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1. und 2. September 2017 Semperoper 1. SYMPHONIEKONZERT Christian THIELEMANN Nikolaj ZNAIDER BRUCH Violinkonzert Nr. 1 g-Moll op. 26 BRUCKNER Symphonie Nr. 1 c-Moll

THIELEMANN ZNAIDER BRUCH - Staatskapelle Dresden · Pauken, Violine solo und Streicher DAUER ca. 25-30 Minuten Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 g-Moll op. 26 1. Prelude. Allegro

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1. und 2. September 2017Semperoper

1 . S Y M P H O N I E K O N Z E R T

Christian

T H I E L E M A N NNikolaj

Z N A I D E R

B R U C HViolinkonzert Nr. 1 g-Moll op. 26

B R U C K N E RSymphonie Nr. 1 c-Moll

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1. und 2. September 2017Semperoper

1 . S Y M P H O N I E K O N Z E R T

Christian

T H I E L E M A N NNikolaj

Z N A I D E R

Kunst zählt zu den wichtigsten Kulturgütern unserer Gesellschaft und setzt immer wieder neue Impulse, die uns inspirieren und zum Nachdenken anregen. Wir freuen uns daher ganz besonders, als Partner der Semperoper Dresden Kunst und Kultur zu fördern und so einen Beitrag leisten zu können.

VW_Programmhefte_135x210.indd 1 30.08.17 09:34

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2 3 1. SYMPHONIEKONZERT

Christian ThielemannDirigent

Nikolaj ZnaiderVioline

FREITAG1.9.1720 UHR

SA MSTAG2.9.1720 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

1. SYMPHONIEKONZERT PROGRAMM

Bruckners symphonische AnfängeChristian Thielemanns Beschäftigung mit dem symphonischen Werk von Anton Bruckner führt zur Eröffnung der neuen Saison in die Frühphase des Oberösterreichers. Die Unbekümmertheit des Finalsatzes der ersten Symphonie veranlasst den späten Bruckner zu der Äußerung: »So kühn und keck bin ich nie mehr gewesen.« Selbstbewusst kraftvoll, mit einem rückblickenden Lyrismus, tritt Max Bruchs bekanntes erstes Violinkon-zert auf, das nicht zufällig als Glanzstück seiner Art gilt.

Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginnim Opernkeller der Semperoper

Max Bruch (1838-1920)Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 g-Moll op. 261. Prelude. Allegro moderato – attacca2. Adagio3. Finale. Allegro energico

P A U S E

Anton Bruckner (1824-1896)

Symphonie Nr. 1 c-Mollrevidierte Linzer Fassung (1877)1. Allegro2. Adagio3. Scherzo. Schnell – Trio. Langsamer4. Finale. Bewegt, feurig

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4 5 1. SYMPHONIEKONZERT

 Die Saison 2017 / 2018 ist Christian Thielemanns sechste Spielzeit als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Über Stationen an der Deutschen Oper Berlin, Gelsenkirchen, Karlsruhe, Hannover und Düsseldorf kam er 1988 als Generalmusikdirektor nach Nürnberg. 1997 kehrte

der gebürtige Berliner in seine Heimatstadt als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin zurück, bevor er das gleiche Amt von 2004 bis 2011 bei den Münchner Philharmonikern innehatte. Neben seiner Dresdner Chefposition ist er seit 2013 Künstlerischer Leiter der Osterfest-spiele Salzburg, deren Residenzorchester die Staatskapelle ist. Intensiv widmete er sich den Komponistenjubilaren Wagner und Strauss. Aber auch Werke von Bach und Henze, Rihm und Gubaidulina dirigierte er am Pult der Staatskapelle Dresden. Zudem leitete er Neuproduktionen u. a. von »Manon Lescaut«, »Elektra« und »Der Freischütz«. Bei den Osterfestspielen Salzburg dirigierte er u. a. »Parsifal«, »Arabella« und »Otello«. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn mit den Berliner und Wiener Philharmonikern sowie mit den Bayreuther Festspielen, die er seit seinem Debüt im Sommer 2000 (»Die Meistersinger von Nürnberg«) alljährlich durch maßstabsetzende Interpretationen prägt. Von 2010 an war er musikalischer Berater auf dem »Grünen Hügel«, im Jahr 2015 wurde er zum Musikdirektor der Festspiele ernannt. Im Zuge seiner viel-fältigen Konzerttätigkeit folgte er Einladungen der großen Orchester in Amsterdam, London, New York, Chicago und Philadelphia und gastierte außerdem in Israel, Japan und China.

Christian Thielemanns Diskographie als Exklusivkünstler der UNITEL ist umfangreich. Zu seinen jüngsten Einspielungen mit der Staatskapelle zählen u. a. die Aufnahmen der Symphonien Nr. 3 und 4 von Anton Bruckner sowie die Symphonien und Solokonzerte von Johannes Brahms. Mit den Wiener Philharmonikern legte er eine Gesamteinspie-lung der Symphonien Beethovens vor. Er ist Ehrenmitglied der Royal Academy of Music in London sowie Ehrendoktor der Hochschule für Musik »Franz Liszt« Weimar und der Katholischen Universität Leuven (Belgien). 2015 wurde ihm der Richard-Wagner-Preis der Richard-Wagner-Gesell-schaft der Stadt Leipzig verliehen. Im Oktober 2016 ist er mit dem Preis der Stiftung zur Förderung der Semperoper ausgezeichnet worden.

Christian ThielemannC H E F D I R I G E N T D E R

S Ä C H S I S C H E N S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N

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6 7 1. SYMPHONIEKONZERT

 Nikolaj Znaider wird nicht nur als einer der führenden Geiger unserer Zeit gefeiert, er gilt auch als einer der viel-seitigsten Künstler seiner Generation, der gleichermaßen als Solist, Dirigent und Kammermusiker erfolgreich ist. Auf Anregung von Valery Gergiev wurde er 2010 zum Principal

Guest Conductor des Orchesters des Mariinsky-Theaters in St. Peters-burg ernannt. Engagements führten ihn ans Pult u. a. des Danish Radio Symphony, des Konzerthausorchesters Berlin, des Orchestre National de France sowie der Münchner Philharmoniker. Regelmäßig dirigiert er das Hallé Orchestra sowie das London Symphony Orchestra. Im April 2016 gastierte er beim Washington National Symphony Orchestra. Eine enge Partnerschaft verbindet ihn mit der Filarmonica del Teatro Comunale in Bologna. 2011 / 2012 war er Capell-Virtuos der Staatskapelle Dresden und hier als Solist, Dirigent und Kammermusiker zu erleben – zuletzt im Silvesterkonzert 2016 unter Leitung von Christian Thielemann.

Als Solist arbeitet Nikolaj Znaider mit renommierten Orchestern und Dirigenten zusammen. Seine Rezitals und Kammermusikkonzerte führen ihn in die bedeutendsten Säle der Welt, u. a. nach Brüssel, Bilbao, Dublin, Kopenhagen und London. Er war Gründer und zehn Jahre auch Künstlerischer Leiter der Nordic Music Academy.

Mit Alan Gilbert und den New York Philharmonic hat er das Violin-konzert von Carl Nielsen aufgenommen. Zudem erschien Elgars Violin-konzert mit der Staatskapelle Dresden unter Sir Colin Davis. Die preis-gekrönte Aufnahme der Violinkonzerte von Brahms und Korngold mit den Wiener Philharmonikern unter Valery Gergiev sowie seine früheren Aufnahmen, darunter die Violinkonzerte von Beethoven und Mendelssohn mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta und die Violin-konzerte von Prokofjew und Glasunow mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons, erhielten viel Lob von der Fachpresse, ebenso wie die Einspielung des Gesamtwerks für Violine und Klavier von Johannes Brahms zusammen mit Yefim Bronfman.

Nikolaj Znaider spielt auf der »Kreisler« Guarnerius del Gesu 1741, die ihm vom Königlich Dänischen Theater – unterstützt durch die Velux Foundations und die Knud Højgaard-Stiftung – als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt wird.

Nikolaj Znaider Violine

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8 9 1. SYMPHONIEKONZERT

ENTSTEHUNG

18(64) / 66-68

UR AUFFÜHRUNG

7. Januar 1868 in Bremen unter Leitung des KomponistenSolist: Joseph Joachim, dem das Werk gewidmet ist

BESETZUNG

2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, Pauken, Violine solo und Streicher

DAUER

ca. 25-30 Minuten

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 g-Moll op. 26

1. Prelude. Allegro moderato – attacca2. Adagio3. Finale. Allegro energico

»… DASS DIE AUFKÄMPFENDE FLAMME REIN UND GOLDEN DURCHSCHEINE«Bruchs Violinkonzert g-Moll

 Linien in gegenläufigen Bewegungen – damit beginnt Max Bruch sein weithin bekanntes erstes Violinkonzert. Flöten und Klari- netten folgen einem absteigenden Verlauf, während die Fagotte gleichzeitig aufwärts streben, grundiert von ruhenden Hörnern. Mit nur wenigen Strichen beschwört Bruch eine konträre

Stimmung, die von der Solovioline aufgegriffen wird. Auch sie agiert in einem Wechselspiel, dem ein allseitiger Aufstieg eingeschrieben ist. Freilich scheint auch dieses Aufschwingen nur möglich mit kurzzeitigen, innehaltenden Abstiegen, um Kraft zu schöpfen für das Bezwingen noch höher gelegener Gipfel. Ein auskomponierter Einschwingvorgang, der immer mehr an Fahrt gewinnt und Schübe gestenreicher Emphase liefert. Das unerbittliche Pochen der Bässe im Pizzicato, während der Solopart das Hauptthema ausführt, die scharfe Punktierung des Hauptgedankens im Marcato mit einem anschlie-ßenden Schlag der Bekräftigung, der in Sechzehnteln gebrochene Aufschwung der Violine im Sinne eines nochmaligen Nachdrucks  – alles atmet den Geist durchdringender Gegenwart, gewillt, den einmal eingenommenen Raum gestalterisch auch auszufüllen. Jede Figur ist auf Unmittelbarkeit ausgerichtet, auf unverstellte, direkte Wirkung. So jedenfalls präsentiert sich der Beginn des Werkes und lässt ahnen, dass hier etwas aus einem Guss vorliegt. Doch blickt man in den Entste-hungsprozess des Violinkonzerts, zeigt sich ein anderes Bild.

Max Bruch* 6. Januar 1838 in Köln† 2. Oktober 1920 in Berlin

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Als der Dirigent Hermann Levi nach Drucklegung des Werkes Kritik übt, entgegnet ihm Bruch am 26. April 1868 sichtlich gereizt: »Muß ich erst sagen, daß ich das Violin-Concert Sommer 1864 angefangen, und erst jetzt, nach wahrlich langer oft unterbrochener, wieder aufgenom-mener, liebe- und mühevoller Arbeit, veröffentlicht habe? Ich habe drei, 4 Durchführungen im Finale gemacht, gestrichen, konnte mir nie genug thun, endlich wurde es so, wie ich es haben wollte, und jetzt ist es gut, und es ist gerade so, wie es sein muß.« Dem ist in der Tat eine lange Zeit zahlloser Veränderungen vorausgegangen, wie man leicht an den reichlichen Streichungen und vielfach veränderten Seitenzahlen in der autographen Partitur ersehen kann. Bereits nach der Premiere der ersten Fassung in Koblenz am 24. April 1866 mit Otto von Königslöw als Solisten sieht sich der Komponist genötigt, das Werk zu überarbeiten – obwohl es eine günstige Aufnahme erfährt. Es ist das letzte Winterkonzert der Saison, gehalten »zum Vortheil des Evangelischen Frauen vereins«. Der Rezensent der Coblenzer Zeitung bezeichnet das Opus insgesamt zwar als »keineswegs allseitig vollendet«, hebt jedoch den »in Gesang und Passage fast vollendet schöne[n] Adagiosatz« hervor. Vor allem im Blick auf das Finale ist zu lesen: »Dem Componisten, der eben nicht überall seinen Joachim oder Laub zur Verfügung haben wird, kann kaum Anderes übrig bleiben, als die Instrumentation bedeutend zu vereinfachen, dass die aufkämpfende Flamme rein und golden durchscheine.« Bruch greift die Anregung auf. Er lässt sich von dem namhaften Geiger Joseph Joachim bei der Ausführung des Soloparts beraten. Im Frühsommer 1866 über-sendet er ihm die Partitur zur Begutachtung und Kommentierung. Joachim findet das Werk durchaus »sehr violinmäßig«, macht jedoch auf einige Passagen aufmerksam und regt an, die für sich stehenden ersten beiden Sätze zu verknüpfen. Ermutigt von Joachims konstruktiver Reaktion überarbeitet Bruch das Werk in den folgenden Wochen. Im Spät-sommer 1866 begegnen sich Komponist und Geiger in Hannover, wo das Werk schließlich eine Privataufführung mit dem Hoforchester erlebt.

»Eine ganz fabelhafte Carrière«

Dennoch ist sich Bruch nicht sicher und schickt die Partitur zu einer weiteren Durchsicht an den Leipziger Gewandhaus-Konzertmeister Ferdinand David, der tatsächlich eine nochmalige Revision anregt. Doch lehnt Bruch in einem Brief an Hermann Levi vom 6. Dezember 1866 die »echt David’sche[n] Violin-Passagen« weitgehend ab: »Ich werde übrigens Davids Kritik nur mit großer Vorsicht benutzen. Echt David’sche Violin-Passagen möchten verflucht schlecht in das Concert hineinpassen.« Eine Ende 1866 erarbeitete Neufassung des Finales folgt früheren Änderungs-

vorschlägen von Hermann Levi, der Bruch spürbar ermuntert: »Bedaure nicht, das Violinkonzert geschrieben zu haben; über sein Mißlingen soll-test Du Dich nicht durch den Glauben hinwegsetzen, Dich auf fremdem, Deiner ›Natur‹ widerstrebendem Boden bewegt zu haben; cultiviere den Boden, und er wird Dir und uns schöne Früchte bringen.« Bruch scheint dem wohlmeinenden Rat zu folgen. Schließlich kommt es zu einer endgül-tigen Redaktion, wie aus einem Brief vom 19. Februar 1868 hervorgeht: »Es [das Konzert] erscheint in 14 Tagen (auch die gestochene Part.) mit

Max Bruch, nach einer Fotografie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann, erschienen 1881 in dem illustrierten Familienblatt »Die Gartenlaube«, Leipzig

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der Bezeichnung von Joachim. Ich war im Oct. [1867] 8 Tage in Hannover, und stellte mit Joachim die endgültige Fassung fest.« Wenige Wochen zuvor hatte am 7. Januar 1868 in Bremen unter Leitung des Komponisten die äußerst erfolgreiche Uraufführung mit Joseph Joachim als Solisten stattgefunden – nur einen Tag nach Bruchs dreißigstem Geburtstag. Kurz danach spricht Bruch von einer »ganz fabelhafte[n] Carrière« des Werks, die sich auf ganz Europa ausstreckt. Schnell erlebt das Violinkonzert weitere Aufführungen in Hannover, Aachen, Brüssel, Kopenhagen und Köln, stets mit großem Zuspruch. Es wird Bruchs spätere Violinkonzerte bei weitem überstrahlen.

Der Fluch beginnt zu wirken – und reduziert den Komponisten zusehends auf ein Werk. Bereits 1887 wütet er in einem Brief an den Verleger Fritz Simrock: »Nichts gleicht der Trägheit, Dummheit, Dumpf-

heit vieler deutscher Geiger. Alle 14 Tage kommt Einer und will mir das – I. Concert vorspielen; ich bin schon grob geworden, und habe ihnen gesagt: ›Ich kann dies Concert nicht mehr hören – habe ich vielleicht bloß dies eine Concert geschrieben? Gehen Sie hin und spielen Sie endlich einmal die andern Concerte, die ebenso gut, wenn nicht besser sind!‹« Noch im November 1903 berichtet Bruch seiner Familie entnervt aus Neapel: »… an der Ecke der Toledostraße, bei Castellamare, am Posilipp stehen sie schon, bereit hervorzubrechen, sobald ich mich sehen lasse, und mir mein erstes Concert vorzuspielen. (Hol’ sie Alle der Teufel! Als wenn ich nicht andere, ebenso gute Concerte geschrieben hätte! –)« Der Erfolg des Werkes lastet auf seinem Schöpfer bis zu dessen Lebens-ende. Angesprochen auf seine Lebensleistung, bemerkt Bruch 1907 anlässlich des zehnten Todestages von Johannes Brahms: »Brahms ist zehn Jahre tot, doch noch immer wird über ihn gelästert, sogar unter den besten Musikkennern und Kritikern. Ich sage jedoch voraus, daß er im Laufe der Zeit immer mehr geschätzt werden wird, während die meisten seiner Werke nach und nach in Vergessenheit geraten. In 50 Jahren wird sein Glanz als der des überragenden Komponisten aller Zeiten hell erstrahlen, während man sich meiner hauptsächlich nur wegen meines g-Moll Violinkonzertes erinnern wird.« Es dauert noch einige Jahre, bis Bruch Johannes Brahms an der Schwelle des Todes nachfolgen wird. In den Morgenstunden des 2. Oktober 1920 entschläft er in Berlin. Noch am selben Tag vermerkt die Deutsche Allgemeine Zeitung: »Von Bruchs Werken werden seine Chöre und Violinkonzerte noch lange leben. Sein Name wird in der Musikgeschichte weiterleben als einer der stärksten Vertreter der großen nachklassischen Vorzeit.« Die Beisetzung erfolgt auf dem St. Matthäus-Friedhof in Berlin in der Großgörschenstraße. Das Begräbnisfeld umgibt ihn von gut zweihundert Berliner Persönlichkeiten, darunter der Generaldirektor der Staatsbiblio thek Adolf von Harnack, der Pathologe und Politiker Rudolf Virchow, die Architekten Johann Heinrich Schmieden und Alfred Messel, die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sowie der Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg. Seinen Grabstein zieren die Worte: »Musik ist die Sprache Gottes.« Während der Trauer-feier ertönt das Adagio des g-Moll-Violinkonzerts. Es ist purer Gesang, den die Solovioline intoniert. Und erinnert daran, dass Bruch namentlich auf dem Gebiet der Chorwerke und Oratorien aktiv gewesen ist. In Stil und Gestus zeigt das Adagio eine Verwandtschaft zu Felix Mendelssohn, nicht allein zu dessen Violinkonzert, sondern vor allem zu Aufbau und Führung der Mendelssohnschen Melodie, wie sie u. a. in den »Liedern ohne Worte« Eingang gefunden hat. Vielleicht äußert sich in Bruchs g-Moll-Violinkonzert tatsächlich ein nachklassischer, geordneter Stil, gehalten in Einfachheit und Klarheit, der eine direkt ansprechende Inner-

Der Anfang des zweiten Satzes in der Handschrift von Max Bruch

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EUROPA-TOURNEEder Sächsischen Staatskapelle Dresden

4. SEPTEMBER 2017 | 20 UHRFR ANKFURT A M M AIN, ALTE OPER

6. SEPTEMBER 2017 | 20 UHRMÜNCHEN, PHILHAR MONIE IM GASTEIG

8. /9. SEPTEMBER 2017 | 19.30 UHRWIEN, MUSIK VEREIN

11. SEPTEMBER 2017 | 21 UHRM AIL AND, TEATRO ALL A SCAL A

Christian Thielemann DirigentRudolf Buchbinder KlavierNikolaj Znaider Violine

Werke von Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy, Max Bruch und Anton Bruckner

lichkeit transportiert. Und womöglich schlägt Bruchs Prägung von seinen Lehrern Ferdinand Hiller und Carl Reinecke durch, beide beeinflusst von Schumann und Mendelssohn. Überdies war Bruch 1857 zur Fortsetzung seiner Studien bei Ferdinand David, Eduard Rietz und Moritz Hauptmann nach Leipzig gewechselt. Hauptmann, Freund von Mendelssohn und Spohr, ist Musiktheoretiker und Lehrer, zudem später Nachfolger Bachs als Thomaskantor und Direktor der Thomasschule.

Wechselspiele

Ohne Zweifel steht Bruch der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts näher als den späteren Jahren. Blickt man auf die nachfolgende Gene-ration der damals sogenannten Modernisten um Richard Strauss, Hugo Wolf, Max Reger und Hans Pfitzner, so stößt diese bei Bruch auf vollkom-mene Ablehnung. In einem nicht näher bezeichneten Brief schreibt er: »Die bedeutenden Leute, mit denen man gelebt hat, gehen Einer nach dem Anderen dahin. Was im 20. Jahrhundert aus der Kunst werden soll, das wissen die Götter.« Sechs Jahre vor seinem Tod fragt er skeptisch nach der Haltbarkeit neuer Kompositionen im Vergleich zu jenen Werken von ihm, die sich im Repertoire behaupten konnten: »›Frithjof‹ hat sich nun wirklich 50 Jahre erhalten und wirkt heute noch wie damals. Wo mögen aber die Produkte der Herren Rich. Strauß, Reger & Consorten sein?!!« Doch gerade für Strauss hinterlässt Bruch Spuren. In der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entstandenen »Alpensinfonie« findet sich im Abschnitt »Auf dem Gletscher« jedenfalls jenes charakteristische abstei-gende Dreiklangsmotiv, das Bruch bereits im Adagio seines ersten Violin-konzerts als tröstendes Gegengewicht in den Bläsern zur himmelstre-benden Violine eingesetzt hatte. Als Sinnbild steht es wiederum, wie zu Beginn des Werkes, für einen Wechsel von Auf- und Abstieg. Bemerkens-wert, dass Strauss das Pendelmotiv nun in der »Alpensinfonie« in gleicher Funktion verwendet, wenn es nämlich im Ausklang bei fortgeschrittener Dämmerung und nach erfolgtem Abstieg wiederkehrt. Ein wechselsei-tiger Verlauf, auf das Engste gebündelt, ist sicher allen Zeiten wesensnah, bald mehr, bald weniger. Was Bruch als ›Nachklassiker‹ in den unmittel-baren Auf- und Abschwüngen allerdings modelliert, ist der übergreifende Puls der Zeiten, jenes klassische Ebenmaß, das für Ausgleich sorgt im Aufruhr der Affekte. A N D R É P O D S C H U N

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ENTSTEHUNG

Januar 1865 bis 14. April 1866 in Linz (1877 Retuschen am Periodenbau, möglicherweise auch 1884)2. Fassung von 12. März 1890 bis 18. April 1891 in Wien

UR AUFFÜHRUNG

9. Mai 1868 im Redoutensaal in Linz mit dem erweiterten Thea-terorchester unter Leitung des KomponistenDie Wiener Fassung wird am 13. Dezember 1891 im Wiener Musikvereinssaal mit den Wiener Philharmonikern unter Leitung von Hans Richter urauf-geführt.

BESETZUNG

3 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken und Streicher

DAUER

ca. 45-50 Minuten

Symphonie Nr. 1 c-Mollrevidierte Linzer Fassung (1877)

1. Allegro2. Adagio3. Scherzo. Schnell – Trio. Langsamer4. Finale. Bewegt, feurig

»… DER DAS WERDEN STÄNDIG IN SICH LEBENDIG TRÄGT«Bruckners erste Symphonie

 Das Ende steht am Anfang. Als Bruckner im Januar 1865 seine erste Symphonie zu komponieren beginnt, wendet er sich zunächst dem Finale zu. Erst nach dessen Fertigstellung macht er sich an die Arbeit zum ersten Satz. Bruckner krem-pelt die Verhältnisse um, er geht einen Umweg. Offenkundig

erliegt er der Versuchung, die symphonische Entwicklung zu durchbre-chen, um später anzukommen, wo er eigentlich hin will. Innerhalb des symphonischen Verlaufs setzt Bruckner mit dem Finale noch einmal neu an, sein kompakter Beginn beansprucht eine Eigenständigkeit und stellt die Entwicklung des Werks auf eine neue Stufe. Das Finale, das einem frei gestalteten Sonatensatz folgt, ist mit der Spielanweisung »Bewegt, feurig« überschrieben. Vor allem der fast schon aggressive Schwung des Beginns soll Bruckner später veranlasst haben, vom »kecken Besen« zu sprechen. Das »kecke Beserl«, ein Wiener Studentenwort für eine ungebundene oder schnippische junge Frau, ist dabei Ausdruck einer Ursprünglichkeit, die im Begriffe steht, ihre eigene Sprache innerhalb der symphonischen Tradition auszuformen. Rückschauend bemerkt Bruckner, sich beim Finale um keine Katze geschert und nur den funkelnden Überfällen nachkomponiert zu haben.

Um seinem eigenen Ton mehr Gewicht zu verleihen, begibt sich Bruckner auf die Suche nach Förderern und einflussreichen Fürspre-chern. Nach Vollendung des ersten Satzes macht er sich auf nach München, wo er u. a. die dritte Aufführung von Wagners »Tristan« am 19. Juni 1865 besucht, die einen so vollständigen Sieg erringt, dass sich Wagner zu der Bemerkung »nie wieder« hinreißen lässt, um damit anzudeuten, dass dergleichen eigentlich nicht zu wiederholen sei. Dirigent der Uraufführungsserie ist Hans von Bülow, dem Bruckner die fertigen Ecksätze seiner Ersten vorlegt. Noch 1876 erinnert sich Bruckner gegenüber Wilhelm Tappert an diese Tage: »Damals sprach

Anton Bruckner* 4. September 1824 in Ansfelden (Oberösterreich)† 11. Oktober 1896 in Wien

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Bülow über meine C-moll-Symphonie No. 1, über Originalität und Kühn-heit einerseits, über die hübschen Gedanken, wie er sie nannte, ande-rerseits sein Interesse und Erstaunen aus, und zwar auch zu Wagner, der mich dann zu sich einlud.« Später ist von den »hübschen Gedanken« nicht mehr viel übrig. Bülows abschätziges Wort über Bruckner als »Halbgenie + Halbtrottel« weht Mitte der 1880er Jahre klatschsüchtig durch die musikliebenden Kreise. Doch ist es noch nicht soweit. Vorerst fühlt sich Bruckner in den Sommertagen des Jahres 1865 in München bestens aufgehoben. Frühes Resultat des Aufenthalts an der Isar ist der Trio-Teil, datiert mit »München 25. Mai 1865«. Das dazugehörige Scherzo schreibt Bruckner Ende 1865 / Anfang 1866 neu. Mit ihm begründet er einen für seinen Personalstil entscheidenden Satzcha-rakter. Mit dem Adagio schließt Bruckner die Komposition ab, der Datumseintrag weist den 14. April 1866 aus.

Bruckners symphonischer Werdegang ist nicht ohne den Einfluss des Linzer Kapellmeisters Otto Kitzler zu denken, der Bruckner zwischen Dezember 1861 und Juli 1863 in Formenlehre, Instrumentation und Komposition unterrichtet. Bald stellt sich heraus, dass der ursprünglich geplante Zeitraum von zwei Jahren zu großzügig bemessen ist. Für den zu vermittelnden Stoff braucht Bruckner – der »talentvolle und streb-same Künstler«, wie es in Kitzlers Zeugnis heißt – kaum mehr als 19 Monate. Kitzler, zehn Jahre jünger als sein Schüler, ist jenem in Sachen musikalischer Welterfahrung weit voraus. 1834 in Dresden geboren, erlebt er in der Elbresidenz noch Richard Wagner als Kapellmeister. Unter Wagners Leitung soll er in Beethovens neunter Symphonie, jener denkwürdigen Aufführung am Palmsonntag des Jahres 1846, mitge-sungen haben. Fortan bleibt Wagner das Zentrum seines musikalischen Empfindens. Als Wagners »Tannhäuser« am 13. Februar 1863 seine Linzer Erstaufführung erlebt, ist Kitzler maßgeblich daran beteiligt. Bruckner, der sich durch intensives Partiturstudium auf das Ereignis vorbereitet, studiert den Pilgerchor ein. Die Aufführung wird sein Erwe-ckungserlebnis, das der Schriftsteller und Musikkritiker Ernst Décsey mit den Worten beschrieben hat: »Denn immer erleiden die großen Musiker einen Vorfahren unter Schauern, der sie niederwirft und doch erhebt, als gehöre der fremde Besitz nun auch ihnen.« Darin spiegelt sich eine produktive Anverwandlung, zu der sich bereits Goethe zu einer Kommentierung veranlasst sah: »In der Erstarrung such ich nicht mein Heil, / Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.« In der Tat verleibt sich Bruckner Wagners Besitz ein. Es scheint, als gehöre ihm dieser ganz, wenn im ersten Satz überaus deutliche »Tannhäuser«-Anklänge tönen, als wolle mit dem Posaunenthema die Kopie als Original wirken. Doch weiß Bruckner: Kopien leiten zum Original und leiten wieder von Anton Bruckner, Fotografie von Joseph Löwy, Wien 1854

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20 21 1. SYMPHONIEKONZERT

diesem weg. Das Bläserthema aus Wagners »Tannhäuser«-Ouvertüre entführt das schwere Blech in eine Erhabenheit, die nicht selten verführt. Bruckner lenkt diese Entwicklung um. Das Blech, umrauscht von schwir-renden Geigenkaskaden, evoziert einen Sog, der schnell wieder in sich zusammenfällt, als sei die aufgebaute Spannung dem Komponisten nicht geheuer.

»Ins Symphonische hat mi der Mayfeld eini’ trieb’n«

In den Unterricht fällt auch die Komposition der sogenannten Studien-symphonie f-Moll, laut Kitzler nicht mehr als eine »Schularbeit«, zu der Bruckner »nicht besonders inspiriert gewesen war«: »Über diese meine Zurückhaltung«, so Kitzler, »schien er gekränkt, was mir bei seiner unendlichen Bescheidenheit auffiel. Später nach Jahren, gestand er mir mit Lachen, daß ich doch Recht gehabt hätte.« Bruckners tatsächliche symphonische Initiation kommt von anderer Seite. Während seiner Linzer Jahre steht er in enger Freundschaft mit den Mayfelds, einem Ehepaar mit weitreichenden künstlerischen Ambitionen. Moritz Edler von Mayfeld ist maßgeblich die Aufführung von Bruckners d-Moll-Messe am 18. Dezember 1864 im Linzer Redoutensaal zu verdanken. Er ist es auch, der im Abendboten eine Rezension veröffentlicht und über Bruckners Schaffen eine Prophezeiung wagt: »…daß er schon in nächster Zukunft das Feld der Symphonie, und zwar mit größtem Erfolge bebauen dürfte.« Dazu passt Bruckners lapidare, idiomatisch gefärbte Bemerkung: »Ins Symphonische hat mi der Mayfeld eini’ trieb’n.« Kurz nachdem Mayfelds Besprechung im Druck erschienen ist, nimmt Bruckner die Arbeit an seiner ersten Symphonie auf. Indem er mit dem Finale beginnt, scheint er der Zukunft direkt in den Rachen zu greifen – Bruckner, der sympho-nische Siegfried, kühn und selbstbewusst.

Über den Anfang der Symphonie bemerkt der Wiener Musik-kritiker Theodor Otto Helm 1891: »Wer könnte selbst nach einmaligem Hören je das scharf gezeichnete, echt symphonische und zugleich Bruckner’sche Thema vergessen, mit welchem orgelpunktartig der erste Satz anhebt?« Das Werk beginnt im Gestus eines mahlerähnlichen Marsches mit straff gesetzten Vierteln. Darüber erhebt sich in den Violinen eine punktierte Linie, die mehrmals unterbrochen wird und sich dennoch als langgestreckte Melodie versteht. Aus ihr nimmt Bruckner einzelne Motive heraus, verbreitert sie und verwendet sie als elementare Bausteine für die erste Steigerungswelle. Nachdem die Entwicklung in groben Zügen wiederholt wird, mündet Bruckner nach einem kurzen Übergang in die Gesangsperiode, deren Thema in einem Wechselspiel von weiten und nahen Tonsprüngen Bögen aufbaut, die zu den voran-

gegangenen Takten in deutlichem Gegensatz stehen. Das Modell greift Bruckner in den nachfolgenden Symphonien häufig auf: gedämpfter Beginn, eine sich steigernde Klangballung sowie die Überleitung in einen gesanglich gestalteten Themenkomplex. Ein Herantasten im musi-kalischen Ausdruck bestimmt den Beginn des zweiten Satzes. Seufzer-gesten wachsen sich in längere, mitunter kadenzierte Einheiten aus, die durch die Instrumentengruppen wandern, bevor die ersten Violinen eine weitgespannte Melodie entfalten, um sie in einem dichten Netz musika-lischer Linien einzuschmelzen: Bruckner schafft dadurch ein natürliches Fließen. Wenn Leibniz’ Sentenz, Musik sei »eine unbewusste Übung in der Arithmetik, bei der der Geist nicht weiß, daß er zählt« stimmt, so trifft für Bruckner Schopenhauers Abwandlung dieses Satzes zu: die Musik sei »eine unbewußte Übung in der Metaphysik, bei der der Geist nicht weiß, daß er philosophiert«. Alles deutet darauf hin, dass Bruckner tatsächlich keine Kenntnis davon hat, dass er philosophiert. Er strebt kein Sezieren der Bedeutungen musikalischer Begrifflichkeiten an. Wie auch? Seine Musik, zumal die des zweiten Satzes, weiß es besser. Sie öffnet den Horizont, weitet ihn für eine Perspektive, mit der sich die Sicht auf die Welt verschiebt. In diesem Sinne fasst der Philosoph Ernst Bloch die Eigenart der Bruckner’schen Musik zusammen: »Endlich ist mit Bruckner

Der Redoutensaal in Linz, wo am 9. Mai 1868 Bruckners erste Symphonie uraufgeführt wird.

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wieder Gesang in die Welt gekommen, ein gutes Gewissen dazu. Von Wagner hat er gelernt, aber das überhitzte Wesen, die ›blutige‹ Partitur ist verschwunden. Es erscheint tätige Beweglichkeit und sich in sich wandelnde Ausstrahlung geistiger Art, geistiger Wesenheiten, schwin-gende Ruhe, wenn von Bruckner auch mehr noch aus dem ›kosmischen‹ denn aus dem ›intelligiblen‹ Reich geschöpft.« Sein und Werden finden zu einer glücklichen Einheit. Ihr Gegensatz ist im Sinne einer Überwindung alles Trennenden aufgehoben. Die Vision, der Bruckner im zweiten Satz folgt, äußert sich durch ein dynamisches Pulsieren der Musik. Der große Musikforscher Ernst Kurth spricht denn auch über Bruckner von einem »Dynamiker der Form«. Kurth verknüpft Bruckners »Innendynamik« mit dem Begriff des Werdens. Wenn das Formprinzip der Klassiker »überwie-gend statisch« sei, so sei jenes der Romantik »überwiegend dynamisch«. Für Bruckner sei Form kein Ruhe-, sondern ein Spannungsbegriff, »der das Werden ständig in sich lebendig trägt« – ein fortwährendes Schöpfen aus sich selbst, das die Bewegung in all ihren Spielarten gestaltenreich zum Prinzip erhebt. Das Scherzo trägt schon ganz den Habitus späterer Scherzi, rhythmisch prägnant mit kompaktem Zugriff. Bruckner arbeitet mit Klangflächen, die er aus spiralförmigen, kreisenden Dreiklangs-brechungen gewinnt. Der zupackende, entschlossene Satz steht im Zeichen von Bruckners Diktum, er sei sich bei der Arbeit an seiner ersten Symphonie vorgekommen wie ein Kettenhund, der seine Kette zerrissen habe: endlich frei – wenngleich nur als Künstler. Der Akt der Befreiung ist im Scherzo durchaus zu hören: Selbstbewusst legt hier einer seine Fesseln ab und gebiert sich selbst. Demgegenüber breitet Bruckner im Trio eine weiche, versöhnliche Stimmung aus. Sanft drängende, chroma-tische Aufgänge, wie sie auch bei Tschaikowsky zu finden sind, kontras-tieren die sich aufwärts windenden Dreiklangsketten des Scherzos. Reste einer gemütlichen, oder besser: gemütvollen Gefühlslage suchen im Trio einen Ausgleich zu dem energischen Tonfall des Scherzos, bevor sich dessen leidenschaftlicher Furor auf den Anfang des Finales überträgt.

Bruckners Erste in Dresden

Die erste Aufführung von Bruckners c-Moll-Symphonie findet am 9. Mai 1868 im Linzer Redoutensaal statt. Dem Komponisten steht ein erweitertes Theaterorchester zur Verfügung, dessen Musiker sichtlich Mühe mit der Partitur haben. Unzulänglichkeiten der Orchestermittel führen dazu, dass Bruckner die Musiker in den Proben nicht selten laut weinend beschwört. Zudem zeigt sich, dass er als Orchesterdiri-gent (Bruckner befindet sich in seinem 44. Lebensjahr) nicht routiniert und souverän genug agiert. Dennoch feiert die Uraufführung einen

großen Erfolg, wenn auch das Werk den meisten unverständlich bleibt. Die Aufführung ist mäßig besucht, man hebt insbesondere die Wirkung des Scherzos hervor. Eine überregionale Beachtung findet allerdings kaum statt. Zwischen März 1890 und April 1891 erarbeitet Bruckner eine neue Reinschrift mit Änderungen in der Instrumentation sowie im Phrasenbau und der Konturie-rung von Motiven. Anlass für die Aufführung am 13. Dezember 1891 ist seine Ernennung zum Ehrendoktor der Wiener Univer-sität am 7. November 1891. In der sogenannten Wiener Fassung wird die Symphonie in den nachfolgenden Jahren einige Male aufgeführt, unter anderem durch Richard Strauss. Erstmalig erklingt die ursprüngliche Linzer Fassung wieder am 2. September 1934 unter der Leitung von Peter Raabe in Aachen. Seither hat sich

diese Version im Repertoire behauptet, vielleicht auch deswegen, weil »in ihr ein urwüchsiger, noch durch keine Rücksichtnahme ›zusam-mengeschreckter‹ Bruckner zu uns spricht«, wie es Leopold Nowak im Nachwort zur neuen Gesamtausgabe schreibt. Die Dresdner Königliche musikalische Kapelle spielt das Werk erstmals am 14. März 1911 unter Leitung ihres Kapellmeisters Hermann Kutzschbach. Geht man davon aus, dass an diesem Tage die Wiener Fassung zur Aufführung gelangt ist, wird die Linzer Fassung von der Kapelle erstmalig am 4. November 1945 im offiziell ersten Symphoniekonzert der Spielzeit 1945 / 1946 im Kurhaus Bühlau unter Leitung von Joseph Keilberth gespielt. Das Datum, wenige Monate nach Kriegsende, steht noch ganz im Zeichen eines Neuanfangs. Dass dieser in der deutschen Geschichte wichtige Einschnitt mit Bruckners erster Symphonie, zumal in ihrer ursprüng-lichen Fassung, verbunden ist, zeigt, wie eng Anfang und Ende, Beginn und Abschluss sich berühren. A N D R É P O D S C H U N

Programmzettel der königl. sächs. Erstaufführung durch die Hof- kapelle am 14. März 1911 unter Hermann Kutzschbach

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24 25 1. SYMPHONIEKONZERT

1. Violinen Roland Straumer / 1. Konzertmeister Thomas Meining Tibor Gyenge Christian Uhlig Jörg Kettmann Susanne Branny Barbara Meining Birgit Jahn Martina Groth Wieland Heinze Henrik Woll Anett Baumann Anselm Telle Sae Shimabara Franz Schubert Ludovica Nardone

2. Violinen Reinhard Krauß / Konzertmeister

Matthias Meißner Jens Metzner Alexander Ernst Beate Prasse Mechthild von Ryssel Elisabeta Schürer Emanuel Held Martin Fraustadt Paige Kearl Robert Kusnyer Yukiko Inose Michael Schmid Ga-Young Son

Bratschen Sebastian Herberg / Solo

Florian Richter / Solo

Andreas Schreiber Anya Dambeck Michael Horwath Uwe Jahn Ulrich Milatz Susanne Neuhaus Juliane Böcking Milan Líkař Uta Scholl Christina Voigt *

Violoncelli Simon Kalbhenn / Solo

Tom Höhnerbach Martin Jungnickel Uwe Kroggel Bernward Gruner Johann-Christoph Schulze Jakob Andert Anke Heyn Titus Maack Aleisha Verner

Kontrabässe Viktor Osokin / Solo

Martin Knauer Torsten Hoppe Christoph Bechstein Fred Weiche Reimond Püschel Thomas Grosche Johannes Nalepa

Flöten Andreas Kißling / Solo

Jens-Jörg Becker Giovanni Gandolfo

Oboen Céline Moinet / Solo

Volker Hanemann

Klarinetten Wolfram Große / Solo

Egbert Esterl

Fagotte Philipp Zeller / Solo Andreas Börtitz

HörnerJochen Ubbelohde / Solo

Robert Langbein / Solo

David HarloffJulius RönnebeckKlaus Gayer

Trompeten Mathias Schmutzler / Solo

Peter Lohse

PosaunenNicolas Naudot / Solo

Guido UlfigFrank van Nooy

Pauken Thomas Käppler / Solo

1. Symphoniekonzert 2017 | 2018 Orchesterbesetzung

* als Akademist / in

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1. SYMPHONIEKONZERT

Vorschau

Gustav Mahler JugendorchesterAuf Einladung der Sächsischen Staatskapelle Dresden

SA MSTAG 2.9.17 11 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

Ingo Metzmacher Dirigent Jean-Yves Thibaudet Klavier Valérie Hartmann-Claverie Ondes Martenot

Olivier Messiaen»Turangalîla«-Symphonie

1. Kammerabend

SONNTAG 17.9.17 20 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

Andreas Kißling FlöteRobert Oberaigner KlarinettePhilipp Zeller FagottRobert Langbein HornLenka Matějáková ViolineAnya Dambeck ViolaMatthias Wilde VioloncelloChristoph Bechstein KontrabassAstrid von Brück HarfeGunther Anger Klavier

Isang Yun»Novellette« für Flöte, Harfe, Violine und VioloncelloConradin KreutzerSeptett für Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass, Klarinette, Horn und Fagott Es-Dur op. 62Antonín DvořákKlavierquintett A-Dur op. 81

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IMPRESSUM

Sächsische Staatskapelle DresdenChefdirigent Christian Thielemann

Spielzeit 2017 | 2018

HER AUSGEBER

Sächsische Staatstheater – Semperoper Dresden © September 2017

REDAK TION

André Podschun

GESTALTUNG UND L AYOUT

schech.net Strategie. Kommunikation. Design.

DRUCK

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ANZEIGENVERTRIEB

EVENT MODULE DRESDEN GmbH Telefon: 0351 / 25 00 670 e-Mail: [email protected] www.kulturwerbung-dresden.de

TE X TNACHWEISE

Die Einführungstexte von André Podschun sind Originalbeiträge für die Programmhefte der Sächsischen Staatskapelle Dresden.

BILDNACHWEISE

Matthias Creutziger (S. 4); George Lange (S. 7); Die Gartenlaube, Leipzig 1881, S. 557 (S. 11); Archiv für Kunst und Geschichte Berlin (S. 12); Gesellschaft der Musikfreunde, Wien (S. 18); Sängerbund »Frohsinn« (S. 21); Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheater (S. 23)

Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.

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SächsischeStaatskapelle DresdenKünstlerische Leitung/ Orchesterdirektion

Christian ThielemannChefdirigent

Maria GrätzelPersönliche Referentin von Christian Thielemann

Jan Nast Orchesterdirektor

Tobias NiederschlagKonzertdramaturg, Künstlerische Planung

André PodschunProgrammheftredaktion, Konzerteinführungen

Matthias ClaudiPR und Marketing

Alexandra MacDonaldAssistentin des Orchesterdirektors

Elisabeth Roeder von Diersburg Orchesterdisponentin

Matthias GriesOrchesterinspizient

Steffen TietzGolo LeuschkeWolfgang PreißRobert MühleOrchesterwarte

Agnes ThielDieter RettigVincent MarbachNotenbibliothek

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