Verän-derungen hin zu Gottes guten Ordnungen in versöhnten Beziehungen. Anders als »Entwicklungshilfe« und »Strukturanpas-sungsprogramme« betrifft dies nicht nur Entwicklungsländer, sondern auch uns in den Industrieländern. Der Klimawandel macht deutlich, dass unser Wohlstand auf Kosten der künftigen Generationen ge-schaffen wurde und vor allem Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika die ne-gativen Folgen tragen müssen.

Jesus fordert uns heraus, uns verändern zu lassen (Röm 12,2), damit wir als Licht und Salz unsere Umgebung verändern. Es geht dabei um Versöhnung und Wiederherstel-lung – Veränderung der Herzen und der Verhältnisse – als Vorgeschmack auf die neue Welt, die Jesus Christus aufrichten wird. n

Dr. Thomas Kröck unterrich-tet »Interkulturelle Arbeit« am mbs_bibelseminar und leitet das studienprogramm »development studies and transformation«.

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Page 16: Tat.Ort.Glaube

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aktuell

eIn InterVIeW MIt dIetMAr roLLer

Dietmar, Du hast für die Micha-Initiati-ve einen Kurzfilm mit dem Titel »Bluti-ge Handys« gedreht, in dem es um den Coltan-Abbau im Kongo, aber auch um Vergewaltigungen geht. Manche stört der Ausdruck »blutiges Handy«, ande-re fragen, was unsere Handys mit einer Vergewaltigung im Kongo zu tun haben. Worin besteht der Zusammenhang?

Der Film bringt strukturierte Gewalt und unseren Lebensstil in Verbindung – und da besteht auf den ersten Blick natürlich kein Zusammenhang. Aber eben nur auf den ersten Blick. Während auf der einen Seite Gewinn gemacht wird und Luxus ge-lebt werden kann, zahlen auf der anderen Seite Menschen den Preis dafür. Und die Sache mit den Blutmineralien – Coltan,

Gold, Diamanten – ist ein ganz besonders dunkles Kapitel. Nach wie vor werden vie-le Länder des Südens ausgebeutet – die Mineralien werden regelrecht gestohlen, denn die Regierung, aber vor allem auch die Bevölkerung, bekommt keinen ange-messenen Preis dafür.

Beispiel Ostkongo: Im dortigen Konflikt benutzen die Rebellen verschiedene Me-thoden, um leicht und billig an die Mi-neralien zu kommen. Zum Beispiel die Methode der systematischen Vergewalti-gung. Die Vergewaltigungen sind dazu da, die Sozialstruktur des Dorfes zu zerstören und die Gemeinschaft innerhalb der Fa-milie und des Dorfes aufzulösen. Durch eine Vergewaltigung wird das soziale Ge-füge der Familien zerstört, die Frauen er-

Dietmar Roller war lange im Vorstand des Hilfswerks Kindernothilfe tätig und arbei-tet jetzt selbstständig in der Entwicklungszusammenarbeit. Im Interview äußert er sich über die Zusammenhänge zwischen unserem Lebensstil und dem Elend von Menschen etwa im Kongo.

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leben das Brutalste, das ihnen zustoßen kann, die Männer können damit nicht umgehen. Die Frage der Würde spielt hier eine Rolle und so zerbrechen die Famili-en. Das nutzen die Rebellen aus, weil sie die Menschen so dazu bringen können, fast willenlos in den Minen zu arbeiten. Die Rebellen selbst haben mir das bestä-tigt. Und damit müssen wir leben, dass in unseren Handys Produkte sind, die aus dieser Region kommen, und wir damit – ob wir wollen oder nicht – Teil dieser Kette sind.

Vergewaltigungen werden also bewusst eingesetzt, um Strukturen in den Dör-fern zu zerstören, damit hinterher die Männer in den Minen arbeiten müssen, um überhaupt zu überleben, weil die Strukturen des Lebens und des Arbei-tens in den Dörfern zerstört sind.

Genau. Es gibt in Afrika ja gesunde Fa-milien-Clan-Strukturen, die einen wichti-gen Zusammenhalt bieten – manifestiert sogar in dem Sprichwort »Ich bin, weil wir sind«. Man definiert sich über die Gemeinschaft. Auch in der traditionellen Religion spielt das eine ganz herausra-gende Rolle, man ist immer Teil der Ge-meinschaft. Und Teil der Gemeinschaft ist gleichbedeutend mit Sicherheit, Identität, Würde. Wer in so einer aktiven Gemein-schaft leben kann, fühlt sich zu Hause. Wenn in so einem Kulturkreis nun die Ge-meinschaft zerstört wird, zerfallen Sozial-strukturen. Der Widerstand gegen Gewalt verschwindet. Und wenn der Widerstand gegen Gewalt weg ist, fällt es den Rebellen sehr viel leichter, Einfluss zu bekommen und Menschen für ihre Zwecke zu benut-zen. Und da ist eben eines der Mittel die systematische Vergewaltigung.

Bei so starkem Tobak kommt die Frage auf, was wir tun können. Sind wir nicht völlig machtlos?

Ja und nein. Was mein Handy an sich be-trifft, kann ich erst mal nichts tun. Ich brauche es ja auch. Aber ich kann aktiv werden. Ich kann zum Beispiel nachfra-gen: »Woher kommt das Coltan in die-sem Handy?« Es gibt ja auch fair gehan-delten Kaffee oder fair gehandeltes Gold. Das heißt, man kann nachfragen: Woher kommt was? Und wie wurde es gehan-delt? Das wird erst mal noch keinen Un-terschied machen, aber wenn viele Leute das machen, wird das genau wie bei fair gehandeltem Kaffee eine Bewegung aus-lösen. Außerdem ist es wichtig, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen. Wenn keiner etwas sagt, wenn keiner aktiv wird, wird sich auch nichts ändern. Von daher ist die Micha-Kampagne der Bruch eines Tabus und des Schweigens, um das Thema ins Gespräch zu bringen und hoffentlich eine Veränderung anzustoßen. Wenn da jeder mitmacht, ist schon viel gewonnen.

Vielen Dank, dass Du solche Anstöße gibst! n

Die Fragen stellte Tobias Faix.

Dietmar Roller, M.A. Interkul-turelle studien und human ressource Leadership, consul-tant, vorher Auslandsvorstand der kindernothilfe, 11 jahre erfahrung mit AIds-Prävention in tansania.

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Studienprogramm »Gesellschaftstrans-formation«

In diesem interdisziplinären Studien-programm werden theologische, sozi-alwissenschaftliche und missionarisch-diakonische Elemente integriert. Das Programm endet mit einem Diplom (GBFE), das von der staatlichen Universi-tät von Südafrika (UNISA) und der Gesell-schaft für Bildung und Forschung in Euro-pa (GBFE) anerkannt ist. Aufbauend kann der Abschluss Master of Theology (in den Disziplinen Praktische Theologie, Missi-onswissenschaft oder Spiritualität) über die UNISA gemacht werden. Dieser ist ein international anerkannter akademischer Grad, der in Deutschland sowie weltweit geführt werden darf. Beide Abschlüsse qualifizieren für gesellschaftsrelevante Gemeindearbeit und gemeinwesendiako-nische Projektarbeit.

Studienprogramm »Development Studies & Transformation«

»Development Studies & Transformation« ist eine internationale und interdisziplinä-re Studien- und Weiterbildungsmöglich-keit, die für leitende Aufgaben in Entwick-

lungsprojekten sowie in Missions- und Hilfsorganisationen vorbereitet und qua-lifiziert.

Das Studienprogramm vereint Inhal-te aus Entwicklungszusammenarbeit, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie Theologie. Darüber hinaus vertiefen Stu-dierende ihre Erkenntnisse in einem ei-genen Praxisprojekt, das sich über die ge-samte Studienzeit erstreckt. Theorie und Praxis werden so auf besonders intensive Weise miteinander verknüpft.

Die Studierenden werden im Stu-dienprogramm für das Berufsfeld der Entwicklungszusammenarbeit (NGOs, Missionsgesellschaften und Regierungs-programme), aber auch für vernetzende Tätigkeiten zwischen Kirchen/Gemein-den und NGOs und Missionswerken qua-lifiziert – ein Aufgabenfeld, das in Zukunft eine immer größere Rolle spielen wird.

Weitere Informationen:Studienprogramme Gesellschafts-transformation & Development StudiesTobias Müller · Schwanallee 5735037 Marburg · 06421-912919Tobias.Mueller@m-b-s.orgwww.gesellschaftstransformation.de

informiert

» Gesellschaftstrans-formation« und

» Development Studies & Transformation«

Das Marburger Bildungs- und Studien-zentrum (mbs) bietet in Zusammenar-beit mit der Universität von Südafrika (UNISA) zwei berufsbegleitende Master-Studienprogramme an, die sich durch interdisziplinäres Arbeiten und einen hohen Praxisanteil auszeichnen:

Mbs studIenProgrAMM:

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Micha, Gemeinde und Bahnhof – wo ist da der Zusammenhang?

Das Haus der Süddeutschen Gemein-schaft Herrenberg liegt am Bahnhof und viele der Besucher müssen dort durch die Unterführung. Im Lauf der Zeit kam die Frage auf, wie bei den Alkis, Junkies und Knackis am Bahnhof Veränderung geschehen kann. Im Herbst 2009 haben wir sie dann zu einem Brunch eingela-den und 25 Leute sind gekommen. Und inzwischen sind sie zu unseren Freunden geworden.

Was bietet ihr den Leuten an?

Zunächst möchten wir ihnen vor allem einfach Gutes tun! Ihnen mit Wertschät-zung begegnen und sie dann – wenn mög-lich – wieder in die Gesellschaft – aber auch mit ihren Gaben in unsere Gemeinde

integrieren und so Veränderung schaffen. Konkret heißt das: Monatlich ein Brunch mit Andacht und persönlichem Gebet, ein monatlicher Spielenachmittag und wö-chentlich ein kostenloses Mittagessen am Bahnhof.

Was hat sich durch euer Engagement verändert?

Veränderung hat auf zwei Seiten stattge-funden: Wir als Gemeinde haben uns ge-ändert, denn wir sind offener geworden. Es ist schön zu sehen, dass Vertrauen ent-standen ist zwischen Gemeindemitglie-dern und unseren Freunden am Bahnhof. Manche machen jetzt einen Entzug und beginnen eine Therapie. Und manche be-suchen den Gottesdienst und arbeiten in unserer Gemeinde mit. n

Die Fragen stellte Ilona Mahel.

ALKIS, JUNKIES, KNACKIS – UNSERE FREUNDE AM BAHNHOF

Micha Evers studiert Gesellschaftstransformation im dritten Semester und küm-mert sich im Rahmen seines Praxisprojektes zusammen mit seiner Gemeinde um Menschen am Bahnhof Herrenberg.

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aus der praxis

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»Wenn wir so etwas nicht einmal alleine schaffen, dann steht es wirklich schlimm um uns.« Entrüstet steht mein Gesprächs-partner vor mir. »Nein, wir brauchen keine Hilfe von außen!« In seiner Gemeinde gibt es seit einiger Zeit einen Konflikt, der im-mer unübersichtlicher wird. Der Vorschlag, jemanden zu holen, der in dieser Situation unterstützen könnte, findet bei meinem Ge-sprächspartner aber nicht viel Gegenliebe.

Allerdings ist für viele nicht ganz klar, wie eine Beratung durch Dritte aussehen kann. Mediation kann eine hilfreiche Mög-lichkeit sein und zwar dann, wenn zwei sich streiten – durchaus auch zwei Parteien, wenn man in einer Frage gegensätzliche Po-sitionen hat, wenn es also einen »Zankapfel« gibt.

Etappe auf dem Weg zur Versöhnung

Mediation ist die Fertigkeit (und manch-mal auch die Kunst), in einem Konflikt den Konfliktparteien zu neuen Sichtweisen zu verhelfen, einander besser zu verstehen und letztlich Lösungen zu vereinbaren, die für beide Seiten akzeptabel sind. Eine Medi-ation kann somit zu einem wichtigen Ab-schnitt auf dem Weg zur Versöhnung sein.

Aus Schule, Unternehmen und der in-ternationalen Politik sind Mediationsver-fahren nicht mehr wegzudenken. Schüler helfen anderen Schülern, ihre Streitigkeiten

ohne Prügeleien zu lösen. Sondergesandte bemühen sich darum, dass verfeindete Län-der sich entscheiden zu verhandeln, statt zu schießen. Mediation wird somit sowohl in kleineren als auch in hocheskalierten Kon-flikten eingesetzt, mit zum Teil hohen Er-folgsquoten.

Auch in der Bibel sehen wir, dass Men-schen nicht alles alleine können, sondern in bestimmten Momenten Hilfe von außen be-nötigen. In den Sprüchen Salomos wird so-gar derjenige gerühmt, der sich viele Berater holt (Spr. 11,14; 15,22; 24,6). Paulus bittet im Philipperbrief seinen Mitarbeiter Syzygus, den beiden Frauen Evodia und Syntyche in ihrem Konflikt zu helfen (Phil 4,2ff ). In der sogenannten »Regel Christi« (John Howard Yoder) in Matthäus 18,15ff werden weitere Personen hinzugezogen, wenn im persön-lichen Gespräch der Konflikt nicht gelöst werden kann.

Neue Sichtweise, besseres Verständnis

Warum nun tut sich mein Gesprächspartner so schwer damit, jemanden »von außen« zu holen? Warum tut sich manche Gemeinde so schwer damit? Zum Trost sei gesagt, es sind nicht nur Gemeinden, die sich schwer tun, es ist generell nicht einfach, einem Au-ßenstehenden Einblick in die eigenen Kon-flikte zu gewähren. Die Gründe sind sicher vielfältig:

Mediation in der Gemeinde

IMPULS

Versöhnung – Für chrIstLIche geMeInden eIn VerMeIntLIch LeIcht zu hAndhAbendes theMA. doch dIe kunst der MedIAtIon Ist Auch hIer geFrAgt – Wenn Auch öFter eher zähneknIrschend …

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»Ist der Mediator gerecht?« »Muss ich mich unbedingt mit den Leuten zusammensetzen, die so viel Schmerz ange-richtet haben?« »Wenn ich ehrlich bin: Es soll auch nicht je-der meine eigenen Schwächen sehen.«

Das sind in der Tat wichtige Fragen. Viel-leicht aber hilft es zu wissen, wie eine Medi-ation funktioniert. Deswegen hier ein (gro-ber und vereinfachender) Überblick.

Fünf Schritte sind klassisch: (1) Im ersten Schritt geht es um Gesprächs-vereinbarungen und Verfahrensfragen.(2) Im zweiten Schritt – der Konfliktdarstel-lung – darf jede beteiligte Partei ihre Sicht der Dinge darstellen, ohne von der anderen Partei unterbrochen zu werden. Es wird also sichergestellt, dass jeder einmal bis zum Schluss alles erzählen darf, was ihm oder ihr wichtig ist. Meistens ist dies der Zeitpunkt, bei dem es erste »Aha-Erlebnisse« gibt.(3) Es folgt im dritten Schritt, in der soge-nannten Erhellungsphase, ein Gespräch über die Knackpunkte. Und zwar idealer-weise so lange, bis sich die Konfliktparteien sicher sind, die Sichtweise des Anderen gut verstanden zu haben. Das kann natürlich einige Zeit dauern, ist aber unerlässlich für den vierten Schritt.(4) In diesem Schritt wird nach einer Lösung gesucht.(5) In einem abschließenden fünften Schritt werden Vereinbarungen getroffen, wie die Lösungen umgesetzt werden und wann man sich gegebenenfalls wieder trifft, um den Fortschritt auszuwerten und, falls notwen-dig, nach neuen Lösungen zu suchen und neue Vereinbarungen zu treffen.

Vorsorgen für Zeiten des Konflikts

Wie kann eine Gemeinde nun vorgehen, wenn sie einen Konflikt hat? Das hängt u. A. von der Schwere des Konflikts ab. Be-

sonders in schwereren Konflikten hat es sich in unserem kulturellen Umfeld als hilf-reich erwiesen, jemanden zu nehmen, der von außen auf das »System« blickt, sprich: Auf die Gruppe oder Gemeinde. Bei weni-ger schweren Konflikten ist es durchaus erfolgversprechend, eine informelle Media-tion durchzuführen, bei der jemand aus der Gruppe mit den entsprechenden Fähigkei-ten das Mediationsgespräch führt; jemand, der das Vertrauen aller Beteiligter genießt. Ein Mindestmaß an Unabhängigkeit ist aber auch für diesen informellen Mediator wich-tig. Ist er zu sehr in den Konflikt verstrickt, kann die sogenannte All-Parteilichkeit ver-loren gehen.

Ein Problem in vielen Gemeinden ist, dass man sich in einigermaßen konflikt-freien Zeiten nicht gut überlegt hat, welche Schritte im Falle einer größeren Meinungs-verschiedenheit gegangen werden sollen. Es lohnt sich, als Gemeinde eine Vorgehens-weise in Konflikten zu beschreiben, damit in der Hitze der Auseinandersetzung nicht das Recht des Stärkeren oder des »politisch« Ge-schickteren die Oberhand gewinnt. Matthä-us 18 ist dabei eine wertvolle Richtschnur.

Die Gemeinde Jesu ist dazu berufen, den Frieden, den sie durch Christus hat, zu be-zeugen und untereinander zu leben. Chris-tus ist gekommen, um uns Menschen aus unser Unversöhnlichkeit zu erretten und zu einer versöhnten Gemeinschaft mit ihm und miteinander zu führen (2. Kor 5,12; Kol. 1,20). Die Mediation ist auf diesem Weg ein wertvolles Werkzeug. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. n

Marcus Weiand ist Pastor und Mediator sowie Mitbe-gründer des comPax-Ins-tituts für konflikttransfor-mation am theologischen seminar bienenberg (ch).

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Was ist eine Umarmung? Inwiefern kann sie als Metapher für Versöhnung dienen und so-gar mehr aussagen als der Begriff der Versöh-nung selbst? […]

Erster Akt: Öffnen der Arme. Offene Arme sind die Geste eines Körpers, der sich nach dem anderen ausstreckt. Sie sind Zeichen der Unzufriedenheit mit meiner in sich ab-geschlossenen Identität, eine Chiffre für das Verlangen nach dem anderen. […] Mehr als nur eine Chiffre für Verlangen sind offene Arme ein Zeichen, dass ich in mir Raum für den anderen geschaffen habe, in den er eintre-ten kann, und dass ich eine Bewegung aus mir selbst heraus vollzogen habe, um den Raum zu betreten, den der andere mir gibt. Um die Arme nach dem anderen auszustrecken, muss sich das Selbst zugleich von sich selbst zu-rückziehen, sich sozusagen an den äußersten Rand seiner eigenen Grenzen zurücknehmen. Das Selbst, das »von sich eingenommen« ist, kann den anderen weder aufnehmen noch eine echte Bewegung auf ihn zu machen. In-dem es die Arme öffnet, macht das Selbst Raum für den anderen und sich auf den Weg zum anderen in ein und demselben Akt. […] Schließlich sind offene Arme eine Geste der Einladung. Wie eine Tür, die man dem Freund offen lässt, den man erwartet, sind sie eine Aufforderung zum Eintreten. Kein Klopfen ist nötig, keine Frage des anderen, ob er herein-kommen darf, erforderlich nur die Ankündi-gung des Eintreffens und das Überschreiten der Schwelle. […] Anders als die offene Türe sind offene Arme jedoch mehr als nur eine

einladende Geste, die den anderen hereinbit-tet. Sie sind auch ein sachtes Klopfen an der Tür des anderen. Der Wunsch, den Raum des anderen zu betreten wird durch denselben Akt signalisiert, durch den sich das Selbst für den anderen öffnet, sodass dieser eintreten kann.

Zweiter Akt: Warten. Die offenen Arme sind ausgestreckt, aber sie halten inne, bevor sie den anderen berühren. Sie warten. […] Das wartende Selbst kann den anderen bewegen, sich auf das Selbst zuzubewegen, aber seine Macht dabei ist die Macht des signalisierten Verlangens, des geschaffenen Raumes, nicht die Kraft, die die Grenzen des anderen durch-bricht und die Erfüllung des Verlangens er-zwingt. Der andere kann in eine Umarmung nicht hineingezwungen oder -manipuliert werden; Gewalt ist so verschieden von der Umarmung, dass sie jede Umarmung zunich-te macht. Wenn eine Umarmung stattfindet, dann immer, weil den anderen so nach dem Selbst verlangt wie das Selbst nach dem an-deren. Das unterscheidet eine Umarmung davon, dass man den anderen packt und in seiner Gewalt hält. Warten ist ein Zeichen da-für, dass auch dann, wenn die Umarmung ein-seitigen Ursprungs ist (das Selbst unternimmt die erste Bewegung zum andern hin), sie ihr Ziel nie ohne Gegenseitigkeit erreichen kann (der andere bewegt sich auf das Selbst zu).

Dritter Akt: Die Arme schließen. Das ist das Ziel der Umarmung, eine richtige Umarmung, die nur als eine gegenseitige denkbar ist; »je-der hält den anderen und wird zugleich vom

DAS DRAMA DER UMARMUNG

reingelesen

Auszug: »Von der Ausgrenzung zur uMArMung«, MIrosLAV VoLF

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anderen gehalten, aktiv und passiv zugleich« (Gurevitch 1990, 194). Es braucht zwei Paar Arme für eine Umarmung; mit einem Paar haben wir nur eine Einladung zur Umarmung (wenn das Selbst den anderen achtet) oder ein Klammern (wenn diese Achtung fehlt). In einer Umarmung ist der Gastgeber Gast und der Gast Gastgeber. Auch wenn ein Selbst vielleicht mehr empfängt oder gibt als das an-dere, muss jeder den Raum des anderen betre-ten, die Gegenwart des anderen in sich selbst spüren und seine eigene Gegenwart spüren lassen. Ohne solche Gegenseitigkeit gibt es keine Umarmung. […]

Vierter Akt: die Arme wieder öffnen. Die Umarmung macht aus »zwei Körpern nicht einen«, indem sie »die Grenze zwischen den Körpern zum Saum macht, der einen Körper zusammenhält«, wie Zygmunt Bauman über das Verlangen der Liebe schreibt (Bauman

1993,94). Nicht ihre verschweißte Grenze hält Körper in einer Umarmung zusammen, son-dern die Arme, die den anderen umschließen. Und wenn sich die Umarmung nicht gegen-standslos machen soll, müssen sich die Arme wieder öffnen (Gurevitch 1990, 194). […] Als letzter Akt der Umarmung unterstreicht das Öffnen der Arme, auch wenn der andere in das Selbst eingraviert ist, dass die Andersar-tigkeit des anderen nicht neutralisiert werden darf, indem beide zu einem undifferenzierten »Wir« verschmolzen werden […]. Man muss den anderen gehen lassen, damit sein Anders-sein – seine genuine, dynamische Identität – erhalten bleibt. Das Selbst muss sich in sich selbst zurücknehmen, sodass seine eigene Identität, bereichert durch die Spuren, die die Anwesenheit des anderen hinterlassen hat, gewahrt bleiben. […] Dies nun sind die Struk-turelemente der Umarmung; ohne sie gäbe es keine echte Umarmung. n

IMPressuMVerlag der Francke-Buchhandlung GmbHAm schwanhof 19 · 35037 Marburge-Mail: [email protected]

Redaktion: Ilona Mahel, tobias FaixLayout: Verlag der Francke-buchhandlung gmbh

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Marburger Bildungs- und Studienzentrumträger des mbs ist der deutsche gemeinschafts-diakonieverband (dgd)

mbs_bibelseminarstaatl. anerkannte Fachschule

für sozialpädagogik & kirchlich anerkanntes seminar für

gemeindepädagogik

B.A. Social Workkooperation mit der stenden

university (nL)

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› gesellschaftstrans- formation (Mth)

› development studies & transformation (M. A.)

kooperation mit der universität von südafrika (unIsA)

Forschungs- institut für

jugendkultur und religion

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