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Tibor Valuch Die ungarische Gesellschaft im Wandel · 2020. 3. 8. · Tibor Valuch 3 Valuch: A jelenkori magyar társadalom, 238–272. II. Der Systemwandel. Begriffe und Deutungen4

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  • Tibor Valuch

    Die ungarische Gesellschaft im Wandel

    Soziale Veränderungen in Ungarn 1989–2019

  • STUDIA HUNGARICA

    Herausgegeben von

    Zsolt K. Lengyel • Ralf Thomas Göllner • Horst Glassl

    Band 55

    Ungarisches Institut München e. V.Landshuter Straße 4, 93047 Regensburg

  • Tibor Valuch

    Die ungarische Gesellschaft im Wandel

    Soziale Veränderungen in Ungarn 1989–2019

    Verlag Friedrich PustetRegensburg

  • Redaktion: Ralf Thomas Göllner und Zsolt K. Lengyelmit Krisztina Busa und Martin Pénzes

    Übersetzung aus dem Ungarischen von Éva Zádor und Katalin Rácz

    Die Erstellung der Arbeit und die Übersetzung wurde durch das Projekt Nr. EFOP-3.6.1-16-2016-00001 „Komplexe Förderung der

    Forschungskapazität und Forschungsdienstleistungen an der Eszterházy-Károly-Universität“ (H-Eger, Erlau) unterstützt

    Der Druck wurde vom Nationalen Kulturfonds (Nemzeti Kulturális Alap, Budapest) gefördert

    Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeAngaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

    ISBN 978-3-7917-3078-3© 2020 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

    Umschlaggestaltung: Martin Veicht, RegensburgUmschlagmotiv: Die Verschmelzung der Steinernen Brücke (Regensburg) mit der

    Széchenyi Kettenbrücke (Budapest) sowie die Donau versinnbildlichen die traditionell engen Beziehungen zwischen Bayern und Ungarn, Regensburg und Budapest.

    Fotos und Idee: Ralf Thomas Göllner. Fotobearbeitung: Holger John

    Satz: Hungaricum – Ungarisches Institut der Universität RegensburgDruck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

    Printed in Germany 2020

    Diese Publikation ist auch als eBook erhältlich:eISBN 978-3-7917-7248-6 (pdf)

    Weitere Publikationen aus unserem Programmfinden Sie auf www.verlag-pustet.de

    Kontakt und Bestellungen unter [email protected]

    http://www.verlag-pustet.dehttp://dnb.d-nb.de

  • Inhaltsverzeichnis

    I. Einleitung 9

    II. Der Systemwandel. Begriffe und Deutungen 13

    1. Vorgeschichte 162. Die Begrifflichkeiten von 1989/1990 21

    III. Gesellschaft in der Zeit. Demografische Prozesse 39

    1. Die Veränderung der Bevölkerungszahl Ungarns. Geburten 392. Lebenserwartung und Todesursachen 463. Altersstruktur, Geschlechterverteilung 514. Familienstruktur, Familienformen 555. Die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Folgen der demografischen Verhältnisse 57

    IV. Gesellschaft im Raum 61

    1. Der Einfluss des Systemwandels auf die Räumlichkeit der ungarischen Gesellschaft 612. Verwaltungssystem, Siedlungspolitik und regionale Ungleichheiten 663. Merkmale der Siedlungsstruktur und ihre Veränderungen 704. Suburbanisierung, Reurbanisierung und Segregation 795. Die räumliche Mobilität der ungarischen Bevölkerung 83

    V. Minderheiten und Ethnien diesseits und jenseits der Staatsgrenzen 89

    1. Nationale Minderheiten und Nationalitätenpolitik in Ungarn 892. Das Judentum in Ungarn nach dem Systemwandel 94

  • 6 Inhal t sv e r z e i chni s

    3. Die Roma in Ungarn 994. Ungarische Minderheitsgesellschaften im Karpatenbecken 106

    VI. Gesellschaftliche Schichtung. Mobilität und Gesellschaftsstruktur 111

    1. Die Merkmale der ungarischen Gesellschaft in der späten Kádár-Ära 1112. Die strukturellen Auswirkungen des Systemwandels auf die Gesellschaft 1153. Die gesellschaftliche Struktur und Neugliederung 1193. 1. Die Entwicklung des Bildungsniveaus 1990–2010 1193. 2. Beschäftigung und wirtschaftliche Aktivität 1253. 3. Einkommensgliederung 1313. 4. Soziale Mobilität und Schichtung 136

    VII. Alte, neue und sich erneuernde gesellschaftliche Gruppen 153

    1. Der Elitenwandel in Ungarn nach 1989/1990 1531. 1. Politische Elite 1601. 2. Wirtschaftliche Elite 1681. 3. Kulturelle Elite 1751. 4. Das Verhältnis von Elite und Gesellschaft 1812. Zwischen Elite und Mittelschicht: die Wohlhabenden 1833. Die gesellschaftliche Mitte 1864. Untere Gesellschaftsschicht und Marginalisierte 194

    VIII. Gesellschaft und Politik 201

    1. Politische Partizipation, politische Aktivität 2012. Politische Gliederung und Wahlen 212

  • Inhal t sv e r z e i chni s 7

    IX. Allgemeine Denkweise und Werte 221

    1. Der Systemwandel und die allgemeine Denkweise 2212. Die Werte und Merkmale der gesellschaftlichen Verhaltensweise 2263. Historisches Bewusstsein und Nationalbewusstsein 2364. Religion, Religiosität 240

    X. Soziale Verhältnisse 249

    1. Die Sozialpolitik und das Versorgungssystem 2492. Am Rande der Gesellschaft: Armut, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit 2563. Deviante gesellschaftliche Phänomene: Selbstmord, Alkoholismus, Drogensucht 2744. Kriminalität und Kriminelle 281

    XI. Zusammenfassung: Die Entwicklung in Ungarn im Spiegel der ostmitteleuropäischen Transformation 289

    XII. Verzeichnis der Fotos, Abbildungen, Tabellen und Karten 295

    1. Fotos 2952. Tabellen 2963. Abbildungen 2964. Karten 297

    XIII. Quellen- und Literaturverzeichnis 299

    XIV. Englische Zusammenfassung (Summary) 313

    XV. Register 317

    XVI. Kartenanhang 321

  • I. Einleitung

    Für den Historiker ist es eine besondere Herausforderung, aktuelle gesell-schaftliche Verhältnisse zu analysieren, denn er befindet sich selbst inmit-ten jener Entwicklungen, die er zu untersuchen wünscht. Verglichen mit Soziologen oder Statistikern geht er nach anderen Gesichtspunkten vor. Die Zusammenfügung der Forschungsmethoden der Geschichtswissen-schaft und anderer gesellschaftswissenschaftlicher Zweige ermöglicht aber einen weiten Untersuchungshorizont und neue, bei disziplinären Analysen unübliche Fragestellungen. So lässt sich die gesellschaftliche Entwicklung in Ungarn ab dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auf eine komple-xere Art zusammenfassen und bewerten. Da in dieser Periode sowohl die Struktur und Zusammensetzung als auch die Funktionsweise der unga-rischen Gesellschaft sich radikal verändert haben, sollen bei der Analyse dieser Umwandlung und von deren Folgen auch die Forschungsergebnisse der Soziologie und Statistik herangezogen werden.

    Über den Systemwandel in Ungarn 1989/19901 beziehungsweise die politische Wende in Ostmitteleuropa ist bereits so viel geschrieben wor-den, dass ganze Bibliotheken mit einschlägigen Untersuchungen und Mo-nografie gefüllt werden könnten. Obwohl die Transformationsforschung als etabliertes Forschungsgebiet einzelne Teilaspekte weitgehend beleuch-tet hat, liegen zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Thematik der Wende kaum übergreifende Werke vor. Diese Monografie will diese Lücke schließen, indem sie die ungarische Entwicklung vorwiegend aus der ge-sellschaftlichen Perspektive analysiert.

    Dabei gilt es, in erster Linie folgende Fragen zu beantworten: Welche Faktoren beeinflussten die gesellschaftliche Stellung beziehungsweise den Stellungswechsel einzelner Menschen oder Gesellschaftsgruppen beim Systemwandel? Welche Rolle spielte die Politik bei den gesellschaftlichen Veränderungen? Wie entwickelte sich die Rolle der unterschiedlichen Kapitalformen im Prozess der gesellschaftlichen Umwandlung? Welchen

    1 Für die Übergangsperiode der 1980er und 1990er Jahre haben sich in der Fachliteratur mehrere Bezeichnungen eingebürgert. Der Autor hat sich für den Ausdruck Systemwan-del entschieden, der den Kern der damaligen Veränderungen am besten erfasst. Siehe ausführlicher im Kapitel II den Abschnitt „Die Begrifflichkeiten von 1989/1990“.

  • 10 Ein l e i tung

    Beitrag leisteten hierzu – aus dem Vermächtnis der staatssozialistischen Ära – die nur zum Teil erneuerten Sozialisationsmechanismen und die durch Autonomiemangel charakterisierte Mentalität, die allgemeine Denk-weise und die gesellschaftlichen Verhaltensformen? Inwiefern veränderte der Übergang (oder die Rückkehr) zum Kapitalismus die gesellschaftliche Integration? Führte der Wandel insgesamt zu einer Integration oder zu einer Desintegration in der ungarischen Gesellschaft?

    Aus den nachstehenden Daten und Analysen wird ersichtlich, dass sich im Ungarn der 1990er Jahre eine gesellschaftliche Umstrukturierung entfaltete, die bereits vor dem Systemwandel eingesetzt hatte. Letzten Endes resultierte sie in einer Änderung der Eigentumsverhältnisse und der Neudefinition der Einstellung zum Markt, zum Privatsektor und zu den Gütern der Einkommenserzeugung. Zugleich war hinsichtlich des sozialen Kapitals eine Werte- und Rollenverschiebung zu beobachten, denn neben Geld und Vermögen gewannen kulturelles Kapital und soziale Netzwerke immer mehr an Bedeutung. All dies trug in den 1990er Jahren zu Verschie-bungen innerhalb der ungarischen Gesellschaft bei. Parallel dazu – und im Zusammenhang mit der Entfaltung neuer informationstechnischer Indus-triezweige – kam es zu einer allmählichen Intellektualisierung von Arbeit, bei der sich die Grundeinstellung der ungarischen Gesellschaft zur Arbeit veränderte. Dies war unter anderem der Umwälzung der Beschäftigungs-verhältnisse, dem allgemeinen Rückgang der Beschäftigungsquote und der Umstrukturierung der Erwerbszweige zu verdanken.

    Im Folgenden werden der demografische und zeitliche Wandel der ungarischen Gesellschaft untersucht, die Problematik der Räumlichkeit, die wesentlichen strukturellen Veränderungen analysiert, schließlich die Mentalität, Wertvorstellungen und gesellschaftlichen Verhaltensformen betrachtet. Dabei stellen sich folgende Leitfragen: Welche Folgen hatte die Umstrukturierung der ungarischen Gesellschaft? Wie veränderten sich die Möglichkeiten sozialer Mobilität? Wie können die Makrogruppen der heutigen ungarischen Gesellschaft charakterisiert werden? Aus welcher und in welche Richtung bewegte man sich? Wie und warum? Welche Auswirkungen hatten Privatisierung und erneuter Wohlstand? Wie entwi-ckelte sich das Einkommen der Bevölkerung, wie die soziale Ungleichheit? Welche individuellen und gemeinschaftlichen Lebensstrategien sind nach dem Systemwandel entstanden? Zeigt die heutige ungarische Gesellschaft

  • Ein l e i tung 11

    Charakterzüge auf, die eindeutig als Folgen des Systemwandels zu bezeich-nen sind?

    Die Liste könnte noch fortgesetzt werden, es bleibt aber fraglich, wie umfassend sich diese Fragen aus dem aktuellen Wissensstand heraus be-antworten lassen. Die Informalität in der ungarischen Gesellschaft und Wirtschaft ist – trotz der Veränderungen von informellen wie formellen gesellschaftlichen Prozessen seit 1989/1990 – immer noch deutlich spürbar. Folglich gibt es nach wie vor zahlreiche Phänomene, die sich mit den her-kömmlichen wissenschaftlichen Methoden nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen. Daher werden hier sämtliche zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Daten und Ansätze herangezogen. Eine weitere Schwie-rigkeit besteht darin, dass die soziologische Forschung sich in den letzten Jahrzehnten vorwiegend auf Teilbereiche beschränkt und sowohl die Ana-lyse und Interpretation grundlegender gesellschaftlicher Prozesse als auch die Soziografie ausgeklammert hat, wobei Statistiken sich nur zur Ausle-gung quantifizierbarer gesellschaftlicher Phänomene eignen. Da aber in-formelle Prozesse nicht messbar sind, werden sie in Statistiken durch keine Werte abgebildet. Beispielsweise spiegeln Einkommensstatistiken nur das erklärte Einkommen wider, was allerdings das Bild verzerrt, denn Ungarn ist die Heimat der zur Ergänzung des Mindestlohns direkt und unversteu-ert ausbezahlten Gelder – ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Formen illegalen Erwerbs und illegaler Zuwendung. Die Einkommenssi-tuation in Ungarn umfassend zu schildern, ist ohne Berücksichtigung der genannten Faktoren unmöglich. Um von der ungarischen Gesellschaft ein realistisches Bild zu zeichnen, bedarf es nicht nur einer klassischen sozio-logischen Analyse, sondern auch historischer Gesichtspunkte, statistischer Datenerhebung und soziografischer Beschreibung. Darüber hinaus ist es bei der Untersuchung der eigenen Gegenwart unumgänglich, den Mut zu einer womöglich subjektiven Schilderung aufzubringen, um den wissen-schaftlichen Interpretationsrahmen zu erweitern.

    Dieses Buch beruht großenteils auf der Urfassung, die 2015 im Buda-pester Verlag Osiris in ungarischer Sprache unter dem Titel „Die heutige ungarische Gesellschaft“ erschienen ist.2 Umfangsgründe sowie der Blick auf das vergangene halbe Jahrzehnt haben mich veranlasst, die ursprüng-

    2 Valuch: A jelenkori magyar társadalom. Deutschsprachiger Auszug: Valuch: Gesell-schaftliche Veränderungen.

  • 12 Ein l e i tung

    liche Konzeption leicht abzuwandeln beziehungsweise zu ergänzen. So verzichtet diese erste fremdsprachige Ausgabe des Werkes auf das Kapitel über das Alltagsleben3 sowie die Aufnahme von Fachliteratur im Schrift-tumsverzeichnis, die im Haupttext nicht verwendet wird (Interessenten an solchen weiterführenden Hinweisen sei der Griff zur ungarischen Ausgabe empfohlen). Neu sind in der vorliegenden Ausgabe die – soweit es das zugängliche Datenmaterial zuließ – bis 2018/2019 aktualisierten Inhalte der einzelnen Kapitel. Die Zusammenstellung der aus der Urfassung über-nommenen Fotos, Tabellen, Abbildungen und Karten richtet sich nach der erneuerten Konzeption.

    Dieser Band hätte ohne die Förderung des ungarischen Nationalen Kul-turfonds (Nemzeti Kulturális Alap) nicht zustande kommen können. Die Forschungs- und Übersetzungsarbeit sowie (teilweise) die Herausgabe des Buches wurden durch das Projekt Nr. EFOP–3.6.1–16–2016–00001 unter dem Titel „Komplexe Förderung der Forschungskapazitäten und For-schungsdienstleistungen an der Eszterházy-Károly-Universität“ von Eger unter Mitfinanzierung des Europäischen Sozialfonds unterstützt. Mein verbindlicher Dank gilt dem Institut für Politikwissenschaft des Gesell-schaftswissenschaftlichen Forschungszentrums der Ungarischen Akade-mie der Wissenschaften sowie dem Institut für Geschichtswissenschaft der Eszterházy-Károly-Universität, die meine Forschungstätigkeit seit langen Jahren ermöglichen. Bedanken möchte ich mich auch bei Zsolt K. Lengyel, Ralf Thomas Göllner und Krisztina Busa vom Ungarischen Institut der Universität Regensburg für die Aufnahme meiner Studie in die Reihe „Stu-dia Hungarica“, die Einwerbung der Druckbeihilfen sowie die umsichtige inhaltliche und sprachliche Betreuung des Textes. Éva Zádor und Katalin Rácz danke ich für die Übersetzung aus dem Ungarischen ins Deutsche. Mein besonderer Dank gilt meiner Familie, die sogar die hektischsten Perioden meiner Arbeit an diesem Buch mit größter Geduld über sich ergehen ließ.

    Debrecen, 18. März 2019. Tibor Valuch

    3 Valuch: A jelenkori magyar társadalom, 238–272.

  • II. Der Systemwandel. Begriffe und Deutungen4

    Warum ist es wichtig, die seit 1989/19905 vergangenen Jahrzehnte ge-schichtlich-soziologisch zu untersuchen? Die knappe Antwort auf diese Frage lautet: Weil man die Geschehnisse und die Veränderungen der Le-bensbedingungen beziehungsweise der Funktionsweise der ungarischen Gesellschaft und Wirtschaft beim friedlichen Übergang vom Staatssozi-alismus zum Kapitalismus nachvollziehen möchte. In Ungarn herrscht heutzutage die Meinung vor, durch die Wende sei vor allem der Kreis der Verlierer erweitert worden. Es ist klar, dass der Systemwandel das Land wirtschaftlich und gesellschaftlich viel mehr gekostet hat, als am Ende der 1980er Jahre erwartet worden war. Des Weiteren wird die Wende immer häufiger als Gegenstand historischer Forschungen thematisiert. So stellt sich die dringende Aufgabe, relevante Forschungsfragen zu formulieren.

    Die Geschichte des Systemwandels in Ungarn kann isoliert und ohne breiteren Kontext nicht untersucht werden. Europäische und weltpoliti-sche Rahmenbedingungen, der wirtschaftliche Hintergrund sowie Mo-dernisierungsbestrebungen und Modernisierungszwänge müssen beachtet werden.6 Über die grundlegenden Ähnlichkeiten der staatssozialistischen Staaten hinaus wiesen die einzelnen Gesellschaften zahlreiche Sonder-merkmale auf. Dabei können die Ereignisse am Ende der 1980er Jahre so-wohl aus der Perspektive der Modernisierung7 als auch jener der Divergenz beziehungsweise Konvergenz8 untersucht werden.

    Der Prozess des Systemwandels und dessen gesellschaftliche Folgen waren und sind oft diskutierte Themen. Will man aber die Ereignisse ver-stehen und die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse dementsprechend

    4 Eine eingehende Analyse der Ereignis- beziehungsweise Politikgeschichte des System-wandels ist nicht die Aufgabe dieses Buches, das sich somit in dieser Hinsicht auf das Notwendigste beschränkt. Zur politischen Geschichte der Wende (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): A magyar politikai rendszer – negyedszázad után; Bihari: A magyar politika; Körösényi: A magyar politikai rendszer; Post-Communist Transition; Ripp: Rendszerváltás; Romsics: Magyarország.

    5 Zu den Fragen der osteuropäischen Umbrüche im europäischen Zusammenhang: Ther: Europe.

    6 Vgl. Bartha: Kelet-európai alternatívák.7 Vgl. Laki: A rendszerváltás; Laki: Modernizáció. 8 Bemerkenswerter Versuch einer Zusammenfassung: Ther: Divergencia.

  • 14 D e r Sy s te mw and el . B eg r i f f e und D e utung e n

    auslegen, darf die Wende nicht in Einzelphänomene zerlegt, sondern muss als Ganzes umfassend betrachtet und beschrieben werden.

    Beobachtet man das Zeitalter, in dem man selbst lebt, sind die Einwir-kungen der Gegenwart nicht auszuklammern, möge man eine noch so maximale Objektivität und politische Unvoreingenommenheit anstreben. Aus der politischen Geschichte der letzten Jahrzehnte ist ersichtlich, dass die Einstellung der einzelnen politischen Akteure zur jüngsten Vergan-genheit und der Vergangenheit im Allgemeinen öfter durch Interessen und Aspekte der Legitimation, Identitätsschaffung und Identitätsstärkung bestimmt wird. Zoltán Ripp hat Recht, wenn er behauptet: »[Die] Aus-legung beziehungsweise politische Beurteilung des Systemwandels bietet sich im Spiegel der Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte fast als ein selbstständiges Forschungsgebiet der Geschichtswissenschaft an. Der Begriff des Systemwandels (oder anders: der Wende) mit einer überaus erweiterten Interpretation und demnach einer ›unendlichen Anlegung‹ wurde zum festen Bestandteil öffentlich-politischer Debatten. Im Kontext der Wende tauchen immer neuere – wirtschaftliche, gesellschaftliche, moralische sowie Wohlstands- – Ansprüche und Versprechen auf, die den Systemwandel als einen nicht abgeschlossenen Prozess erscheinen lassen, wenn nicht sogar als einen Prozess, der schier nicht abgeschlossen werden kann. Verwoben hiermit sind auch die Wiedergutmachungs- und/oder Vergeltungsbestrebungen bezüglich der in vergangenen Jahrzehnten ver-ursachten Schäden.«9 Hierbei geht es um die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen ab den 1980er Jahren, nicht etwa um die Auslegung des Systemwandels oder der Vorstellungen der einzelnen politischen Akteure über die Vergangenheit. Eine detaillierte Untersuchung des Übergangs wird durch den erwähnten Umstand begründet, dass der Systemwandel und dessen Folgen von unterschiedlichen und signifikanten Gruppen innerhalb der ungarischen Gesellschaft äußerst negativ beurteilt werden.10

    Laut Umfragen aus den 2000er Jahren hielt ein großer Teil der ungarischen Erwachsenen die Ereignisse von 1989/1990 und danach durchaus für nicht positiv.11

    9 Ripp: Eltékozolt esélyek, 113.10 Schon 1995 zeigte eine Umfrage, dass der Systemwandel nur von einem kleinen Bevöl-

    kerungsteil Ungarns als positiv aufgefasst wurde. Ferge: A rendszerváltás.11 Es ist verblüffend, dass 72 Prozent der Gesellschaft sich als Verlierer des Systemwandels

    fühlen. Diese Zahl ist nichts als schockierend, auch wenn sie das subjektive Wohlbefin-

  • D e r Sy s te mw and el . B eg r i f f e und D e utung e n 15

    Abbildung 1: Wie ist Ihr Lebensstandard 2009 im Vergleich mit der Zeit des Kommunismus? (Prozent)12

    Offensichtlich kann diese Beurteilung nicht durch Pessimismus, der als typisch ungarischer Charakterzug gilt, erklärt werden. Vielmehr basiert sie auf tatsächlichen gesellschaftlichen Erfahrungen. Statt einer ausgegliche-nen modernen Gesellschaft, die den erwarteten und ersehnten Wohlstand zu schaffen und langfristig zu gewähren vermocht hätte, entstand nämlich eine stark polarisierte, fragmentierte und markant desintegrierte Gesell-schaft. Durch die nachstehende Analyse der Prozesse des gesellschaftlichen Übergangs wird auch diese Haltung nachvollziehbar.

    den der Bevölkerung schildert: Immerhin wird hier von den Folgen einer permanenten Wendepolitik von zwei Jahrzehnten ein Bild aufgezeichnet. Es wurde nicht nur Millio-nen von Menschen, die tatsächlich ihre sichere Existenz verloren hatten, ein berechen-bares, sicheres Leben weggenommen, sondern es werden auch mehrere Millionen im erwerbsfähigen Alter, die (noch) eine Arbeit haben, in konstanter Unsicherheit (ohne jegliche Zukunftsperspektive für ihr hohes Alter) gehalten. Ganz zu schweigen von dem-jenigen Teil der mittlerweile herangewachsenen neuen Generation, der gleich am An-fang seiner Karriere keine Möglichkeit bekam, den Arbeitsmarkt zu betreten. In diesem Sinne scheint das Defizit des Systemwandels sich als Demokratiedefizit zu konservieren, denn der große Anteil der aus Untertanen der Diktatur zu Demokratieparias geworde-nen Menschen ist über seine eigene Lage hinaus auch für das Land ein ›Risikofaktor‹.« Gyarmati: A nosztalgia esete, 6.

    12 Quelle: Gyarmati: A nosztalgia esete, 5.

    812 13

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    Ungarn Ukraine Bulgarien Litauen Slowakei Russland Tschechien Polen

    besser

    unverändert

    schlechter

  • 16 D e r Sy s te mw and el . B eg r i f f e und D e utung e n

    1. Vorgeschichte

    In den 1980er Jahren stand Ungarn am Scheideweg. Die eskalierenden Symptome der Wirtschaftskrise waren unter den sozialistischen Wirt-schaftsbedingungen des Quasi-Markts einerseits schwer zu handhaben. Andererseits bedeuteten sie einen Angriff auf den stillschweigenden ge-sellschaftlichen Konsens, der in der konsolidierten Kádár-Ära als Funkti-onsgrundlage des staatssozialistischen Systems diente. Parallel dazu ging ab Anfang der 1980er Jahre auch in der Innenpolitik ein allmählicher Wandel vonstatten. Dies führte zu Spannungen innerhalb der kommu-nistischen Elite, die mit neuen Problemen konfrontiert, aber außerstande war, sie mit herkömmlichen Methoden zu lösen. Ab der Mitte der 1980er Jahre wurde die Lage auch durch die Überalterung der Führungskräfte des Landes erschwert. Zum Beispiel stellte man die politische Bedeutung von János Kádár, des Generalsekretärs der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei,13 in der Öffentlichkeit zwar nicht in Frage. Doch es wurde immer deutlicher, dass er sich den neuen Umständen nicht mehr anpassen konnte und weiterhin Gefangener seines eigenen Machtsystems war. Der alternde und kränkliche Kádár verlor immer mehr seine charismatische Ausstrahlung. Die von ihm befürwortete und 1985 angenommene, auf einer künstlichen Anspornung basierende Wirtschaftspolitik erwies sich schon nach einem Jahr als ungeeignet zur Behandlung der ungarischen Wirtschaftskrise14 und zur wirkungsvollen Verminderung der Verschul-dung.

    Die innenpolitische Landschaft Ungarns15 war sowohl innerhalb als auch außerhalb der kommunistischen Partei von immer neueren Bruch-linien durchzogen. Ab Mitte der 1980er Jahre wurden im Parteivorstand bezüglich der Nachfolge von Kádár Positionskämpfe und eine Suche nach Verbündeten charakteristisch. Kämpfe brachen aus zwischen den Anhän-gern der unterschiedlichen innerparteilichen Richtungen: den radikalen Reformern, den Moderaten und den Dogmatikern.

    13 Huszár: Kádár.14 Dazu: Bihari – Lengyel: Fordulat; Kaposi: Magyarország.15 Ausführlicher: Bruszt – Stark: A politikai játéktér; Romsics: Magyarország.

  • Vorg es chi chte 17

    Dadurch aber, dass sich in der Zwischenzeit auch Oppositionsgruppen illegal zu organisieren begannen, entstand eine neue Lage.16 Es formierten sich die drei wichtigsten Gruppierungen: die Volkstümler (népiek), die nati-onale Fragen und die Lage der ungarischen Minderheiten in den Nachbar-staaten Ungarns in den Mittelpunkt stellten; die demokratische Opposition (demokratikus ellenzék) mit einer liberal-demokratischen Einstellung, und die Sechsundfünfziger (ötvenhatosok) in der belebten Tradition des Ungarn-Aufstandes von 1956. Es entstanden zahlreiche weitere Gruppen, wie der Donaukreis (Duna Kör), der die Bevölkerung durch seine Demonstration gegen das Kraftwerk Gabčíkovo für Umweltschutzfragen sensibilisierte. Die Kraft dieser neuen Formationen bestand nicht in ihrer Mitgliederzahl, die nur einige wenige tausend betrug, sondern in der Geste, welche die neuen Handlungsmöglichkeiten aufzeigte. Als zentrales Element schufen die oppositionellen Organisationen eine unzensierte, unabhängige Öffent-lichkeit, die sie aufrechtzuerhalten versuchten. Bezeichnend war auch, dass die ideologisch unterschiedlich angelegten Oppositions- und Reformgrup-pierungen ab Mitte der 1980er Jahre unter sich bewusst eine Kooperation anstrebten. Als deren Beginn galt das im Sommer 1985 abgehaltene Treffen in Monor, einer Kleinstadt unweit von Budapest.17 Die Verhandlungen zwischen den unterschiedlichen Flügeln der Opposition wurden auf einer Tagung zum 30. Jubiläum der Revolution von 1956 beziehungsweise einem Treffen in der Großgemeinde Lakitelek (120 Kilometer südöstlich von Budapest) 1987 fortgesetzt, bei dem allerdings nicht mehr die Zusammen-arbeit, sondern eher die Trennung der systemkritischen Strömungen im Mittelpunkt stand. All dies trug zum Ausbau einer breiteren Oppositions-plattform bei und beschleunigte die Entstehung von Oppositionsgruppen und die politische Meinungsbildung. Die kommunistischen Machtinha-ber vermieden aus innen- und außenpolitischen Gründen spektakuläre Strafmaßnahmen und griffen nur gemäßigt ein, indem sie die Taktik der ständigen Beobachtung und Belästigung anwandten.18 Zum Gesamtbild gehörte auch eine steigende Anzahl von Menschen, die sich um die Akti-visten gruppierten. Diese waren die Fortschrittlichen (haladárok), die ihre

    16 Zum Thema: Csizmadia: A magyar demokratikus ellenzék.17 A monori tanácskozás, 1985. június 14–16.18 Zum Thema siehe das Protokoll des Treffens von Kádár und Gorbatschow vom 25. Sep-

    tember 1985: Kádár János és M. Sz. Gorbacsov találkozója Moszkvában.

  • 18 D e r Sy s te mw and el . B eg r i f f e und D e utung e n

    oppositionelle Haltung aus unterschiedlichen Gründen nicht öffentlich machen wollten, durch ihre kritische Haltung jedoch den oppositionellen Bestrebungen eine wachsende Basis sicherten. Letztendlich entstanden aus diesen Oppositionsgruppen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Vorparteien, und am Ende des Jahrzehnts die bestimmenden Parteien des Systemwandels.

    Die innenpolitischen Prozesse wurden auch durch äußere Faktoren beeinflusst.19 Erstens bestand die amerikanische Außenpolitik auf der Thematisierung von Menschenrechtsfragen; zweitens gingen aus dem wirtschaftlichen und Rüstungswettlauf der Großmächte am Ende der 1980er Jahre die Vereinigten Staaten von Amerika als Sieger hervor; drit-tens führte die aus der Gerontokratie folgende Unsicherheit in der obersten Führungsschicht der Sowjetunion zu einer neuen politischen Situation. Michail Sergejewitsch Gorbatschow, Generalsekretär des Zentralkomi-tees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und seine Anhänger überprüften die Rollenverteilung im Land, nahmen die Veränderung der weltpolitischen Kräfteverhältnisse zur Kenntnis und versuchten, die Sow-jetunion durch die Politik der Offenheit und Umgestaltung (Glasnost und Perestroika) am Leben zu halten. Als der sowjetische Einfluss auf die Welt-politik nachließ, begannen die Staaten des Ostblocks, sich voneinander zu entfernen: Ungarn hielt wegen der Assimilationspolitik, die den ungari-schen Minderheiten aufgezwungen wurde, einen gewissen Abstand von der Tschechoslowakei, und es kam auch in der Beziehung zu Rumänien zu Spannungen.

    Außenpolitisch20 befand sich Ungarn in den 1980er Jahren in einem eigentümlichen Koordinatensystem und war halbwegs von anderen Staa-ten abhängig. Es wich vom sowjetischen Weg zwar nicht entscheidend ab, versuchte jedoch – vor allem wirtschaftlich motiviert – auch selbststän-dige Schritte zum Ausbau seines Verhältnisses zu den westeuropäischen Staaten, insbesondere zur Bundesrepublik Deutschland, zu unternehmen. Der ungarischen Regierung schien es essenziell, die Finanzlage des Landes durch die Außenpolitik zu unterstützen.

    An der Wende der 1970er zu den 1980er Jahren geriet die ungarische Wirtschaft wegen der späten Reaktionen und der politischen Prioritä-

    19 Dazu ausführlich: Békés: Vissza Európába.20 Békés: Vissza Európába; Gorbacsov tárgyalásai a magyar vezetőkkel.

  • Vorg es chi chte 19

    tensetzung mit Krediten zur Erhöhung des Lebensstandards und zur Aufrechterhaltung des erhöhten Standards in eine zunehmende Krise. Im Jahrzehnt vor dem Systemwandel hatte die Wirtschaft Ungarns mit drei grundlegenden Problemen zu kämpfen: dem Übergewicht von wenig effizienten, energieintensiven Industriezweigen, die dazu viel Arbeitskraft und erhebliche Rohstoffmengen beanspruchten, sowie einer langsamen Reaktionsfähigkeit; einer zunehmenden Auslandsverschuldung, als Folge fehlerhafter wirtschaftspolitischer Entscheidungen; und dem Mangel an tatsächlichen persönlichen Interessen in einem Wirtschaftsverwaltungs-system, das auf schwerfälligen Plänen und bürokratischer Koordination beruhte. All dies beschleunigte die Inflation und verursachte einen Rück-gang des Reallohns, was selbst durch die allmähliche Zulassung privatwirt-schaftlicher Tätigkeiten ab Anfang der 1980er Jahre nicht ausbalanciert werden konnte.

    Die ungarische Gesellschaft veränderte sich in den 1980er Jahren signifikant. Die Herausbildung eines Kleinbürgertums beziehungsweise die Ausweitung der Mittelschicht, anders gewendet: der Prozess der Ver-bürgerlichung ohne Bürgerrechte21 war in vollem Gange: »Es war eine allgemeine Tendenz, dass man unabhängig von seinem Berufsstand in die Mitte strebte. So taten es die gut verdienenden Facharbeiter, die Mitglie-der der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die nebenbei auch für den eigenen Gebrauch landwirtschaftlich tätig waren; die Bü-roangestellten, die ihren Lohn außerhalb ihrer Hauptarbeitszeit durch Maschinenschreiben ergänzten; Gymnasiallehrer; oder eben Offiziere.«22 Gleichzeitig ging – vor allem dank der zweiten Wirtschaft, des inoffiziellen Nebenberufs – auch eine beschleunigte Differenzierung der Gehälter von-statten: Laut Untersuchungen aus der Periode nahmen die Unterschiede im Lebensstandard zwischen der Führungsschicht mit Hochschulabschluss beziehungsweise der Intelligenz auf der einen Seite, und anderen Gesell-schaftsgruppen auf der anderen Seite zu.

    21 Ohne Bürgerrechte, denn zu jener Zeit bestand keine Rechtssicherheit, das heißt, zum Beispiel neu angelegte Vermögen hätten im Prinzip jederzeit weggenommen werden können. Darüber hinaus blieben auch die politischen Freiheitsrechte bis zum System-wandel beschränkt. Die Normen einer bürgerlichen Gesellschaft setzten sich in der allgemeinen Denkweise, noch nicht im öffentlichen Leben durch.

    22 Valuch: Magyarország, 112.

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    In den 1980er Jahren hatte sich die ungarische Gesellschaft entlang fol-gender Faktoren gegliedert: regionale Zugehörigkeit, Einkommen, Schul-bildung, Arbeitsverteilung sowie Beteiligung an der legalen und der illega-len Privatwirtschaft, in der die Erwartungen aus dem Gesellschaftsbild der kommunistischen Ideologie immer mehr an Terrain verloren. In der all-gemeinen Denkweise wurden die mit materiellem Wohlstand assoziierten Werte mehr und mehr geschätzt, im Alltag respektierte und erkannte man die erfinderischen Menschen stärker an, die sich Schlupflöcher im Gesetz zunutze machten. Allgemein waren für die Bevölkerung eine größere Un-ternehmungslust, höhere Risikobereitschaft und verstärkte wirtschaftliche Rationalität charakteristisch. Das politische Kapital wurde formalisiert, dem ökonomischen Kapital kam eine größere gesellschaftliche Rolle zu und das soziale Kapital blieb weiterhin entscheidend, wobei das kulturelle Kapital wichtiger wurde. In Ungarn war also die gesellschaftliche Aus-gangslage vor dem Systemwandel in vielerlei Hinsicht günstiger als in der Mehrheit der anderen Staaten des Ostblocks.

    Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass in der ungarischen Innenpolitik, Wirtschaft und Gesellschaft der 1980er Jahre erhebliche Umstrukturierungen stattfanden, die teilweise zu Konflikten mit den staatlichen Institutionen führten. Hätten sich die äußeren, weltpolitischen Bedingungen weniger verändert als es der Fall war, wäre eine Politik der allmählich dekonstruierenden kleinen Bedürfnisse, Begünstigungen und Veränderungen eine ernsthafte Alternative gewesen. Das bedeutet, dass die damalige ungarische Gesellschaft keinen raschen Systemwandel aus eigener Kraft hätte erzwingen können.

    Der Weg zum Sturz des Staatssozialismus und die seit dem Systemwan-del vergangenen Jahrzehnte sind nicht als eine einheitliche Epoche zu be-trachten. 1977/1978 und 1985/1986 waren die Jahre der sich vertiefenden Krise des Kádár-Systems, die Periode von 1987 bis 1990 kann als Zeit des politischen und teilweise wirtschaftlichen Übergangs bezeichnet werden. Die Jahre zwischen 1990 und 1995 waren der Auftakt zur Stabilisierung der parlamentarischen Ordnung, zur Herausbildung der Marktverhältnisse, zu den verflochtenen Veränderungen der Besitzverhältnisse sowie zur Umwandlung der kaum prosperierenden Wirtschaft und Gesellschaft. Die Periode zwischen 1995/1996 und 2001/2002 war eine Art Schlusskapitel des Systemwandels, in dem die massenhafte Privatisierung abgeschlossen,

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    die Umstrukturierungen der Wende konsolidiert wurden und sich die politischen Kräfteverhältnisse veränderten. Das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre stand bis 2008/200923 im Zeichen der europäischen Integration, der Festigung gesellschaftlicher Verhältnisse, der Konsolidierung und dann der erneuten Krise der ungarischen Wirtschaft sowie des Scheiterns der seit dem Systemwandel geplanten strukturellen Modernisierungsvorhaben. Die wichtigste Veränderung nach 2010 waren die Herausbildung und Kon-solidierung der illiberalen Demokratie.

    Diese knappe Zusammenfassung soll einerseits die Vielfalt und Viel-schichtigkeit der Entwicklungen im letzten Jahrzehnt vor dem Systemwan-del in Ungarn veranschaulichen, andererseits die zeitliche und räumliche Verortung der nachstehend untersuchten gesellschaftlichen Prozesse und Ereignisse erleichtern.

    2. Die Begrifflichkeiten von 1989/1990

    Versucht man sich in der mittlerweile dschungelartigen Vielfalt des ungari-schen Systemwandels zurechtzufinden, so ist es unabdingbar, zuerst einige Fragen und Gesichtspunkte zu formulieren, die bei der Auslegung unter-schiedlicher Begriffe, Interpretationen und Herangehensweisen ordnende Hilfe leisten können.

    Was heißt Systemwandel? Welcher Begriff eignet sich am besten zur möglichst genauen Beschreibung des Übergangs: Wende, Systemwandel, Systemwechsel, Systemumstrukturierung? Bestehen erhebliche inhaltliche Unterschiede zwischen diesen Begriffen? Welche grundlegenden Prob-leme gab es bei der postsozialistischen Umwandlung? Mit den Worten von János Kornai: Welche wahrnehmbaren gesellschaftlichen Formationen nennt man ein System?24 Welche wahrnehmbaren, geschichtlich tatsächlich vollgezogenen Veränderungen können als Wende bezeichnet werden? Von höchster Relevanz ist auch zu klären: Was hatte es mit dem Systemwandel eigentlich auf sich? Welche Wechselwirkung bestand zwischen den Prozes-sen des politischen, wirtschaftlichen beziehungsweise gesellschaftlichen

    23 Auch in neueren Arbeiten der Gegenwartsforschung wird diese Periode als Epoche des Übergangs und Umbaus bezeichnet. Ther: Divergencia; Ther: Europe; Wirsching: Der Preis. Ähnliche Auslegung bei Kéri: A rendszerváltás.

    24 Kornai: Mit jelent a „rendszerváltás“.

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    Übergangs? Welche Interpretationsmöglichkeiten gibt es für den Begriff des Systemwandels?

    Die Veränderungen im Ungarn der vergangenen drei Jahrzehnte können nicht aus ihrem breiten Kontext herausgerissen und als iso-lierte Phänomene gedeutet werden. Die Globalisierung, der allmähliche Abbau der bipolaren Weltordnung, die späte Postindustrialisierung im damaligen Ostblock sowie die wichtigsten Unterschiede zwischen den Globalisierungstendenzen und den zurückeroberten beziehungsweise zu-rückzuerobernden nationalstaatlichen Ambitionen hatten nämlich einen bedeutenden Einfluss auf die Ereignisse. Spricht man von System im ge-sellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und geschichtlichen Sinne, denkt man an die für die Gesellschaft lebenswichtigen Positionen, zugleich an Einrichtungen, die besagte Positionen organisieren. Einzelne Systeme können also durch Positionen und Personen, die diese ausfüllen, charakte-risiert werden. Die Institutionen und Regeln, die das zwischen den beiden Letzteren entstehende Verhältnis (der Kooperation oder des Wettbewerbs) bestimmen, sind wiederum durch Termini formaler und informaler Nor-men zu beschreiben. Gewöhnlich behandelt man wirtschaftliche, gesell-schaftliche und politische Systeme voneinander getrennt. Dabei werden Besitz, Produktion, Handel und Wettbewerb der selbstständigen Sphäre dem wirtschaftlichen System, konstitutioneller Rahmen, Interessenvertre-tung, Akteure und Institutionen addierter politischer Präferenzen zum politischen System zugerechnet. Betont sei, dass sowohl das wirtschaftliche als auch das politische System gesellschaftlich eingebettet sind und in enger Wechselwirkung miteinander funktionieren. Den Systemwandel wirtschaft-lich zu erläutern, ist eine relativ einfache Aufgabe: Der Übergang fand von der auf staatlichem Besitz und Redistribution basierenden Planwirtschaft hin zu der auf Privatbesitz gestützten Marktwirtschaft statt. Genauso leicht lässt sich die politische Veränderung beschreiben: Nach dem Abbau der Einparteiendiktatur kam es zur Entwicklung und Etablierung einer parla-mentarischen Demokratie. Gesellschaftlich sieht die Lage mit verwickelten Integrations- und Desintegrationsprozessen jedoch deutlich komplizierter aus. Sicher ist, dass für die ausgehende Kádár-Ära eine starke Individuali-sierung charakteristisch war; anständiger Wettbewerb und offene Koope-rationen wurden abgelehnt, was den gesellschaftlichen Übergang prägte.

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    Nach Tamás Kolosi und István György Tóth bedeutete der Systemwan-del in Ungarn – und in anderen Staaten – »den Übergang von der einen eigentümlichen, durch ideologische und politische Aspekte bestimmten Kombination zu einer anderen eigentümlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kombination«.25 Dabei konnte Ungarn auf eine längere Geschichte des – allerdings allmählichen – Übergangs26 zurückblicken als die anderen postsozialistischen Staaten der Region. Entsprechend dieser Logik ist unter Systemwandel einerseits eine institutionelle Veränderung zu verstehen: eine Umwandlung jener Regeln und institutionellen Rah-menbedingungen, anhand derer die Funktionsweise des jeweiligen Sys-tems – sowohl vor als auch nach der Veränderung – und die Bedingungen beziehungsweise Mechanismen des Zurechtkommens in der Gesellschaft festgelegt werden. Andererseits bezieht sich der Begriff auf die Anpas-sungsfähigkeiten der einzelnen Systeme. Somit kann der Systemwandel als eine Art Umprogrammierung der Funktionsmechanismen der Gesellschaft bezeichnet werden. Zu einem solchen Codewechsel kam es jedoch nur in Deutschland, wo man im östlichen Teil des wiedervereinigten Staates die in der westlichen Landeshälfte funktionierenden demokratischen politischen und marktwirtschaftlichen Einrichtungen adaptierte, was freilich zu zahl-reichen Konflikten führte. In den anderen ehemaligen staatssozialistischen Ländern war der Übergang viel komplizierter, denn es mussten neue Ins-titutionen gegründet und neue Regeln festgelegt werden. Eine einmalige, umfassende Veränderung, die auch nationale Institutionen erschuf, war in denjenigen Staaten zu beobachten, in denen die politische Veränderung eine nationale Verselbstständigung nach sich gezogen hatte: im Baltikum, in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens sowie der Tschechoslowakei.27

    Systemwandel bedeutet also die gesellschaftlich-wirtschaftliche und politische Umwälzung eines Staates: »Die Wende ist nichts anderes als der Übergang, bei dem die für den Sozialismus charakteristischen Bedingun-gen durch die für den Kapitalismus charakteristischen abgelöst werden.«28

    25 Kolosi – Tóth: A rendszerváltás, 17. 26 Einige Elemente der Marktwirtschaft tauchten bereits nach der Einführung des neuen

    wirtschaftlichen Mechanismus 1968 auf. Von großer Relevanz war auch, dass es im Ostblock nur in Ungarn (ab 1982) möglich war, kleine private Personen- und Kapitalge-sellschaften ohne juristische Persönlichkeit, mit maximal 50 Angestellten zu gründen.

    27 Kolosi – Tóth: A rendszerváltás.28 Rainer: Adalékok, 15.

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    Doch verglichen mit der Ausgangslage beziehungsweise der Vielfalt der Staatseinrichtungen vor der Wende enstanden hierbei – hinsichtlich ihrer Einrichtung und Funktionsweise – umso mehr neue Systeme.

    Wenn man eine möglichst klare Begriffsbestimmung anstrebt, dann lohnt es sich, die Veränderung politischer und wirtschaftlicher Bedin-gungen und Regeln, das heißt, den direkten Übergang an der klar abzu-grenzenden Epoche der ausgehenden 1980er Jahre und der ersten Hälfte der 1990er Jahre festzumachen. »In diesem engeren Sinne beschreibt und interpretiert der Begriff Systemwandel diejenige Macht und politische Umstrukturierung, die der Marktwirtschaft und der Verbürgerlichung der Gesellschaft den Weg bereitete und in der halbperipheren Lage Ungarns einen neuen Modernisierungsversuch, somit die Auflösung der osteuropä-ischen Zwangsintegration sowie die ersten Schritte des euro-atlantischen Integrationsprozesses ermöglichte.«29 Hierbei veränderten sich der Aufbau und die Funktionsweise des politischen Systems sowie die Zusammenset-zung der politischen Elite. Beim politischen Übergang kam es ab Ende der 1990er Jahre zu einer Umwälzung der Prinzipien und Praxen der Organisierung und Verwaltung der Gesellschaft: Die auf der Hegemonie der marxistisch-leninistischen Ideologie basierende, autoritäre Ordnung wurde durch eine gesellschaftsorganisatorische Praxis abgelöst, die sich auf Recht, Freiheit, Demokratie und Autonomie stützte. Auch die wirtschaft-liche Ordnung Ungarns veränderte sich grundlegend, indem die charak-teristischen Quasi-Märkte der Planwirtschaft durch die Marktwirtschaft ersetzt wurden. Hierbei galten das ungarische Gesetz Nr. VI/1988 über die Gründung von Wirtschaftsgesellschaften und die spontane Privatisierung in der Wendezeit als Beschleunigungsfaktoren, die auch die gesellschaftli-chen Konsequenzen mit beeinflussten. Spontane Privatisierung meint ge-wöhnlich den 1987–1990, noch in parteistaatlichem Rahmen einsetzende massenhafte Privatisierung staatlichen Besitzes, in dessen Verlauf in- und ausländische Privatpersonen und Unternehmen das in staatlichem Besitz befindliche Vermögen zu günstigen Bedingungen, mithilfe der Leitung staatlicher Unternehmen beziehungsweise zusammen mit diesen erwer-ben konnten. Sie nutzten die moralisch zwar fragwürdigen, jedoch nicht gesetzeswidrigen Möglichkeiten, Schlupflöcher, schlecht formulierten Ge-setze und die rudimentäre Gesetzesauslegungspraxis je nach persönlichen

    29 Ripp: Eltékozolt esélyek, 115.

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    Interessen aus. »Die ›spontane Privatisierung‹ war ausschließlich aus der Perspektive des Staates spontan, denn sie basierte auf der Eigeninitiative der sich nunmehr selbst verwaltenden Unternehmen, worauf die Regie-rung keinen relevanten Einfluss nehmen konnte. Es ging also um bewusste Unternehmensentscheidungen, bei denen sich die jeweiligen Vorstands-mitglieder die Privatisierungspartner, -methoden und -bedingungen ihren eigenen Interessen – und manchmal denen des Unternehmens – entspre-chend selbst aussuchten. […] Gemäß Gesetz Nr. XXVIII/1987 konnten mit der Teilnahme von mindestens einer juristischen Person und unter staatlicher Anwesenheit auch Privatpersonen und Privatgesellschaften be-stimmte Kapitalgesellschaften […] gründen. Gekrönt wurde der Prozess durch das Gesellschaftsgesetz beziehungsweise das Gesetz über ausländi-sche Investitionen von 1988 sowie das Umwandlungsgesetz von 1989, die eine – moralisch des Öfteren nicht verfechtbare – Privatisierung großer Summen staatlichen Vermögens erst recht ermöglichten.«30 Das staatliche Vermögen schrumpfte im Laufe des Übergangs immer weiter: 1988 gab es noch 2.378 staatliche Unternehmen, 1994 waren es nur noch 828. Bei Pro-duktionsgütern war der Privatbesitz bestimmend, und es entstanden ein zweistufiges Bankensystem sowie der Kapital- und Wertpapiermarkt. Die Umwandlung der wirtschaftlichen Organisationsstruktur wird auch an-hand folgender statistischer Daten ersichtlich: 1988 gab es in Ungarn 2.900

    30 »Für diesen Abschnitt der spontanen Privatisierung war eine Privatisierung der Sach-einlagen charakteristisch. Die teilnehmenden Staatsunternehmen formten sich nicht zu Gesellschaften um, sondern legten einen Teil ihres Vermögens, das heißt, ihre Produk-tionsanlagen, Vermögensgegenstände oder ihr Geld in ungarische oder internationale Kapitalgesellschaften an, welches Vermögen letztendlich in den Besitz der jeweiligen Gesellschaften überging. Als Gegenleistung erhielten die Staatsunternehmen Geschäfts-anteile, Aktien oder Anleihen. Es ist offensichtlich, dass Unternehmensbesitzer durch solche Transaktionen generell eher Gewinne erzielen; doch der ungarische Staat, mit dessen Besitz das eben beschriebene Besitzrechtmanagement betrieben wurde, hatte ei-niges einzubüßen, wobei der Kreis der Führungskräfte und der von denen ausgesuchten nationalen und internationalen Investeure unverhältnismäßig stark erweitert wurde. Die neuen Gesellschaften wurden von den Unternehmen, deren Führung, anderen Privat-personen und deren Gesellschaften gerne zusammen mit ausländischen Privatpersonen und Gesellschaften gegründet, die das angelegte Unternehmensvermögen abwerteten, dafür aber Privatanteile wie zum Beispiel immaterielle Vermögenswerte reichlich auf-werteten und anschließend durch unterschiedliche Manipulationen (Erhöhung bezie-hungsweise Reduzierung) des Grundkapitals immer größere Anteile an den jeweiligen staatlich-privaten gemischten Gesellschaften erwarben.« Magyarország a XX. században 621.

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    Personen- und Kapitalgesellschaften und 180.000 Einzelunternehmen; 1995 betrug die Anzahl der Gesellschaften mit juristischer Persönlichkeit bereits 110.000, und die Zahl der Einzelunternehmer stief auf 850.000 an.31

    Bei näherer Betrachtung der Begriffe Wende, Systemwandel bezie-hungsweise Systemwechsel erscheinen alle drei als zutreffend. Während Wende auf eine neue Richtung, die Anwendung eines neuen Systems hinweist, bezieht sich politischer Systemwechsel auf eine Veränderung der Verfassung und Staatsform sowie die Einführung des Parlamentarismus. Der letztgenannte Ausdruck betont die Kontinuität, das heißt, dass sich nicht alles und alle von heute auf morgen austauschen lassen, wobei auch der Veränderung eine große Bedeutung zukommt. Doch »der Begriff ›Wende‹ ist womöglich besser geeignet, die Zäsur zwischen dem alten und dem neuen System zu betonen, wobei die Ausdrücke ›Systemwandel‹ und ›Systemwechsel‹ sich auch auf die Länge und Komplexität des Übergangs, somit auf die Entfaltungsgeschichte des neuen Systems beziehen. Der un-garische Systemwandel hat also viele gültige Definitionen, und man soll sich keine allzu großen Hoffnungen darauf machen, dass die Debatte bald abgeschlossen werden könnte«.32 Sie wird immerhin nicht nur in gesell-schaftswissenschaftlichen Kreisen, sondern von Zeit zu Zeit auch in der Politik geführt, was die Konsenssuche weiter erschwert.

    Bei der Untersuchung der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lage Un-garns in den 1980er Jahren sticht ins Auge, dass eine Veränderung bevor-stand, für die die politischen Hindernisse aber erst noch abgebaut werden mussten, um die Grundlagen der Marktwirtschaft zu schaffen. Deswegen war das Hauptkapitel des politischen Abschnitts des Übergangs der Aus-bau des Rechtsstaats beziehungsweise der parlamentarischen Demokratie, jenes politischen Systems also, das der kapitalistischen Umwandlung des Wirtschaftssystems am ehesten entsprach: »Selbst vielen von denen, die den Systemwandel in die Wege leiteten, war es nicht klar, dass eigentlich die Entfaltung eines neuen, globalisierten Kapitalismus anstand, und dass dies der Kern des Übergangs sein würde, der mit einer wirtschaftlichen Umwandlung fortzusetzen war.«33 Die osteuropäischen Wenden fielen allerdings mit dem offensiven Abschnitt der Globalisierung zusammen,

    31 Ausführlich: Valuch: Magyarország.32 Ripp: Eltékozolt esélyek, 115.33 Ebenda, 116.

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    in dem der Staatssozialismus, der den neuen Herausforderungen nicht zu entsprechen vermochte, in eine allgemeine Krise geriet.

    In Ungarn sind die Begrifflichkeiten und Interpretationen des System-wandels mit der Bewertung beziehungsweise Um- und Neubewertung der Vergangenheit verflochten. Nach der politischen Wende krachte eine Reihe schwer zu bewältigender, verdrängter oder verschwiegener Traumata der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit voller Wucht auf die Gesellschaft, während die polarisierten, neuen politischen Eliten ihre bit-tersten und aussichtslosesten ideologischen Kämpfe führten. Dabei stand der zu wählende neue Weg beziehungsweise die Zukunft auf dem Spiel. »Als Ergebnis erwies sich jedoch die ganze politische Elite, die den System-wandel in die Wege geleitet hatte, mit all ihren Teilgruppen, unabhängig von ideologischen und politischen Ansichten, zur rationalen Aufarbeitung der traurigen ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts als ungeeignet, und noch mehr: Dadurch, dass diese politische Elite die Interpretation der Vergangenheit zu einem politischen Schlachtfeld gemacht hatte, stand sie der sinnvollen Debatte im Wege, die in den neuralgischsten Fragen zu einem Konsens hätte führen können. Sie war nicht imstande, bezüglich der schmerzhaftesten Ereignisse der Vergangenheit einen mehr oder weniger einheitlichen Standpunkt einzunehmen und die Meinung der Öffentlich-keit dementsprechend zu formen. Ganz im Gegenteil trachtete sie danach, durch ihre eigenen, teilweisen Auslegungen der Vergangenheit ihre politi-sche Basis zu stärken, was zu einem äußerst fragmentierten National- und Geschichtsbewusstsein führte. Das Verhältnis zur Vergangenheit spielte bei der Aufspaltung der Gesellschaft in einander gegenüberstehende politische Seiten eine überaus große Rolle.«34 Dabei gab es zwischen den Vertretern der diversen Gruppen mit jeweils unterschiedlichen Ansichten so gut wie keinen Dialog mehr. Die grundsätzlich auf die Zukunft gerichteten Ge-danken von einem Systemwandel wurden durch Kämpfe um die Vergan-genheit belastet. Von den Störungen, die beim Ausbau des neuen Systems auftauchten, wurzelten die meisten in der näheren Vergangenheit und waren Folgen der Krisen in der Kádár-Ära. Dabei erschwerten die ständige Rückschau und das ewige Historisieren die Identifizierung mit den neuen demokratischen Verhältnissen und mit dem durch Markt und Wettbewerb

    34 Ebenda, 120–121.

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    bestimmten System, und halfen der verunsicherten Bevölkerung immer weniger, sich unter den neuen Verhältnissen zurechtzufinden.

    Der Systemwandel umfasste zahlreiche Versprechen und Möglichkei-ten: ein dynamisches Wirtschaftswachstum als Entwicklungsgrundlage; eine Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit nach der langen Besatzungszeit; die Schaffung von Voraussetzungen einer gleichrangigen (Re-)Integration in Westeuropa; eine moralische Reinigung des öffent-lichen Lebens; den Ausbau eines gut funktionierenden liberalen Rechts-staats, der auf parlamentarischer Demokratie basiert; die unbegrenzte Gültigkeit grundlegender Freiheitsrechte; das Sicherstellen der Weiterent-wicklung der sich verbürgerlichenden Gesellschaft. Die inneren und äuße-ren Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Rahmenbedingungen waren jedoch bei weitem nicht gegeben. Das Modernisierungsmodell für ein Aufholen der ostmitteleuropäischen Staaten an der Halbperipherie führte im Zeitalter der Globalisierung notwendigerweise zu gesellschaft-lichen Konflikten, was wiederum Unzufriedenheit mit den erreichten Veränderungen bedingte. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, als sich die Hoffnungen und Illusionen der Wende in Rauch auflösten, tauchten Legitimationsprobleme auf, welche die Parteien gerne ihren Gegnern und deren Beitrag zum unendlichen Systemwandel in die Schuhe schoben.

    Bei der Zusammenfassung des Charakters und der wichtigsten Pro-bleme der postsozialistischen Umwandlung muss betont werden, dass die späte Kádár-Ära eigentlich die Periode war, in der das System von Begünstigungen sowie die relative Freiheit ausgeweitet wurden. Im Gegen-satz zu Polen konnte sich die Opposition in Ungarn nicht auf eine breite gesellschaftliche Basis stützen, denn die weit verbreitete zweite Wirtschaft verhinderte eine Politisierung. Die Mehrheit der Bevölkerung Ungarns war nämlich in erster Linie mit der Aufrechterhaltung ihres Lebensstandards beschäftigt. Außerdem bestand die politisch nicht gegliederte Gesellschaft der Kádár-Ära trotz zunehmender Unzufriedenheit auch in den Jahren des Übergangs auf ihrer politischen Neutralität und war weniger bereit, sich zu organisieren. Die meisten verfolgten zwar die in vielerlei Hinsicht verblüffenden Veränderungen, verhielten sich aber auffallend passiv und engagierten sich politisch dementsprechend wenig. Obwohl die infolge von Wirtschaftskrise und drastischen Sparmaßnahmen verursachte Unzufrie-denheit deutlich zu spüren war, kam es nur vereinzelt zu wirtschaftlich-

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    sozialen Demonstrationen.35 Beispiele für einen sichtbaren gesellschaft-lichen Widerstand oder Druck36 mit einem Einfluss auf Methode und Richtung der Transformation können für die 1990er Jahre kaum genannt werden. Ein möglicher Grund hierfür ist die fehlende Protestkultur in der ungarischen Gesellschaft; womöglich fehlte es bei der gesellschaftlichen Sozialisation an den relevanten Kenntnissen.

    Die Definition des Systemwandels ist auch in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft ein präsentes Thema. In der einschlägigen un-garischen Fachliteratur liefert János Kornai eine der markantesten und wohl auch objektivsten Lösungen.37 Er meint, zum Verständnis der Ver-änderungen müsse man wissen, wie und unter welchen Bedingungen der Übergang begann. Deshalb fasst er zusammen, was als ein sozialistisches System bezeichnet wird beziehungsweise werden kann: ein gesellschaft-lich-wirtschaftlich-politisches Gebilde, das in der Sowjetunion und ande-ren kommunistischen Staaten im 20. Jahrhundert entstanden ist. Es ist na-türlich fraglich, inwiefern dieses System im ursprünglichen, marxistischen Sinne der Ideologie sozialistisch war – man könnte behaupten, dass es dabei lediglich um das existierende sozialistische System ging. Doch es gab erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten – zum Beispiel zwischen der DDR und Ungarn –, obwohl sie dem gleichen System ange-hörten: Überall befanden sich die zur Einkommenserzeugung geeigneten Güter in staatlichem Besitz, und die sich hieraus ergebende weitgehende staatliche Redistribution war bestimmend, wobei der Privatbesitz eher als ein marginales Phänomen erschien. Bei der Steuerung und Verwaltung der Gesellschaft und Wirtschaft kam der zentralisierten bürokratischen Koordination eine wichtige Rolle zu; Markt und Wettbewerb waren nicht allgemein und hatten ein geringes Regulierungspotenzial. In der Politik verfügte die kommunistische Partei, die ideologisch dem Kapitalismus,

    35 Die erste größere derartige Demonstration, die Aufmerksamkeit auf sich zog, war die der Kohlearbeiter des Mecsek-Gebirges (im Süden Ungarns, nördlich von Pécs) am 23. August 1988.

    36 Den größten Druck übten die Gewerkschaften der Eisenbahnarbeiter aus, die ab den 1990er Jahren regelmäßig und meistens erfolgreich für höhere Löhne streikten. Ande-ren Arbeitnehmergruppen gelang es nicht oder nur selten, ihre Interessen zu vertreten; unter den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen nahmen die gesellschaftliche Unterstüt-zung der Gewerkschaften, deren Organisierungsgrad und Fähigkeit zur Interessenver-tretung erheblich ab. Tóth: A kádárizmus; Tóth: Nem dőlt el semmi.

    37 Kornai: Mit jelent a „rendszerváltás“.