11
Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II www.zeit.de/schulangebote Inhalt 2   Einleitung: Thema und Lernziele 3 Arbeitsblatt: Liebe, Licht, Akku – was brauchen wir wirklich? 7 Einstieg: Vorlage für die Lehrkraft 8 Aufgaben 11  Internetseiten zum Thema Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? Was zählt im Leben? Was kann weg? Seit Jahrhunderten grübeln Philosophen über Güter, Verhaltenswei- sen, Voraussetzungen oder Denkmuster, die ein gutes Leben ermöglichen. Was sind unsere Grundbedürf- nisse? Führen mehr materielle Güter zu mehr Glück? Welche Rolle spielen die Liebe, die Mitmenschen und die Selbstverwirklichung für unsere Lebensqualität? Es ist schon schwer, diese Fragen für sich selbst zu beantworten. Noch kniffliger ist die Suche nach einer allgemeingültigen Definition des guten Lebens. Diese Unterrichtseinheit nimmt Ihre Schülerinnen und Schüler mit auf eine Reise zu Vorschlägen und Entwürfen der Philosophie- und Ideengeschichte. Gemeinsam mit ihnen besprechen Sie das Modell der Maslowschen Bedürfnispyramide, diskutieren über Notwendiges und Überflüssiges im Leben und kommentieren mithilfe der Graffiti-Methode unterschiedliche Thesen zur Lebensqualität. Diese Arbeitsblätter sind ein kostenloser Service für die Oberstufe und erscheinen jeden ersten Donnerstag im Monat. Sie beleuchten ein Thema aus der ZEIT oder von ZEIT ONLINE, ergänzt durch passende Arbeitsanre- gungen zur praktischen Umsetzung im Unterricht.

Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II

www.zeit.de/schulangebote

Inhalt

2   Einleitung: Thema und Lernziele

3 Arbeitsblatt: Liebe, Licht, Akku – was brauchen wir wirklich?

7 Einstieg: Vorlage für die Lehrkraft

8 Aufgaben

11  Internetseiten zum Thema

Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel?Was zählt im Leben? Was kann weg? Seit Jahrhunderten grübeln Philosophen über Güter, Verhaltenswei-sen, Voraussetzungen oder Denkmuster, die ein gutes Leben ermöglichen. Was sind unsere Grundbedürf-nisse? Führen mehr materielle Güter zu mehr Glück? Welche Rolle spielen die Liebe, die Mitmenschen und die Selbstverwirklichung für unsere Lebensqualität? Es ist schon schwer, diese Fragen für sich selbst zu beantworten. Noch kniffliger ist die Suche nach einer allgemeingültigen Definition des guten Lebens.

Diese Unterrichtseinheit nimmt Ihre Schülerinnen und Schüler mit auf eine Reise zu Vorschlägen und Entwürfen der Philosophie- und Ideengeschichte. Gemeinsam mit ihnen besprechen Sie das Modell der Maslowschen Bedürfnispyramide, diskutieren über Notwendiges und Überflüssiges im Leben und kommentieren mithilfe der Graffiti-Methode unterschiedliche Thesen zur Lebensqualität.

Diese Arbeitsblätter sind ein kostenloser Service für die Oberstufe und erscheinen jeden ersten Donnerstag im Monat. Sie beleuchten ein Thema aus der ZEIT oder von ZEIT ONLINE, ergänzt durch passende Arbeitsanre-gungen zur praktischen Umsetzung im Unterricht.

Page 2: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 2

Welche Zutaten braucht man für ein gutes Leben? Was ist wirklich wichtig für uns, wenn die Grundbedürf-nisse nach Nahrung, Obdach und Sicherheit erfüllt sind? Fernreisen an karibische Strände? Besitztümer à la »Mein Haus, mein Auto, mein Boot«? Oft werden soziale Beziehungen, Anerkennung oder Selbst-verwirklichung als Gegenpol zur rein materiellen Lebensqualität gefordert. Politische Theorien verweisen auf strukturelle Voraussetzungen: Freiheit, Mitbestimmung oder Menschenrechte. Relativ neu in dieser Diskussion sind Überlegungen zum Leben im digitalen Raum. Doch die alte Grundfrage bleibt seit Jahr-hunderten dieselbe: Gibt es eine allgemeine Formel für ein gutes Leben? Und wenn ja: Wie lautet sie?

Die Maslowsche Pyramide ist wohl das bekannteste sozialpsychologische Modell, das versucht, mensch-liche Bedürfnisse hierarchisch festzulegen. Sie gehört seit Jahrzehnten zum Basis-Lehrstoff im Sozial- kundeunterricht und dient bis heute in der Soziologie, Psychologie oder Politik als Orientierung, wenn es um Fragen der Lebensqualität geht. Doch selbst wenn alle gelisteten Bedürfnisse in dieser Hierarchie er-füllt sind – leben wir dann automatisch glücklich? Und gilt sie für alle Menschen zu jeder Zeit, oder ist sie nur ein Abbild der Lebensumstände in Industrienationen des 20. Jahrhunderts?

Im 21. Jahrhundert sind jedenfalls neue Techniken entstanden und mit ihnen auch neue Bedürfnisse. Millionen Menschen führen neben ihrem »Real Life« ein digitales Leben. Ohne WLAN und Akkus könnten ihre virtuellen Identitäten nicht weiterbestehen. Gehört dann auch eine entsprechende technische Aus-stattung inzwischen zu den menschlichen Grundbedürfnissen? Auch denken und kommunizieren wir heu-te in globalen Dimensionen. Wir wissen Bescheid über begrenzte Ressourcen und den Klimawandel. Die materiellen Güter, die wir nutzen, um unsere Lebensqualität zu steigern, können die Lebensqualität von Menschen in anderen Regionen massiv einschränken. Es gibt also eine Menge Fragen zum guten Leben – und ebenso viele Denkansätze, Lehren, Thesen und Entgegnungen dazu.

Die Autorin des vorliegenden Artikels, Elisabeth von Thadden, gibt Seminare zum guten Leben. Mit ihrem Publikum unternimmt sie Streifzüge durch die Ideengeschichte – Aristoteles, Steven Pinker, John Rawls, Robert und Edward Skidelsky, Eva Illouz, Martha Nussbaum, Charles Taylor, Paul Ricœur oder Pierre Rabhi: Diese Denkerinnen und Denker bieten immer wieder neue Impulse und Perspektiven, mit denen man seine Überlegungen fortführen kann.

In diesem Arbeitsblatt begeben sich die Schülerinnen und Schüler mit auf diese Suche nach den besten Zutaten für ein gutes Leben. Sie diskutieren frei über den Aufbau einer Bedürfnispyramide und verglei-chen ihre Ideen mit der Hierarchie von Abraham Maslow. Dabei spielen auch das virtuelle gute Leben und digitale Bedürfnisse eine Rolle. Die Jugendlichen entscheiden, was zählt – und was wegkann. Dabei wechseln sie immer wieder die Perspektive: Was ist für mich wichtig? Gilt das auch für andere Menschen oder Kulturen? Wie einige ich mich mit meinen Mitmenschen angesichts knapper Ressourcen? In Gruppen setzen sie sich mithilfe der Graffiti-Methode im Rotationsverfahren mit den einzelnen Textabschnitten des Artikels auseinander. Auf diese Weise entwerfen sie mit Wandplakaten einen eigenen Kosmos voller Ideen, Fragen, Zweifel und Gewissheiten über die Menschheitsfrage nach einem guten Leben.

Einleitung: Thema und Lernziele

Page 3: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 3

Arbeitsblatt Liebe, Licht, Akku – was brauchen wir wirklich?

Seit einiger Zeit bin ich mit Ideen unterwegs, um mit dem Publikum zu überlegen, was das gute Leben wohl sein kann. In städtischen Sälen, Akademien, universitären Seminarräumen, in Workshops auf dem Land, mit Studierenden, mit ZEIT-Lesern. Wir fragen uns, wie überhaupt zu fragen wäre: ob nach dem Gu-ten oder nach Gütern, immer im Durchgang durch die Vorschläge, Entwürfe der Philosophie- und Ideen-geschichte. Was zählt? Was kann weg? Welches Gut, welche Güter halten den Crashtests der Gegenwart stand?

Einstieg: BedürfnispyramideIch werfe dann gern das Bild einer Pyramide an die Wand. Es sorgt im Saal verlässlich für Heiterkeit. Wie ein Trost im Universum der Unsicher-heiten, die jeder irgendwie zu ordnen versucht. Ganz unten, als Fundament der Pyramide, hat ein Witzbold die Basics hinzugekritzelt: WLAN. Darunter, noch fundamenta-ler: AKKU. Die zwei braucht man. Ohne die geht gar nichts. Darüber türmt sich in der klassischen Skizze die Pyramide der Bedürfnisse, die im Jahr 1943 der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow auf-geschichtet hat.

So sieht diesem Klassiker zufolge hierarchisch aus, was der Mensch braucht, von grundlegend wichtig wie Wasser und Luft über mittelwichtig wie Freunde und Familie bis obendrauf sahnehäubchenwichtig: Selbstverwirklichung. Und zwischen unten und oben skaliert sich aufwärts, was in westlichen Gesellschaf-ten seit 75 Jahren, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zur immer üblicheren Ausstattung eines guten Lebens geworden ist, auch die Zuversicht zählte dazu. Zum Fressen, das zuerst kommt, kommt obendrauf die Moral, mithin Werte wie die Anerkennung und die besondere Freiheit, als tätiger Mensch man selbst sein zu dürfen. Schnell käme man heute in Bürgerbefragungen überein: Je mehr man von all diesen Gütern in Reichweite hat, desto besser das gute Leben.

Die ZEIT-Redakteurin Elisabeth von Thadden gibt Seminare zum guten Leben. Jedes Mal fragt sie sich und ihr Publikum: Was braucht der Mensch? Die Geschichte einer immer neuen Suche.

5

10

15

20

25

Selbst-verwirklichung

Soziale Bedürfnisse

Wertschätzung

Sicherheit und Geborgenheit

Grundbedürfnisse zum Leben

Page 4: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 4

1. Braucht man Akkus? WLAN und Akku. Die Grundfragen des Menschlichen, die in den gegenwärtigen Knappheitskrisen neu für Unruhe sorgen, haben auch ihre Komik. Kaum hatte Abraham Maslow die Frage, was der Mensch braucht, ordentlich beantwortet und alle Funde schön nach Prioritäten geschichtet, kam etwas dazwischen: weil etwas neu erfunden wurde, das nun weltweit vielleicht jeder noch dringender braucht als Wasser und die Luft zum Atmen. Also steht nie etwas fest, also ginge das Nachdenken immer wieder von vorn los: Was braucht der Mensch? Welcher genau? Wenn einer es braucht, gilt das für alle? Acht Milliarden? In Bottrop wie in Nairobi? Steckdosen, Netze, Speicher, Akkus? Und die Lithiumvorräte in Bolivien, ohne die keine Batterien entstehen, wer braucht die, und wer gewährt ihren Schutz?

Das Publikum fängt wie ich beim Fragen gern vorn an, die Frage ist nur, wo vorn ist. Alle Weisheitslehren und alle Wissenschaften fragen seit Urzeiten, was zum guten Leben eines Menschen gehört, und am wirk-samsten sind im sogenannten Abendland wahrscheinlich diese zwei der zahlreichen Antworten geworden: Der Mensch lebe nicht vom Brot allein, so teilt es der fastende Jesus in der Wüste dem Teufel mit, der ihm alle Reichtümer der Welt anbietet, wenn er Gott abschwöre. Das kam für den Mann aus Nazareth nicht infrage, und im Übrigen lebte er ziemlich bedürfnislos.

2. Mehr Güter, mehr Glück?Die andere Auskunft stammt im 4. Jahrhundert vor Christus von Aristoteles in dessen »Nikomachischer Ethik«: Ein gutes Leben bedeute, unter Freunden selbstgenügsam tätig zu sein, mit dem Ziel der Eudämo-nia, des Glücks. Selbstverständlich vorausgesetzt aber war für den aristotelischen Bürger der Polis, und nur für ihn: ein gewisser Wohlstand. In Maßen.

Seither darf man sich fragen, und jedes Seminar, jedes Publikum fragt es lebhaft: nach welchem Maß denn bitte in Maßen? Schon der griechische Philosoph Epikur hielt trocken fest, es sei ja ohnehin nichts genug für einen Menschen, dem genug immer zu wenig ist.

Das Nachdenken darüber, was der Mensch für ein gutes Leben braucht, gabelt sich seit den Anfängen, grob gesprochen, in zwei Wege von Gedanken auf – je nachdem, ob man mehr auf die messbaren Güter achtet […] oder mehr auf das nicht messbare und kaum vergleichbare Gute wie die Freundschaft, die Lie-be, die Tätigkeit, die Beziehung zur Welt, einen religiösen Zusammenhang, die sich nicht nach Kilo oder Euro verteilen lassen und denen man mit Gerechtigkeitsüberlegungen nicht so leicht beikommt.

Das Gute und die Güter, ein paar Buchstaben Unterschied nur, und dennoch könnte Ähnliches grundver-schiedener nicht sein. Ein guter Morgen mag angenehm sein, erfreulich und schön, unmessbar jedenfalls in Minuten, Metern oder Watt; und ohne Tauschwert ist seine Güte für jeden, der ihn erlebt. Für Geld ist er nicht zu haben, und doch lässt er sich kaum genießen, wenn nicht die materiellen Grundgüter gewähr-leistet sind. Wer indes solche dingfesten Güter in die Waagschale legt, ob Brot oder Geld, Wohnraum, Heizung oder Trinkwasser, ob Medikamente oder ein Buch, ein Smartphone, einen Akku, der wird zwar auf eine nachvollziehbare Weise angeben können, was die Messeinheiten darüber sagen, wer wie viel be-kommt. Nur, ob diese Güter auch guttun, bleibt selbst bei den sorgfältigsten Berechnungen offen.

30

35

40

45

50

55

60

65

Page 5: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 5

3. Und wenn die Ressourcen knapp sind?[…] Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko-logischen Knappheiten eine drängende Rückfrage ein. Was soll aus der Erde werden, wenn der Mensch bekommt, was er braucht? Was, wenn er in der Gegenwart mit Recht satt und zufrieden ist, wie es zurzeit der Intellektuelle Steven Pinker in seinem Werk »Aufklärung jetzt!« feiert, aber dadurch die Erde in ihren Ressourcen so erschöpft, dass an ein gutes Leben für die kommenden Generationen nicht mehr zu denken ist? Was hieße Lebensqualität in einer Moderne, die gerade auf dem besten Wege ist, sich selbst aufzu-fressen? Gut also für wen und wann? Heute? 2075?

Es sorgt im Raum beim Publikum oft für eine gewisse Gelassenheit, wenn ich für solche Überlegungen und Abwägungen John Rawls aufschlage, den US-amerikanischen Theoretiker der Gerechtigkeit, der mit seiner »Theory of Justice« 1971 ein neues Fundament gelegt hat, das bis heute ein Bezugspunkt des Den-kens ist. Was der Kantianer Rawls sagt, kann so wohltuend einfach klingen. So vernünftig. Grundgüter, heißt es in seinem Hauptwerk, hätten ihren philosophischen Ort in der Frage, was gut sei, und die handle von dem Gedanken, »dass sich das Wohl des Menschen bestimmt als der für ihn vernünftigste Lebensplan unter einigermaßen günstigen Umständen«. Nun, klar, gewiss. Grundgüter seien dann »Dinge, von denen man annimmt, dass sie ein vernünftiger Mensch haben möchte, was auch immer er sonst haben möchte«, dazu zählt John Rawls »Rechte, Freiheiten, Chancen sowie Einkommen und Vermögen«, und übrigens außerdem das »Selbstwertgefühl«.

Alles in allem ist es wiederum einfach: »Das Gute ist die Befriedigung vernünftiger Bedürfnisse.« Nach welchem Maß? Das regelt die Vernunft. Denn Menschen sind schließlich vernünftig. Sie teilen sich nämlich, meint Rawls, die Grundgüter »nach dem Grundsatz, dass einige mehr haben dürfen, wenn das die Lage derer, die weniger haben, verbessert«. […]

4. Statt Kapitalismus – Respekt, Liebe und Selbstentfaltung?Manche […] Denker fragen gegenwärtig, welche Grundgüter im ungebremsten Kapitalismus zum guten Leben gehören, zum Beispiel Vater und Sohn Skidelsky, […] beide tief besorgt um die Eskalation des ewigen kapitalistischen »Mehr, mehr, mehr«, dem politisch bisher kein Einhalt zu gebieten ist. Wie viel ist genug? Wovon?

Vater und Sohn haben unter allen Basisgütern eine Auswahl getroffen, die sich unsystematisch mit dem Guten zu einer materiell-moralischen Mixtur verwirrt: Auf beiden Listen der Skidelskys stehen die Sicher-heit, der Respekt, die Freundschaft, die Muße, die Gesundheit, die Persönlichkeit und die Harmonie mit der Natur. […]

Oder […] die Soziologin Eva Illouz, die in ihrem Werk zwar nicht nach dem guten Leben fragt, wohl aber nach jener Grundsubstanz, ohne die vermeintlich alles nichts ist, weil sie das selbstwertsteigernde Gefühl von Einzigartigkeit zu bieten hat: die Liebe. Es liegt nahe, zu fragen, ob es ein gutes Leben ohne das Gut gibt, nach dem so viele sich sehnen: lieben, geliebt werden. […]

70

75

80

85

90

95

100

105

Page 6: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 6

Martha Nussbaum hat mit ihrem »Capabilities Approach« aufgeführt, was als Fähigkeiten eines jeden menschlichen Lebens in Würde zu achten sei. Sie zählt die Lust zu spielen ebenso dazu wie die Urteilskraft, die künstlerische Fantasie, das Bedürfnis nach politischer Teilhabe und das Recht, Liebe ohne Gewalt zu erfahren. […] Nussbaum fragt nicht nur nach den menschlichen Fähigkeiten, die in einem guten Leben gedeihen können, sondern auch nach Praktiken der Hoffnung, die konstitutiv sind für ein demokratisches Leben jenseits der Angst, sie fragt nach der Kunst, der Philosophie und dem Glauben. Die Universalität mit lokaler Färbung, das Politische und die Zuversicht also: Daraus scheint der magische Mix zu bestehen […].

5. An andere denken statt an sich selbst?Inzwischen […] (will) das Publikum darüber diskutieren […], wie man denn nun selbst ein gutes Leben führt, eine ganze Biografie entlang, über die Zeit hinweg: wie man’s macht, in der Praxis. Und wenn man so fragt, dann treten andere Akteure der Ideengeschichte auf, der 88-jährige kanadische Philosoph Charles Taylor etwa, der in seinem Aufsatz »Leading a life« darüber nachdenkt, wie sich unvergleichliche Güter überhaupt vergleichen lassen, wenn es doch oft Konflikte zwischen dem Wohlergehen anderer und der eigenen Zufriedenheit gibt. Und der es deshalb besonders wichtig findet, wie sich ein Gut in das eigene Leben einfügt oder eine Entscheidung zur Biografie eines Menschen passt.

Nicht minder anziehend wirkt die Resonanztheorie des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa. Sein Denken der Weltbeziehung kehrt sich ab vom eskalierenden Wettrennen um Ressourcen und will vielmehr wissen, was es in einem Leben eigentlich ist, das uns etwas sagt und bedeutet, das uns berührt und uns auf ein Gegenüber antworten lässt. Und ebenso einladend sind die Gedanken des vor wenigen Jahren verstor-benen französischen Philosophen Paul Ricœur, der fragt, was das Leben des handelnden und leidenden Menschen denn überhaupt sei. Er meint, es komme für das Gelingen eines Lebens darauf an, dass sich ein Mensch »bis zum letzten Atemzug« selbst als einen Zusammenhang verstehen könne, der in der Begeg-nung mit einem Gegenüber Antworten findet. In nichts drückt sich deshalb für Ricœur das Leben so sehr aus wie in der Güte, dem Widerpart des selbstverliebten Lebens. Taylor, Rosa, Ricœur: Mit diesen dreien vergeht oft der Abend.

6. Arm, aber in Würde frei? […] Die Begegnung mit den Werken der Ideengeschichte (ist) vielen im Publikum längst nicht mehr Praxis genug. Wie denn nun? Konkreter! Oft und öfter landen die Seminare zum guten Leben deshalb zuletzt auf dem Boden. Bei einem uralten Bauern in der Ardèche zum Beispiel, Pierre Rabhi, dem runzeligen Alten, der sich auf Bildern mit der Erde in den Händen zeigt. Er hat ein Leben lang mit seiner Idee vom guten Leben geduldig Ernst gemacht, indem er ein Stück Boden bearbeitet hat, das ihm gehört, als freier Mensch und Staatsbürger. Lange hat er in den fünf Jahrzehnten dieses Wegs ohne Strom, ohne fließend Wasser gelebt und dennoch fünf Kinder großgezogen – arm, aber in Würde frei, wie er erzählt. Dem städtischen Sparkas-senangestellten, der ihm dereinst keinen Kredit bewilligen wollte, um das Stück Land zu kaufen, hat Pierre Rabhi erklärt, was ihm das bedeute: die Schönheit, das Licht, die Stille des Lands. Etwas Eigentum. Und die Weigerung, sich anderen Menschen zu unterwerfen. Irgendwann hat er den Kredit bekommen.

Elisabeth von Thadden, ZEITmagazin ONLINE 20. 6. 2019, www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2019-06/gutes-leben-glueck-zufrie-denheit-beduerfnisse-gueter

110

115

120

125

130

135

140

145

Page 7: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 7

Einstieg – Vorlage für die Lehrkraft

1. Die Maslowsche Bedürfnishierarchie diskutieren• Zeichnen Sie als Lehrkraft, bevor Sie den Text ausgeben, das untenstehende Schaubild der

Pyramide mit den beiden Leitfragen an die Tafel. Sparen Sie zunächst die Beschriftung aus, und diskutieren Sie mit der Klasse, was man in die Zeilen der Bedürfnispyramide eintragen könnte.

• Beschriften Sie die Pyramide mit den klassischen fünf Ebenen nach Abraham Maslow. Fügen Sie die unteren Zeilen (»WLAN« und »AKKU«) nach einer Pause kommentarlos ein. Die Schülerinnen und Schüler können nach einem Verblüffungsmoment diese Wendung kommentieren. Was ist wichtig im digitalen Leben, welche Bedürfnisse hat meine virtuelle Identität?

• Halten Sie die wichtigsten Ideen Ihrer Schülerinnen und Schüler an der Tafel fest.

Die BedürfnispyramideWas ist wichtig für ein gutes Leben?Welche Bedürfnisse müssen erfüllt sein?

Selbst-verwirklichung

Soziale Bedürfnisse

Wertschätzung

Sicherheit und Geborgenheit

Grundbedürfnisse zum Leben

Page 8: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 8

Aufgaben

2. Aspekte für Lebensqualität sammeln, ordnen und bewertena) Schreiben Sie Ihre spontanen Einfälle und Gedanken in die Felder. Stichpunkte genügen.

Schneiden Sie die einzelnen Kärtchen dann aus.b) Bilden Sie sechs Gruppen. Diese Gruppen werden auch im folgenden Arbeitsschritt zusammen-

arbeiten. Werfen Sie alle ausgeschnittenen Kärtchen in Ihrer Gruppe zusammen, und diskutieren Sie die einzelnen Aspekte. Ordnen Sie sie dabei auf dem Tisch in Kategorien an, und bewerten Sie die Ideen: • Ist das wirklich wichtig? • Kann man darauf tatsächlich verzichten? • Was macht am Ende wirklich glücklich? Notieren Sie weitere interessante Themen und Fragestellungen, die Sie im Verlauf der Diskussion aufwerfen.

Lebensqualität

Was zählt? Was kann weg?

Was zählt? Was kann weg?

Was zählt? Was kann weg?

Was zählt? Was kann weg?

Was zählt? Was kann weg?

Page 9: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 9

3. Graffiti-Methode: ethisch-philosophische Ideen als Wandplakat darstellen Diese Methode ist ein strukturiertes Gruppen-Brainstorming. Bleiben Sie dafür in den gleichen Gruppen wie bei Aufgabe 2 zusammen. Sie brauchen für diese Aufgaben große Plakate (DIN A1 oder Tapetenbahnen) und mehrere dicke Filzstifte oder Ähnliches in verschiedenen Farben und gegebenenfalls einen Klebestift. Stellen Sie im Raum für jede Gruppe einen Tisch auf, auf den die Papierbögen gelegt werden. Jede Gruppe beschäftigt sich mit einem Textabschnitt des Artikels (Nummer 1 bis 6).

a) Lesen Sie Ihren Artikel-Abschnitt. Notieren Sie in der Mitte Ihres Plakates die im Text behandel-ten ideengeschichtlichen Thesen für ein gutes Leben knapp in eigenen Worten.

b) Schreiben Sie auf dem Plakat individuell Ihre Ideen, Fragen, Gedanken oder Einwände zu diesen Thesen auf. Gehen Sie ganz offen vor: Notieren Sie spontane Einfälle, oder diskutieren Sie mit Gruppenmitgliedern Punkte, die Sie beschäftigen. Orientieren Sie sich an den Ausführungen im Text, oder bringen Sie neue Aspekte ins Spiel. Sie können auch kreativ Zeichnungen und Skizzen verfassen oder inhaltlich passende Kärtchen aus Aufgabe 2 als eine Art Kommentar einkleben.

c) Nach fünf bis zehn Minuten geht jede Gruppe zum jeweils nächsten Tisch, um sich mit dem Thema der anderen Gruppe zu beschäftigen und weitere Ideen festzuhalten. Der Prozess wird rundum so lange fortgesetzt, bis jede Gruppe wieder an ihrem ursprünglichen Plakat ange-kommen ist. Die Gruppenmitglieder lesen alle auf dem Bogen stehenden neuen Kommentare und ziehen ein Fazit, indem sie die wichtigsten Gedankengänge in einer kurzen Präsentation im Plenum vorstellen.

Page 10: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 10

Impulsfragen für die Gruppen als Hilfestellung

Gruppe 1: Braucht man Akkus?• Ändern sich die »Zutaten« für ein gutes Leben durch kulturelle oder technische Innovationen?• Brauchen Menschen in unserer Kultur das Gleiche wie in anderen Kulturen?• Das digitale Leben: Wohlstandsspielerei oder Notwendigkeit?

Gruppe 2: Mehr Güter, mehr Glück?• Brauche ich Wohlstand für mein Glück?• Machen immer mehr Güter immer glücklicher? Wann ist es genug?• Kann ich immaterielle Güter genießen, wenn ich keine materielle Basis habe?

Gruppe 3: Und wenn die Ressourcen knapp sind?• Darf ich meine Lebensqualität auf Kosten zukünftiger Generationen ausbauen?• Ist der Mensch vernünftig genug, freiwillig zu verzichten, wenn er alle Grundgüter hat?• Welche Rolle spielen politische Rechte für ein gutes Leben?

Gruppe 4: Statt Kapitalismus – Respekt, Liebe und Selbstentfaltung?• Welche Rolle spielen die Mitmenschen für ein gutes Leben? Welche die Liebe?• Ist ein Leben nach ethischen Werten auch ein gutes Leben?• Muss ich mich in einem guten Leben selbst verwirklichen?

Gruppe 5: An andere denken statt an sich selbst?• Wie entscheide ich, wenn es Konflikte zwischen dem Wohlergehen anderer und der eigenen

Zufriedenheit gibt?• Kann ich allein, ohne die Hinwendung zu anderen Menschen, glücklich leben?• Was ist wichtiger: Selbstverwirklichung oder Altruismus?

Gruppe 6: Arm, aber in Würde frei? • Kann man in Armut glücklich sein?• Ist Bedürfnislosigkeit der Schlüssel zu einem guten Leben?• Ist Freiheit der Schlüssel zu einem guten Leben?

Page 11: Thema im Juli 2019: Gutes Leben – gibt’s dafür eine …...Seit ein paar Jahrzehnten erst mischt sich in der Abwägung von Gütern und Gutem angesichts der öko - logischen Knappheiten

»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel? 11

IMPRESSUMProjektleitung: Franziska Sachs, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Projektassistenz: Jannike Möller, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, didaktisches Konzept und Arbeitsaufträge: Susanne Patzelt, Wissen beflügelt

ZEITmagazin ONLINE: Umfrage – Was ist Ihnen wichtig im Leben? www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2019-06/glueck-gutes-leben-zufriedenheit-leser

ZEITmagazin ONLINE: Instagram: Ist hier das gute Leben? www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2019-06/instagram-selbstinszenierung-fotos-gutes-leben

ZEITmagazin ONLINE: Vergesst mal euer perfektes Lebenwww.zeit.de/zeit-magazin/leben/2019-06/selbstoptimierung-glueck-community-care-selfcare-egoismus

ZEITmagazin ONLINE: »Die Leute sollten ein wenig den Fuß vom Gas nehmen«www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2019-06/frank-trentmann-konsum-glueck-interview

ZEITmagazin ONLINE: Schwerpunkt: Die Suche nach dem Glückwww.zeit.de/schwerpunkte/gutes-leben/index

planet wissen: Formeln fürs Glückwww.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/glueck/pwieformelnfuersglueck100.htmlwww.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/glueck/index.html

philosophie.ch: Gutes Lebenwww.philosophie.ch/philosophie/highlights/gutesleben

Internetseiten zum Thema: Gutes Leben – gibt’s dafür eine Formel?

Das kostenlose ZEIT-Angebot für Schulen Die Unterrichtsmaterialien für das Schuljahr 2018 / 19 »Medien verstehen« und »Schule, und was dann?« sowie DIE ZEIT für drei Wochen im Klassensatz können Sie kostenfrei bestellen. Alle Informationen unter: www.zeit.de/schulangebote