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no. 2 25. theatertreffen deutschsprachiger schauspielstudierender dienstag, 3. juni 2014 theater TREFFEN Text „Du willst Soldat sein. Siehst aus wie ein Model.“ So wird der Protagonist Petscho- rin, gespielt von Pablo Konrad, nach we- nigen Minuten von einem Soldatenkolle- gen beschrieben. Petschorin trägt einen schicken schwarzen Anzug mit Glitzer- Details, das lange Haar ist lässig nach hinten gebunden. Keine Frage: Er hat ein souveränes Auftreten. Ein moderner Le- bemann, ein spielerischer Casanova, der sich nicht entscheiden möchte: Will er die Tscherkessen-Prinzessin Bela oder lieber die schöne Fürstin Mary oder am Ende doch nur eine heiße Affäre mit der verhei- rateten Vera. Die Frauen bestimmen sein Leben ebenso wie die Langeweile, die ihn immer wieder einholt. Seine Heimat, der Kaukasus, und seine Damen reichen ihm nicht. Er ist rastlos, möchte immer weiter, ständig auf der Suche nach neuen (Liebes-)Abenteuern. In M. J. Lermontows Romanvorlage EIN HELD UNSERER ZEIT ist Petschorin ein melancholischer Dandy, ein pessimistischer Fatalist. Nicht so bei Pablo Konrad. Ein phantastischer Roman der russischen Romantik wird hier zum klamaukigen Melodram: eine Kreuzung aus Disney-Musical und Charlie-Chaplin- Stummfilm? Die Schauspieler haben nur 60 Minu- ten Zeit, einen rund 210 Seiten Roman auf die Bühne zu bringen. Der Regisseur Jo- hannes Enders entscheidet sich für einen interessanten Ansatz: Alle sind zugleich Erzähler und Akteure. In der dritten Per- son beschreiben sie ihre eigenen Charak- tereigenschaften und Handlungen sowie die der Anderen, während sie nur einen KAUKASUS EIN KUBUS Die Theaterakademie Hamburg zeigt EIN HELD UNSERER ZEIT nach dem Roman von M.J. Lermontow Moment später das spielen, wovon sie gerade noch, frontal zum Publikum, sehr sachlich berichtet haben. Sie wechseln sich ab. Dadurch entstehen zuweilen un- heimlich komische Situationen. So sitzt Gruschnitzki mit Petschorin in der Ba- dewanne, erhebt sich kurz, um über sich selbst festzustellen: „Dieser Gruschnitzki ist ziemlich witzig.“ Das ist Mio Neumann in der Tat, der sowohl diesen Bengel als auch Asamat spielt. Er wirbelt, fällt und tanzt über die Bühne, entwickelt sich vom eher schüchternen Jungen zum über- zeichneten Musical-Star, der mit seiner Duett-Partnerin Sophie Krauß ein schril- les Lovesong-Medley trällert. In Enders’ Inszenierung stehen die Schauspieler im Zentrum: Sie spielen, singen, spaßen. Johanna Link schillert als Bela über die Bühne, bezirzt ihre Bewunderer mit Kon- fetti-Regen und wird im Pantomime-Duell mit Petschorin vom scheuen Bambi zur aufmüpfigen Trauben-Fresserin. Spitz- bübisch und sinnlich zugleich. Johannes Enders’ Arbeit springt zwischen unter- schiedlichen Genres hin und her; der The- atermacher will sich nicht so recht ent- scheiden: klassisches Liebesdrama mit kitschigen Musical-Einlagen, spontanes Mitmach-Theater inklusive Wodka fürs Publikum und düsteres Gesellschafts- portrait mit finalem Schießduell in einem Paket. Im Kontrast zu den überzeichneten und verspielten Figuren steht das redu- zierte Bühnenbild: in der Mitte nur ein hölzerner Kubus, der als Klettergerüst sowie als kinematographischer Schaukas- ten dient – darum wölbt sich kahle weiße Wand. Mehr ist da nicht. Das Bühnenbild: ein sehr minimalistischer Kaukasus. Ein entrückter, für uns fremder Ort, der doch austauschbar und universell ist. Die Pro- jektionen an den weißen Seitenwänden werden zu Spiegeln und Fenstern. Wäh- rend im einen Moment dort die Personen kopfüber und ein wenig verzerrt abgebil- det werden, schauen sie im nächsten in die Ferne – in die Leere dieser Welt. Julia Weigl Peng Peng. Foto: Christian Enger

theaterTREFFENText DIENSTAG 3. Juni

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Inhalt: -Über Theaterakademie Hamburg EIN HELD UNSERER ZEIT nach M. J. Lermontow -Über Schauspielstudio Dresden CORPUS DELICTI von Juli Zeh -Vorbericht HfMT Hannover/HfMT Frankfurt/Main/Simon Stephens -Vorbericht Hochschule der Künste Bern JOM KIPPUR - VERSÖHNUNGSTAG -Über HFF "Konrad Wolf" Potsdam KASPAR von Peter Handke -Vorbericht Universität für Musik und Darstellende Künste Graz/Theaterakademie August Everding/Rainer Werner Fassbinder Studenten des Ergänzungsstudiengangs "Theater-, Film- und Fernsehkritik" an der Hochschule für Fernsehen und Film in München (HFF), in Kooperation mit der Bayerischen Theaterakademie, berichten täglich vom 25. Theatertreffen Deutschsprachiger Schauspiel Studierender 2014 in München. Die Arbeit der Studentinnen und Studenten wird von deren Studiengangsleiter Prof. Dr. C. Bernd Sucher begleitet.

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no. 2 25. theatertreffen deutschsprachiger schauspielstudierender dienstag, 3. juni 2014

theaterTreffen

Text

„Du willst Soldat sein. Siehst aus wie ein Model.“ So wird der Protagonist Petscho-rin, gespielt von Pablo Konrad, nach we-nigen Minuten von einem Soldatenkolle-gen beschrieben. Petschorin trägt einen schicken schwarzen Anzug mit Glitzer-Details, das lange Haar ist lässig nach hinten gebunden. Keine Frage: Er hat ein souveränes Auftreten. Ein moderner Le-bemann, ein spielerischer Casanova, der sich nicht entscheiden möchte: Will er die Tscherkessen-Prinzessin Bela oder lieber die schöne Fürstin Mary oder am Ende doch nur eine heiße Affäre mit der verhei-rateten Vera. Die Frauen bestimmen sein Leben ebenso wie die Langeweile, die ihn immer wieder einholt. Seine Heimat, der Kaukasus, und seine Damen reichen ihm nicht. Er ist rastlos, möchte immer weiter, ständig auf der Suche nach neuen (Liebes-)Abenteuern. In M. J. Lermontows Romanvorlage Ein HEld unsErEr ZEit ist Petschorin ein melancholischer Dandy, ein pessimistischer Fatalist. Nicht so bei Pablo Konrad. Ein phantastischer Roman der russischen Romantik wird hier zum klamaukigen Melodram: eine Kreuzung aus Disney-Musical und Charlie-Chaplin-Stummfilm?

Die Schauspieler haben nur 60 Minu-ten Zeit, einen rund 210 Seiten Roman auf die Bühne zu bringen. Der Regisseur Jo-hannes Enders entscheidet sich für einen interessanten Ansatz: Alle sind zugleich Erzähler und Akteure. In der dritten Per-son beschreiben sie ihre eigenen Charak-tereigenschaften und Handlungen sowie die der Anderen, während sie nur einen

KauKasus ein KubusDie Theaterakademie Hamburg zeigt Ein HEld unsErEr ZEit

nach dem Roman von M.J. Lermontow

Moment später das spielen, wovon sie gerade noch, frontal zum Publikum, sehr sachlich berichtet haben. Sie wechseln sich ab. Dadurch entstehen zuweilen un-heimlich komische Situationen. So sitzt

Gruschnitzki mit Petschorin in der Ba-dewanne, erhebt sich kurz, um über sich selbst festzustellen: „Dieser Gruschnitzki ist ziemlich witzig.“ Das ist Mio Neumann in der Tat, der sowohl diesen Bengel als auch Asamat spielt. Er wirbelt, fällt und tanzt über die Bühne, entwickelt sich

vom eher schüchternen Jungen zum über-zeichneten Musical-Star, der mit seiner Duett-Partnerin Sophie Krauß ein schril-les Lovesong-Medley trällert. In Enders’ Inszenierung stehen die Schauspieler im Zentrum: Sie spielen, singen, spaßen. Johanna Link schillert als Bela über die Bühne, bezirzt ihre Bewunderer mit Kon-fetti-Regen und wird im Pantomime-Duell mit Petschorin vom scheuen Bambi zur aufmüpfigen Trauben-Fresserin. Spitz-bübisch und sinnlich zugleich. Johannes Enders’ Arbeit springt zwischen unter-schiedlichen Genres hin und her; der The-atermacher will sich nicht so recht ent-scheiden: klassisches Liebesdrama mit kitschigen Musical-Einlagen, spontanes Mitmach-Theater inklusive Wodka fürs Publikum und düsteres Gesellschafts- portrait mit finalem Schießduell in einem Paket.

Im Kontrast zu den überzeichneten und verspielten Figuren steht das redu-zierte Bühnenbild: in der Mitte nur ein hölzerner Kubus, der als Klettergerüst sowie als kinematographischer Schaukas-ten dient – darum wölbt sich kahle weiße Wand. Mehr ist da nicht. Das Bühnenbild: ein sehr minimalistischer Kaukasus. Ein entrückter, für uns fremder Ort, der doch austauschbar und universell ist. Die Pro-jektionen an den weißen Seitenwänden werden zu Spiegeln und Fenstern. Wäh-rend im einen Moment dort die Personen kopfüber und ein wenig verzerrt abgebil-det werden, schauen sie im nächsten in die Ferne – in die Leere dieser Welt. JuliaWeigl

Peng Peng. Foto: Christian Enger

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allem schnell und undeutlich. Trotz groß-artiger Einzelleistungen funktioniert die-ses Ensemble am besten im Kollektiv. Als unheimlicher Fitness-Chor oder bei den filmartigen Rückblenden. In einer Sze-

Nur ein paar Jahrzehnte in der Zukunft wird Deutschland von einem System re-giert, in dem Gesundheit alles ist. Die

Gespenster

Parole lautet „Santé“. Jeder Bür-ger hat sich durch Sport und die unbedingte Vermeidung toxischer Substanzen wie Tabak gesund zu halten. Die Höchststrafe für Vergehen besteht in der als „Ein-frieren auf unbestimmte Zeit“ getarnten Todesstrafe. In Corpus DeliCti von Juli Zeh ist der Körper selbst zum potenziellen Verbre-cher geworden. Die von Marie Lu-ise Lichtenthal entworfene Bühne ist eine sterile Mischung aus Se-ziertisch und Macbook. Zwei an einer Seite offene Quadrate mit abgerundeten Ecken greifen inei-nander. Diese Konstruktion kann Gerichtssaal sein, wie einsames Appartement oder Bach und wil-der Wald. Die Schauspieler tre-ten darin stark als Kollektiv auf, rezitieren gemeinsam, stecken in etwas skurrilen, leicht futuristi-schen Kostümen. Ein Gerichts-prozess wie aus einem Alptraum Kafkas beginnt. Das Prusten, das sonst bei jeder unpassenden Ge-legenheit durch die Muffathalle schallt, verstummt.

Todesstrafe Einfrieren

Mia Holl ist angeklagt. Es geht um verschiedene Verstöße gegen geltendes Recht zum Schutze der Gesundheit. Sie hat geraucht und zu wenig Sport getrieben. Aber das ist nur der Vorwand. Dem Gericht und den Medien geht es um den Selbstmord ihres Bruders Moritz. Der hat sich, der Vergewaltigung und des Mordes angeklagt, im Ge-fängnis erhängt. Eine eindeutige DNA-Analyse hatte ihn des Verbrechens überführt. Nina Gummich verkörpert diesen Leidensweg Mia Holls durch ein System der Angst und Überwachung. Sie wirkt intelligent und verletzlich. Sie ist

für den Zuschauer der sichere Anhaltspunkt in dieser Dystopie. Kilian Land und Nadine Quitter sind Gespenster. Sie geben den etwas

sehr selbstbewussten Außenseiter Moritz und die Ermordete Sibylle, die am eigenen schönen Körper leiden und sterben musste. Die beiden streifen mahnend um das Geschehen im Gerichtssaal oder erwachen in filmschnittartigen Rückblenden zum Leben. Den jun-gen Schauspielern gelingen diese teils harten Wechsel problemlos.

Juristen sind machtlos

Lukas Mundas und Justus Pfan-kuch als Journalisten begleiten das Geschehen mit der Kamera, die live auf eine Leinwand ober-halb der Bühne überträgt. Die mediale Überwachung ist in die-sem Staat allgegenwärtig und die Zuschauer finden sich als anony-me Beobachter zu Komplizen ge-macht mitten im Geschehen wie-der. Die Überwachung ist perfekt und nahtlos fügt sich die Perfor-mance der beiden an: Die aalglat-ten Skandaljournalisten Kramer und Würmer vertreiben mehr als einmal alle anderen Gespenster von der Bühne. Die Angst ist ihr Metier.

Juristen sind gegen die Macht der Medien hilflos: Max Rothbart als Anwalt Rosentreter spielt den liebenswürdigen Trottel mit zerzaustem Haar und fliegender Aktentasche, Pauline Kästner die cholerische und überforderte Richterin Sophie. Die Slapstick-Einlagen funktionieren, wären aber nicht unbedingt für die In-szenierung nötig. Tobias Krüger als Staatsanwalt Bell redet vor

Die Hochschule für Musik und Theater Leipzig zeigt mit dem Schauspielstudio Dresden Juli Zehs politisches Stück Corpus DeliCti

Körperwelten-Zitat? Foto: Matthias Horn

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ne beobachten Mia und Geister-Sibylle mit Blick auf den Zuschauerraum im imaginären Fernseher die reißerische Berichterstattung der beiden Boulevard-Journalisten, die in ihrem Rücken gerade live aufgeführt wird. Die beiden Frauen streiten und schalten die hinter ihnen agierenden Männer immer wieder und immer schneller stumm und laut. Diese spielen virtuos mit. Eine erschreckende gute Szene, in der Kamerablick, Propa-ganda und Zuschauerwahrnehmung in-einander übergehen. Diese Inszenierung ist ein Versuch, politische und ästheti-sche Ereignisse zusammenzudenken.

Juli Zeh schrieb 2009 gemeinsam mit Ilija Trojanow in ihrem Buch Angriff

Auf Die freiheit, das fast gleichzeitig mit Corpus DeliCti erschien: „Bislang ist in Deutschland kein einziger terroristischer Anschlag aufgrund verschärfter Sicher-heitsgesetze vereitelt worden. Viele der neu eingeführten Maßnahmen sind zum angegebenen Zweck der Terrorismusbe-kämpfung erwiesenermaßen ungeeignet. Politiker argumentieren für mehr Über-wachung mit falschen Tatsachen und wi-dersprüchlichen Angaben; Juristen ver-steigen sich in absurden Denkbeispielen, um die Folter wiedereinzuführen; Journa-listen agieren ohne kritische Distanz als Propheten einer amorphen Bedrohung. Es herrscht Angst. Angst verkauft Zeitun-gen, Angst bringt Wählerstimmen, Angst

treibt Sicherheitspolitik zu Höchstleis-tungen, Angst ist nicht mehr wegzuden-ken aus Gegenwartsdiagnosen und Zu-kunftsprognosen.“

Die Angst vor den Gespenstern ver-gangener und gegenwärtiger Fehler, aber noch mehr die Angst vor geistlos agierenden Körpern. Ein Phänomen, das den Medien gut bekannt, dem Thea-ter jedoch fremd ist. Der Körper wie die Daten sind auf der Bühne kein corpus delicti, sondern ein notwendiges Gegen-programm, welches zeigt, dass kein han-delnder Mensch durch eine DNS-Analyse zu fassen ist. Diese Inszenierung und die Schauspieler haben den Beweis erbracht.

Nicolas Freund

stAr WArs-Zitat? Foto: Matthias Horn

cult:onlinehttp://www.cult-zeitung.de

Aktuelle Kritiken auf

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„Do I think of myself as the Iggy Pop or David Bowie of British theatre? Or the David Hasselhoff? Big in Germany…“, war Simon Stephens lässige Reaktion auf eine provokante Frage in einem In-terview mit dem Economist. Der britische Gegenwartsautor lässt sich nicht gern in Schubladen stecken. Der Journalist griff in diesem Gespräch eine frühere Aussa-ge von Stephens auf, in der er englische Dramatiker in zwei Kategorien einteilte: diejenigen, die auf dem Broadway Er-folg haben und die anderen, die es in Deutschland schaffen. Stephens gelingt beides: Broadway und Deutschland. Er adaptiert Klassiker für ein Mainstream-Publikum und entwickelt eigene Stoffe, die vor allem in der Off-Szene gefeiert werden. Nahezu zeitgleich im Jahre 2014: Ibsens A DollhousE im Young Vic in Lon-don und cArmEn Disruption in Hamburg.

Schock-Zustand

Auf dem diesjährigen Theatertreffen in München ist Stephens gleich zweimal vertreten. Den Anfang macht die Hoch-schule für Musik, Theater und Medien in Hannover mit einer szenischen Collage aus zwei Stephens-Texten: pornogrAphiE und motortown. Die Mixture trägt den Ti-tel immEr schön hintEr DEr gElbEn liniE blEi-bEn. Es ist eine Auseinandersetzung mit zwei schwierigen Stoffen. Beide Origi-naltexte beschäftigen sich mit Traumata, mit post-traumatischen Störungen. Das U-Bahn-Attentat 2005 in London und der Irakkrieg werden als Auslöser ver-wendet. Der Schock-Zustand. Wie kann ein Leben nach diesen Erfahrungen noch

Vom falschenlebenSimon Stephens wird auf dem diesjährigen Theatertreffen gleich zweimal auf die Bühne gebracht

funktionieren? Die zweite Inszenierung folgt am Freitag. Dann wird die Auffüh-rung der Hochschule für Musik und Dar-stellende Kunst Frankfurt/Main gezeigt: Stephens „punk rock“. Was könnte es also sein, dass gleich zwei Schauspiel-schulen dazu inspiriert, die Werke des 43-jährigen Briten auf dem Theatertref-fen zu zeigen?

Simon Stephens’ Erfolg begann 1998 am Royal Court Theatre in London. Nur wenige Jahre nach Sarah Kanes blAs-tED und Mark Ravenhills shopping AnD F***king, die eine neue Phase im engli-schen Theater auslösten. Junge Drama-tiker wollten ihr Publikum mit brutalen und aggressiven Inhalten konfrontieren, vielleicht auch schocken. Das war die Geburtsstunde des „In-Yer-Face Theat-re“, eines Theaters, das seine Zuschauer am Kragen packen und solange schüt-

teln soll, bis sie die Message kapieren. Es geht nicht mehr darum, inhaltsleere Kunst zu schaffen, sondern zu provozie-ren, Themen anzusprechen, die zuvor ignoriert oder gar vermieden wurden. Pornographie, Gewalt, Psychosen, Ho-mosexualität. Das entsprach auch dem Zeitgeist in Deutschland. Wenn sich ein (englischer) Regisseur in Berlin oder Hamburg präsentieren wollte, entschied er sich für Mark Ravenhill oder Sarah Kane – oder eben für Simon Stephens. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Krieg, Mord, Tabubrüche

In Kritikerumfragen von thEAtEr hEutE wurde Stephens in den letzten neun Jah-ren fünf Mal zum besten ausländischen Dramatiker des Jahres gewählt. Kritiker und Theatermacher sind sich also einig,

Mann knutscht. Foto: Isabel Winarsch

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Wir bedanken uns für die groß-zügige Unterstützung bei:

Dr. Robin W. Bartels, Dr. Ger-hard Beiten, Dr. Christoph Bulfon, Thomas Deininger, Achim Hartz, Carsten von der Heyden, Dr. Joachim Giehl, Prof. Dr.Dr. Joseph Kastenbauer, Dr. Georg Kellinghusen, Dr. Gos-win von Mallinckrodt, Dr. Jörg Schweitzer, Hubert Stärker, Boltz Wachtel Dental und der v. Finck Stiftung

dass seine Stücke noch immer Relevanz haben. Vielleicht liegt dies an seiner uni-versellen Herangehensweise. Stephens beschreibt in einem Interview mit der ZEit, dass seine Dramen einen „Blick auf die Straße“ reflektierte. Er orientiert sich an dem, was in der Gesellschaft passiert, und deshalb gibt es bei ihm Krieg und Mord, Tabubrüche und Grenzüberschrei-tungen. Der Untergang des Individuums in der Masse der Großstadt. Die Absur-dität des Anonymen. Themen, die nicht nur auf England beschränkt sind, son-dern universell funktionieren. Sie sind zeitlos.

Weinende Zuschauer

Immer denkt Stephens bei seiner Ar-beit vor allem an das Publikum. Er mag es nicht, wie er in dem ZEit-Interview sagte, „wenn Schauspieler auf der Büh-ne weinen. Die Einzigen, die im Thea-ter weinen sollten, sind die Zuschauer. Manchmal muss man die Gefühle auf der Bühne verknappen, damit sie im Publikum entstehen.“ Stephens will nicht Unterhaltung, er will Emotionen.

Er will das Absurde der menschlichen Existenz und der Welt zeigen. Was Wun-der, dass er Beckett zum Vorbild hat und mehr als einmal über wAiting For goDot sprach. Im ZEit-Interview erklärte Stephens: „Wladimir sagt zu Estragon: Gehen wir? Estragon sagt Ja. Und sie bewegen sich keinen Millimeter. Diesen Moment habe ich gestohlen und in un-gefähr fünf Stücken verwendet. Er sagt alles über uns: Wir wissen, dass wir falsch leben.“ Julia Weigl

I want you! Foto Isabel Winarsch

Post-traumatische Zärtlichkeit. Foto: Isabel Winarsch

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Versöhnung! Versöhnung?Die Hochschule der Künste Bern präsentiert einen Abend mit vier Soli

„Alle Gelübde, Verbote, Bannsprüche, Strafen und Schwüre, die ich gelobe, von diesem Jom Kippur an, bis zum erlösen-den nächsten Jom Kippur. Alle bereue ich, alle seien ausgelöst, erlassen, aufge-hoben, ungültig und vernichtet.“ – So be-ginnt das jüdische Gebet Kol Nidre, das am Versöhnungstag, dem Jom Kippur, stehend drei mal wiederholt wird. Diesen höchsten jüdischen Feiertag nimmt Si-mon Labhart als Ausgangspunkt für sein gleichnamiges Theaterprojekt Jom Kippur – Versöhnungstag in dem er Allgemeines mit Individuellem und Konkretes mit Ab-straktem vermengt: „So sind Versprechen eben alles Lügen und Witze. Ich widme dieses Projekt meiner Großmutter und diesem Cello.“

„Wenn es etwas gibt, was die Welt am meisten hasst, so ist es eine Frau, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten küm-

mert“, wird Calamity Jane, die amerika-nische Westernlegende, zitiert. In ihrem Projekt Der Cowgirls Blues präsentiert Johanna Dähler fiktive Briefe dieser wohl bekanntesten weiblichen Figur der ame-rikanischen Pionierzeit an deren Tochter. Die Theaterarbeit hinterfragt den Mythos des Wilden Westens als Männerdomäne und dekonstruiert so stereotype Gender-bilder. Der Darstellung des Weiblichen widmet sich ebenfalls nina la FriDa Von und mit Nina M. Wyss : „Was gibt ein Mensch von sich preis, wenn er sich rück-haltlos der Selbstdarstellung aussetzt?“ Nina Wyss interpretiert das „Selbstbild-nis mit abgeschnittenem Haar“ von Frida Kahlo und bringt diesen Prozess der Re-flexion auf die Bühne: Die Themen sind Einsamkeit, Vergänglichkeit, der Wunsch nach Anerkennung. Gefühle in Farben ausgedrückt.„Weißt du noch? Damals?

Seattle? Sea World? Amerikaurlaub? Mama, Papa und wir zwei“ In For James erzählt Maximilian Reichert ein prä-gendes Kindheitserlebnis zweier Jungs. Busty und Max sind mit ihren Eltern in einem Aquarium. Das Walfischbecken ist gigantisch und es steht in einem verita-blen Stadion. Und die zwei Jungs wollen ganz vorne sitzen.

Diese vier sehr unterschiedlichen So-listen zeigt die Hochschule der Künste Bern auf dem diesjährigen Treffen der Schauspielschulen in München. Die Ar-beiten wurden im 3 Studienjahr inner-halb der Bachelorprüfungen erarbeitet, die Themenkomplexe wurden von den Studierenden individuell gewählt und frei ausgearbeitet und umgesetzt. Zusam-men könnten diese vier Episoden einen spannenden und unkonventionellen The-aterabend ergeben. Quirin Brunnmeier

...und bin so klug als wie zuvor. Foto: Simon Labhart

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English sprach – schwere sprach.Foto: Franz Meiller

Ein kieksender Kaspar-Chor kauert am vorderen Rand der Bühne. In den grauen Ganzkörperoveralls gibt jeder der acht Schauspielschüler der HFF „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg mal den Kaspar. Und flüstert: „Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein andrer gewesen ist.“ Doch zu Beginn der Inszenierung von Peter Handkes Kaspar sind sie alle noch gleich. Gefangen in ihren Baby-Stramplern und gänzlich unbefangen, was Möglichkeit und Macht der Sprache angeht. Ganz im Gegensatz zu den jungen Schauspielern, die in diesen Jumpsuits stecken. Dass die-se einfühlsam und pointiert mit ihrem sprachlichen und performativen Werk-zeug umzugehen wissen, beweist die fol-gende Aufführung.

Regisseur Fabian Gerhardt inszeniert seine Version des Kaspar in drei Teilen. Die Texte hierfür sind klug und sehr passend aus unterschiedlichen Handke-Texten zu-sammengesammelt, auch Ausschnitte aus Lewis Carrolls beiden aliCe-Büchern und einem Feuerbach-Text über Kaspar Hauser werden den Schauspielern in den Mund gelegt. Die Inszenierung demonstriert die Mechanismen von Spracherwerb und Sprache als Manipulations- und Machtin-strument. Geschichte und Schicksal des Findlings Kaspar Hauser, der als Jugendli-cher in Nürnberg aufgefunden wurde und nur besagten einen Satz sprach, wird in einer ersten kurzen Episode anschaulich. Philipp Buder, der Vorzeige-Kaspar, trägt nur eine weiße Unterhose, die ihm wie eine Windel um die Lenden hängt. Auf ei-nem viel zu großen Stuhl sitzt er an einem viel zu großen Tisch. Oder ist Kaspar viel zu klein? Alles scheint eine Frage der Per-spektive zu sein. Sprache hat für ihn noch keine Bedeutung. Ich und Du kann er noch nicht unterscheiden. Erst als er von sei-

nen Sado-Maso Eltern gezüchtigt und für die Welt der Erwachsenen dressiert wird, kennt er den Unterschied. Die Mutter im Lederkleid und der Vater mit der Peitsche prügeln ihm das gesellschaftskonforme Verhalten und den Gebrauch der Sprache regelrecht in den Leib. Im Hintergrund be-stärkt der Chor die Ordnungsfunktion der Sprache: stellen, legen, setzen, ordnen.

Immer wieder schlüpfen einzelne Schauspieler aus ihren Onesies und damit zugleich in andere Rollen. Probieren Worte aus wie Kleider. Spielen mit sprachlichen Konventionen und Bedeutungen. Streit-gespräch, Monolog, Song. Das ist eben-so geistreich wie witzig, zuweilen auch erschreckend einfach und kompliziert zugleich. Und radikal, wenn aus den ein-zelnen Stimmchen ein totalitärer Kaspar-Ruf wird. Oder brutal. Handke selbst sagt über sein Stück, dass es auch „Sprechfol-terung“ heißen könnte. Und dass Sprache auch mit Qual zu tun haben kann, illust-riert der zweite Teil, der das Schicksal der im Keller gefangenen Natascha Kampusch in Erinnerung ruft. Sprache als Verließ – die Neonstäbe im Hintergrund verstärken

HFF Potsdam-Babelsberg spielt Peter HandkesKaspar

die Gitteroptik. Matthias Müller hat diese genialisch schlichte Bühne gestaltet, die zugleich Kellerloch, Seziertisch und Ort für Showeinlagen ist.

Sprache ohne Denken geht natürlich nicht. Wie schwer wiegen Vergessen und Sprachlosigkeit! Wie wichtig ist der per-formative Sprachakt! Handke rückte die-sen bereits durch die Uraufführung in den Vordergrund, die an zwei Orten gleichzei-tig stattfand: in Frankfurt und in Ober-hausen. Bei dieser Kaspar-Inszenierung ist es immer wieder der Kaspar-Chor, der die sprachlichen Vorgänge thematisiert: in einer performativen Einlage sogar als Simultanübersetzer und Kommentator. Sprache ist Macht, da sie Interpretati-onsraum schafft! Handkes Vorlage bietet unbestritten genug Stoff für sprachliche Spitzfindigkeiten, die die Welt bedeuten. Das grenzt mitunter an Sprachphilosophie und Logik und nimmt Wittgensteinsche Ausmaße an. Regisseur Gerhardt gelingt zusammen mit den Schauspielern ein vir-tuoses Sprach-Spektakel: Worüber man sprechen kann, darüber muss man nicht schweigen. Anna Steinbauer

stellen, legen, setzen, ordnen

Klappe zu. Foto: HL Böhme

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IMPRESSUMtheater treffen text ist ein Projekt des Studiengangs Kulturkritik der HFF/Bayerischen Theaterakademie August Everding

Herausgeber: Otto Falckenberg Schule

V.i.s.d.P: Prof.Dr. C.Bernd SucherRedaktion: Quirin Brunnmeier, Benedikt Frank, Nicolas Freund, Sebastian Lauterbach, Antonia Mahler, Britta Schönhütl, Artur Senger, Anna Steinbauer, Julia Weigl

„Er redet wenig und das noch muffig.“ Als typischen Münchner Grantler mit miss-trauischen Augen und mürrischem Mund beschreibt Fritz Rumler den Regisseur Rainer Werner Fassbinder in einem ersten Spiegel-Artikel am 29.12.1969. Zu diesem Zeitpunkt hatte Fassbinder gerade seinen künstlerischen Durchbruch geschafft. Sein Spielfilmdebüt Katzelmacher starte-te im November 1969 in den deutschen Kinos. Grundlage für den Film war Fass-binders gleichnamiges Bühnenstück, das am 7.4.1968 im berüchtigten Münchner „Action-Theater“ uraufgeführt wurde. Die Aufführung dauerte nur knappe 40 Mi-nuten. Nach der Pause gab es gleich noch eine zweite Premiere: Jean-Marie Staub in-szenierte Ferdinand Bruckners KranKheit der Jugend. Der Regisseur hatte einfach-heitshalber das komplette Fassbinder-En-semble für sein Stück übernommen. Irm Hermann, Hanna Schygulla, Peer Raben

und Fassbinder selbst spielten die Haupt-rollen an diesem Abend.

Für Skandale hatte das kleine Off-Thea-ter in der Münchener Müllerstraße schon vorher gesorgt. Man war hier „anti-alles“, wie die Münchner abendzeitung 1967 schrieb. Klassische Stücke wurden radikal zusammengestrichen und drastisch inter-pretiert. Antibürgerliche Gesinnung und massive Polemik des „Action-Theaters“ sollten ein Gegenmodell zum Staatstheater bilden. Man arbeitete und lebte gemein-sam in dem ehemaligen Kino, konnte dort schlafen und essen. Der 22-jährige Fass-binder war fasziniert. Nur wenige Monate nachdem er zu der Gruppe um Peer Raben gestoßen war, wurde er zur bestimmenden Figur des Untergrund-Theaters. Und das, obwohl er bei der Mehrheit des Ensembles nicht gerade beliebt war.

Das „Action-Theater“ zog allerlei schrä-ge Vögel an, unter anderem auch einige

Gammler aus dem Englischen Garten. Als schließlich einer der vom Monopteros über-gesiedelten Penner in einer Messerstecherei eine junge Schauspielerin verletzte, wurde das Theater kurz nach der Katzelmacher-Premiere geschlossen. Zwei Monate später gründete Fassbinder sein „antitheater“, das zunächst in verschiedenen Schwabinger Kneipen probte. Aus diesem Theater for-mierte sich ein festes Schauspielensemble, das Fassbinder umgab und mit dem er auch seine ersten zehn Filme drehte.

Für zwei Mark konnte man auf der Pre-miere des Katzelmacher die Textfassung von Fassbinders erstem Theaterstück kaufen. „Auf diesem Stück liegen keinerlei Rechte. Es ist für jedermann frei“, stand auf der Ti-telseite des Heftes. Die Schriftstellerin Ma-rieluise Fleißer, die maßgeblichen Anteil an der Literarisierung des bayerischen Volks-stücks hatte, diente Fassbinder als Vorbild für seine Milieustudie. Ihr widmete der Re-gisseur auch Katzelmacher.

In dem Stück geht es um eine Grup-pe junger Leute, die zusammen in einem Münchner Vorort herumhängen. Sie trinken Bier, streiten sich, lästern oder betrügen ei-nander. Sie träumen von glücklichen Bezie-hungen, einer Schauspielkarriere oder ein-fach nur davon, anerkannt zu werden. Alle versuchen sie, der kleinbürgerlichen Lange-weile zu entfliehen. In die Alltagstristesse platzt plötzlich ein griechischer Gastarbeiter – der Katzelmacher. Mit diesem abschät-zigen Ausdruck bezeichnete man früher Gastarbeiter aus südlichen Ländern. Der Außenseiter wird für die anderen Figuren zur Projektionsfläche. Zur Figur, an der sich sowohl unerfüllte Sehnsüchte als auch Frust und Aggression der jungen Menschen ent-laden. Interessanterweise ist Fassbinder auf dem dieses Jahr mit zwei Theaterstücken vertreten: Graz präsentiert Katzelmacher, am Donnerstag wird blut am halS der Katze in der Fassung der Theaterakademie August Everding zu sehen sein. Anna Steinbauer

HauptsacHe: antiRainer Werner Fassbinder ist gleich zweimal dabei: Katzelmacher und blut am halS der Katze

Hast du etwas Zeit für mich? Foto: Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz.