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Traumfamilie

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Eine Familiengeschichte

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Walter

Irgendwie hatte Walter es trotz der vielen Tüten in seine

Wohnung geschafft. Er ließ sie auf den Küchentresen

fallen, warf seine Jacke über den Ständer im Flur und

stützte sich für einen Moment auf dem Herd ab. Drau-

ßen ein Wetter, als gäbe es kein Morgen mehr, die neue

Sintflut, alles grau, alles nass, alles kalt. Auch hier drin-

nen. Er drehte die Heizung auf, machte aber kein Licht,

öffnete nur den Kühlschrank und begann, die Einkäufe

einzuräumen.

Er rief nach seinem Sohn. Keine Antwort. Steven war

also weg, wohl laufen, wie immer. Doch bei diesem

Wetter?

Ein verdammter Vierzehnjähriger sollte nicht im Regen

am Fluss entlang rennen, schon bei Sonnenschein war

das nicht unbedingt etwas, was Walter sich für seinen

Sohn vorstellen konnte. Fußball war so eine schöne Sa-

che, warum also rennen?

Soll er doch krank werden, vielleicht hört er dann auf.

Er hatte jetzt alles verstaut, schloss den Kühlschrank

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und kappte somit auch den Strom weißen Lichts, das

sein Gesicht aschfahl asch fahl gezeichnet hatte. Walter

hätte sich so nicht sehen wollen. Er rief gar nicht erst

nach Maria, vor acht kam sie nie. Acht, man stelle sich

dass vor, dass macht sonst niemand mit. Verdammte

Überstunden, die würden noch seine Familie kaputt

machen. Schon jetzt redete er kaum noch mit seiner

Frau, von Steven ganz zu schweigen, der sah seine

Mutter eigentlich gar nicht mehr. Irgendwie schafften

es die beiden, sich ständig aus dem Weg zu gehen, er

verließ das Haus morgen, bevor sie aufstand, blieb

Abends lange weg und aß bei Freunden zu Abend, kam

erst heim, als sie schon erschöpft im Bett lag. Walter

verstand nicht, wieso er dass tat, aber er vermutete,

dass Steve seine Muter einfach nicht wieder erkannte.

Das war nachvollziehbar, war sie doch viel ruhiger ge-

worden, viel introvertierter, nach dem Unfall. Ja, ein

Jahr schon her und immer noch war seine Frau so still.

Er hatte schon oft mit ihr darüber geredet, nachts in ih-

rem Ehebett, wenn er mal wieder nicht schlafen konnte.

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Sie redeten fast nur noch zu dieser Zeit, nie mehr vor

dem Jungen. Es waren zu ernste Gespräche für einen

Dreizehnjährigen. Walter hatte gewollt, dass sie zur

Therapie ging, sich helfen ließ, doch sie hatte abge-

lehnt. Sie sei nicht wahnsinnig, hatte sie gemeint. In

dieser Nacht hatte er sich oft entschuldigt, doch sie

wollte nicht hören, war verletzt. Er hatte ihr nicht mehr

gesagt, dass sie vielleicht auch zur Paarberatung gehen

sollten, denn zwischen ihnen lief nichts mehr. Fast ein

Jahr kein Sex, dass war ein Problem, zumindest für

Walter, zumindest in einer Ehe verdammt! Sie kuschel-

ten viel, er schmiegte sich dann an sie und hielt sie fest

und sie schien es zu genießen, doch waren sie nie mehr

weiter gegangen. Und dann das Problem mit ihrem

Sohn: Sie kümmerte sich nicht mehr um ihn, er tat al-

les, trotz Job, machte das Essen, den Einkauf, machte

den Hausputz, zusammen mit Steven. Sie arbeitete, ar-

beitete sich langsam Tod, meinte er zumindest, aber es

stimmte, war sie doch kaum mehr daheim, nur noch

weg, sah sie doch so gut wie nie ihren Sohn, da dieser

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schon so angekotzt war, dass er am Wochenende immer

zu Freunden verschwand. Sie wollte sich aber auch

nicht um dieses Problem kümmern, meinte er. Er hatte

sie natürlich darauf angesprochen, hatte ihr gesagt, dass

sie etwas tun müsse und was war die Reaktion? Er wür-

de schon wissen, warum sie kaum noch mit ihm reden

würde, doch nein, verdammt, dass wusste er eben nicht.

In der Nacht, als sie darüber sprachen, hatte er sie ange-

schrieen, aber sie war ganz ruhig geblieben, hatte sich

weggedreht, geschlafen, sie war so still, dass es fast

ausgesehen hätte, als würde nur eine zerknüllte Decke

neben ihm im Bett liegen. Am nächsten Morgen war sie

früher weg als sonst, Steven hatte gefragt ob seine Mut-

ter noch da sei und als Walter verneinte, hatte sein Sohn

mit ihm gefrühstückt, kaum gesprochen und ihn dabei

verstohlen und besorgt beobachtet. Er hatte also alles

gehört, natürlich, warum auch nicht, Wohnungswände

waren immer dünn. An diesem Morgen hatte er zum

ersten Mal realisiert, welch Problem sie doch wirklich

hatten.

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Walter ging jetzt ins Wohnzimmer, machte immer noch

kein Licht, fühlte sich wohl im Halbdunkel. Er schaute

auf die Familienbilder, traditionell immer am gleichen

Tag des Jahres gemacht. Das vorletzte mit Maria dar-

auf, das Letzte nicht, da war der Unfall erst passiert, sie

lag im Krankenhaus mit Knochenbrüchen. Sie hatte

dennoch darauf bestanden, dass die anderen beiden das

Foto machen ließen. Sie sahen darauf beide nicht

glücklich aus.

Die Haustür knackte, Steven kam heim. Walter blieb im

Wohnzimmer und hörte, wie sein Sohn hereinkam, die

Tür schloss, seine Jacke auf den Ständer hängte, die

Schuhe auszog, in der Küche den Kühlschrank öffnete,

wohl etwas nahm, wieder schloss. Keine Begrüßung,

kein fragen, ob jemand daheim war. Dann kam er durch

den Flur und stand zur Tür ins Wohnzimmer.

„Hey“, sagte er.

„Hey“, antwortete Walter. „Wieder gelaufen?“.

Der Junge zeigte als Antwort auf sein nasses Haar und

ging dann ins Bad, sich abzutrocknen. Walter ließ sich

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mit einem Seufzer auf die Couch fallen. Es war einfach

nur traurig, so gottverdammt traurig.

„Wie war’s?“.

„Wie immer“, kam es gedämpft hinter der Tür hervor.

Na ganz toll, dachte er sich, wie immer. Regnete es

denn immer, fühlte er sich nur dann wohl, oder was? Er

wollte gar nicht daran denken, an was ein Vierzehnjäh-

riger alles denken konnte, wenn er an einem Regentag

allein an einem Flussufer entlanglief. Vor allem wenn

es aussah, als würde seine Mutter sich einen Dreck um

ihn kümmern. Würde er das auch denken? Würde er

immer schneller laufen, versuchen wegzurennen vor

diesem Gedanken? Würde er Auswege suchen? Würde

er denken, es gäbe keine? Würde er als letzen Ausweg

in den Fluss laufen wollen? Oh Schwachsinn, genug

jetzt, so etwas sollte er nicht denken, dass war para-

noid. Wieder runterkommen, nicht die Pferde scheu

machen, nicht den Teufel an die Wand malen.

Steve kam aus dem Bad heraus und steuerte wieder die

Küche an. Walter gab sich einen ruck und folge ihm.

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„Und wie war’s in der Schule?“

„Wie immer“. Der Junge machte sich einen Tee. Ko-

misch für einen Dreizehnjährigen.

„Wie, wie immer? Bist du da etwa auch gerannt?“ Der

Scherz war so schon schwach, doch hier wurde er ein-

fach von dem Grau des Raums aufgesaugt. Auch der

Junge machte kein Licht, dabei wurde es immer dunk-

ler.

„Nein, bin ich nicht.“ Er goss heißes Wasser in eine

Tasse mit Teebeutel und ging an Walter vorbei in Rich-

tung seines Zimmers. Er schien es eilig zu haben.

„Vielleicht kommt Mama heute Abend mal pünktlich.“

Walters letzter Versuch, ein Gespräch anzufangen. Ste-

ve blieb mitten im Gang stehen und etwas Tee

schwappte über den Rand seiner Tasse auf den Boden.

Er drehte sich langsam um und bei einem Blick in die

Augen seines Sohnes schnürte es Walter die Kehle zu.

Er sah Trauer und Wut.

„Was ist eigentlich los mit dir?“, fragte Steven ihn und

ging in sein Zimmer, die Tür hinter sich zuknallend.

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Walter blieb kurz im Flur stehen, wollte ihm nicht

nachgehen.

„Es tut mir Leid. Hey, komm, das sollte kein schlechter

Witz sein. Na gut, vielleicht schafft sie es nicht, aber

am Wochenende dann.“, rief er durch die Tür. Keine

Antwort.

Walter resignierte und ging ins Wohnzimmer zurück,

ließ sich auf die Couch fallen. Natürlich hatte er es

noch schlimmer gemacht, ganz das alte Arschloch, das

er doch immer wieder raushängen ließ, nicht wahr

Schatz? Seine Frau hätte ihm dafür die Hölle heiß ge-

macht, er sah sie fast vor sich stehen, doch hey, es war

ihre Schuld, denn sie war nicht da. Sie war nie da, nie-

mals um ihren Sohn mal zu trösten, wenn der dumme,

böse Vater mal wieder Mist gebaut hatte. Natürlich

würde sie nicht zum Abendessen kommen, das wäre

das erste Mal seit langem gewesen. Doch war nicht

auch Steven Schuld? Er suchte nie das Gespräch, nie

mit ihr, nie mit ihm, zumindest nicht über dieses The-

ma. Jetzt doch etwa schon bald Familientherapie? Na

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ja, auch dafür müsste ja erstmal jemand da sein, ver-

dammt!

Wie zur Bestätigung kam Steven wieder nach draußen,

ging in den Flur und zog sich die Schuhe an.

„Und nun?“, fragte Walter vom Wohnzimmer aus.

„Ich geh’ noch mal weg.“

„Hey, es tut mir echt Leid. Können wir es nicht beim

Abendessen vergessen? Ich mach’s gleich, nur für uns

zwei.“

Kurze Stille, dann: „Schon vergessen, aber ich muss

noch mal los, hab ein Buch bei einem Freund verges-

sen. Ich komm wieder, so in einer Stunde. Bye.“

Er war zur Tür raus, bevor Walter noch etwas sagen

konnte. Scheiße, war sein erster Gedanke. Den Freund

würde er gerne sehen, zu dem er jetzt ging. Aber viel-

leicht hatte er eine heimliche Freundin, bei der er sich

jetzt ausheulen ging, was für einen miesen Vater er hat-

te und was für eine Mutter. Ob er das überhaupt jeman-

dem erzählen würde? Er selbst hätte es früher nicht ge-

tan, so etwas ging niemanden an. Walter würde mit Ma-

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ria reden müssen, noch heute Nacht. Es wurde wirklich,

höchste Zeit, denn der Junge schien ein ernstes Prob-

lem zu haben. Gerade, als er dass gedacht hatte, ging

die Tür leise auf, man merkte kaum, dass sie es tat und

Maria kam herein, vollkommen still. Er hörte es trotz-

dem und rannte freudig in den Flur.

„Schatz, heute so früh? Ach, warum konntest du nicht

früher kommen, dann hätte dich Steve noch gesehen.

Aber er kommt ja wieder, kommt ja bald, dann können

wir endlich wieder alle zusammen essen. Du hättest ihn

eigentlich noch im Flur sehen müssen, oder? Hast du

nicht? Na gut, macht auch nichts. Komm rein, komm

rein, leg das nasse Zeug ab, ich will kurz mit dir re-

den.“

Steven

Der Junge saß draußen im Regen, am Wegesrand auf

einer Parkbank. Er unterhielt sich ganz leise mit sich

selbst.

„Warum sagt er so was? Ich will nicht, dass er so was

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sagt, dass macht mir Angst. Und es geht ja nicht weg,

er lässt es ja nicht. Ich glaube, er ist verrückt geworden.

Oder aber er vermisst dich einfach nur. Ich vermiss

dich ja auch...“

Er blickte auf.

„Ich höre ihn nachts immer schreien und ich frage

mich, wieso? Am nächsten Morgen tut er immer ganz

normal, aber er muss doch wissen, dass da was nicht

okay ist.“

Er sah zur anderen Wegesseite.

„Wenn es stimmt was er sagt und ihr immer redet, dann

sag ihm doch bitte endlich die Wahrheit über dich,

okay?“

Er sah auf den Grabstein seiner Mutter.

„Ich…“

Er stand auf und streichelte über den Marmor, so wie er

es seit einem Jahr tat. Dann ging er nach Hause. So wie

er es seit einem Jahr tat.

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