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Aus: Thomas Becker (Hg.) Ästhetische Erfahrung der Intermedialität Zum Transfer künstlerischer Avantgarden und ›illegitimer‹ Kunst im Zeitalter von Massenkommunikation und Internet Mai 2011, 248 Seiten, kart., 28,80 , ISBN 978-3-8376-1743-6 Der Transfer zwischen künstlerischer Avantgarde und Massenkommunika- tion ist ein Gründungsakt moderner Kunst. Jedoch haben sich die Formen dieses Transfers im Zeitalter von Musikvideos und Internet grundlegend geändert. Dieser Band konfrontiert zum ersten Mal die philologisch orientierte Forschung der Intermedialität mit musikwissen- schaftlichen Analysen. Die Beiträge zeigen: Der Transfer zwischen Schrift und Bild kann nicht mehr als leitendes Paradigma der Intermedialität ver- standen werden. Vielmehr stellt das Verhältnis zwischen Musik und Bild an- gesichts der Copyright-Probleme der Großindustrie eine neue Herausforde- rung für die Intermedialitätsforschung dar. Thomas Becker (PD Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Freien Univer- sität Berlin und lehrt zugleich Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universi- tät Berlin. Weitere Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/ts1743/ts1743.php © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Thomas Becker (Hg.) Ästhetische Erfahrung der

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Thomas Becker (Hg.)Ästhetische Erfahrung der IntermedialitätZum Transfer künstlerischer Avantgardenund ›illegitimer‹ Kunst im Zeitaltervon Massenkommunikation und InternetMai 2011, 248 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1743-6

Der Transfer zwischen künstlerischer Avantgarde und Massenkommunika-tion ist ein Gründungsakt moderner Kunst. Jedoch haben sich die Formen dieses Transfers im Zeitalter von Musikvideosund Internet grundlegend geändert. Dieser Band konfrontiert zum ersten Maldie philologisch orientierte Forschung der Intermedialität mit musikwissen-schaftlichen Analysen. Die Beiträge zeigen: Der Transfer zwischen Schriftund Bild kann nicht mehr als leitendes Paradigma der Intermedialität ver-standen werden. Vielmehr stellt das Verhältnis zwischen Musik und Bild an-gesichts der Copyright-Probleme der Großindustrie eine neue Herausforde-rung für die Intermedialitätsforschung dar.

Thomas Becker (PD Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Freien Univer-sität Berlin und lehrt zugleich Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universi-tät Berlin.

Weitere Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/ts1743/ts1743.php

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld

2011-04-18 16-23-09 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02c7270765938920|(S. 1 ) VOR1743.p 270765938928

Inhalt

EinleitungThomas Becker | 7

Das Ready-made als Stolperstein. Duchamp undBourdieu über die Inframedialität des feinen GeschmacksMichael Wetzel | 33

Das Medium formuliert, die Form figuriertMedium, Form und Figur im intermedialen VerfahrenJoachim Paech | 57

ImperceptiblesZur Intermedialität des Nicht-SichtbarenKarin Bruns | 75

Heautonomie im EpisodenfilmMichael Lommel | 97

Schrift als TonfilmZur Intermedialität und Emotionalität von SchriftBernd Scheffer | 107

Der Eselsschrei in der A-Dur-SonateRobert Bresson zu Film und MusikThomas Macho | 123

›Weiche‹ Musikvideos oder: Von Intermedialitätzu produsageBeate Ochsner | 139

. . . weil nicht sein kann, was nicht sein darfZur Entwicklung des deutschen Musikrechtsim Lichte intermedialer Kreativität (Sound Sampling)Frédéric Döhl | 167

Performing Live-ElectronicsDer Keyboarder Jordan RudessMichael Custodis | 199

Zur Intermedialität musikalischer BewegungFallbeobachtungenElena Ungeheuer | 217

Autorinnen und Autoren | 235

Register | 239

Einleitung

Thomas Becker (Berlin)

Wie schon Walter Benjamin in seinen Pionierarbeiten über die Ver-änderungen unserer Wahrnehmung durch Entwicklung modernerMedien feststellte, ist die massenmediale Distribution von Beginnan nicht nur Thema, sondern auch konstitutives Mittel der Form-gebung moderner Avantgarden. Laut Charles Baudelaire sind in derModerne lange epische Gedichte nicht mehr am Platz, da es umdas Erzielen eines sicheren Effekts gehe.1 Neben Edgar Allan PoesPoetic Principal stellte ihm zufolge die in Zeitungen abgedruckteKarikatur das Paradigma dieser modernen Produktionsweise dar,weil man ihre Pointe auf einen Blick hin decodieren könne.2 Zu-gleich war der französische Lyriker jedoch auch ein unnachgiebigerVertreter des l’art pour l’art, das massenmediale Wirkungsabsichtenkategorisch ablehnte. Die ersten modernen Formen der Massen-kommunikation gingen Hand in Hand mit einer als ambivalentempfundenen Virtualisierung des Publikums, die von den Künst-lern ebenso begrüßt wie abgelehnt wurde. Begrüßt wurde sie,weil Massenkommunikation nie eindeutig steuerbar ist und damitzum stabilisierenden Faktor einer Avantgarde werden konnte, dieihre häretischen Prophetien gegen die institutionell abgesicherte›Steuerungsmacht‹ etablierter Autoren durchzusetzen hatten. Abge-lehnt wurde sie, weil dieselben avantgardistischen Künstler zugleichMassenkommunikation als Motor einer Nivellierung von Kulturverabscheuten. So polemisierte Gustave Flaubert gegen die kultu-relle Demokratisierung durch Massenmedien, die das Proletariat

1 Mit Bezug auf E. A. Poe und der Favorisierung des kurzen Ge-dichts, vgl. Charles Baudelaire: Œuvres Complètes, hg. v. ClaudePichois, Paris 1976, Bd. II, S. 332.

2 Vgl. Thomas Becker: Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung ei-ner autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires, in: MarkusJoch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in derliteraturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, S. 164 ff.

8 Thomas Becker

lediglich auf die Dummheit der Bourgeoisie hebe.3 Wenn JacquesRancière die Schreibweise Flauberts als Ausdruck einer demokra-tischen Gleichheit versteht, die gegen jede Hierarchie gewendetsei, so dürfte dies ein der innerphilosophischen Distinktionswut ge-schuldetes Missverständnis sein, das einer philologischen Forschungnicht standhält.4 Rancière projiziert die Situation des ausgehenden20. Jahrhunderts auf das intermediale Spiel zwischen high and lowder traditionellen Avantgarde im 19. Jahrhundert, das einer anderenpolitischen Grundeinstellung als die heutige Avantgarde folgte.

Die ersten dezidiert modernen Autoren trauten der massenhaf-ten Rezeption nicht das demokratische Potenzial zu, das sie ihrereigenen kunstinternen Adaptation von Formen der Massenkommu-nikation zugestanden. Stéphane Mallarmés Zusammenarbeit miteiner Modezeitschrift ist im 19. Jahrhundert keineswegs eine Aus-nahme, sondern entspricht dem Selbstbewusstsein der ersten Mo-dernen, die den anspruchsvollen Umgang mit Massenmedien alsexklusive Praxis hochkultureller avantgardistischer Künstler ausstel-len.5 Die Bezugnahme auf Massenkommunikation ist für sie einstrategischer Einsatz, um sich nicht nur als weltoffenere ästhetische

3 »Tout le rêve de la démocratie est d’élever le proletaire au niveau debêtise des bourgeois [. . .]. Il lit les mêmes journaux et a les mêmespassions.« Gustave Flaubert: Brief Nr. 2022 an Georges Sande vom8. September 1871.

4 »Das egalitäre Versprechen ist in der Selbstgenügsamkeit [= sozialeFunktionslosigkeit, Th. B.] des Werks eingeschlossen, in seinerGleichgültigkeit gegenüber jeder bestimmten Politik [. . .]. DasWerk, das nichts will, das Werk ohne Blickpunkt [. . .] ist ›egalitär‹gerade durch diese Gleichgültigkeit, die jede Bevorzugung, jedeHierarchie aufhebt.« Jacques Rancière: Das Unbehagen in der Äs-thetik, Wien 2007, S. 51. Rancière widerspricht sich hier gehörig:Wenn die Kritik an einer ästhetischen Hierarchie eben nicht iden-tisch zu setzen ist mit dem Eintreten für politische Gleichheit, dasie ja gerade die politische und soziale Funktionslosigkeit einklagt,dann kann sie auch nicht Ausdruck einer politischen Gleichheitsein, die Flaubert dann ja konsequenterweise zurückgewiesen hat.

5 Mallarmés Mitwirkung an Modezeitschriften war auf eine Luxus-produktion hin angelegt, die aufgrund der massenhaft aufkommen-den Billigangebote scheitern musste. Vgl. dazu: Bettina Rommel:Subtext, Kontext, Perspektiven von Mallarmés Kritischen Schriften, in:Stéphane Mallarmé: Kritische Schriften, hg. v. Gerhard Goebel/Bet-tina Rommel, Gerlingen 1998, Bd. I, S. 319. Ebenso bezeichnendMallarmés Feststellung in dem Artikel Hérésies Artistiques von 1862,

Einleitung 9

Prophetie von akademisch legitimierter Literatur abzugrenzen, son-dern ebenso um den Ort der Autonomie von Autoren neu zubemessen und zu definieren. Die Zitation von Massenkultur ist alsoin diesen Fällen nicht nur gegen akademische Autorschaft, sondernzugleich auch gegen die nivellierende und damit als heteronomempfundene demokratisierende Massenkommunikation gerichtet.Diese ambivalente Stellung der Künstler zu den Massenmedienund einer Mehrheitsdemokratie sollte nicht in einem philosophi-schen Eskapismus à la Rancière vergessen werden. Vergisst mandies, so übersieht man nicht nur eine wichtige historische Achse,die sich seit den späten 1950er und frühen 1960er Jahren einstellte,sondern auch die soziale Stellung der intellektuellen Beobachter-position innerhalb dieses Spiels zwischen high and low culture, wozusich Philosophen ganz besonders eignen, wenn sie wieder einmal,um mit dem von Rancière so geschätzten Karl Marx zu reden, dieLogik der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit ihrer für universell an-genommen Logik verwechseln.

Zu Beginn der 1960er Jahre diagnostizierte Umberto Eco inder theoretischen Auseinandersetzung der intellektuellen Beobach-ter von Massenkommunikation das Erbe eines aus den klassischenAvantgarden des 19. Jahrhundert her rührenden Verhaltens:6 Im-mer noch stünden den ›Integrierten‹ intellektuelle ›Apokalyptiker‹gegenüber. Zu den Apokalyptikern zählt er die kulturpessimisti-sche Frankfurter Schule – mit Ausnahme Walter Benjamins. Ecozufolge teilen die Integrierten die Ausgangsthese der Apokalyptikervon einer ebenso trivialen wie banalen Kulturindustrie, ziehen aberden gegenteiligen Schluss, dass sie als notwendiges Übel der mo-dernen Demokratie akzeptiert werden müsse. Demnach ergänzensich beide Positionen darin, die zeitgenössischen Entwicklungender Massenkommunikation zu verkennen. Eco verweist auf exklu-sive Produktionen innerhalb der Massenproduktion des Jazz odereinzelner Comicautoren, die den zirkulären Prozess von Produk-tion und Rezeption der Massenmedien durchbrochen haben. SeineDiagnose sollte Recht behalten, denkt man etwa an den Holocaust-Comic Maus von Art Spiegelman, der an den Universitäten nicht

in dem er schreibt: »L’homme peut être démocrate, l’artiste sedédouble et doit rester aristocrate.« Ebd., S. 26.

6 Zur Grundthese Ecos siehe die Einleitung in: Umberto Eco: Apo-kalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frank-furt a. M. 1986 [1964], S. 15–35.

10 Thomas Becker

nur Stoff für historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungenabgibt, sondern mittlerweile auch in den Philologien und Kunst-wissenschaften wegen seiner ästhetischen Qualitäten internationalanerkannt ist.7 In allen Bereichen der Massenkommunikation setzteeine Differenzierung ein, die einen neuen, zwischen reiner Kultur-industrie und legitimer Hochkultur positionierten Bereich etabliert.Eine Demokratisierung schließt also nach Eco qualitativ herausra-gende Produktionen in der Massenkommunikation nicht aus. Da-mit hat er aber einen Grund benannt, warum selbst Benjamin ausheutiger Sicht keinen soziologisch adäquaten Ansatz mehr bietet.Die ästhetische Differenzierung innerhalb der Massenkommunika-tion und nicht mehr nur die Differenzierung der Hochkultur mittelsFormen der Massenkommunikation wurde im Zeitalter der elek-tronischen Massenkommunikation immer sichtbarer und stellt seitden 1960er Jahren genau jene Voraussetzung für eine neue Art desUmgangs mit den Medien dar, die Benjamin eben aufgrund seinesfrühen tragischen Todes noch nicht kennen konnte.

Auch für eine neue Soziologie der symbolischen Formen hatteEco schon eine diagnostische Spürnase. In einer längeren Anmer-kung lobte er einen jungen französischen Soziologen, der wederzu den Apokalyptikern, noch zu den Integrierten zu rechnen sei:Pierre Bourdieu.8 Bourdieu benannte ein Jahr nach Ecos Buch Apo-kalyptiker und Integrierte die Stellung von Kulturprodukten zwischenlegitimer Hochkultur und Kulturindustrie mit dem bezeichnendenTitel L’art moyen, der irrtümlich als Eine illegitime Kunst ins Deut-sche übersetzt wurde.9 Der Übersetzungsfehler einer ›illegitimenKunst‹ von 1986 für den 1965 geprägten Titel des art moyen darfals Indiz für die neue Entwicklung in der Nachfolge der 1960erJahre gewertet werden. Apokalyptiker wie Adorno sind heutzutage

7 Vgl. dazu: Thomas Becker: Vom Bubblegum zum Holocaust. ArtSpiegelmans MAUS, in: Markus Joch/York-Gothart Mix/NorbertChristian Wolf (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerk-samkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen 2009,S. 309–330.

8 Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik derMassenkultur, Frankfurt a. M. 1984 [1964], S. 157, Anm. 18.

9 Pierre Bourdieu u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchs-weisen der Photographie, Hamburg 2006. Auf deutsch zuerst 1986erschienen. Der französische Originaltitel von 1965 lautet: Un artmoyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie.

Einleitung 11

wohl weitgehend in den Hintergrund gedrängt worden, sofern sienicht dekonstruktiv ›postmodernisiert‹ wurden; an die Stelle derApokalyptiker – und dafür steht auch der dekonstruktiv aufgeklärteAdornismus – tritt seither vielmehr eine intellektuelle Lust an Mas-senkommunikation: am ›Illegitimen‹.10 Den Integrierten stehenheute nicht mehr apokalyptische, sondern hyperintegrierte Intel-lektuelle gegenüber, welche die Integrierten durch Überbietungeinzuholen versuchen. Die zu integrierende Kunst muss jetzt be-sonders gering legitimiert sein, mit einem Wort: am besten gänzlich›illegitim‹, um den ästhetischen Reiz zu erhöhen: Indem genau daszum guten Geschmack erklärt wird, was vom anerkannten, ›legiti-men‹ Geschmack aus gesehen als schlechter Geschmack gilt, stehtman in politischer Opposition zur Vorstellung eines Machtfeldes,das die Unterhaltung der Massenkommunikation als allzu leichteund unseriöse Form der banalen Sinnesreize verwirft, die angeblichnichts mit veritabler ästhetischer Erfahrung zu tun haben.11 Dieserintellektuellen Strategie einer Hegemonie der Integration im Na-men einer intellektuellen Opposition gegen den im Feld der Machtanerkannten Geschmack verdanken wir also seit den 1960er Jahreneine zunehmende Bejahung der Sinnlichkeit und Demokratisierungim Machtfeld. Warum sollte man dann dies mit dem kritischen Be-griff der Hyperintegration beschreiben?

Die symbolische Entgrenzung der Kunst ist nicht identisch miteiner sozialen Grenzverschiebung zwischen institutionell legitimier-ter Kultur und Massenkommunikation. Die Demokratie im Feldder Macht ist nicht mit Demokratisierung schlechthin zu identifi-zieren, was exakt den Fehler der Projektion Rancières auf die erstenmodernen Avantgarden ausmacht. Wenn Baudelaire den Kron-

10 Legitim und insbesondere ›illegitim‹ sind nicht als normative Be-griffe zu verstehen, sondern als Beschreibung der sozialen Stellungin Bezug auf durch Institutionen wie Universitäten und Akademiendefinierte Legitimität. Ein zu Institutionen verwehrter Zugang istdemnach als ›illegitim‹ zu bezeichnen, das aber einer anderen Artder Legitimität durch Mehrheitsrezeption entsprechen kann. Den-noch wird der Begriff ›illegitim‹ beibehalten, um kenntlich zumachen, dass die Liebe zur institutionell nicht legitimierten Kunstgerade deren andere Form der Legitimität übersieht. Daher ist ›il-legitim‹ hier stets mit Anführungszeichen vermerkt.

11 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichenUrteilskraft, Frankfurt a. M. 1987, S. 760, Anm. 6 und S. 766 f.

12 Thomas Becker

leuchter als wichtiger erachtet als die Aufführung, um sich vomakademischen Theater abzusetzen oder Duchamps Ready-madesin den 1960er Jahren ins Museum kommen, sind deswegen nochlange nicht alle Kloschüsseln und Kronleuchter zu legitimen Kunst-werken geworden. Eine symbolische Entgrenzung kann sogar alspointierte Grenzsetzung gegenüber dem Alltag fungieren: Wederdie Populärkultur noch das Feld der Macht konnte dieser Art der Er-schütterung legitimer Kultur durch Avantgarden in ihrer Zeit etwasabgewinnen. Wenn heutzutage allzu gern von einer Entgrenzungder Kunst geredet wird, wird vergessen, dass die ehemalige Forde-rung der russischen Avantgarde nach einer Aufhebung von Kunst inden Alltag einer Selbstverkennung entspricht, die heutige Künstlereben nicht mehr teilen. Als Roy Lichtenstein danach gefragt wurde,ob Comics Kunst seien, hat er dies definitiv zurückgewiesen.12 In-sofern darf man nicht aus den Augen verlieren, dass sich trotz derveränderten politischen Grundeinstellung moderner Avantgardenauch Kontinuitäten zu älteren Avantgarden erhalten haben, weil sieals Voraussetzung von Innovation empfunden werden.

Aber der Diskurs von einer Entgrenzung der Kunst scheint ge-nuin dem 20. Jahrhundert anzugehören, weil sich die Grenzen zwi-schen einer institutionell legitimierten Kunst und einer ›illegitimen‹Kunst verschoben und aufgeweicht haben. Ecos Studie zu Apoka-lyptiker und Integrierte ist selbst ein Monument dieses Phänomens.Die Verwendung von neuen Medien spielt hier eine entscheidendeRolle bei der Wechselwirkung von symbolischen Produktionender Massenkommunikation und künstlerischen Avantgarden. Abergerade diese Wechselwirkung hat neben der Aufweichung der Gren-zen auch die Verkennung mittransportiert, als wäre die Grenze zwi-schen Massenproduktion und anspruchsvoller Ästhetik vollkommenobsolet. Die Mehrzahl an Intellektuellen mögen Asterix genüsslichlesen, aber sie kennen den Holocaust-Comic von Art Spiegelmandann meist doch nur dem Namen nach. Die Fähigkeit von Intel-lektuellen, sich an trivialen Gegenständen zu delektieren, hat zwareine demokratische Befreiung und Hinwendung zur populären Kul-tur innerhalb des Machtfeldes gebracht, in das sie selbst integriert

12 Roy Lichtenstein im Gespräch mit David Pascal, in: Giff Wiff, revuebimestrielle publiée par le Centre d’Etude des Littératures d’ExpressionGraphique, Nr. 20, Mai 1966, S. 15: »Moi, je ne considère pas laB. D. comme un art, voyez-vous, mais elle offre des possibilités, etc’est cela qui m’interesse.«

Einleitung 13

sind, aber zugleich auch übersehen lassen, dass sich populäre Kulturlängst differenziert hat – und zwar genau nach dem Modell, das vonden Hyperintegrierten dann wieder bestritten wird: Innerhalb derPopulärkultur gibt es nicht nur Ausnahmen von Werken mit kom-plexen Strukturen, wie noch Eco konstatierte; ganze Felder wie derComic, der Film, der Trickfilm, der Jazz und die Rockmusik ha-ben Independent-Bewegungen auf den Weg gebracht, die sich übermehr als zwei Generationen nun schon innerhalb des Massenmark-tes als Gegenpol zu Major Labels erhalten haben. Diese dauerhafteReproduktion hat aber auch eine neben der durch Institutionen ab-gesicherten Reproduktion legitimer Kunst eine neue, andere Formder Legitimation hervorgebracht. Wenn sich also Intellektuelle derpopulären Kultur hinwenden mit der Attitüde, jede Grenze zwi-schen legitimer und populärer Kultur verwerfen zu können, indemman die trashigsten Produkte rezipiert, nimmt man nicht nur nichtmehr die Differenz zwischen einem Pol der Innovation und demökonomisch dominierten Markt innerhalb der Populärkultur selbstwar, sondern will sie auch nicht wahrhaben, um sich innerhalb desakademischen Diskurses prägnanter als mondäner Intellektueller ab-grenzen zu können und damit das Monopol der institutionellenLegitimität zu sichern.

Eine solch hyperintegrierte Haltung demonstriert etwa DietmarDath mit seiner Forderung nach Drastik, die er in Horrorfilmenund Pornografie ausmacht. Konstatiert er einerseits die Differenzzwischen Massenmarkt und Subkultur, so behauptet er doch ande-rerseits Subkultur sei »unpopulär, aber massenwirksam«.13 Sicherlichtrifft dies für so manche Hardcore-Pornografie zu, aber für Indepen-dent-Produktionen liegt die Sache genau umgekehrt: populär, abernicht massenwirksam, zumindest nicht so massenhaft wie die Pro-duktion von Major Labels. Da wendet sich ein intellektueller Autoreben ökonomisch dominierten Genres zu, um die Differenzierun-gen außerinstitutioneller Produktionen der Populärkultur allenfallsdrastisch zu übergehen: Jeder Angriff auf legitime Kultur im Sinnedes Unpopulären wird von ihm als Innovation romantisch verklärt,als befinde man sich noch im 19. Jahrhundert, wo es darum ging,um jeden Preis den bourgeois zu schockieren. Hier handelt es sichum die genau umgekehrte Richtung der enthistorisierenden Projek-

13 Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastikund Deutlichkeit, Frankfurt a. M. 2005, S. 16.

14 Thomas Becker

tion wie bei Rancière: Das 19. Jahrhundert wird auf Produktionendes 20. Jahrhunderts, d. i. auf den Porno- und Horrorfilm, proji-ziert. Auch wenn Dath sich von der Frankfurter Schule abgrenzt,entspricht dies exakt dem ›postmodernisierten‹ Adornismus einemebenso dekonstruktiv wie aufgeklärten Diskurs von verspäteten Alt-linken.

Es gibt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nurdas, was Bourdieu die anerkennende Verkennung bildungsfernerKlassen nannte, die zwar die Autorität der Kunst anerkennen, abernicht über Kompetenz und Code zu ihrem Verständnis aufgrundmangelnden kulturellen Kapitals verfügen.14 Es gibt auch die aner-kennende Verkennung populärer Kultur durch Intellektuelle, die inihrem Willen zur Distinktion diese so weit anerkennen, dass sie dieDifferenzierungen innerhalb der populären Kultur verkennen, umihre Libido der Distinktion gegen Akademismus und damit ihr Mo-nopol der institutionellen Legitimation aufrechtzuerhalten. Dieseaber reproduziert nur die objektiv bestehende Hierarchie legiti-mer Kunst gegenüber institutionell nicht legitimierter Kunst. Damitwird das Verfahren einer Distinktion gegen die schon im Feld derMacht anerkannte Kunst mittels Formen des Massenmarktes als uni-versal angesehen, während es allein auf Praktiken im Feld der Machtbeschränkt bleibt, in das Intellektuelle durch institutionell objek-tivierte Legitimation integriert sind. In dieser Hyperintegrationeiner angeblichen Hinwendung zur populären Kultur wird geradedas entscheidende neue politische Phänomen einer intermedialenKultur übersehen: Die Differenzierung zwischen einem Pol derInnovation einerseits und normalisierender Massenkommunikationandererseits, die laut Bourdieu zur Differenzierung legitimer Künstewie etwa der Literatur führte, ist seit der Mitte des 20. Jahrhundertseben kein Monopol legitimer Kunst mehr.

Die Behauptung einer objektiven Legitimationsstruktur15 giltdem Diskurs der Hyperintegrierten daher auch stets als suspekt. Siesind heute so stark darauf konzentriert, an beliebigen Formen der

14 Pierre Bourdieu, Die Feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichenUrteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, S. 503–519.

15 Zur den einzelnen Individuen vorausliegenden Objektivität einerkulturellen Legitimität: Pierre Bourdieu: Die gesellschaftliche Defi-nition der Photographie, in: ders., Luc Boltanski u. a.: Eine illegitimeKunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Hamburg 2006,S. 106.

Einleitung 15

Massenproduktion ihre Fähigkeit zu einer komplexen, ästhetischenDecodierung unter Beweis zu stellen, dass sie leichthin übersehen,wie sehr sie damit insgeheim eine objektive Legitimationsskala un-terschiedlicher Hierarchien in der Kultur voraussetzen, die sie imNamen einer gegenüber Massenkommunikation weltoffenen, durchAkademismus unverdorbenen Sinnlichkeit negieren.16 Währendz. B. Comics seit Eco zunehmend zum Gegenstand versierter semio-tischer Auseinandersetzungen geworden sind, zählen sie dennochbis heute keinesfalls zum schulischen Prüfungsstoff. Die seit den1960er Jahren immer wieder auftauchende diskursive Verneinungvon Legitimationshierarchien, die sich aus Lust am ›Illegitimen‹ inder Kulturproduktion speist, hat zu einer Habitualisierung des post-modernen Intellektuellen geführt, der nicht nur ›legitime‹ Kultur inFrage stellt, was zu einer fortgesetzten Demokratisierung der Kulturbeitragen könnte. Ihm erscheint eine Theorie der objektiv, allen in-dividuellen Produktionen vorausliegenden Legitimationshierarchiegrundsätzlich suspekt, zu der er selbst gehört. Aber man mag nochso postmodern sein, Noten werden gegeben, Gutachten werden er-stellt, der Kanon der Lehre wird im so genannten ›Bologna-Prozess‹neu geordnet bis hin zum Buhlen um die Aufnahme in die ›Ex-zellenzinitiative‹: All dies sind Kämpfe um Legitimität der Kultur.Manch einer mag einwenden, dass diese Kämpfe nichts mit demEigenwert von ästhetischen Erfahrungen zu tun haben.

Bisher war Massenkommunikation entweder Thema der Sozio-logie, der cultural studies oder der semiotisch orientierten Kultur-wissenschaft. Die Soziologie hat allerdings in Bezug auf ästheti-sche Erfahrung der Massenkommunikation das Feld vollkommenden Kulturwissenschaften überlassen. Hierzulande wird immer nurBourdieus Theorie der Rezeption von symbolischen Produktionenausgiebig gewürdigt, also seine Analyse in den Feinen Unterschie-den. Jenseits der Feinen Unterschiede hat Bourdieu eine Machttheoriesymbolischer Formen anzubieten, die weder ideologiekritisch argu-mentiert, noch eine rein funktionale Analyse im klassisch soziolo-gischen Sinn erbringt, sondern die spezifische ästhetische Qualitätvon einzelnen Werken und Autoren als Effekt von sozialen Pro-duktionsbedingungen zu verstehen in der Lage ist.17 Diese Macht-

16 Siehe dazu: Pierre Bourdieu: Der ›Gelehrte‹ und der ›Mann von Welt‹,in: ders., Die Feinen Unterschiede, S. 125 ff.

17 Schon in einem sehr frühen Text zur Theorie der spezifischenFelder (Literatur) polemisierte Bourdieu gegen eine rein funk-

16 Thomas Becker

theorie geht insbesondere über Michel Foucault hinaus, an den siedoch in mancher Hinsicht erinnert. So spricht Foucault an einerprominenten Stelle seiner Untersuchung Die Ordnung der Dingedavon, dass die Sprache in der Literatur des 19. Jahrhunderts zuihrem eigenen Sein komme.18 Wie immer man dies sonst noch inFoucaults Theorie verorten mag, so nimmt er damit eine Autono-misierungsbewegung in den Blick. Aber in seiner späteren Phaseeiner expliziten Machttheorie, also in seiner Phase der Genealogie,können Diskurse nicht mehr als autonom verstanden werden; siesind vielmehr alle von Machtstrategien durchzogen. In seiner frühe-ren ›archäologischen‹ Phase, zu der eben auch Die Ordnung der Dingegehört, handelt Foucault zwar in gewissem Sinn von einer Autono-misierung der Literatur, hat aber noch keine Machttheorie. Späterals ›Genealoge‹ hat er dann eine Machttheorie, die jedoch autonomeDiskurse ausschließt. Bei allem Respekt für die innovative Rolle derFoucaultschen Machttheorie in Bezug auf normalisierende Wissen-schaftsdiskurse, die den Körper umlagern, gilt es jedoch festzuhalten,dass der Denker der Diskontinuität an keiner Stelle seines Werks dieAutonomie der Kunstproduktion in der Moderne mit einer Analysevon Machtstrategien in Verbindung zu bringen gewusst hat.

Für Bourdieus Theorie der spezifischen sozialen Felder kultu-reller Produktion ist aber jede Autonomie eines Feldes Effekt von

tionale Analyse von Werken innerhalb der Soziologie, welchekulturelle Produkte allein statistisch behandelt. Dagegen stellt erdie Alternative einer strukturalen Analyse auf: Pierre Bourdieu:Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe, in: Scolies.Cahiers de recherches de l’Ecole Normale Supérieure, 1971 (1), S. 10 f.Dieser Text richtet sich parallel und gemeinsam mit Foucaultim Namen des Strukturalismus gegen Sartre. Sofern es sich umindividuelle Phänomene wie den Autor autonomer Literaturhandelt, plädiert Bourdieu nämlich für die relationale Einordungin eine Struktur als Methode der Objektivierung. Auch ein indi-vidueller Standpunkt experimenteller Literatur hat immer nocheine Position, die es folglich in ihrer relationalen Anordnung zuanderen Positionen im Feld zu objektivieren gilt. Zur qualitativenstrukturellen Relationierung von Positionen als Modell für eineObjektivierung kultureller Phänomene, wo statistische Methodennicht hinreichen: Pierre Bourdieu/Loïc J. D. Wacquant: ReflexiveAnthropologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 267.

18 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Hu-manwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974, S. 76 f.

Einleitung 17

Kämpfen um Legitimation. Im Laufe des 18. und des 19. Jahrhun-derts bilden sich laut Bourdieu aufgrund der Massenkommunika-tion, die das Publikum virtualisiert, zwei unterschiedliche Märkteder Kulturproduktion heraus.19 Zum einen entsteht dadurch das›Subfeld‹ symbolischer Großproduktion, das auf unmittelbaren öko-nomischen Profit setzt. Zum anderen das ›Subfeld‹ eingeschränktersymbolischer Produktion, wo Innovation eine höhere Anerkennunggenießt als der ökonomische Gewinn, weil nun Avantgarden nichtmehr für eine bestimmte soziale Gruppe oder eine bestimmte Au-torität produzieren müssen. Die Virtualisierung bedeutet jedochnicht einfach grenzenlose Freiheit der Zeichenverwendung, son-dern legt den nun vom Gängelband des Akademismus befreitenAvantgarden den intensivierten Zwang zur permanenten Distink-tion auf. Jede Position steht dabei in Relation zu einer anderenund setzt das ihr jeweils zu Verfügung stehende symbolische Kapitalim Kampf um Positionierungen ein. Und wer keinen Sinn für denhistorischen Abstand der Werke zu einander hat, kann auch nichtverstehen, worin Innovation besteht. Wer also den Zusammenhangvon intermedialer Vernetzung der Massenmedien und Strategienkünstlerischer Avantgarden begreifen will, ohne den Eigenwertvon Kunst und ästhetischen Erfahrungen an eine rein funktionsge-schichtliche Erklärung oder an eine nur auf der semantischen Ebeneoperierende Diskurstheorie zu verlieren, kommt an der FeldtheorieBourdieus nicht vorbei. Diese wäre also nicht einfach ein Desiderat,das die Intermedialitätsvorstellung durch ein weiteres Theoriean-gebot vervollständigt, sondern ein integraler Bestandteil zu einerAnalyse von Intermedialität, die Autonomisierung und Macht zu-sammenzudenken vermag.

Wenn Autonomisierungen mit ästhetischem Eigenwert nichtmehr nur innerhalb der legitimen Künste der so genannten Hoch-kultur zu finden ist, sondern die Massenkultur ähnliche Phänomeneder Differenzierung aufweist, dann muss man auch gegenüber denklassischen cultural studies eines John Fiske und Stuart Hall kritischeinwenden, dass Oppositionsstrukturen in der Massenkommunika-tion erst dann greifen, wenn sie über dauerhafte Objektivierungenim Sinne einer alternativen Legitimation verfügen. Laut Fiske abersoll es ein Widerstand sein, wenn untere soziale Klassen sich des von

19 Pierre Bourdieu: Le marché des biens symboliques, in: L’Année sociolo-giques 1971 (22), S. 50 ff.

18 Thomas Becker

Major Labels vorgesehen Konsumverhaltens verweigern, wie etwadie von ihm beobachteten Insassen eines Obdachlosenheims, dielaut jubeln, wenn in einem Thriller der Polizist für einen Momentdem Terroristen unterliegt und die schließlich abschalten, als sichder Sieg der Polizei über die Kriminellen andeutet.20 Fiske übergehtvollkommen, dass solch punktuelles Verhalten keine dauerhaftenoppositionellen Effekte hat, da einer solch habituellen Einstellungkeine Objektivierung in symbolischen Produktionen entspricht,die über individuelle oder punktuelle Äußerungen eines Habitushinausgingen. Punktuelle Oppositionen sind Anregungen für eineÜberwachungsmacht, aufmerksamer zu verfahren und führen dahernicht zu Differenzierungen, sondern allenfalls zu Normalisierungen,von denen wir seit Foucault wissen, dass sie nicht repressiv verfah-ren und daher Widerstände zulassen, ja sie sogar nutzen. Muss mandie cultural studies noch an die alte Hegel-Marxsche Erkenntnis ge-genüber den Romantikern erinnern, dass ein Subjekt ohne seineEntäußerung in Form von dauerhaften Objektivierungen keineSubjektivität ausbilden kann? Mit anderen Worten: Solche Bei-spiele von einer widerständigen populären Kultur näheren wiederden Verdacht, dass sie vielmehr den intellektuellen Blick nach Dis-tinktion innerhalb der legitimen Kultur bedienen. Es scheint, dassdie die ästhetische Erfahrung der Populärkultur nur sehr einseitigdurch eine intellektuelle Brille und damit zu romantisch gesehenwird. Dieselbe widerständige Populärkultur kann zu bloßer Nor-malisierung führen, solang sie sich nicht objektiviert und das heißt:einen eigenen modus operandi der Legitimation jenseits der institu-tionell vorgegebenen Legitimität gesichert hat. Bei der Analyse derpopulären Massenkommunikation sollte daher auch nicht vergessenwerden, dass Intellektuelle immer zur institutionellen Legitimationgehören. Gerade das, was einem intellektuellen Blick besondersentgegenkommt, kann einen deformierten Blick favorisieren, wel-che die andere Art des modus operandi übergeht. Die cultural studiesentsprechen damit exakt der von Bourdieu bisher nicht benanntenanerkennenden Verkennung populärer Kulturen durch intellektu-elle Positionen.

Auf der anderen Seite muss indes eingestanden werden, dassdie Feldsoziologie Bourdieus den Ansatz einer Analyse der illegiti-men Kunst von 1965 nicht nur nicht weiterverfolgt hat. Bourdieu

20 John Fiske: Power Plays, Power Works, London 1993, S. 1–5.

Einleitung 19

ist in seiner späten Kritik an Neoliberalismus sogar in eine extremapokalyptische Haltung gegenüber Jugendkulturen der Massenkom-munikation zurückgefallen.21 Die Frage nach einer Analyse derWechselwirkung zwischen high and low, welche nicht nur auf derSeite der legitimen Künste, sondern auch innerhalb der institutio-nell nicht legitimierten Produktion der Massenkommunikation zuDifferenzierungen geführt hat und zugleich eine Machtanalyse desKampfes um die Grenzen zwischen legitimer und ›illegitimer‹ Kul-tur einschließt, ist also bisher noch nicht einmal gestellt worden.Dass sie Bourdieu auch weiterhin nicht gestellt hat, scheint unteranderem darin zu liegen, dass er sich vornehmlich einer historischenAnalyse des literarischen Feldes zugewandt hat, also der Entstehungeines der legitimsten Felder unserer Kultur. Wenn das Thema derIntermedialität der Analyse von Machtspielen und der machtkriti-schen Selbstreflexion des Analysierenden innerhalb seiner Stellunglegitimer Kultur bedarf, dann muss umgekehrt auch diese reflexiveAnalyse des Wechselspiels zwischen legitimen und ›illegitimen‹ Po-sitionen durch die Theorie der Intermedialität ergänzt werden, umästhetische Erfahrungen jenseits der institutionellen Legitimität inihrer politischen, sozialen und kulturellen Transformationskraft ver-stehen zu können.

In der Intermedialitätstheorie gehört es inzwischen zum gu-ten Ton, das Buch Remediation von Jay David Bolter und Richard

21 »Tatsächlich setzen sich zum ersten Mal in der Geschichte (in einerGesellschaft, die zu den ökonomisch und politisch herrschendengehört) die Produkte einer Popkultur, die besonders cheap sind,als besonders cool durch. Die Jugendlichen aller Länder, die baggypants tragen, diese Hosen, deren Hosenboden am Oberschenkelhängt, wissen zweifellos nicht, dass diese Kleidermode, die sie zu-gleich für ultra-cool und ultra-modern halten, ihren Ursprung inden US-amerikanischen Gefängnissen hat; dasselbe gilt für eine ge-wisse Vorliebe für Tatoos! Das heißt, die Jeans-, Coca-Cola- undMcDonald’s-›Kultur‹ hat nicht nur ökonomische, sondern auch diesymbolische Macht auf ihrer Seite – eine Macht, die in Gestalteiner Verführung williger Opfer ausgeübt wird. Indem sie Kinderund Jugendliche [. . .] zu Adressaten ihrer Verkaufspolitik machen,sichern sich die großen Kulturproduktions- und Diffusionsunter-nehmen [. . .] einen immensen, nie zuvor dagewesenen Einfluss aufalle heutigen Gesellschaften, die dadurch einer Art Infantilisierungerliegen.« Pierre Bourdieu: Kultur in Gefahr, in: ders., Gegenfeuer 2:Für eine europäische Bewegung, Konstanz 2001, S. 87 f.

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Grusin zu zitieren. Eine ihrer Hauptaussagen lautet: »All media-tion is remedition.«22 Diese Formel soll zu verstehen geben, dassnicht nur neue Medien alte Medien zitieren und intensivieren, son-dern auch umgekehrt. Remedialisierung soll also nicht im SinneMarshall McLuhans gemeint sein, wonach neue Medien in altenenthalten sind und diese dann einer erneuten Medialisierung un-terzogen werden. Remedialisierung soll ein Grundphänomen allerMedien sein: »a medium is that which remediates«.23 Allerdingsgibt es für letzteres im Buch von Grusin und Bolter kein einzigesüberzeugendes Beispiel. Wenn amerikanische Nachrichtenmaga-zine die Struktur des world wide web zitieren, wie sie angeben, dannreproduziert dies nur die oberflächliche Erscheinung und nicht dieüber das Fernsehen hinausgehende kommunikative Struktur desworld wide web. Wenn Grusin und Bolter behaupten, sie wolltenden telelogisch motivierten Technikdeterminismus der klassischenMedientheorie eines Marshall McLuhan überwinden, dann dürfteihnen dies kaum gelungen sein, da sie selbst diese Teleologie alsMaßstab ihrer Medientheorie aufstellen:

»The supposed virtue of virtual reality, of videoconferencing and in-teractive television, and of the World Wide Web is that each of thesetechnologies repairs the inadequacy of media that it now supersedes. Ineach case that inadequacy is represented as a lack of immediacy, and thisseems to be generally true in the history of remediation. Photographywas supposed more immediate than painting, film than photography, tele-vision than film, and now virtual reality fulfills the promise of immediacyand supposedly ends the progression.«24

Es ist für ihre Stellung gegenüber McLuhan durchaus bezeichnend,dass Grusin und Bolter an einem bestimmten Punkt die Logik ihrerTheorie unversehens durchbrechen. Gehen sie davon aus, dass dashypermediale Zitieren von möglichst vielen Medien zugleich dieUnmittelbarkeit dieser zitierten Medien zugunsten der Unmittel-barkeit des Trägermediums bricht,25 so ist man äußerst verwundert,dass sie bei der Rockmusik genau das Gegenteil behaupten: Das

22 Jay D. Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Me-dia, Cambridge (MA) 2000, S. 55.

23 Ebd., S. 98.24 Ebd., S. 60.25 Ebd., S. 34: »In every manifestation, hypermediacy makes us aware

of the medium or media and (in sometimes subtle and sometimesobvious way) reminds us of our desire for immediacy.«

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permanente Zitieren von Medien in der Bühnenshow seit den1960er Jahren ziele allein schon auf unmittelbares Erleben: »[. . .]hypermediacy can also provide an ›authentic‹ experience, at leastfor our current culture; otherwise, we could not account for thetremendous influence of, for example, rock music.«26 Der von Ih-nen so heftig kritisierte McLuhan hatte zumindest benannt, dassauditive Phänomene viel eher der neuen grenzenlosen Kommu-nikation per elektronischer Datenübertragung entsprechen als dievisuelle Seite.27 Im Gegensatz zu einem Druckbild sind die audi-tiven Phänomene ebenso wie die elektronische Distribution schwereinzugrenzen, was die heutigen Copyright-Probleme in der Musik-industrie hinlänglich unter Beweis stellen. McLuhan war vielleichtder Einzige, der in der elektronischen Massenkommunikation ebennicht nur einen Ort des visuellen, sondern vor allem eines auditivenImaginären erkannte: nämlich den Wunsch nach der reinen, sich aussich selbst generierenden Kommunikation um der Kommunikationwillen, in der es wie in einem Dorf keine Zugangsbeschränkungenund Abgrenzungsspiele gibt.28

Wir wissen heute längst, dass dies eine illusionäre Vorstellungvon der grenzenlosen elektronischen Kommunikation ist. Der Auf-enthalt im Internet gleicht heutzutage eher einer Reise durch einengefährlichen Großstadtdschungel, in dem man ohne Schutzmass-nahmen erledigt und komplett ausgeraubt wird. Gleichwohl besitztdiese Imagination von der Grenzenlosigkeit einen Realitätseffekt,indem sie die intermediale Vernetzung symbolischer Formen im-

26 Ebd., S. 42.27 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media,

Frankfurt a. M. 1970, S. 25: »›A Passage to India‹ [von E. M. Forster,Th. B.] [. . .] ist eine Parabel des westlichen Menschen im Zeitalterder Elektrizität und ist nur zufällig auf Europa oder den Orientbezogen. Wir erleben die Entscheidungsschlacht zwischen Sehenund Hören, zwischen der schriftlichen und mündlichen Form derWahrnehmung und Organisation des Daseins.«

28 Ebd., S. 295: »Das Radio führt zu einer Beschleunigung der Infor-mationsbewegung, die auch andere Medien beschleunigt. Es redu-ziert auf jeden Fall die Welt auf Dorfmaßstab und läßt unersättlichdörfliche Bedürfnisse nach Klatsch, Gerüchten und persönlichenBosheiten aufkommen [. . .]. Das Radio kann nicht nur mit Machtalte Erinnerungen, Kräfte und Gefühle wecken, sondern dezen-tralisiert und ist eine pluralistische Kraft, was eigentlich für alleelektrische Medien und für den elektrischen Strom gilt.«

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mer wieder erneut anreizt. Wenn aber Grusin und Bolter glaubensollten, dass Rockmusik selbst unmittelbarer wird, indem in derBühnenshow andere Medien bewusst werden, dann übersehen sie,dass diese Unmittelbarkeit nicht aus der Hypermedialität allein ab-geleitet werden kann, sondern aus einer spezifischen ästhetischenErfahrung, die zwar durch Medien geprägt, aber keineswegs durchdiese vollkommen determiniert ist. Etwas differenzierter ist in dieserHinsicht die Theorie der ›convergence-culture‹ von Henry Jen-kins.29 Die zunehmende transmediale Verbreitung von ein unddemselben Stoff durch verschiedene Medien hindurch wie z. B.Matrix als Film, Manga, Videospiel und Trickfilm ist für ihn derGrund zur Feststellung, dass die Zukunft unserer Medienkultur ge-rade nicht in der Zusammenfassung aller symbolischen Formendurch eine einzige black box wie den Computer liegt: »There willbe no single black box that controls the flow of media into ourhomes.«30 Auch die Rockmusik mit ihrem Hang zur Hypermedia-lität wäre ein solches Beispiel einer durch ästhetische Erfahrung pro-vozierten Konvergenz unterschiedlichster Medien. Jenkins Theorieder convergence-culture macht zumindest ernst mit einer Kritikder in Medientheorien immer wieder auftauchenden telelogischausgerichteten Technikdetermination. Aber er bestimmt seinerseitsdie ästhetische Erfahrung dieser Konvergenz nach jenem Medium,das die Legitimität der Intellektuellen am deutlichsten ausdrückt –nämlich der Schrift, womit er wieder seine soziale Stellung als in-tellektueller Beobachter der Medien nicht reflektiert: »Transmediastorytelling is the art of world making.«31

Können wir uns aber heute Musik ohne Visualisierung nochvorstellen? 1987 ging MTV Europe mit Money for Nothing von denDire Straits in Europa auf Sendung. In der ersten Liedzeile hießes: »I want my MTV«. Nicht minder steht der Song Video killedthe Radio Star von der Rockband The Buggles aus den 1980ernfür dieses Phänomen einer Kombination von Musik und Bild, derkurz nach Gründung von MTV zum Hit wurde. Die Plattenindus-trie fand mit den Musikvideos eine neue Möglichkeit, ihren amEnde der 1970er Jahre zum ersten Mal stagnierenden Absatz anzu-

29 Henry Jenkins: Convergence Culture. Where Old and New Media Col-lide, New York/London 2006.

30 Ebd., S. 16.31 Ebd., S. 21.

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kurbeln. Da man mit dem Medium der Videos schnellstmöglichdrehen konnte, brauchte man auch kein vorbereitendes Drehbuchmehr wie bei den bis 1980 üblichen 16mm. Gerade Video konntealso das Medium der Schrift als Bedingung des Musikfilms abschaf-fen. 1990 hatte MTV dann 90 Millionen Haushalte erreicht, weilman sich den jeweiligen lokalen Besonderheiten von Europa bisBrasilien und Australien anschloss. Der Werbespruch Think global,act local stammt eben keineswegs von ›Politspontis‹, sondern MTV;aber dies zeigt auch, dass es man solche Phänomene nicht alleinökonomisch verstehen kann, zumal MTV bei seiner Gründung inden ersten drei Jahren nur rote Zahlen schrieb:32 Ästhetische Erfah-rungen können Märkte formen, wobei dies keineswegs, wie Fiskeglaubt, immer eine oppositionelle Angelegenheit ist.

Die Dominanz der philologisch motivierten Intermedialität,welche die offensichtliche Funktion des ›world-makings‹ durch Mu-sik vernachlässigt, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie wenig dieTheorie der Intermedialität sich selbst als Vertreter einer legitimenSchriftkultur reflektiert. Sicherlich können auch Bilder erzählen,aber haben sie dieselbe Narratologie wie geschriebene Geschich-ten? Und Musik muss erst recht nichts erzählen, um die copyright-fixierte Plattenindustrie durch transmediale Kommunikation in dieKnie zu zwingen. Es ist äußerst fraglich, ob storytelling den höchs-ten transmedialen Einfluss hat, wiewohl nicht geleugnet werdenkann, dass auch Erzählungen mächtige ästhetische Anreize zu trans-medialen Effekten sowohl in der Massenkommunikation wie auchin der legitimen Kunst abgeben.

Viele der hier angeschnittenen Fragen werden in diesem Band si-cherlich noch nicht hinreichend beantwortet werden können. Aberer sollte zumindest die philologisch dominierte Intermedialitätsfor-schung mit der von dieser meist nicht beachteten, aber ebenso reichin empirischen Beobachtungen bestückten musikwissenschaftlichenIntermedialitätstheorie konfrontiert werden. Zugleich wird dabeideutlich, dass das Zusammenspiel von Bild und Musik mindestensgenauso dominant in der Massenkommunikation geworden ist wiedas von Bild und Text, das Intermedialitätstheoretiker zu Unrecht

32 Zur kurzen Geschichte von MTV im Zusammenhang der Wer-bung: Rhea Kyvelos: MTV, the Music Television. Globales Designund regionales Zapping, in: Global Design. Internationale Perspektivenund individuelle Konzepte, Ausstellungskatalog, hg. v. Museum fürGestaltung Zürich, Angli Sachs, Zürich 2010. S. 268–269.

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oftmals als das Paradigma von Intermedialität ansehen. Vielmehrstoßen hier unterschiedliche Formen der Grenzsetzung an Legiti-mation aufeinander. Nicht mehr das Wort, sondern ebenso bestim-men auch die im Leib inkorporierten ästhetischen Erfahrungenden Gebrauch von Medien. Intermedialität muss also auch wiederan der ästhetischen Erfahrung ansetzen, die selbst niemals vollkom-men von Medien bestimmt wird, sondern diese sogar determinierenkann. Das Spiel zwischen high and low, zwischen institutionell legiti-mierten Künsten und Massenkommunikation gehört zum wichtigs-ten Einfallstor ästhetischer Erfahrung in die Medientheorie. DieseFrage ist zwar nicht neu: Schon die Ausstellung des Museum of Mo-dern Art in New York zu Beginn der 1990er Jahre hatte sich diesesThemas angenommen.33 Aber inzwischen haben sich vollkommenneue Strukturen aufgrund neuer Medien und Mediennutzung ein-gestellt. Mehr denn je werden z. B. die Konsumenten im Prozessder Produktion miteinbezogen. Das kann ebenso normalisierendeEffekte zur Folge haben, indem Großindustrien sich Produktions-kosten sparen oder auch neue Differenzierungen innerhalb derMassenkultur hervorbringen, die weder von der legitimen Kulturnoch von den großen Absatzmärkten kontrolliert werden können.Daher werden in diesem Band nicht nur die neueren Formen inder zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute zum Thema ge-macht, sondern auch ältere Avantgarden, um einerseits genauer diehistorischen Innovationsprozesse in der ästhetischen Erfahrung derMassenkommunikation und andererseits die Verschiebung der Le-gitimationsgrenzen und die damit zusammenhängenden Konfliktebenennen zu können.

Wenn von einer Wechselwirkung zwischen high and low geredetwird, kann eine die Avantgarden des 20. Jahrhunderts überstrah-lende Persönlichkeit nicht unerwähnt bleiben: Marcel Duchamp.Seine Ready-mades kamen just zu einem Zeitpunkt ins Museum,als Fluxus und Pop Art ihn zu ihrem Ahnherren kürten. Mi-chael Wetzel wendet sich in seinem Artikel allerdings nicht nurden Ready-mades zu, da sie oftmals übersehen lassen, dass wir esbei Duchamp mit noch wesentlich komplexeren Wechselwirkun-gen zwischen high and low zu tun haben. Schon bei Duchamp zählt

33 High and Low. Moderne Kunst und Trivialkultur: Museumskatalogder Ausstellung des MoMA vom 7. 10. 1990–15. 1. 1991, hg. v. KirkVarnedoe/Adam Gopnik, München 1990.

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nicht nur das Werk als solches, sondern der Diskurs um das Werkund der performative Prozess der Hervorbringung, die er beideals Inszenierung seiner Autorschaft nutzen konnte. Wetzel kannin seiner Theorie der Inframedialität wie nur Wenige die Dekon-struktion mit Bourdieus Feldanalyse verbinden. Im Gegensatz zurinzwischen schon klassisch gewordenen Dekonstruktion, die immermehr die Unentscheidbarkeit (zwischen Kunst und Nicht-Kunst, soauch die letzte Documenta) in ihr Zentrum stellt und sich damit zu-nehmend einer kanonischen Entdifferenzierung verdächtig macht,hebt Wetzel mit dem Instrumentarium der Feldanalyse hervor, dassdie Verfeinerung von Distinktionen zwar auf Ununterscheidbarkeitzu zielen scheint, faktisch aber damit eine neue Differenz gegenüberfrüheren darstellt. Inframedialität vermag also zu zeigen, wie in ei-ner scheinbar durchmischten Intermedialität nicht die Unterschiedeaufhören, sondern vielmehr einen genaueren Beobachter verlangen,der den Abstand zu früheren Produktionen zu verstehen vermag.

Dass die Differenz zwischen Trägermedium und zitiertem Me-dium selbst als Strategie der Formgebung in künstlerischen Prakti-ken fungiert, kann Joachim Paech in seinem Beitrag am aktuellenBeispiel der Künstlerin Barbara Hlali zeigen, in der es um die Über-malung von digitalen Bildern des Kriegsalltags im Irak geht. Ineinem historischen Abriss zur Tradition der Malerei im Film, aberauch im Zusammenspiel und Konflikt zwischen Malerei und Fo-tografie kann er in Anspielung auf Viktor Šklovskij zeigen, dassIntermedialität ein Verfahren der künstlerischen Produktion dar-stellt, das seine eigene Bedingungen der Medialität als Formprozessthematisiert, ohne dass die materialen Voraussetzungen der im Ver-fahren zitierten Medien anwesend sein müssen. Solche Formpro-zesse sind eben nicht allein durch sprachliche Zeichen zu verstehen.Intermediales Verfahren als Formgebung in künstlerischen Produk-tionen wäre also ein gutes Beispiel dafür, dass Intermedialität nichtmehr von dem Paradigma der Intertextualität her verstanden wer-den kann.34

Wenn Intertextualität nur streng genommen als Intramedialitätzwischen Texten gelten kann, dann kommt immer wieder die Frage

34 Für das Festhalten von Intertextualität in einem freilich erweitertenRahmen steht die durch eine philologische Wissenschaft geprägteStudie der Romanistin Irina Rajewski: Intermedialität, Tübingen/Basel 2002, S. 48–58.

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auf, was in der zunehmenden intermedialen Vernetzung eigentlichdie Grenzen von Medien sind. Die Grenzenlosigkeit der vernetztenMedien vermag gerade erst neue einheitliche Formate innerhalb derIntermedialität durch ästhetische Wahrnehmungen hervorzubrin-gen. So zeigt Karin Bruns in ihrem Beitrag, wie psychologische Ex-perimente der 1950er Jahre mit unterschwelligen Wahrnehmungs-reizen in Form von Informationen, die nur einen Bruchteil vonSekunden während einer Filmvorführung andauern und unter demNamen der subliminal images in die Wissenschaftsgeschichte einge-gangen sind, zwar keine Wirkung im Sinne des Experiments zeigtenund auch niemals nachgewiesen werden konnten, aber alsbald alsDiskurs eine Logik des Verdachts von unterschwelligen Botschaftenin Filmen in Gang brachten, der ästhetisch in unterschiedlichen Fil-men bis hin gar zur Parodie umgesetzt wurde, um sodann wiederdie wissenschaftlichen Experimente zu unterschwelligen Wahrneh-mungsreizen erneut anzuregen. Die im Grunde unsichtbaren undgrenzenlosen subliminal images werden erst durch die ästhetische Er-fahrung sichtbar und haben von da an ein eigenes eingegrenztesFormat, das intermediale Effekte zeigt.

Ebenso um die Bestimmung eines ästhetischen Eigenformatsgeht es in Michael Lommels Beitrag zum Episodenfilm. Seine Ana-lyse stellt den ersten Versuch dar, den ästhetischen Eigenwert desEpisodenfilms (z. B. Coffee and Cigarettes von Jim Jarmusch) zu be-stimmen, was bislang nicht in Angriff genommen wurde. Dazubedient er sich des Theorieelements der Heautonomie von De-leuze/Kant. Im Begriff der Heautonomie liegt schon die paradoxeSpannung zwischen Heteronomie und Autonomie, zwischen ei-nem in sich gefassten Ganzen, das mehr als die Teile ist und denTeilen, die dennoch als selbstständige Narration neben das Ganzein Form der Episode treten. Mit diesem originellen Ansatz kannLommel die ästhetische Eigenständigkeit des Formats Episodenfilman empirischen Beispielen von Griffith über Tarantino bis Jarmuschgenauer in den Blick nehmen.

Auch wenn Schrift ein Medium der Intertextualität ist, so spieltSchrift im Film eine Rolle, die keineswegs die Gutenberg-Galaxiserledigt hat. Gleichwohl ist es im Sinne McLuhans, wenn BerndScheffer in seinem Beitrag konstatiert, dass im Film die Verwendungvon Schrift Möglichkeiten erreicht, die sich wohl jede Schreibstubedes Mittelalters und jede Druckerpresse gewünscht hätte: Sie kannsich bewegen, kann dreidimensional und vor allem emotionsgela-

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den sein. In jedem Fall erhält die Schrift durch den Film eineintensivierte Qualität, die ihr innerhalb der nur auf Textgenerie-rung beschränkten Gutenberg-Galaxis noch verwehrt blieb. Dieskann man dennoch im Sinne McLuhans sehen, weil nach dessenAnsatz ja nicht nur die neuen Medien die alten enthalten, sonderndie Möglichkeiten der alten Medien dadurch sogar intensiviert wer-den können, zumal Scheffer konstatiert, dass die emotionale Seiteder Schrift im Film deswegen so stark im modernen Tonfilm seinkann, weil sie mit Musik begleitet wird.

Weit gefehlt, wer glaubt, der Stummfilm sei stumm und derTonfilm sei der Harmonie von Ton und Bild verpflichtet. VonRobert Bresson über François Truffaut, Lars von Trier bis hin zuden Brüdern Dardenne deckt Thomas Macho im Autorenfilm eineinnovative Reihe im avantgardistischen Verständnis der Intermedia-lität zwischen Ton und Bild auf. Galt seit Goethe und Flaubert fürden modernen Roman, sich jeder Einfühlung zu verweigern, sosetzt diese vorbildlich gewordene ästhetische Strategie einer moder-nen Avantgarde im Film mit Bresson ein, der Musik ganz seltenverwendet. Film und Ton sollten gerade im Tonfilm einen jeweili-gen Eigenwert haben, um Einfühlungen in den Helden, wie es derMassenmarkt bis heute demonstriert, zu verhindern. Wenn auchauf den ersten Blick Bressons Au hasard Balthasar als Ausnahme gilt,so bestätigt sich jedoch in der genaueren Analyse erst recht, dass dieverwendete Musik eben nicht als Begleitung eingesetzt wird. Derstumme Esel erhält in diesem Film zwar durch Musik einen phone-tischen Ausdruck, aber die Art des Zitats von Schuberts Andantinoder A-Dur-Sonate und ihre Mischung mit Tonelementen von Tier-schreien mit Maschinengeräuschen stellt eine eigene Informationdar und keine nostalgische Einfühlung, wie bisher angenommen.

MTV hat zwar ein neues Zeitalter des Konsums von Musik undBilder eingeleitet, aber inzwischen ist es vom world wide web längsteingeholt worden. Einer der Gründe dafür ist eine neue spezifischeProduktionsweise, nach der die Fans nämlich nicht nur passiv rezi-pieren, sondern selbst in die Produktion eingreifen können. BeateOchsner zeigt in ihrem Beitrag, welche neue Möglichkeiten sich imMusikClip durch das Internet seitdem eröffnet haben. Ochsner gehtes dabei nicht nur um den von Axel Bruns in die Debatte gewor-fene Strategie des produsage, also des Mitmachens von Konsumentenam Produktionsprozess. Sie zeigt an Beispielen von MusikClips imInternet wie eine bloß den Markt bestimmten Teilnahme zu un-

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terscheiden ist von avantgardistischen Projekten, in denen durchTeilnahme tatsächlich komplexe und höherwertige ästhetische In-novationen entstehen. Damit kann sie zeigen, dass das Monopoleiner ästhetischen Differenzierung eben nicht mehr nur bei der in-stitutionell legitimierten Kunstproduktion liegt.

Das Sampling der DJs gilt vielen Intertextualitätstheoretikernals Beweis moderner Intertextualität. Hatte nicht schon Brecht ge-sampelt? Die Effekte sind aber in der Massenkommunikation ganzandere als in der legitimen Literatur. Seit Jahren beklagt die Mu-sikindustrie den Fall ihrer Profitrate, während wohl das literarischeSampeln durch Helene Hegemann den Markt ankurbelt. Das Ko-pieren mit neuen Geräten hat nicht nur Fans dazu gebracht, dasCopyright zu umgehen. Die von DJs gesampelten Sounds stelleneigentlich einen permanenten Verstoß gegen herrschendes Rechtdar, glaubt man der Begründung des Bundesgerichtshofs. Ange-sichts eines konkreten Falls kann Frédéric Döhl zeigen, wie dieRichter eine recht paradoxe Haltung einnehmen. Einerseits wirdzwar das Sampeln als kreative Praxis zum ersten Mal höchstrichter-lich anerkannt, zugleich verwenden die Richter aber Maßstäbe wiedie Originalität einer Melodie, die in einem Zeitalter des Soundskeine Rolle mehr spielen.

Rockmusik ist längst nicht mehr nur in der Hand von außer-akademischen Virtuosen. Schon die eingängige Viola von JohnCale auf der Platte Velvet Undergound & Nico von 1966 dürfte andas ersten Auftreten eines akademisch geschulten Minimalismus imRockbereich erinnern. Michael Custodis analysiert in seinem Bei-trag am aktuelleren Beispiel des Keyborders Jordan Rudess, wie sichin dessen Person high and low treffen. Rudess studierte klassischesKlavier, überträgt aber mit neuen Möglichkeiten der technischenSoundproduktion die im Rockbereich gefeierte Virtuosität des Gi-tarristen auf Tasteninstrumente, die auch in der Inszenierung aufder Bühne die entsprechende Wirkung zeigen. Hier trifft sich dieklassische Klaviervirtuosität mit der in populären Kulturen immerwieder gefeierten Virtuosität des Technikers. Dabei harmonierenunversehens zwei diametrale Prinzipien: Während der Virtuose derTechnik gerade dazu tendiert, die dem Körper antrainierte Fähigkeitdurch Apparatur zu ersetzen, tendiert die klassische akademischeVirtuosität zur direkten Inszenierung vor dem Publikum, das dieAuthentizität der körperlichen Leistung sehen will. Beide können

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in einer bildlichen Inszenierung des produzierten Sounds auf derBühne zusammentreten.

Wenn von Intermedialität zwischen Körper und Werk die Redeist, wird meist an Tanz gedacht, nicht an den Komponisten vonMusik selbst. Dabei gehört zur Musik seit der im 19. Jahrhundertgefeierten Virtuosität die körperliche Geste, die dann freilich vonKomponisten des 19. Jahrhunderts wie eben von Richard Wagnerdem Verdacht der Effekthascherei ausgesetzt wurde. Die elektroni-sche Musik, wie Elena Ungeheuer in ihrem Beitrag zeigt, schienzwar zunächst die körperliche Vermittlung der Musik zu ersetzen,brachte aber schließlich auch eine Art Virtuosität der Geste hervor.Ungeheuer zeigt dies an einem Beispiel der populären Kultur, aneinem MusikClip mit John Lennons Imagine, sowie an der Entste-hung der elektronischen Musik der Avantgarde um Stockhausenund Koenig. Aber selbst bei Pierre Scheffers musique concrète, wodieser Gestus zu fehlen scheint, handelt es sich immer noch um dieIntermedialität eines reflexiven Hörens der durch Körper produ-zierten Zeit im Hören, das nur mittels Apparatur hergestellt werdenkann. Scheint es zwar eine Intramedialität zu sein, wenn man nurdie Wiederholung von anderen Klängen mittels einer technischenApparatur beachtet, so muss man es aber eine Intermedialität desMedienwechsels nennen, wenn mittels der Apparatur die Aktivitätdes Körpers als die Zeit des Klangs produzierendes Medium bewusstgemacht wird. Wieder einmal zeigt dies, wie sehr Musik eine Gren-zen sprengende Kraft der Intermedialität zu transportieren vermag.

Der hier vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse einerTagung im Sommer 2009, die im Rahmen des Sonderforschungs-bereichs 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung derKünste an der Freien Universität Berlin abgehalten wurde. Zuhoffen bleibt, dass der Band die Diskussion von einem durch In-tertextualität und einem philologisch dominierten Verständnis desIntermedialitätskonzept weg zu einer Richtung zu bringen vermag,in der die Strategien und Machtspiele stärker berücksichtigt werdensollten, die nicht nur der Episteme von Wissenschaften, sondernauch dem intermedialen Spiel ästhetischer Erfahrungen inhärentsind. Der Herausgeber dankt der Deutschen Forschungsgemeinschaftund der Freien Universität Berlin für die Unterstützung der Tagung.Die Drucklegung wurde mit Mitteln des DFG-geförderten SFB 626ermöglicht.

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Literatur

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