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THYSSEN IM 20. JAHRHUNDERT

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THYSSEN IM 20. JAHRHUNDERT

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FAMILIE – UNTERNEHMEN – ÖFFENTLICHKEIT:

THYSSEN IM 20. JAHRHUNDERT

HERAUSGEGEBEN VON HANS GÜNTER HOCKERTS, GÜNTHER SCHULZ UND

MARGIT SZÖLLÖSI-JANZE

BAND 4

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SIMONE DERIX

Die ThyssensFamilie und Vermögen

2016

FERDINAND SCHÖNINGH

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Gefördert mit Mitteln der Fritz Thyssen Stiftung, Köln, und der Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen, Duisburg.

Die Autorin: Simone Derix ist Privatdozentin für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-

Universität München. Sie studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Deutsche Philologie, Romanis-tik und Politikwissenschaft in Bologna und Köln, wo sie 2006 zum Dr. phil. promoviert wurde.

Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung sowie an den Universitäten Duisburg-Essen, Köln und München. 2014 habilitierte sie sich an der LMU und hatte

seitdem mehrere Vertretungsprofessuren inne (u. a. Universitäten Bielefeld, Gießen und Mainz).

Titelbild: Hochzeit von Gabrielle Thyssen-Bornemisza und Adolph Bentinck van Schoonheten, 1938,

Archivio di Stato del Cantone Ticino, Fondo Christian Schiefer, N. 00260

Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über

http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche

Zustimmung des Verlages nicht zulässig.

© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.schoeningh.de

Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn

ISBN 978-3-506-77974-8

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INHALT

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Begütert. Orientierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 I.1. Unternehmen und Geld im engsten Kreis. Familiale

Sozialisation mit Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I.2. Formende Institutionen. Schulen und Militär . . . . . . . . . . . . . . 67 I.3. Konfession und Institution. Leben und Erziehung

als Katholiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

II. Leben mit Vermögen. Verortungen und Vernetzungen . . . . . . . . . . . . 107 II.1. Deutsch-belgische Familienbande. Ruhrgebiet und Brüssel

(1880er Jahre bis 1939/42) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II.2. Hotelleben in europäischen Metropolen. Berlin, London

und Paris (1890er bis Mitte der 1930er Jahre) . . . . . . . . . . . . . . 123 II.3. Ländliche Herrschaften in Österreich-Ungarn. Rohoncz,

Kapuvár und Röjtök (1906 bis 1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 II.4. Deutschsprachige Ungarn in den Niederlanden. Den Haag

(1919 bis 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 II.5. Sicherheit und Unsichtbarkeit in der Alpenrepublik.

Castagnola (1932 bis 1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 II.6. Leben im Nationalsozialismus. Ruhrgebiet, Berlin,

München, Puchhof, Rechnitz, Hannover . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 II.7. Mobilität(en). Bewegungsmuster und Begegnungen . . . . . . . . . 193 II.8. Mobilität und soziale Asymmetrien. Die Rolle der

Bediensteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

III. Im Streit vereint. Vermögen als Gegenstand familialer Konflikte . . . . 233 III.1. Konflikte um die Verteilung des Vermögens nach der

Scheidung August und Hedwig Thyssens (1885 bis 1930er Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

III.1.1. Vermögenskonflikte als intergenerationelle Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

III.1.2. Modi der Konfliktführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 III.1.3. Geschlechterdifferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

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6 Inhalt

III.2. Trennungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 III.2.1. Umstrittene Kinder nach der Scheidung.

Margit und Heinrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 III.2.2. Name und Vermögen. Maud und Heinrich . . . . . . . . . 291 III.2.3. Trennung als multinationales Unterfangen.

Gunhild und Heinrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

IV. Kalkuliertes Risiko. Familiale Strategien, Vermögen zu schützen . . . . 323 IV.1. Internationalisierung des Vermögens als Konterkarierung

nationaler Rahmungen und internationaler Krisen (1900 bis 1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

IV.1.1. Räumliche Expansion der Unternehmungen bis zum Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

IV.1.2. Internationale Vermögensverflechtungen seit den 1920er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

IV.1.3. Akteure der Verflechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 IV.2. Gesperrte Zugänge. Die Grenzen und Belastungen

transnationalen Handelns (1914 bis Ende der 1940er Jahre) . . . 378 IV.2.1. Rohoncz 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 IV.2.2. Schweiz, Frankreich und Deutsches Reich

1939 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 IV.2.3. USA ab 1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

V. Im Vermögensnetz. Familie und Vermögen nach 1945 . . . . . . . . . . . . . 413 V.1. Mobilität und Unterstützungsnetzwerke in der

Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 V.2. Räumlich mobiles und immobiles Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . 430 V.3. Re-Konfiguration als Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

AnhangStammbaum der Familie Thyssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531

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EDITORIAL

Unternehmens- und Familiengeschichte wurden bislang meist getrennt vonein-ander untersucht. Die vorliegende Reihe integriert beide Perspektiven, um die ökonomischen, soziokulturellen und emotionalen Verknüpfungen zwischen Un-ternehmerfamilie und Familienunternehmen sichtbar zu machen.

Aus dem Blickwinkel einer kulturwissenschaftlich inspirierten Familienge-schichte steht das dynamische, sich ständig umknüpfende familiäre Netzwerk der Thyssens im Vordergrund. Hier interessieren die Alltagspraktiken, Lebensformen und Identitäten der kosmopolitisch lebenden und global agierenden Familie. Da-runter fallen auch Aspekte wie die Nutzung medialer Techniken bzw. die Selbstin-szenierung von Familienmitgliedern in der Öffentlichkeit sowie die Kunstsamm-lungen der Thyssens als Verknüpfung von ökonomischer Investition, symbolischer Kapitalbildung und Ästhetik.

Aus unternehmensgeschichtlicher Sicht liegt der Schwerpunkt zum einen auf der Unternehmensführung, vor allem den Maximen, Strategien und Praktiken der Lenkung unter Abschätzung der Handlungsspielräume; zum anderen auf dem komplexen Geflecht der Thyssenschen Familienstiftungen und Treuhandgesell-schaften, Holdings und Einzelgesellschaften, das der Unternehmensentwicklung, Vermögenssicherung und -mehrung diente; ferner auf der Nutzung von politi-schen, rechtlichen und gesellschaftlichen Optionen für den wirtschaftlichen Er-folg. Ein besonderes Augenmerk richtet sich dabei auf die NS-Zeit.

Die in dieser Reihe veröffentlichten Studien sind aus dem Projekt »Die Unter-nehmerfamilie Thyssen im 20. Jahrhundert« hervorgegangen, das die Fritz Thys-sen Stiftung und die Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen förderten und ein Forschungsverbund unabhängiger Historikerinnen und Historiker der Universi-täten Köln bzw. München und Mannheim bzw. Bonn durchführte. Den familien-geschichtlichen Part verantwortete Margit Szöllösi-Janze, den unternehmensge-schichtlichen Christoph Buchheim und, nach dessen Tod 2009, Günther Schulz, den auf die Fritz Thyssen Stiftung bezogenen Teil Hans Günter Hockerts.

Die Forschungsarbeit ging von gemeinsamen konzeptionellen Überlegungen und Fragestellungen aus, sie fand in kontinuierlicher Kooperation statt, zu der zahlreiche Workshops mit externer Beteiligung sowie zwei große Symposien beitrugen. Die Studien spiegeln sowohl Synergien als auch Unterschiede zwischen Familien- und Unternehmensgeschichte. Jeder Band steht für sich genommen als eigenständiges, abgeschlossenes Werk unter der Verantwortung seiner Autorin / seines Autors.

HANS GÜNTER HOCKERTS GÜNTHER SCHULZ MARGIT SZÖLLÖSI-JANZE

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EINLEITUNG

How can we understand the inner life of a character, real or fictional, without knowing the state of her finances?1

Die vorliegende Studie erzählt die Geschichte der Familie Thyssen seit der Schei-dung August und Hedwig Thyssens 1885 bis in die 1960er Jahre als Geschichte einer vermögenden, konfliktreichen und transnational hochmobilen Familie mit Wohnsitzen und wirtschaftlichen Aktivitäten in ganz Europa, den USA und Südamerika. Im Zentrum der Untersuchung steht das Verhältnis von Familie und Vermögen, da Vermögen, so die zentrale These, die familialen und sozialen Be-ziehungen der Thyssens wie auch ihr Verhältnis zu Staaten grundlegend struk-turierte.

Ein solcher Blickwinkel kommt einer Neufassung des Untersuchungsgegen-stands gleich. Denn der Familienname Thyssen ist in der bisherigen Historiogra-phie untrennbar mit den gleichnamigen Montanunternehmen verbunden, die August Thyssen (1842-1926) seit den 1870er Jahren aufbaute, zu einem großen Firmenverbund ausbaute und die neben Krupp als Inbegriff der Stahlindustrie im Ruhrgebiet gelten. Die Unternehmen mehrten im 20. Jahrhundert das familiale Vermögen der Thyssens, aus ihrem Erfolg speiste sich das öffentliche und histo-riographische Interesse an den einzelnen Familienmitgliedern. In der Forschung wie in einer breiteren Öffentlichkeit wird Thyssen bis heute mit ›Eisen und Stahl – deutsch – männlich‹ gleichgesetzt. Diesen a priori gesetzten Dreiklang stellt die folgende Studie zur Disposition.

Die Studie wählt erstens den Begriff des Vermögens als einen zentralen Fokus auf Familie. Dahinter steht der Wunsch, den Blick auf das ökonomische Handeln der Thyssens zu weiten und auch ökonomische Handlungen einzubeziehen, die über ein auf Produktion fokussiertes Verständnis von Wirtschaft hinausweisen. Vermögen erlaubt nicht nur Investition und Produktion, sondern auch Konsum und Kapitalakkumulation. Der Vermögensbegriff lenkt darüber hinaus die Auf-merksamkeit auf die materielle bzw. ökonomische Bedingtheit von Familie. Von Familienstiftungen über Erbschaften, Trust Funds, Aktienbeteiligungen bis hin zu Renten und Apanagen – Vermögen bestimmte die Handlungsmöglichkeiten und strukturierte die familialen Beziehungen der Thyssens grundlegend. Über den Blick auf das Vermögen lassen sich so elementare Einsichten in die familiale und private Dimension des Kapitalismus gewinnen. Der Umgang mit und die

1 McEwan, Tooth, S. 49.

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10 Einleitung

Zuteilung von Beteiligungen, Geld und Wertgegenständen war aufs engste mit den Formen und Institutionen sozialer Nahbeziehungen verwoben. Ausgehend von dieser Wechselbeziehung sind die Zäsuren, welche die Studie zeitlich eingren-zen, gewählt. Die Untersuchung setzt in den 1880er Jahren mit der Scheidung August und Hedwig Thyssens ein, die in mehrfacher Hinsicht einen gravierenden Einschnitt für die Familie darstellte. Sie trennte Eltern und Kinder räumlich von-einander und provozierte Fragen danach, wie das Thyssen’sche Erbe aufgeteilt werden würde. Langjährige familiale Auseinandersetzungen um das Vermögen waren die Folge. Die 1960er Jahre markieren mit dem Abschluss der Auseinan-dersetzungen um das Erbe Fritz’ und Heinrichs das Ende der Nachkriegsphase aus familialer Perspektive.

Zweitens untersucht die Studie die Thyssens nicht nur als Deutsche, sondern nimmt sowohl die Trans- bzw. Internationalisierung der Unternehmen seit An-fang des 20. Jahrhunderts ernst als auch die zeitlich früher einsetzende und sich parallel entwickelnde auffallend hohe geographische Mobilität der Thyssens in ganz Europa, den USA und Südamerika, inklusive der wechselnden Staatsange-hörigkeiten. Eine ganze Reihe Thyssens sind weder in Deutschland geboren, noch haben sie je auf deutschem Territorium gelebt. Dabei ermöglichte und motivierte das wachsende Vermögen der Familie die spezifischen Formen der Mobilität und Transnationalität der Einzelnen.

Drittens begreift die Studie die Geschichte der Thyssens nicht als Werk einzel-ner herausragender männlicher Protagonisten, sondern als Geschichte eines kom-plexen Beziehungsgeflechts. Einen solchen Zugriff stützen Überlegungen der Netzwerkforschung, die jedes Handeln als relational begreift. Dabei ist es nicht der Einzelne, der ein Beziehungsgeflecht nach seinen Vorstellungen und Intenti-onen gezielt gestalten oder darüber frei verfügen kann, sondern vielmehr entsteht das Leben des Einzelnen aus der relationalen Verflechtung mit anderen heraus. Das Netzwerkkonzept bietet nicht nur die Möglichkeit, den Fokus von der Hand-lungsmacht einzelner Männer auf das Zusammenspiel vieler Männer und Frauen zu verlagern, sondern bewahrt auch davor, etwa über bestehende Konzepte von »Familie« und »Haushalt« andere vorschnelle Begrenzungen des Akteursfelds vorzunehmen. Für die hier erzählte Geschichte der Thyssens ist es nicht nur nö-tig, bislang ausgeblendete Familienmitglieder einzubeziehen – die Männer, die keine Unternehmenserben waren, die weiblichen Thyssens, die Angeheirateten und den erweiterten Verwandtschaftskreis –, sondern ebenso das Dienstpersonal, das die Haushalte der Thyssens bewirtschaftete, die Rechts- und Finanzberater, die sich ihres Vermögens annahmen, und jene Bekannten und Freund/inn/e/n, deren Unterstützung die Thyssens wiederholt suchten. Diese drei Perspektivver-schiebungen und ihre methodischen Implikationen stelle ich nun im Einzelnen vor.

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11Einleitung

1. VON DER UNTERNEHMERFAMILIE ZUR ULTRAVERMÖGENDEN FAMILIE

Unternehmerfamilie im Fokus

Von ihren ersten Anfängen bis in die Gegenwart konstatierte die Geschichts-schreibung zu den Thyssens eine enge Wechselwirkung zwischen der Familie und den Unternehmen, den ›Menschen und ihren Werken‹, um eine einflussreiche Wendung zu zitieren.2 Dieser Fokus mag gewiss der Tatsache geschuldet sein, dass sich das Hauptaugenmerk der Forschung lange Zeit auf die Lebenszeit August Thyssens bis 1926 richtete, also auf jene Jahrzehnte, in denen sich »Thyssen« eindeutig als Familienunternehmen identifizieren ließ. Zwar existieren zu den Unternehmen Darstellungen für das gesamte 20. Jahrhundert,3 doch haben sich unternehmensgeschichtliche Analysen bislang auf die Zeit vor 1933 konzentriert.4 Noch deutlicher wird dieser zeitliche Schwerpunkt bei den biographischen Stu-dien. Blicke auf die Familie oder die Verwandtschaft Thyssen sind dabei v. a. von Konzernarchivaren, Lokalhistoriker/inne/n, Familienmitgliedern und Publizis-ten unternommen worden.5 Im Zentrum des biographischen Interesses stand bislang eindeutig August Thyssen, der vor allem als Unternehmer interessierte. Neben zahlreichen Aufsätzen zum Leben und Wirken des Industriellen liegt seit 2008 die erste wissenschaftliche Monographie vor, in der Jörg Lesczenski August Thyssen als Wirtschaftsbürger interpretiert.6 Lesczenski beleuchtet bis dato un-bekannte Facetten der Lebenswelt des Bürgers und Unternehmers, verbindet dabei sozial-, unternehmens- und lokal- bzw. regionalgeschichtliche Perspektiven und entmystifiziert so hagiographische Überhöhungen der älteren Forschung. Schaut man auf die Wohnorte der Thyssens, zeichnet sich ebenfalls ein ausgespro-chenes Interesse für den Konzerngründer und das Schloss ab, das er im Alter erwarb.7 Auch die bislang edierten Quellen zu den Thyssens fokussieren auf

2 Vgl. Matschoss, August Thyssen; Arnst, August Thyssen.3 Vgl. Baumann, Stahlhütte; Rasch, Firmen; Treue, Feuer; Treue/Uebbing, Feuer; Uebbing, Wege.4 Vgl. Fear, Control; Hatzfeld, Thyssen & Co.; Reckendrees, »Stahltrust«-Projekt.5 Stephan Wegener, ein Nachfahre Clara und Joseph Thyssens, hat die historiographischen Recher-

chen aus der Familie heraus maßgeblich befördert und in die Öffentlichkeit getragen, vgl. Wegener, Familie; Wegener, August; Wegener, Geschwister. »Geschwister Thyssen« stellt eine erweiterte und überarbeitete Fassung von »August und Joseph Thyssen« dar und präsentiert Recherchen der Nachfahren zu Balbina Bicheroux, Augusts und Josephs Schwester. Vgl. zur Geschichte der Thys-sens in Eschweiler Rüsges, Spuren. Vgl. als publizistische Familiengeschichten Litchfield, Thyssen-Dynastie; Rother, Thyssens.

6 Vgl. Lesczenski, August Thyssen. Lesczenski hat das Bürgertumsparadigma auch intergenera-tionell geprüft: Lesczenski, Vater; vgl. als kürzere Studien Arnst, August Thyssen; Däbritz, August Thyssen; Fear, Umsicht; Rasch, August Thyssen; Rüsges, August Thyssen; Schmidt, Persönlichkeiten.

7 Vgl. Baumann, Schloss; Hassler/Nussbaum, Haus; Hassler u. a., Unternehmer.

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12 Einleitung

August Thyssen.8 Die Beschäftigung mit anderen Thyssens steht quantitativ deut-lich dahinter zurück. Nur Augusts erstgeborener Sohn Fritz (1873-1951), der aus wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive als »überforderter Unternehmenserbe« an der Persönlichkeit seines Vaters gemessen wurde, zog größere Aufmerksamkeit aufgrund seines Engagements für die NSDAP und das NS-Regime sowie seiner Emigration 1939 auf sich.9 Während sich die Beschäftigung mit Fritz Thyssen auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zu seinem Tod 1951 konzentrierte, weck-te seine Ehefrau Amélie (1877-1965) vor allem als Stifterin in der frühen Bundes-republik wissenschaftliche Aufmerksamkeit.10 Anders als Fritz ist sein jüngerer Bruder Heinrich (1875-1947) bisher nur gemeinsam bzw. im Vergleich mit seinem Vater Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen geworden, obwohl August seinen Söhnen Fritz und Heinrich die Unternehmen zu gleichen Teilen übertragen hatte.11 Augusts zweitgeborener Sohn August junior (1874-1943) wie auch seine Tochter Hedwig (1878-1960) werden zwar in allen Familiengeschichten genannt, erscheinen hier aber als Nebenfiguren, da sie im Unterschied zu den Brüdern seit Anfang der 1920er Jahre keine Ansprüche mehr an den Unternehmen geltend machen konnten. Unabhängig davon, welche Fragen an die Thyssens gerichtet wurden, galt es bislang als selbstverständlich, ihr grundlegendes und alle Famili-enmitglieder einbeziehendes Merkmal darin zu sehen, dass sie in einem engen Bezug zu den Thyssen’schen Unternehmen standen.

Familienunternehmen und Unternehmerfamilien

Der These, dass Familienunternehmen ein Spezifikum der vorindustriellen Zeit gewesen seien, danach jedoch ihre Bedeutung zugunsten von Publikumsgesell-schaften verloren hätten, wie sie Alfred Chandler paradigmatisch für die USA aufgestellt hat, hat Jürgen Kocka bereits Ende der 1970er Jahre wirkmächtig wi-dersprochen. Er wies vielmehr auf die Kompatibilität von Industriekapitalismus und Familienunternehmen hin, die nicht zuletzt auf den bürgerlichen Normen und Werten der wirtschaftsbürgerlichen Unternehmerfamilien basierte.12 Kocka steckte damit entscheidende interpretative Parameter für die Folgejahre ab. His-toriker/innen analysierten nun Industrielle, Bankiers und Kaufleute als Wirt-schaftsbürger/innen, mit einem Fokus auf die Zeit bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.13 Familienunternehmen und Unternehmerfamilie gelten als reziproke

8 Vgl. Rasch/Feldman, Thyssen; Rasch, Briefe. 9 Wessel, Fritz Thyssen; vgl. als Monographien Brakelmann, Mitschuld; Eglau, Fritz Thyssen; als

Aufsätze Baumann, Fritz Thyssen; Buchstab, Fritz Thyssen; Turner, Fritz Thyssen; die Lexikon-einträge in Röder/Strauss, Handbuch, S. 762 und Statisten, S. 665-667.

10 Kielinger, Amélie Thyssen; Kraus, Amélie Thyssen.11 Vgl. Rasch, August Thyssen.12 Vgl. Chandler, Strategy; Chandler, Hand; Chandler, Scale; Kocka, Familie; Kocka, Muster.13 Vgl. Berghoff, Unternehmer; Augustine, Patricians; Soénius, Wirtschaftsbürgertum; Reitmayer,

Bankiers. Auch Groppe, Geist steht in dieser Tradition, argumentiert aber – was als Alleinstellungs-

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13Einleitung

Ressource füreinander und erfahren in dieser Verschränkung große wissenschaft-liche Aufmerksamkeit, die nicht abzureißen scheint.14 Ungeachtet der Tatsache, dass Wissenschaftler/innen sich bislang auf keine Definition haben einigen kön-nen, ab wann ein Unternehmen als Familienunternehmen gelten kann – als Kri-terien dienen das Eigentum einer Familie an einem sowie die Kontrolle über ein Unternehmen –,15 bestehen intensive Diskussionen über den Faktor Familie für das Unternehmen. Im Zentrum steht dabei die Frage, welche Rolle Familien für den Erfolg und den Misserfolg eines Unternehmens spielten. Da es als ein wesent-liches Charakteristikum von Familienunternehmen gilt, dass sie von einer Gene-ration an die nächste weitergegeben werden, hat sich ein breites Interesse daran herausgebildet, wie die Nachfolge geregelt wurde, wobei der Generationenwech-sel als kritischer Moment und potenzieller Störfaktor in der Entwicklung eines Unternehmens gilt.16 Ein Nebenergebnis dieser Forschungen ist die wiederholte Erkenntnis, dass Frauen bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur in weni-gen Ausnahmefällen mit Führungsaufgaben betraut wurden.17 Neben dieser eta-blierten Forschungsperspektive haben sich in den letzten Jahren mehrere neue Ansätze herausgebildet, die dokumentieren, dass sich Unternehmensgeschichte methodisch weitet. Schon seit längerer Zeit arbeitet die Forschung mit regionalen Clustern und sucht vor diesem Hintergrund Anschluss an den spatial turn der letzten Jahre.18 Zudem entwickelte sich ein stetig wachsendes Interesse an der Bedeutung von Netzwerken bzw. Sozialkapital für unternehmerischen Erfolg.19 Schließlich rücken auch psychologische und emotionale Faktoren immer stärker in den Blick. So reflektiert Christina Lubinski über die Kategorie des »psycholo-gischen Eigentums«, dass nicht nur Beteiligungen und Positionen eine Familie unternehmerisch involvieren, sondern die durch familiale Zugehörigkeit begrün-dete emotionale Verbindung mit einem Unternehmen sich nachdrücklich auf das Verhalten von Unternehmerfamilien auswirkt.20 Über diese Kategorie geraten auch jene Familienmitglieder als Handelnde in den Blick, die nicht im Unterneh-men tätig waren – eine Perspektive, die das Akteurspektrum in Familienunter-nehmen zu erweitern und zu differenzieren vermag.

merkmal gelten kann – aus der Perspektive der historischen Bildungsforschung.14 Vgl. mit dem Anspruch eines historischen Überblicks Jones/Rose, Family Capitalism; Colli, His-

tory; James, Familienunternehmen; Landes, Macht; vgl. als problemorientierte neuere Forschungen Schäfer, Familienunternehmen; Hilger/Soénius, Familienunternehmen, darin auch orientierend Hilger, Reconstruction; Lubinski, Familienunternehmen; Dejung, Fäden.

15 Mark Casson macht diese beiden Kriterien sehr stark, vgl. Casson, Enterprise; die Debatte resümiert Colli, History, S. 20f.

16 Vgl. Schäfer, Familienunternehmen, S. 101-143; Lubinski, Familienunternehmen, S. 170-224.17 Vgl. mit umfangreichen Literaturhinweisen Hilger, Reconstruction, S. 9-22, hier 19.18 Einen Überblick über die Forschung zum Rheinland findet sich ebd., S. 16. Die Verschränkung von

regionaler und konfessioneller Zugehörigkeit analysiert eindrucksvoll Arnoldus, Family.19 Unter den zahlreichen neuen Studien sei verwiesen auf von Saldern, Netzwerkökonomie; Schulte

Beerbühl, Kaufleute; Marx, Reusch.20 Vgl. Lubinski, Familienunternehmen, S. 110-115.

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14 Einleitung

Vermögensbegriff

Ohne die genannten Verdienste und Erkenntnisse der Unternehmensgeschichte schmälern zu wollen, hat die starke Konzentration auf das Verhältnis von Familie und Unternehmen zur Folge, dass die Bedeutung anderer vermögensrelevanter Kontexte nicht hinlänglich ausgelotet wird.21 Um sich von dieser starken Fokus-sierung zu lösen und gleichwohl der materiellen Bedingtheit des Lebens der Thys-sens Rechnung zu tragen, operiert diese Studie mit dem Vermögensbegriff. Damit fallen die Unternehmen bzw. die Beteiligungen daran nicht aus der Wahrnehmung heraus. Sie treten aber als eine Vermögensart neben andere. Dazu zählen, wenn man Vermögen rein materiell begreift, neben Betriebsvermögen auch »Geldver-mögen […], Anlagevermögen, Immobilien, Grund und Boden«.22 Zwar mögen die Unternehmen lange die primäre oder eine wichtige Quelle des Thyssen’schen Vermögens gewesen sein. Doch bedeutet das noch nicht, dass alle Thyssens ihre Relevanz gleich eingeschätzt hätten. Zudem wandelte sich die Bedeutung der Unternehmen für das Vermögen der Thyssens in der Zeit.

In der Gründungsphase war August Thyssens Unternehmen – darin kein Ein-zelfall23 – ein familiales Projekt, in das sich auch seine Eltern und Geschwister finanziell einbrachten. Aus der Perspektive des Vermögens war der Konzern daher nicht das Werk eines einzelnen Mannes. Sein Vater hatte August bereits 1867 mit dem nötigen Startkapital ausgestattet, als dieser mit 25 Jahren als Mitgründer des Puddel- und Bandeisenwalzwerks Thyssen, Fossoul & Co. in Duisburg den Schritt in die unternehmerische Selbständigkeit machte. 1871 brachte der Vater mit einer Einlage von 35.000 Talern die Hälfte des Geschäftskapitals in das von August neugegründete Walzwerk Thyssen & Co. in Styrum bei Mülheim ein, leistete bei Bedarf zusätzliche Zahlungen und sicherte Kredite ab. Zudem stellte Balbina (1846-1935) ihrem Bruder August nach dem Tod ihres Ehemanns Désiré Bicheroux 1875 erhebliche Summen zur Verfügung. Darüber hinaus erbte August beträchtliche Gelder nach dem Tod des Vaters 1877 und konnte auch über Antei-le Balbinas und seines Bruders Joseph (1844-1915) verfügen.24

In dem Maße, in dem die Thyssens im Laufe der Jahrzehnte materielle Werte jenseits der Betriebe akkumulieren konnten, veränderte sich auch der Stellenwert der produzierenden Werke für die Kapitalabsicherung von Individuum und Fa-milie. Der Schwerpunkt der familialen Aktivität verschob sich dahingehend, dass zunehmend weniger im Vordergrund stand, Vermögen aufzubauen, sondern es zu erhalten und zu mehren. Damit verband sich ein gravierender Umbruch von

21 Diese Kritik formuliert mit Blick auf Heirat und Erbschaft Erickson, Coverture.22 Imbusch, Vermögen, S. 212-230, hier 213.23 Die Bedeutung von familialer Vermögensbildung als Grundlage für Unternehmensgründungen

arbeitet Adelheid von Saldern am Beispiel der Familie Schoeller heraus, vgl. von Saldern, Netzwerk-ökonomie, S. 47-51.

24 Vgl. Hatzfeld, Thyssen & Co., S. 53-178, hier 57, 65, 68; Rüsges, August Thyssen, S. 53-61, hier 56-58.

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der einen zur nächsten Generation. Während sowohl Hedwig als auch August in wohlhabenden Verhältnissen aufwuchsen, können ihre gemeinsamen Kinder spä-testens seit der Jahrhundertwende, also zur Zeit ihres jungen Erwachsenenlebens, als Kinder ultravermögender Eltern gelten.25 Genau diesen paradigmatischen Wechsel kann eine Konzentration auf das Verhältnis von Familie und Unterneh-men nur schwerlich fassen.

Bis hierher wurde bereits deutlich, dass materielles Vermögen keine statische Größe ist, sondern in seiner heterogenen Zusammensetzung einem Wandel un-terliegt und auf Handlungspotenziale verweist. Das ist in dem deutschen Begriff »Vermögen« etymologisch angelegt. Er meint einerseits die materiellen Güter einer Person oder einer Gruppe, ist andererseits aber mit »Macht« und »Machen« verwandt, was etwa in der Wendung »etwas zu tun vermögen« zum Ausdruck kommt.26 Begriffsgeschichtlich verknüpft Vermögen damit materielle Ressourcen mit Handlungsmöglichkeit oder Handlungsmacht. Oder anders: Vermögen ver-weist darauf, dass die Möglichkeit zu handeln eine materielle Dimension hat. Die Entscheidung für »Vermögen« als Oberbegriff gründet genau in dieser Verknüp-fung von Materiellem und Handlungspotenzial. Zugleich verbindet sich damit der Wunsch, Vermögen in seiner materiellen Vielfältigkeit zu beobachten und mög-lichst viele Facetten des breiten Spektrums ökonomischer Handlungen mit Ver-mögen zu reflektieren.

Das ist ein entscheidender Grund, dem Vermögensbegriff den Vorzug vor dem Kapitalbegriff Pierre Bourdieus zu geben, der zwischen ökonomischem Kapital (Vermögen), kulturellem (Bildung) und sozialem Kapital (soziale Beziehungen) differenziert, die alle drei zu symbolischem Kapital (Prestige) werden können.27 Zwar verdankt diese Studie der Unterscheidung von Kapitalsorten, wie sie Bour-dieu vorgeschlagen hat, sehr viel, muss aber zugleich konstatieren, dass Bourdieu zwar seine gesamte Theorie auf ökonomischen Kategorien gründet, das finanzi-elle/materielle/ökonomische Kapital aber im Vergleich zum kulturellen und so-zialen ein theoretisches Schattendasein führt. Es bildet eine Voraussetzung, die Bourdieu nicht weiter ausdifferenziert.28 Obwohl er ökonomischem Kapital im Vergleich mit den anderen Kapitalsorten das »größte[...] Gewicht« zuspricht, konzentrierte er sich in seinen Forschungen im Schwerpunkt auf das kulturelle Kapital.29 Der Begriff »Vermögen« zielt dagegen genau auf jenen blinden Fleck des Materiellen und seine Differenzierung einerseits und die damit verbundenen Handlungspotenziale und -zwänge, also die Macht zu wirken, andererseits. Dabei lässt sich auch materielles Vermögen nicht allein auf einen materiellen Wert redu-

25 Vgl. zur Terminologie passim.26 Vgl. Art. »Vermögen«, in: Adelung, Wörterbuch; Art. »Vermögen«, in: Grimm/Grimm, Wörter-

buch; Art. »Vermögen«, in: Krünitz, Enzyklopädie. Im Niederländischen meint »vermogen« v. a. Macht und Fähigkeit, vgl. http://www.etymologiebank.nl/trefwoord/vermogen (acc. 14.04.2013).

27 Vgl. Bourdieu, Kapital, S. 183-198, hier 185; Bourdieu, Raum, S. 11.28 Vgl. dazu Kieserling, Wirtschaft.29 Gulas, Netzwerke, S. 68-94, hier 73.

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zieren. Bourdieus Kapitalsorten können dabei helfen, verschiedene Vermögensas-pekte zu verstehen, die sich in den einzelnen Vermögensobjekten überlagern. So haben Kunstsammlungen per se einen ökonomischen, einen sozialen und einen kulturellen Wert.30 Menschliche Beziehungen haben eine soziale und als Kredit-beziehungen oder Arbeitgeber-Arbeitnehmerverhältnis auch eine ökonomische Dimension.

Grundsätzlich gilt, dass Vermögen, indem es Macht verleihen kann, per se über eine soziale Dimension verfügt, sofern man Macht als eine relationale Kategorie, als Beziehung denkt.31 Vor allem in der Soziologie hat das Zusammenspiel von Materiellem und Sozialem in Nahbeziehungen in den letzten Jahren auf vielerlei Weise Beachtung erfahren. Einen wichtigen Referenzpunkt stellen Viviana Zeli-zers Arbeiten zu den unterschiedlichen Arten und Weisen dar, in denen Geld – als Taschengeld oder staatliche Zuwendung, die als unterschiedliche Währungen verstanden werden – mit familialen und Haushaltsbeziehungen verquickt ist.32 Diesen Ansatz hat Christine Wimbauer für Paarbeziehungen aufgegriffen und gezeigt, auf wie vielfältige Weise sich materielle Fragen in Liebesbeziehungen einflechten. Wie Zelizer betont auch Wimbauer, dass Geld ein Medium ist, über das Menschen ihre Beziehungen aushandeln.33 Eine ähnlich integrative Leistung des Zusammendenkens von Nahbeziehungen und Ökonomie vollbringt – wenn auch mit einem melancholisch gestimmten Gestus der Entzauberung – Eva Illouz in ihren Analysen der konsumgestützten Liebe unter den Vorzeichen des Kapi-talismus.34 Soziologische und anthropologische Studien zum Thema Vererben haben die Bedeutung des Materiellen vor allem für intergenerationelle Beziehun-gen hervorgehoben.35 Die genannten Arbeiten zeichnen sich alle durch einen deutlichen Bruch mit Vorstellungen der klassischen Soziologie aus, die Geld/Ökonomie als Gegensatz zu zwischenmenschlichen Beziehungen und Gefühlen konzipiert hat.36

30 Vgl. dazu ausführlich Gramlich, Thyssens.31 Ein solches relationales Machtverständnis kennzeichnet etwa das Denken von Michel Foucault.32 Vgl. Zelizer, Meaning. Zelizers Arbeit gehört zu den Pionierarbeiten einer Soziologie des Geldes,

die Geld nicht als neutral, sondern als soziales und kulturelles Medium betrachtet. In den Jahren nach dem Erscheinen ihres Buches entbrannte in der Soziologie ein langjähriger Streit um die De-finition von Geld, vgl. Ingham, Underdevelopment; ders., Capitalism; Fine/Lapavitsas, Markets; Zelizer, Fine tuning; Ingham, Fundamentals; ders., Nature; Lapavitsas, Social Relations.

33 Wimbauer versteht Geld als »ein mit subjektiven Bedeutungen versehenes soziales Bindemittel«, als »Ausdrucksmedium von Gemeinsamkeit«, Wimbauer, Geld, S. 287. Vgl. jüngst auch Unterwe-ger, Umgang.

34 Vgl. Illouz, Konsum.35 Vgl. Beckert, Vermögen; Lettke, Vererbungsabsichten; Szydlik, Erben; ders., Inheritance; aus kul-

turanthropologischer Sicht Goody u. a., Family; Egli, Erben; Langbein, Dinge; Finch/Wallis, Death; Marbach, Tauschbeziehungen.

36 Dies erläutert Wimbauer am Beispiel von Max Weber und Georg Simmel, vgl. Wimbauer, Geld, S. 37-44. Dass diese Vorstellungen an grundsätzliche Geschlechterstereotype gekoppelt waren, welche die Moderne als rational und ergo männlich konzipierten, führt eindrücklich vor Augen Marshall/Witz, Engendering.

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Die Geschichtswissenschaft vollzieht diesen Bruch sehr viel zögerlicher. Der Tendenz nach zeigt sich die deutschsprachige Forschung für die materielle Be-dingtheit von Lebensformen sensibler, wenn sie ihren Blick auf Unterschichten unter den Vorzeichen von sozialer Ungleichheit richtet, als wenn sie Mittel- und Oberschichten untersucht.37 Jüngere Diskussionen um den »bürgerlichen Werte-himmel« oder den Wandel von Werten fragen eher nach immateriellen denn nach den materiellen Werten, auf denen Lebensweisen basierten.38 Wenn man der Denk-figur folgt, dass sich die Sozialgeschichte durch eine Haltung der permanenten Erweiterung auszeichnet, mit der sie alle methodischen und theoretischen Inno-vationen schnell zu integrieren sucht,39 verwundert es nicht, dass das Interesse am Materiellen und Ökonomischen lange ins Hintertreffen geraten ist. Denn trotz zahlreicher Ermutigungen, Wirtschafts- und Kulturgeschichte miteinander zu verbinden,40 wendet sich Letztere und mit ihr die kulturgeschichtlich informierte Sozialgeschichte erst allmählich wieder der Ökonomie zu. Umgekehrt hat die Wirtschaftsgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten einen an wirtschaftswis-senschaftlichen Debatten, Theoremen und Denkstilen ausgerichteten Diskurs ausgebildet, der mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen und Fragestellungen nur wenige Berührungspunkte aufweist. Dass beide Disziplinen sehr wohl und über einen langen Zeitraum fruchtbar zusammenarbeiten können, zeigt etwa die briti-sche Forschungslandschaft. Hier interessieren sich Finanzhistoriker/innen für ökonomische Praktiken im Haushalt und Sozialhistoriker/innen für Familien als ökonomisch Handelnde.41 Haushalte und Familien erweisen sich dabei als sehr gute Ansatzpunkte, um soziale Nähe und Ökonomie zusammenzudenken. Es verwundert daher nicht, dass wesentliche Impulse dazu in der Geschichtswissen-schaft von der neueren Familien- und Verwandtschaftsforschung ausgehen.42

Der Begriff des Vermögens dient in dieser Studie dazu, Forschungsfragen auf-zuwerfen: Welches Leben war mit welchem Vermögen möglich? Welche Rolle spielte Vermögen in Nahbeziehungen? Welche Handlungsmöglichkeiten und -zwänge eröffnete Vermögen? Bevor diese Fragen am konkreten Beispiel der Thys-sens verfolgt werden, ist es hilfreich, sich das Handlungspotenzial von Vermögen vor Augen zu führen. Eine Orientierungshilfe bietet dabei das Spektrum der po-tenziellen Funktionen, die Vermögen in der Soziologie zugeschrieben werden:

37 Vgl. exemplarisch Medick/Sabean, Emotionen.38 Reflektiert wird dabei, dass es der materielle Wohlstand war, der eine Herausforderung für bürger-

liche Werte darstellte, aber die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Werthaltungen, vgl. exemplarisch von Hodenberg, Fluch.

39 Vgl. Conze, Sozialgeschichte; Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte.40 Vgl. programmatisch Berghoff/Vogel, Wirtschaftsgeschichte; Hilger/Landwehr, Wirtschaft; der

Band Hesse u. a., Kulturalismus lotet dagegen das spannungsgeladene Verhältnis von Kultur- und Wirtschaftswissenschaft aus.

41 Vgl. exemplarisch Laurence u. a., Women.42 Exemplarisch sei hier auf das Forschungsprofil von Margareth Lanzinger verwiesen, die sowohl

emotionale Beziehungen als auch die materielle Ausstattung von Ehen untersucht, vgl. Lanzinger, Women; dies., Mitgift; dies., Schwestern-Beziehungen.

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Vermögen kann in der Form von Zinsen, Dividenden, Mieten etc. zum Einkommen beitragen (»Einkommensfunktion«), es ist in Form von Gegenständen nutzbar (»Nutzungsfunktion«), stellt ein Rückfallpolster für Krisenzeiten dar (»Siche-rungsfunktion«). Bei entsprechender Größe erweitert es die Entscheidungsfreiheit, etwa bei der Berufswahl (»Wahlfreiheitsfunktion«), bildet die Grundlage für eine hohe gesellschaftliche Stellung (»Prestigefunktion«), wirtschaftliche, politische – und hier ließe sich aufgrund der bereits erwähnten Arbeiten von Zelizer, Wimbau-er und Illouz ergänzen: soziale – Macht (»Machtfunktion«), erleichtert den Kin-dern vermögender Eltern den Einstieg in ihr gesellschaftliches Leben (»soziale Platzierungs- und Statuserhaltungsfunktion«). Zudem bildet es die Grundlage von Erbschaften und von Spenden.43 Das Handlungspotenzial von Vermögen deutet sich in diesen Funktionen zwar an, ist damit aber noch nicht erschöpft. Vermögen kann gehortet oder ausgegeben werden, es kann demonstrativ gezeigt oder ver-steckt werden, es kann gefunden und verloren werden. Man kann damit kaufen, erpressen, ermöglichen und verhindern. Nicht vorhandenes Vermögen kann vor-getäuscht werden. Diese Aufzählung ließe sich lange weiterführen und verschafft nur erste Einblicke in die Dimensionen von Vermögen.

Wenn hier von Vermögen die Rede ist, dann in einem ethisch und moralisch neutralen Verständnis. Auf einen solchen Vermögensbegriff, »dessen Höhe keiner Bewertung unterworfen wird, sondern [der] nur unterschiedliche Beratungsfor-men und Angebote nach sich zieht«, stützen sich Kreditgeber, Versicherer und Finanzdienstleister, die so gewiss darauf zielen, ihre Klientel nicht durch gesell-schaftlich umstrittene Begriffe wie Reichtum zu beunruhigen.44 Mag der Vermö-gensbegriff im Beratungskontext einen – mit Blick auf die Kundschaft – beschwich-tigenden und – mit Blick auf die Öffentlichkeit – intransparenten Charakter haben, erweist er sich im Kontext dieser Untersuchung als öffnender Begriff. Vermögen sagt erst einmal nichts über die Qualität der damit verknüpften Handlungen aus, verhindert aber nicht, sie in ihrer Vielgestaltigkeit zu analysieren. Das erweist sich als deutlicher Vorteil im Vergleich zum Reichtumsbegriff, der auf eine lange Tra-dition ethisch-moralischer Debatten zurückblicken kann und diese Debatten stets mit sich im Gepäck trägt.45 Vor diesem Hintergrund bezeichne ich die Thyssens als Vermögende bzw. Ultravermögende.

Der hier gebrauchte Vermögensbegriff markiert zugleich eine deutliche Grenze zum Vermögensbegriff, der sich in Teilen der neueren Reichtums- und Vermö-gensforschung findet. Auch diese Forschung begreift Vermögen als Verknüpfung von materiellen Ressourcen mit Handlungspotenzial, gibt dem Begriff aber eine emphatische Wendung. Thomas Druyen und andere versuchen seit einigen Jahren,

43 Hauser, Entwicklung, S. 54-68, hier 60f.44 Huster, Reiche, S. 45-68, hier 46.45 Moralisch-ethische Reichtumskritik findet sich sowohl bei antiken Autoren wie Platon als auch im

Alten und Neuen Testament, vgl. Desmond, Greek Praise; Meckenstock, Wirtschaftsethik, S. 99-102.

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einem negativ verstandenen Reichtumsbegriff einen positiv konnotierten Vermö-gensbegriff gegenüberzustellen. Während mit »Reichtum« eine auf das Materiel-le gerichtete Perspektive verbunden sei, reflektiere der Vermögensbegriff die Mög-lichkeitsdimension materiellen Vermögens und damit eine immaterielle Dimension. Das durch materielles Vermögen begründete Handlungspotenzial reduziert Druyen allerdings auf jene Handlungen, in denen seine Untersuchungs-gegenstände bewusst auf die aus seiner Sicht »konstruktiven Beispiele« verweisen, also jene Reiche, die als »Mäzene, Stifter, Spender, Sponsoren, Sozialunternehmer« agieren.46 Sie scheinen einem idealistischen Vermögensbegriff Vorschub zu leisten, der auf »gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme, Kompetenzausübung« fußt.47 Druyen und andere verfolgen explizit das Ziel, negative Vorstellungen von Reichen aufzubrechen. Entsprechend konzentrieren sie das wissenschaftliche Au-genmerk auf jene Handlungen von Vermögenden, die sich als zivilgesellschaftli-ches Engagement deuten lassen wie die Gründung gemeinnütziger Stiftungen. Reiche erscheinen so als gemeinwohlorientierte Bürger/innen.48 Das gilt auch für historische Untersuchungen.49 Nachdem lange nur über das Vermögen und die Handlungen von Reichen gemutmaßt wurde bzw. nur das zu sehen war, was auch öffentlich sichtbar werden sollte, liegen heute mit der Philanthropieforschung interessante Ergebnisse zum gesellschaftlichen Engagement Vermögender vor. Doch drängt sich der Verdacht auf, dass weiterhin wichtige Aspekte des Lebens der Reichen unsichtbar bleiben. So trägt die Forschung zur Zivilgesellschaft damit in Teilen unwillentlich zu einer Perspektivverzerrung bei.

Ziel muss es dagegen sein, ein möglichst facettenreiches Bild der Leben mit – im Fall der Thyssens im 20. Jahrhundert: sehr großen – Vermögen zu entwerfen, das eine Vielzahl von Handlungsfeldern vom bürgerschaftlichen Engagement bis zur Steuerflucht möglichst vorurteilsfrei bzw. im Wissen um die eigenen Vorurteile in den Blick nimmt. Es gilt dabei, voreilige Vermutungen zu vermeiden und Diffe-renzierungen einzuziehen, wo diese nötig sind. So mag es sich erweisen, dass philanthropische Stiftungen nicht nur philanthropische Ziele verfolgten und Um-züge in Steueroasen nicht allein oder primär steuerlich motiviert waren. Die Quel-len zeichnen ein weitaus feingliedrigeres Bild der Leben der Vermögenden, als es Historiker/inne/n mit dem Wunsch zur starken These bisweilen recht sein kann. Dabei zeigt sich, dass Vermögen nicht passiv blieb und die Thyssens einfach da-rüber verfügen konnten, sondern es vielmehr eine eigene Wirkmächtigkeit entfal-ten und damit Akteurstatus erlangen konnte, wie sie die Akteur-Netzwerk-The-orie generell für Dinge reklamiert.50 Es gilt, diese Wechselbeziehung zwischen

46 Druyen, Prolog, S. 9-12, hier 9.47 Lauterbach/Ströing, Wohlhabend, S. 13-28, hier 14.48 Vgl. Strachwitz, Philanthropy; Adam u. a., Stiftungen; Druyen, Vermögenskultur.49 Vgl. Adam, Philanthropy; Kocka/Lingelbach, Stiften; Adam u. a., Stifter; Stiftungen in der Ge-

schichte.50 Vgl. Latour, Soziologie.

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Menschen und Vermögen zu untersuchen. Dabei eröffnen sich Einblicke in die Spezifika des Lebens mit sehr großem Vermögen. Materielles Vermögen ermög-lichte den Thyssens bestimmte Lebensstile – vom Leben in einer bestimmten Umgebung, in einer bestimmten Immobilie mit ausgewähltem Mobiliar über den Zugang zu exklusiven Sozialisationsagenturen bis hin zum Verkehr in bestimmten sozialen Zirkeln. Es war häufig Gegenstand familialer Konflikte, und es war ein durch staatliche Zugriffe, Krisen und Kriege gefährdetes Gut, das die Thyssens zu bewahren, sichern und mehren suchten. Das nahm Zeit in Anspruch und konnte auch große Mühen mit sich bringen. Umgekehrt hatten wiederum Verän-derungen in den familialen Konstellationen – etwa durch Heiraten, Scheidungen, Streitigkeiten oder Tod – Auswirkungen auf die Struktur und Zusammensetzung des Vermögens der Familie.

Thyssens als Ultravermögende

Vermögen lässt sich nach seinem quantitativen Umfang unterscheiden. Wenn-gleich es hier sowohl individuell als auch diachron zu differenzieren gilt, zählten die Thyssens als Familie im 20. Jahrhundert zu den Ultravermögenden, obwohl es kaum möglich ist, eine Gesamtsumme ihres Vermögens auch nur annähernd zu beziffern. Daran scheiterten schon zeitgenössische Beobachter/innen. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts galten August Thyssen und seine Familie über die Grenzen des Deutschen Reiches hinaus als reich und erregten durch das ver-mutete große Vermögen öffentliche Aufmerksamkeit. Bereits ihre Zeitgenoss/-inn/en verwandten große Mühen darauf, den genauen Umfang der Reichtümer dieser und anderer begüterter Familie zu quantifizieren. Dieser Wunsch bot zahl-reichen Spekulationen Nahrung und ließ das Vermögen als großes Geheimnis erscheinen, das es zu enttarnen galt. 1910 soll August Thyssen 55 Millionen Mark besessen und über 2,6 Millionen Mark jährliches Einkommen verfügt haben, womit er unter den hundert reichsten Preußen auf Platz 12 rangiert habe.51 1914 befand Ernst Friedegg: »Der Fabrikbesitzer August Thyssen ist […] die weitaus reichste Persönlichkeit in den ganzen Rheinlanden. Man darf sein heutiges Ver-mögen auf achtzig bis hundert Millionen schätzen.« Friedegg, der neben Thyssen zahlreiche andere deutsche Millionäre porträtierte, schilderte August Thyssen als Selfmademan, der mit 100.000 Mark vom Vater »nur ein bürgerliches Stück Geld geerbt«, dieses aber seit den 1890er Jahren »rapide« vermehrt habe. Noch bevor Friedegg die Glücksgriffe des Unternehmers Thyssen schilderte, charakterisierte er ihn als erfolgreichen Investor, der Anfang des 20. Jahrhunderts »mit fremdem Geld« Kohlefelder erworben und diese dann bald an den preußischen Staat wei-terverkauft habe. So habe er »mit einem einzigen Geschäft« »fünfzehn oder auch

51 Pritzkoleit, Deutschland, S. 63.

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zwanzig Millionen« verdient.52 Auch in den folgenden Jahrzehnten wurde das Thyssen’sche Vermögen in Zeitungsartikeln, Buchpublikationen, Gerichtsprozes-sen, Ermittlungen von Steuerbehörden nach Personen aufaddiert und geschätzt.53 Doch je mehr das Vermögen wuchs, je weiter es sich nach Art und Ort ausdiffe-renzierte, desto weniger schien es quantitativ fassbar gewesen zu sein – zumal die Thyssens selbst darauf bedacht waren, darüber möglichst wenige Informationen in die Öffentlichkeit dringen zu lassen.

Reichtumsforschung

Aus der Perspektive der gegenwärtigen Reichtumsforschung könnte gerade die Unbestimmbarkeit ihres Vermögens als Indiz gelten, das die Thyssens erst als Ultravermögende ausweist. Denn im Unterschied zu Armut lasse sich wahrer Reichtum sehr schwer bemessen. Wahrhaft Reiche erkenne man gerade daran, dass sich ihr Reichtum nicht beziffern lasse. Diese Denkfigur findet sich auch in der Selbstbeschreibung von Vermögenden: »Wer weiß, wie viel er hat, ist nicht wirklich reich«, soll Gloria von Thurn und Taxis gesagt haben.54 Sugge-riert dieser Ausspruch die Abundanz als Problem, Reichtum taxieren zu kön-nen, hat die soziologische Reichtumsforschung eine Vielzahl weiterer Probleme ausgemacht, die eine wissenschaftliche Annäherung an besonders Vermögende erschweren. Zwar hat auch die Soziologie, wie andere Wissenschaften, Reich-tum gerade im Vergleich zu Armut erst spät als Untersuchungsgegenstand entdeckt, doch steht heute außer Frage, dass Reiche gesellschaftlich ins Gewicht fallen, da sie ein »Großteil der Steuerbasis eines Landes« bilden, besonders als Unternehmer/innen über einen »überproportionalen ökonomischen Einfluss« und zudem über »beträchtliche politische Macht« verfügen. Nur seien sie »so-ziologisch schwer fassbar« und bildeten »bis heute eine soziokulturelle Grauzone«.55

Die Gründe hierfür liegen auf unterschiedlichen Ebenen: Viele Forscher/innen beschwören die schwierige Quellenlage. Reiche entziehen sich dem in der Sozio-logie verbreiteten »Zugang über Massendaten«56 und zeichnen sich durch ein besonderes Maß an Diskretion aus, was als »kommunikative[…] Abschottung« oder »öffentliche[…] Unsichtbarkeit« beschrieben wird.57 Aus Sicht des Vermö-gensforschers Thomas Druyen, der selbst als Anlageberater tätig war, stellt auch die verbreitete Unerfahrenheit von Wissenschaftler/inne/n im Umgang mit Ver-

52 Friedegg, Millionen, S. 379f.53 Vgl. etwa auch Martin, Jahrbuch; dazu Derix, Meritokratie u. Gajek, Sichtbarmachung.54 Zit. n. Druyen, Entstehung, S. 29-41, hier 33.55 Imbusch, Vermögen, S. 212-230, hier 212-214.56 Mäder, Reichtum, S. 97-106, hier 98; vgl. Huster, Reiche, S. 45-53, hier 45.57 Druyen, Entstehung, S. 29-41, hier 29; Imbusch, Vermögen, S. 212-230, hier 212; vgl. Huster, Reiche,

S. 46.

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mögenden und großen Vermögen ein Forschungshindernis dar.58 Hier mag man berechtigt einwenden, dass Historiker/innen dann gar nicht arbeiten könnten, weil sie per definitionem keine Gelegenheit haben, ihre Untersuchungsgegenstän-de lebensweltlich kennenzulernen. Gleichwohl ist es lohnenswert zu überlegen, ob nicht auch Historiker/innen bisweilen Unterschiede übersehen, wenn sie Ähn-lichkeiten zwischen sich und ihrem Untersuchungsgegenstand implizieren, ohne dies historisierend zu reflektieren.

Reichtumsforschung hat aber nicht nur ein Quellenproblem, sondern grundle-gende Probleme der Definition und Kategorienbildung. Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass Reichtum eine materielle Dimension hat. Diese ist in sich schon schwer fassbar und sehr heterogen.59 Noch schwieriger wird es, kulturelles und soziales Kapital zu bemessen. Doch schon der Teil der Reichtumsforschung, der sich darauf konzentriert, aufgrund materiellen Vermögens zu beziffern, wo Reich-tum beginnt und welche quantitativen Stufen sich unterscheiden lassen, sieht sich gravierenden Problemen gegenüber. Als Indikatoren für Reichtum gelten Ein-kommen als Fließgröße und Vermögen als Bestandsgröße. Ausgehend von deren Umfang wurden zahlreiche Stufenmodelle entwickelt, deren Gemeinsamkeit da-rin besteht, dass sie eine Steigerung von »wohlhabend« zu »reich« und »super-reich« – oder alternativ, in Anlehnung an das Englische »ultra-affluent«, »ultra-vermögend« – annehmen. Dabei basiert ein wohlhabendes Leben tendenziell auf dem Einkommen, während Reichtum und Superreichtum nicht über Einkommen erreicht werden kann, sondern sich auf Vermögen gründet. Eine eigene Kategorie stellen in diesen Modellen die Superreichen bzw. Ultravermögenden dar, deren Besonderheit darin bestehe, dass sie einen »Grad an Reichtum« erreichen, »der einen erkennbaren Unterschied hinsichtlich der Lebenswelt […] markiert«, wie ihn auch Bourdieu in »Die feinen Unterschiede« erkannt habe.60

Diese Versuche der Quantifizierung und Stufenbildung reflektieren Vorstellun-gen einer vertikalen Schichtung von Gesellschaft aufgrund materieller Unterschie-de, wie sie auch Klassenmodelle des 19. Jahrhunderts oder das Konzept sozialer Schichten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichneten. In der zwei-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich dagegen eine Tendenz dazu, eher horizontale Trennlinien in die Gesellschaft einzuziehen, etwa über die Kategorie der sozialen Lage oder des sozialen Milieus. Bis heute stehen sich, so Ueli Mäder, diese Tendenzen prototypisch in den Erklärungsmodellen von Gerhard Schulze und Pierre Bourdieu gegenüber. Während Schulze »horizontal strukturierte[…] Erlebnismilieus« unterscheidet, konstatiert Bourdieu vertikale Differenzen sozi-aler Klassen, die »Denk- und Handlungsmuster« prägen.61

58 Vgl. Druyen, Entstehung, S. 29-41, hier 34.59 Vgl. Imbusch, Vermögen, S. 212-230, hier 213; Lauterbach/Ströing, Wohlhabend.60 Lauterbach/Ströing, Wohlhabend, S. 13-28, hier 22.61 Mäder, Reichtum, S. 97-106, hier 105. Mäder bezieht sich auf Bourdieu, Unterschiede; Schulze,

Erlebnisgesellschaft. Vgl. zu dieser Diskussion Hradil, Sozialstrukturanalyse.

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Ueli Mäder, Peter Imbusch und andere legen nahe, dass sich Reiche nur mit kombinierten horizontalen und vertikalen Perspektiven analysieren lassen. In seinen Forschungen zu Reichen in der Schweiz interessiert sich Mäder zwar in einem vertikalen Sinn für die monetär definierte oberste Gruppe der Reichen, zieht aber horizontale Binnendifferenzierungen nach der Herkunft des Vermö-gens ein. Hinter nominell gleichhohen Vermögen stehen unterschiedliche Ge-schichten. In Anlehnung an René Levy differenzieren Mäder und seine Koautor/-inn/en zwischen erstens alteingesessenen Aristokraten und Patriziern, zweitens Reichen, die ihr Vermögen durch die Industrialisierung gewonnen haben und drittens Aufsteigern der Nachkriegszeit. Mäder ergänzt zusätzlich Softwaremil-lionäre als Gewinner der jüngsten Vergangenheit.62 Binnendifferenzierungen im Reichtum haben damit eine historische Dimension.

Implizit entwickelt Imbusch ebenfalls eine historisch argumentierende Typo-logie: Er geht insofern von einer vertikalen Unterteilung aus, als er eine auf höchs-tem materiellen Niveau angesiedelte Gruppe von Reichen annimmt, die er aber horizontal nach Lebensstilen und Milieus untergliedert. Dabei unterscheidet er wie Mäder nach dem Alter des erworbenen Vermögens und verknüpft damit, über Mäder hinausgehend, unterschiedliche Haltungen und Lebensstile. Imbusch ent-wickelt vier Kategorien: erstens alter Reichtum, zweitens arbeitende Reiche, drit-tens typisch Neureiche und viertens Erfolg-Reiche. Für die hier zu betrachtenden Thyssens fallen vor allem die ersten beiden Kategorien ins Gewicht. Reiche der Kategorie »alter Reichtum« weisen jene Merkmale des Reichtums auf, die Bour-dieu als feine Unterschiede ausfindig gemacht hat: »absolute Distanz zur Welt der Notwendigkeit, demonstrativer Müßiggang und ostentativer Konsum, Luxus-Geschmack und Luxus-Bedürfnisse, äußerst komfortable Lebensverhältnisse, elaborierte Freizeitaktivitäten und insgesamt distinktive Verhaltensstandards«. Ihre Lebensführung basiert auf ererbtem Kapital, sie gehen nur »›leichte[n]‹ und reizvolle[n] Tätigkeiten« nach, wozu Imbusch Positionen in Aufsichtsräten und Kontrollgremien, Tätigkeiten in Stiftungen und Diplomatie zählt. Mit Peter Fus-sel geht Imbusch davon aus, dass hier die vielzitierten unsichtbaren Reichen zu finden seien, die »zwischen still gelebter Extravaganz und vornehmer Zurückge-zogenheit« lebten. Dagegen erscheinen die arbeitenden Reichen als »sicht- und wahrnehmbare Gruppierung«. Im Unterschied zur ersten Gruppe hätten sie zu-sätzlich zu Ererbtem weiteres Vermögen durch Eigenleistung erworben. Typisch seien zur Schau gestellte Luxusgüter.63 Imbuschs Typologie kann nicht nur helfen, einheitliche Vorstellungen von Reichtum, wie sie bisweilen unter Rekurs auf Bourdieu und Thorstein Veblen entwickelt werden, aufzubrechen. Vielmehr kann sie wichtige konzeptionelle Hilfestellungen für eine Geschichte der Reichen lie-fern, indem sie Reichtum »quer zu den herkömmlichen sozialstrukturellen Un-

62 Vgl. Mäder, Reichtum, S. 97-106, hier 98; Mäder/Streuli, Reichtum; Mäder u. a., Reiche; Levy, So-zialstruktur.

63 Imbusch, Vermögen, S. 212-230, hier 222-225, Zitate 223.

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tergliederungen« entwirft. Damit kann Reichtum ganz unterschiedliche soziale Gruppen und Milieus betreffen.64 Eine solche Perspektive eröffnet auch für die Geschichtswissenschaft Potenziale der Neugewichtung, die zugleich auch Mög-lichkeiten des Dialogs zwischen der Bürgertums- und Adelsforschung eröffnen.

Bürger/innen und Adelige

Unabhängig davon, ob Historiker/innen nach einem integralen Modell suchen, mit dem sich Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert beschreiben lässt, oder von zeitgleich konkurrierenden, sich überlappenden Gesellschaftsmodellen ausgehen, scheint darin Einigkeit zu bestehen, dass Adel und Bürgertum sich voneinander unterscheiden lassen. Zu beiden Gesellschaftsgruppen haben sich eigene, in hohem Maße produktive Forschungszweige ausgebildet. Ihre Gemeinsamkeit besteht in der Polyvalenz dessen, was mit »Adel« und »Bürgertum« gemeint ist. Auf der begrifflichen Ebene kann »Adel« sowohl einen gesellschaftlichen Stand meinen als auch einen Topos im Diskurs über Gesellschaftsordnungen. Mag »Adel« als Ge-sellschaftsbeschreibung und Topos noch Einheitlichkeit suggerieren, fächert er sich bei näherer Betrachtung von Aristokrat/inn/en in zahlreiche Gruppen auf, die nach Vermögen, Region, Konfession und Alter stark divergierten.65 Diese »Fragmentierung« setzt sich innerhalb der einzelnen Geschlechter und Verwandt-schaften fort, wie Eckart Conze für die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert plastisch gemacht hat.66 Ähnliches lässt sich für den »Bürger« beobachten. Der Begriff kann auf den »Bewohner einer Stadt« oder den »Staatsbürger« rekurrieren. Er meint zudem den »Besitz- und Bildungsbürger«, der sozial ebenso wenig ein-deutig war wie der »Adelige«, sondern vielmehr »eine Konfiguration verschiede-ner gesellschaftlicher Gruppierungen«.67 Bürgertums- und Adelsforschung sind dieser Heterogenität einerseits in zahlreichen Einzelstudien nachgegangen und andererseits über die Konzepte »Bürgerlichkeit« und, daran angelehnt, »Adelig-keit« begegnet. Da sich Adel (nach Auflösung der Ständegesellschaft) und Bürger-tum jeweils einer sozialstrukturellen Erfassung entziehen, verlagerten Soziolog/-inn/en und mit ihnen Historiker/innen ihr Augenmerk auf die Bedeutung von als kulturell begriffenen Faktoren und konstatierten die prägende Bedeutung von Normen, Werten, Haltungen, Handlungsmustern für die Ausbildung unterschied-licher Lebensstile.68 Bürgerinnen und Bürger seien demnach – wie Aristokratinnen

64 Ebd., S. 217.65 Vgl. zu diesen drei Bedeutungsebenen Menning, Ordnung, S. 23f.66 Reif, Wege, S. 11-31, hier 23; vgl. Conze, Adel.67 Bruckmüller, Bürger, Sp. 546-548, hier 547.68 Vgl. zur »Bürgerlichkeit« klassisch Vierhaus, Bürger; Kocka, Bürger; Lundgreen, Sozial- und Kul-

turgeschichte, prägend für den Begriff der »Adeligkeit« Michael G. Müller. Reif differenziert »zwei gegenläufige Richtungen« im Verständnis von Adeligkeit. Zum einen ziele der Begriff auf eine »stabil gebliebene […] Kernidentität des Adels«, zum anderen auf ein »Konstrukt einer Logik des Obenbleibens«, Reif, Wege, S. 11-31, hier 24. Die erste Position macht Reif etwa bei Conze, Adel,

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und Aristokraten – über einen gemeinsamen immateriellen Wertehimmel mitein-ander verbunden, der ihre Selbstwahrnehmung als Individuum wie als soziale Gruppe prägte.69 Diese Konzepte waren anschlussfähig an Bourdieus Konzept des Habitus, das ebenfalls die innere Haltung mit Verhaltensweisen eines Menschen korreliert. Bourdieu selbst hat den Faktor des Vermögens oder materieller Werte zwar keineswegs negiert, aber gleichsam in den Status der Voraussetzung entrückt. Die primäre Trennlinie verlief zwischen Bürgertum und Adel und nicht innerhalb der angenommenen sozialen Gruppen. Überspitzt formuliert, fand sich der Indus-trielle in wissenschaftlichen Studien, unabhängig von der unterschiedlichen mate-riellen Ausstattung und den damit verbundenen Praktiken, eher mit einem Beam-ten oder einem Professor unter einem Wertedach wieder als mit einem wirtschaftlich aktiven und/oder begüterten Adeligen.

»Adel« und »Bürgertum« hat die Forschung lange Zeit wechselseitig als das jeweils Andere konzipiert. Wenngleich konstatiert wird, dass sowohl auf der Ebene der Normen und Werte, der Praktiken und Lebensstile wie auch im sozi-alen Miteinander Ähnlichkeiten und Berührungen zu verzeichnen sind, vermoch-te das die soziale Trennlinie heuristisch nur bedingt zu erschüttern. Fragen danach, wer wessen Haltungen und Lebensstile imitierte oder adaptierte (»Feudalisie-rung« oder »Aristokratisierung« versus »Verbürgerlichung«), bestätigten implizit die Existenz getrennter Sphären. Obwohl kaum ein Zweifel daran bestehen kann, dass »Adel« und »Bürgertum« auf der Wahrnehmungsebene als jeweils Anderes fungierten und fungieren, lassen sich doch zahlreiche »Existenzformen« beobach-ten, »welche die Grenzen zwischen Adel und Bürgertum überschritten«.70 Diese sozialen Grenzgänger haben Forscher/innen jüngst als »composite elite« ange-sprochen und mit dem Fluchtpunkt auf 1933 als »Elitenwandel in der Moderne. Adel und Bürgertum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert« untersucht.71 Zwar sind auch zuvor »Eliten« oder »Oberschichten« geschichtswissenschaftlich analysiert worden, aber nicht in ihrer Heterogenität. Dolores Augustine bezog sich etwa in ihrer Studie zu den Vermögenden im wilhelminischen Deutschland nur auf die sogenannten Wirtschaftsbürger.72

Gleichwohl spricht einiges dafür, die Thyssens primär als Ultravermögende anzusprechen und nicht als Teil einer adelig-bürgerlichen Oberschicht. An ihrem Beispiel lässt sich sehr deutlich beobachten, dass hier Menschen mit sehr unter-schiedlichem sozialen Hintergrund als Familie, Verwandtschaft und soziales Netzwerk zusammenfanden. Diese Konstellationen reichten weit über das hinaus,

S. 19-21 aus, die zweite etwa bei Ewald Frie, Adel, Abs. 6; Tacke, Kurzschluss; Wienfort, Adel; Josef Matzerath sieht adlige Erinnerungskultur als zentrales Kohäsionsmittel, Matzerath, Adels-probe.

69 Vgl. Hettling/Hoffmann, Wertehimmel; »Elemente des adligen Habitus« für das 20. Jahrhundert beschreibt Malinowski, König, S. 47-117.

70 Reif, Wege, S. 11-31, hier 16.71 Vgl. die daraus hervorgegangene Reihe im Akademieverlag.72 Vgl. Augustine, Patricians.

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was das Konzept der »composite elite« bislang erfasst hat. Hier heirateten nicht nur Bürger/innen in Adelsfamilien ein und umgekehrt. Die soziale Spanne reich-te von der Unterschicht, Heinrich Thyssen-Bornemiszas zweite Ehefrau Maud war die uneheliche Tochter einer Büglerin, bis zum europäischen Hochadel. Zu-dem ist es bei genauem Hinsehen sehr schwer zu bestimmen, wer adelig und wer bürgerlich war. Das gilt selbst dann, wenn man Adel und Bürgertum wieder an die biologische Abstammung rückbinden möchte. War die Tochter eines Adeligen und einer Bürgerin adelig oder bürgerlich? Wenn eine Frau einen Bürgerlichen heiratete, der sich durch ihren Vater adoptieren ließ und auch dessen Freiherrnti-tel annahm – so geschehen bei Heinrich Thyssen-Bornemisza –, waren die ge-meinsamen Kinder dann adelig oder bürgerlich? Eine weitere Schwäche des Kon-zepts der »composite elite« besteht darin, dass es Eliten zu funktional denkt, als »Funktions-, Macht- und Werteliten«.73 Der Begriff »Elite« impliziert eine sozi-ale Rekrutierbarkeit und blendet aus, dass Reiche sich und ihr Vermögen gesell-schaftlichen Aufgaben auch entziehen können.

Vermögen als Gemeinsamkeit und als Konfliktstoff

Diese Überlegungen führen nochmals zurück zum Vermögensbegriff. Er macht es nicht nur möglich, Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft gemeinsam zu untersuchen, sondern auch andere kategoriale Differenzierungen, etwa die nach Konfessionen, zu relativieren. Gewiss waren die Thyssens in der Zusam-menschau dominant katholisch und auch in katholische Netzwerke integriert, deren Bedeutung bislang noch nicht hinreichend gewürdigt wurde. Aber im Un-tersuchungszeitraum sind auch immer wieder enge Kontakte zu Menschen ande-ren Glaubens nachweisbar. So besuchten die Thyssens Gesellschaften der Roth-schilds und erbaten in dringenden Notlagen ihre Hilfe, was als ein Indiz dafür gelten kann, dass sich die Thyssens und Rothschilds ungeachtet konfessioneller Unterschiede in demselben sozialen Kreis, dem der Ultravermögenden, verorteten und bewegten.

Während der Vermögensbegriff bestimmte Taxonomien quert, sensibilisiert er zugleich für häufig übersehene Trennlinien. In der Adels- wie der Bürgertums-forschung bildet Familie als soziale Formation (als Verbände, Geschlechter, Dy-nastien etc.) eine zentrale Denkfigur. Häufig wird der Familie, etwa mit Blick auf Heiratsstrategien, überindividuelles Handeln und Planen bescheinigt.74 Das ist die eine Seite ihres Handelns. Allerdings kann Familie als Kategorie die ihr inhärenten Differenzen leicht verdecken. Die Kategorie des Vermögens lenkt dagegen den

73 Reif, Wege, S. 11-31, hier 16.74 Vgl. zu den eng mit politischen Interessen verknüpften Heiratsstrategien im Adel Duchhardt,

Heirat; Schönpflug, Heiraten; zu den Heiratsstrategien im Wirtschaftsbürgertum und den damit verknüpften geschäftlichen Interessen Köhler, Vernetzung, S. 301-316, besonders 307-313.

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Blick auf die teils gravierenden Unterschiede innerhalb von Familien, etwa solche nach Geschlecht, die Konkurrenzen zwischen Geschwistern, die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oder die zwischen reichen und armen Familienmit-gliedern. Hier ist Vorsicht geboten, Familien nicht auf ihre vermeintlichen Ober-häupter zu reduzieren. Wiederholt hat die Forschung darauf hingewiesen, dass auch innerhalb einer Familie gravierende Einkommens- und Vermögensunter-schiede herrschen konnten und dass dieser Umstand maßgebliche Auswirkungen auf das Leben der Einzelnen wie auf die wechselseitige Beziehung zueinander haben konnte.75 Individuelle wie familiale Vermögensverhältnisse wandelten sich mit der Zeit. Todesfälle und damit verbundene Erbschaften markierten deutliche Zäsuren, provozierten Verschiebungen im familialen Vermögensgefüge und pro-duzierten neue Ungleichheiten. Dabei ist für die »Ungleichheitseffekte« wichtig, »wann Schenkungen und Erbschaften im Lebenslauf erfolgen« und wie sie erb- und steuerrechtlich gerahmt sind.76 Andere Beispiele für Umverteilungen famili-alen Vermögens sind Heiraten und Scheidungen.77

Solche Verschiebungen und Neuordnungen bieten potenziell familialen Kon-fliktstoff. Das gilt auch für die Thyssens, deren innerfamiliale Streitigkeiten durch ihr eigenes Zutun bereits zeitgenössisch aufmerksam verfolgt wurden und von Historiker/inne/n bis heute analysiert werden. Die teils auch vor Gericht ausgetragenen Auseinandersetzungen um Vermögen werden dabei vornehmlich als trennende und hinderliche Momente akzentuiert.78 Streit dokumentierte aber, wie Georg Simmel bereits zeitgleich zu den familialen Streitigkeiten der Thyssens formulierte, auch eine Gemeinsamkeit der Streitenden. Da Konfliktpartner/in-nen Interesse an derselben Sache zeigen, enthält Streit stets ein Moment der Übereinstimmung.79 Aus einer solchen Perspektive bildete Vermögen als die Sache, für die alle Thyssens Interesse zeigten, auch im Streit ein familiales Bin-deglied, das die einzelnen Familienmitglieder aneinander band und das zur Grundlage für gemeinsame familiale Erfahrungen werden konnte. In den Strei-tigkeiten um Vermögensansprüche und -anteile wird zugleich deutlich, wie eng Familie, Eigentum und Recht konzeptionell im 19. und 20. Jahrhundert mitein-ander verzahnt waren.80 Normativ bestimmte sich Familie auch über den Grad der wechselseitigen Verpflichtung, Vermögen durch Erbe oder als Unterstüt-zungsleistung auszutauschen.

75 Vgl. für den Adel exemplarisch Conze, Adel; Gestrich, Siblings.76 Szydlik, Reich, S. 135-145, hier 135; vgl. Szydlik, Solidarität; Clignet, Death; Beckert, Vermögen.77 Vgl. zu den Heiraten Goody/Tambiah, Bridewealth; Kaplan, Marriage Bargain; Lanzinger, Erbe.78 Vgl. Plumpe, Überlegungen, S. 8-16, hier 12. Plumpe konstatiert in Fußnote 29 die Häufigkeit

solcher Konflikte.79 Vgl. Simmel, Soziologie, S. 284-382. Konzise bespricht Simmels Streitkonzept Münch, Theorie,

S. 225-228.80 Vgl. Beckert, Vermögen, S. 11-21; Siegrist/Sugarman, Eigentum; Siegrist, Entgrenzung; zur Rolle

in der katholischen Doktrin des ausgehenden 19. Jahrhunderts Heinemann, Familie, S. 113.

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Vermögen und Geschlecht

In allen Vermögenstransfers fällt Geschlecht als Faktor ins Gewicht. Politische und rechtliche Strukturen haben lange Zeit nicht nur die politische Partizipation und die Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben eingegrenzt oder verhindert, sondern auch ihren Zugang zu Vermögen reguliert. Der Zusammenhang von materiellen Ressourcen und Geschlecht ist bislang vor allem von Soziolog/inn/-en, Politolog/inn/en und Ökonom/inn/en thematisiert worden und in der eng-lischsprachigen Familien-, Geschlechter- und Finanzgeschichte Gegenstand zahl-reicher Untersuchungen.81 Diese Arbeiten bleiben aber bis in die Gegenwart in den Forschungen zu Wirtschaft und Unternehmen vielfach ohne Widerhall, denen Sonja Niederacher generell eine »häufige Unsichtbarkeit der Kategorie Ge-schlecht« attestiert.82 Eve Rosenhaft moniert das besonders für die deutschspra-chige Unternehmensgeschichte: Sie sei »slow to adopt the kinds of cultural ana-lysis that have enabled the dissection of gendered representations and practices and made women’s financial activity visible in Britain.«83 Dieses Problem betrifft Männer ebenso wie Frauen.84 Denn auch der Blick auf ökonomisches Handeln von Männern ist dann reduktionistisch, wenn er sich nur auf Unternehmer, Händ-ler und Bankiers richtet. Dass in den letzten Jahren zunehmend auch unterneh-merisches Handeln von Frauen erforscht wurde,85 bedeutet daher noch nicht, dass sich nun ein vollständigeres Bild ökonomischen Handelns abzeichnen würde. Hier gibt es vielmehr noch einiges (wieder) zu entdecken.

Das setzt die Bereitschaft voraus, bislang vorherrschende Vorstellungen und Gewichtungen zu hinterfragen. Analog zu den Stereotypen der Moderne, die Männlichkeit tendenziell mit Aktivität und Weiblichkeit mit Passivität gleichset-zen, interessieren auch in der Wirtschaftsgeschichte vornehmlich jene Konstella-tionen, in denen aktiv gestaltet, entschieden, gewichtet, umstrukturiert, Verant-wortung getragen, eine Lösung gefunden wird. Wirtschaftlichen Akteur/inn/en, die ihr Geld unsichtbar agieren oder ruhen ließen, die ihr Eigentum bzw. ihre Ansprüche an Vermögen nicht erkennbar werden ließen, die sich im Hintergrund hielten oder ihr Vermögen reduzierten, hatten es schwer, in wirtschaftshistori-schen Arbeiten den Status einer/s Handelnden zu erlangen. Stille Teilhaber/innen blieben auch in wissenschaftlichen Studien still.

81 Vgl. allgemein Lemke u. a., Genus; Dackweiler/Hornung, Frauen; Wrede, Geld; Michalitsch/Nairz-Wirth, Frauen. Die historische Forschung hat sich zumeist auf die Frühneuzeit und das 19. Jahr-hundert konzentriert. Zu den wenigen Arbeiten, die ins 20. Jahrhundert reichen, zählen Niedera-cher, Eigentum; Laurence u. a., Women; Habakkuk, Marriage; Mingay, Land.

82 Niederacher, Eigentum, S. 11.83 Rosenhaft, Women Investors, S. 59-72, hier 59.84 Vgl. wegweisend Green u. a., Men.85 Vgl. exemplarisch Eifert, Unternehmerinnen; Marinelli, Hälfte.

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2. VON DER DEUTSCHEN ZUR TRANSNATIONALEN FAMILIE

Transnationale Thyssens

Bislang hat die Forschung die Thyssens eindeutig als »deutsche« Familie identi-fiziert. Ihr Name fällt in einem Atemzug mit den Bismarcks, Hohenzollern, Krupps, Manns, Moltkes, Thurn und Taxis, Wagners, Warburgs, Weizsäckers und Wittelsbachern.86 Es steht außer Zweifel, dass die Thyssens in der öffentlichen Wahrnehmung inner- und außerhalb deutscher Grenzen im 20. Jahrhundert als deutsche Familie galten. Ein Blick auf die Lebensläufe der einzelnen Thyssens lässt diese Zuordnung aber schnell fraglich erscheinen. Noch vor der Transnatio-nalisierung der Unternehmen seit Ende des 19. Jahrhunderts dehnte sich die Fa-milie transnational aus. Mit Ausbildungsorten im europäischen Ausland bewegten sich August und seine Söhne Fritz, August junior und Heinrich in dem geogra-phischen Rahmen, der auch für andere Industriellenfamilien in der zweiten Hälf-te des 19. Jahrhunderts typisch war.87 Eine andere Form der Transnationalisierung begründeten Residenzen außerhalb des Deutschen Reiches, die Ehen mit Nicht-Deutschen und die Annahme anderer Staatsangehörigkeiten. Hier hatten die weiblichen Thyssens eine Vorreiterrolle. Augusts Schwester Balbina heiratete 1867 den Belgier Désiré Bicheroux, einen frühen Geschäftspartner ihres Bruders, und erhielt durch ihre Ehe die belgische Staatsangehörigkeit. Während Balbina und Désiré im Deutschen Reich wohnten, wurde das Königreich Belgien in den 1890er Jahren zur neuen Heimat für Augusts Ex-Frau Hedwig. Das Paar hatte 1872 geheiratet und sich dreizehn Jahre später scheiden lassen. Hedwig ging nach der Scheidung drei weitere Ehen ein. Durch die Ehe mit ihrem dritten Ehemann François Delhove (gest. 1896) erhielt sie 1893 die belgische Staatsangehörigkeit. Sie starb 1940 in Brüssel, wo sie seit Ende des 19. Jahrhundert zuerst mit Delho-ve, dann mit ihrem vierten Ehemann, dem belgischen Offizier Emmanuel de Neuter, gelebt hatte.88

Schaut man nur auf die Nachkommen August und Hedwig Thyssens, weitete sich das räumliche Netz innerfamilialer Beziehungen in den Folgejahren zuse-hends bzw. vergrößerten sich die räumlichen Distanzen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Während August Thyssen bis zu seinem Tod 1926 im Ruhr-gebiet wohnte und auch sein ältester Sohn Fritz mit seiner Ehefrau Amélie ein Haus in Mülheim an der Ruhr baute, zog es die nachgeborenen Geschwister in die Ferne. August Thyssen junior, der Anfang des 20. Jahrhunderts längere Zeit in Berlin lebte, ließ sich spätestens 1926 für nahezu ein Jahrzehnt in Paris nieder. Der drittgeborene Heinrich Thyssen heiratete 1906 die ungarische Adelige Mar-

86 Vgl. Plumpe/Lesczenski, Thyssens.87 Vgl. exemplarisch Groppe, Geist, S. 460; Prein, Reisen.88 Vgl. zu den Ehen Wegener, Geschichte, S. 11-142, hier 40f.

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git Bornemisza (1887–1971), ließ sich von seinem Schwiegervater Gábor Borne-misza (1859–1915) adoptieren und übernahm in der Folge sowohl dessen Frei-herrntitel als auch die ungarische Staatsangehörigkeit der Familie seiner Frau. Er hatte zuvor als Deutscher längere Zeit in England gelebt und wohnte als Ungar bis 1919 in Westungarn, anschließend bis Anfang der 1930er Jahre in Den Haag und Berlin und ab 1932 bis zu seinem Tod 1947 in der Schweiz, wohin 1939 auch seine Exfrau Margit mit ihrem zweiten Ehemann, dem ungarischen Diplomaten János Wettstein von Westersheimb (1887–1972), zog. Heinrich selbst heiratete im Laufe der 1930er Jahre zwei weitere Male. Maud Feller (1909–1977) und Gunhild von Fabrice (1908–2008) waren gebürtige Deutsche und wurden durch die Ehen nun zu Ungarinnen mit Schweizer Wohnsitz. Auch Heinrichs Schwester Hedwig, die in erster Ehe mit dem Deutschen Ferdinand von Neufforge verheiratet gewe-sen war, lebte mit ihrem zweiten Ehemann Maximilian von Berg (1859–1924) längere Zeit in Ungarn.

Die nachfolgende Generation führte dieses Muster fort. Exemplarisch seien hier die vier Kinder von Heinrich und Margit Thyssen-Bornemisza genannt. Die drei ältesten Kinder Stephan (1907–1981), Margit (1911–1989) und Gabrielle (1915–1999) wurden im ungarischen Rohoncz geboren und erhielten die ungarische Staatsangehörigkeit. Am Ende ihres Lebens besaßen sie unterschiedliche Staats-angehörigkeiten und lebten an verschiedenen Orten der Welt. Stephan verbrach-te den größten Teil seiner Schulzeit in einem Internat in der Schweiz, studierte u. a. in den USA und promovierte in Budapest. Er wohnte während der NS-Zeit in Deutschland, wurde in den 1940er Jahren staatenlos, verbrachte die 1950er Jahre auf Kuba und lebte ab Anfang der 1960er Jahre bis zu seinem Tod 1981 in den USA. Seine Schwester Margit wurde in Österreich erzogen. Sie heiratete den ungarischen Adeligen Iván Batthyány (1910–1985), mit dem sie gemeinsam im ehemals ungarischen Teil des österreichischen Burgenlands lebte. 1946 nahmen beide die österreichische Staatsangehörigkeit an, hielten sich aber vornehmlich in der Schweiz auf. Gabrielle Thyssen-Bornemisza wurde in Österreich und den Niederlanden erzogen, heiratete den niederländischen Adeligen Adolph Bentinck van Schoonheten (1905–1970) und wurde so zur Niederländerin. Als Gattin eines Diplomaten lebte sie längere Zeit in Kairo, Paris, Bern und London und verbrach-te ihren Lebensabend vornehmlich in der Schweiz. Ihr jüngster Bruder Hans Heinrich (1921–2002), der Haupterbe des väterlichen Vermögens, wurde 1921 in den Niederlanden als Ungar geboren, zog 1939 in die Schweiz und nahm die dortige Staatsangehörigkeit 1950 an. Im Alter lebte er in Spanien. Auch Heinrichs und Margits Nichte Anita (1909–1990), die einzige Tochter Fritz und Amélie Thyssens, war gebürtige Deutsche, heiratete 1936 den ungarischen Adeligen Gá-bor Zichy (1910–1974), mit dem sie während des Zweiten Weltkriegs nach Argen-tinien auswanderte, wo sie lange Zeit lebte. Sie starb in München.

Dass die Transnationalität der Thyssens bislang wenig Beachtung erfahren hat, erklärt sich gewiss auch aus der starken Konzentration der Forschung auf August