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Herbert Ulonska / Detlev Dormeyer (Hg.) DIE BIBEL: ERLEBEN ·VERSTEHEN· WEITERSAGEN Elementare und neue Zugänge zur Bibel CfllmZ

Ulonska, H. & Dormeyer, D. (Hg.) - Die Bibel. Erleben, Verstehen, Weitersagen (Hermeneutica 2, CMZ-Verlag, 1994, 226pp)_OS.pdf

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  • Herbert Ulonska / Detlev Dormeyer (Hg.)

    DIE BIBEL: ERLEBEN VERSTEHEN WEITERSAGEN

    Elementare und neue Zugnge zur Bibel

    CfllmZ

  • amz

  • HERMENEUTICA

    Hermeneutisches Institut der Evangelisch-theologischen Fakultt der Rheinischen-F riedrich-Wilhelms-U niversitt Bonn

    Band 2

    Biblica

    Herausgegeben von W erner H. Schmidt

  • Herbert Ulonska I Detlev Dormeyer (Hg.)

    Die Bibel: Erleben, Verstehen, Weitersagen

    Elementare und neue Zugnge zur Bibel

    Mit einem Vorwort von Werner H Schmidt

    CMZ-Verlag Rheinbach-Merzbach

    1994

  • Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

    Die Bibel: Erleben, Verstehen, Weitersagen : Elementare und neue Zugnge zur Bibel I Herben Ulonska ; Detlev Dormeyer (Hg.), Mit einem Vorwort von Werner H. Schmidt- Orig.-Ausg.-Rheinbach-Merzbach : CMZ-Verl., 1994

    (Hermeneutica ; Bd. 2 : Biblica) ISBN 3-87062-012-9

    NE: Ulonska, Herben [Hrsg.]; GT

    Originalausgabe

    CMZ-Verlag Winrich C.-W. Clasen Schlebacher Strae 3, 53359 Rheinbach-Merzbach

    Alle Rechte vorbehalten 1993 by CMZ-Verlag Winrich C.-W. Clasen

    Satzformatierung (Garamond 10 auf 12): Winrich C.-W. Clasen, Rheinbach

    Papier (90 g Sympathikus): Schneider & Shne, Kiel

    U mschlaggestaltung: Peter Kaczmarek, Leverkusen

    Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum

    ISSN 0943-3724 ISBN 3-87062-012-9

    19931125

  • INHALTSVERZEICHNIS

    Vorwort des Herausgebers der HERMENEUTICA BffiLICA ...... 7 Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    A. Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    Detlev Dormeyer J esus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernens. Sozialgeschichtliche, texttheoretische und erfahrungs-bezogene Zugnge zur WOrtverkndigung J esu von N azareth 13 Herbert Ulonska Die Bibel- ein Erlebnisbuch. Von der Geistesgegenwart neutestamentlicher Wundergeschichten, aufgezeigt an Lukas 5, 1-11 .................................. 39

    Ingrid Rosa Kitzherger Eine geffnete Tr, die niemand mehr schlieen kann (Apk. 3, 8) - Perspektiven feministischer Exegese des Neuen Testaments ............................ 59

    B. Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

    Eberhard Rolinck Der Traum - eine Botschaft Gottes? Trume und Traumdeutung in der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . 85

    William J. Hoye Wie man die Bibelliest - nach Thomas von Aquin . . . . . . . . 97

    Erdmann Sturm Bibel und Befreiung. Zur politischen und sozialen Hermeneutik der lateinamerikanischen Befreiungstheologie . 109

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  • Inhaltsverzeichnis

    C. Weitersagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

    ]rg V. Sandherger Setzt Bibellektre Bildung voraus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

    Egon Spiegel Wie das Blut, das in dir kreist, oder wie die Luft, in der du atmest? Der Gott der Bibel als beziehungsstiftende Gre - ein Beitrag zur sozio-theologischen Schriftlektre und Religionspdagogik der Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . 155

    Hans-frgen Abromeit Die Bibel im Religionsunterricht - in der Spannung zwischen historischer Kritik und unmittelbarer Begegnung . 177

    D. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

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    Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

  • VORWORT DES HERAUSGEBERS DER HERMENEUTICA BIBLICA

    Hermeneutik ist, auch soweit sie textbezogen ist, verschieden be-stimmbar, etwa als Reflexion auf die exegetischen Methoden oder auf die Vermittlung zwischen Exegese und Anwendung, sei es auf den in der Auslegung schon enthaltenen Lebensbezug oder auf den Weg von historisch-kritischer Forschung zur Bewhrung in der Praxis. Her-meneutik soll hier im weiteren Sinne aufgefat werden, Studien ein-beziehen, die in verschiedener Weise zu verstehen suchen, so dem Verstehen dienen und damit ein breiteres Spektum einschlieen.

    Der Name Biblica will mehr umfassen als Exegetica. Die Reihe HERMENEUTICA, die durch das Institut fr Hermeneutik der Evange-lisch-Theologischen Fakultt der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Uni-versitt Bonn getragen wird, soll Raum geben fr die Darstellung ver-schiedenartiger Themen und Probleme des Verstehens. In die Reihe sollen etwa aufgenommen werden knnen: Exegetisches in seinen ver-schiedenen Aspekten, Untersuchungen zur Biblischen Theologie in ihren wechselnden Fragestellungen oder Arbeiten zur Forschungsge-schichte, die ber Anstze, V erfahrensweisen, Modelle und Ziele der Interpretation orientieren, ber inhaltliche Auffassungen informieren und sie auf ihre Tragfhigkeit untersuchen.

    Die Breite der Themenstellung wie die Vielfalt der Zugangsmglich-keiten sollen nicht vorweg eingeschrnkt werden. So ist es mglich, etwa auch religionswissenschaftliche Fragestellungen einzubeziehen.

    Auslegungen suchen einerseits zu differenzieren, im Vergleich Be-sonderheiten zu erfassen, so Phnomene in ihrer Eigenart zu erkennen, andererseits bei der Vielzahl nicht zu verharren, vielmehr Zusammen-hnge aufzudecken.

    Indem der Exeget bei allem eigenen Bemhen um Einfhlung und Ein-sicht nicht nur seine berzeugung uert, sondern argumentativ verfhrt, Grnde nennt, zeigt er Dialogbereitschaft, bemht sich um Nachvollzieh-barkeit, schafft die Mglichkeit der Kritik wie der Zustimmung.

    Meckenheim, im November 1993 W erner H. Schmidt

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  • VORWORT DER HERAUSGEBER

    Viele Gruppen, Gemeinden und Institutionen haben zum Jahr mit der Bibel ihren Beitrag geleistet.

    Auch die Institute der Theologischen Fakultten der Westflischen Wilhelms-Universitt in Mnster, die mit der Religionslehrerinnen-Ausbildung betraut sind, das Institut fr Lehrerausbildung und das Institut fr Evangelische Theologie und ihre Didaktik, haben im Sommersemester 1992 ein gemeinsames Projekt vorbereitet und als Ringvorlesung durchgefhrt. Elementare und neue Zugnge zur Bibel wurden in neun Vortrgen durch Lehrende der beiden Institute vor-gestellt.

    Drei Schwerpunkte haben sich herausgebildet: einmal im Neuen Testament der historische Jesus, der selbst die Schriften als weisheitli-cher und prophetischer Lehrer auslegte; wie Wundergeschichten heute als Literatur verstanden werden knnen und wie feministische Exegese neutestamentlicher Texte die Augen fr neue Erkenntnisse ffnet.

    Zum anderen, wie Thomas von Aquin als groer mittelalterlicher Hermeneut die Schriftauslegung der Kirche bestimmte, wie im indivi-duellen Bereich der Traum als Offenbarungsmittel zu allen Zeiten Menschen motiviert hat, von der Stimme Gottes zu sprechen, und wie Menschen in Not und Bedrngnis (wie in Lateinamerika) ganz neu die Bibel als Ruf in die Freiheit verstehen.

    Schlielich ist die Wirkungsgeschichte dieses Buches der Bcher zu bedenken, wie es als Kulturgut sich nur wenigen erschliet, wie der Gott der Bibel als beziehungsstiftende Gre unser Leben bestimmt und immer neu durch unterrichtliche Vermittlung erschlossen werden will.

    Die Resonanz auf die Vortrge hat uns berrascht. Gleich beim ersten reichte kaum der Platz, wobei das Interesse sehr unterschiedlich war. Nicht nur Studierende des Faches, sondern auch Laien aus den Gemeinden, Frauen undMnneraus der Praxis und Teilnehmerinnen des Studiums im Alter kamen zu den wchentlichen Vorlesungen.

    Diese Vielfalt im Teilnehmerinnnenkreis beeinflute auch die sich an die Vortrge anschlieenden Diskussionen, die nicht nur zwischen den Vortragenden, sondern auch mit den Zuhrenden hchst spannend

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  • Vorwort der Herausgeber

    und z.T. kontrovers-belebend verliefen. Rckfragen aus dem Kreis der Teilnehmerinnen und der Wunsch,

    die Impulse aus dem Jahr mit der Bibel weiterwirken zu lassen, ver-anlaten uns dazu, die Vortrge zu verffentlichen, um sie einem gr-eren Publikum zugnglich zu machen.

    Wir wnschen uns, da die Flle der Gedanken und Ideen aus den Vorlesungen zu eigenen Erfahrungen wie auch hilfreicher und weiter-fhrender Bibellektre verhelfen. Mgen sich viele auf die vorgestellten . Zugnge zu biblischen Texten einlassen und sich in einem Dialog mit ihrer Lebenserfahrung wiederfinden und dies fr sich und andere leben-dig werden lassen.

    Zu danken ist besonders Marion Brnen, Sigrid Dorn und Margret Rhne fr die sorgfltige Arbeit der Manuskriptherstellung.

    Mnster, im Oktober 1993 Herbert Ulonska Detlev Dormeyer

    Verlag, Herausgeber und Autoren danken den folgenden Institutionen, die durch Zuschsse die Herstellung des vorliegenden Bandes der HER-MENEUTICA ermglicht haben:

    Der Bischof von Mnster Die Evangelische Kirche von Westfalen

    Der Superintendent des Kirchenkreises Mnster

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  • A.

    ERLEBEN

  • Detlev Dormeyer

    JESUS ALS MODELL WEISHEITLICHEN UND PROPHETISCHEN LERNENS UND LEHRENS

    Sozialgeschichtliche, texttheoretische und erfahrungsbezogene Zugnge zur Wortverkndigung Jesu von Nazareth

    1. Vorbemerkung: Lernen und Lehren am Modell

    Von den Anfngen des NT bis heute galten Jesus und sein Jngerkreis als Modelle von Christsein, als Modelle, an denen ein Christ sein Leben lang lernen konnte, was Christsein bedeutete und nicht bedeute-te (Thomas v. Kempen, Nachfolge Christi). Doch der heute offenkun-dig gegebene Bruch mit der christlichen Tradition hat das traditionelle Lernen am Modell Jesus von Nazareth voll mitbetroffen. Die Distanz der heutigen Gesellschaft zu ihrer geschichtlichen, religisen Grundla-ge, zur Bibel, war noch nie so gro wie heute.1

    In gegenwrtigen Neomythen, z.B. im New Age, wird diese Di-stanz noch einmal radikalisiert. Die religise Grnderfigur wird durch das Selbst ersetzt. Rationalitt und Irrationalitt werden nicht mehr voneinander getrennt, d.h. es gibt kein Kriterium fr die Rckfrage, und zwar fr die kritische Rckfrage des Selbst zu einem begrnden-den Ideal. Und es gibt auch keinen kritischen Vorentwurf fr das Ideal. Ich selbst bin mir das Ideal, und ich erwarte als Konsument eine unbe-grenzte Verlngerung meines idealisierten Selbst. Wir haben diese ein-dimensionale Idealfigur, die weder auf die Vergangenheit noch auf die Zukunft blickt, im Starkult und in den standardisierten Konsumtypen der Gegenwart. Diese erwarten eine lineare Lebenszeit ohne Entwick-lung und Todesbegrenzung.2

    2

    Mein Anliegen ist es, Jesus von Nazareth in den Rollen als Weis-

    S.u. Abromeit; Sandberger. Dormeyer/Hauser 1991, 116-133.

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  • Detlev Dormeyer

    heitslehrer und Prophet als Begrnder einer Lebensform vorzustellen, die noch immer richtungsweisend ist und unser Selbst erst zur Voll-endung bringt, zur Vollendung im christlichen Sinne. Denn in den Rollen des Weisheitslehrers und Propheten ist Jesus von Nazareth identifikationsfhig. Gleichzeitig bringt er als der kommende Men-schensohn die Zeit nach dem Tode schon jetzt als angebrochene Zu-kunft, als gegenwrtige Gottesherrschaft kritisch zur Geltung, wobei der Tod nicht berspielt, sondern als Leiden ernst genommen wird (Verfolgung des Gerechten). So verengt sich die Eingangsfrage fr Jesus von Nazareth in spezifischer Weise fr das Praxisfeld Schule. Liefert der J esus des NT noch immer ein Modell von Menschsein - sowohl fr den Religionslehrer als auch fr den Schler -, und zwar ein Mo-dell, das einerseits in der Vergangenheit Jesu als Weisheitslehrer, Pro-phet und unschuldig leidender Gerechter liegt und andererseits von der Zukunft herkommt als hoheitlicher, endzeitlicher Menschensohn?

    Noch ein kleiner pdagogischer Hinweis zum Traditionsbruch: Wir wissen ja aus der Sozialisationsforschung, da Kinder und Jugendliche Idealtypen brauchen fr die Entwicklung ihres Selbst. Und sie brau-chen nicht nur Idealtypen, die von auen kommen, sondern die natr-lichen, ihnen direkt vorgegebenen Idealtypen. Diese sind ursprnglich die Beziehungspersonen, sind also Mutter und Vater. Insofern ist zu bedenken, wie Mutter und Vater ihrerseits mit Idealgestalten umgegan-gen sind, welche ihre Idealgestalten waren und wie sie dieses Ausrich-ten ihres Lebens nach Idealgestalten deutlich gemacht haben. Es ist richtig, da die Beziehung zu Jesus Christus in den meisten Familien heute geschwunden ist. Aber wenn wir gerrau hinsehen, werden wir feststellen, da nach wie vor die Familien weitgehend ihre Idealvor-stellungen nach dem Ideal ausrichten, das uns Jesus Christus anonym vorgelebt hat. Soweit die These in Anlehnung an Karl Rahners Rede vom anonymen Christentum.3 Der egozentrische Konsumtyp bleibt auch fr den normalen Brger lediglich eine Traumfigur (Schlaraffen-land) und wird nur selten zu einem konkreten, deformierten Lebens-ideal bei entsprechender Verweigerung der Realittswahrnehmung.

    Ist nun Jesus der Idealtyp des Lehrens oder der Idealtyp des Lernens oder der Idealtyp, der beides verbindet, Lernen und Lehren, wie das moderne pdagogische Globalziel Das Lernen zu Lernen nahelegt?

    Rahner/Thsing 1972, 18ff.

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  • fesus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernens Wir verfolgen hier eine Doppelstrategie: Einerseits legen wir unsere

    Vorstellung von einer menschlichen Idealfigur in die Evangelientexte hinein, treiben also Eisegese, andererseits wollen wir uns von den Evan-

    . gelientexten anregen lassen, unsere Vorstellungen zu verndern und zu lernen, treiben also Exegese. 4

    2. J esu Sozialisation zum Weisheitslehrer

    Rudolf Bultmann hat 1921 ein grundlegendes Werk geschrieben, Die Geschichte der synoptischen Tradition.5 Es ist bemerkenswert, da die Gattungen, die Bultmann fr die Worte und Erzhlungen Jesu gefun-den hat, heute noch immer Bestand haben. Wir wollen uns besonders den Worten zuwenden, da sich in ihnen Jesu Eigenart am deutlichsten zeigt und sie am authentischstell sind. Bei den Worten unterscheidet Bultmann zwischen Logien Gesus als Weisheitslehrer), prophetischen Worten und Ich-Worten. Er hat noch eine vierte Einteilung: Gesetzes-worte und Gemeinderegeln. Die letzteren lassen sich aber unschwer den Weisheitslogien zuordnen. So haben wir eine Dreiteilung: 1. Weis-heitsworte, 2. Prophetische, apokalyptische Worte, 3. Ich-Worte.

    Klaus Westermann stellt im fahrbuch fr Biblische Theologie 1990 fest, da Bultmanns Einteilung noch immer gltig ist und sich noch immer bewhrt.6 Westermann verweist ferner darauf, da Bultmann zurecht herausgehoben hat, da Jesus seine Worte aus der mndlichen Tradition genommen hat. Jesus war ein Weisheitslehrer, der nicht, wie Bultmann noch annahm, eine schriftgeiehrte Ausbildung hinter sich hatte/ sondern Jesus gehrte den charismatischen Weisheitslehrern an.

    Wir haben in der ntl. Zeit den berraschenden Befund, da sich die Laien von der Priesterklasse emanzipieren. Diese Bewegung beginnt schon im 2. Jh. v. Chr. Sie hngt eng mit der Apokalyptik und mit dem Aufstand gegen den hellenistischen Knig von Syrien zusammen. Die Bewegung der Frommen, die Chassidim, entwickelt aufgrundder

    6

    Dormeyer 1979; Berg 1991; s.u. Ulonska; Kitzberger. Bultmann 1957. Westermann 1990. Bultmann 1926, 43.

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  • Detlev Dormeyer

    gewaltsamen Integration des Jahweglaubens in den hellenistischen Reichsglauben eine Widerstandshaltung. Diese Widerstandshaltung zeigt sich einmal apokalyptisch, indem die Gegenwart als Unterdrckungs-zeit, bse Zeit, charakterisiert-wird. Die Frommen erwarten das baldige Ende dieser vllig zerrtteten und verderbten Welt, so die Daniel-Apo-kalypse, die im Alten Testament unter den Propheten zu finden ist.8 Das Daniel-Buch ist die einzige Apokalypse, die ins Alte Testament aufgenommen ist.

    Zum anderen uerte sich diese Krisenerfahrung in einem aktiven Aufstand gegen die Priester, und zwar die jdischen Priester, die ge-meinsame Sache mit dem hellenistischen Knig gemacht hatten und die den Synkretismus in einer Weise begonnen hatten, die den J ahweglau-ben in seinen Fundamenten aufzulsen drohte. Nach dem Sieg dieser Bewegung unter der bis dahin unbedeutenden Priesterfamilie der Has-moner blieben die Laien aktiv, und sie lieen sich nicht mehr in die Inkompetenz drngen. Die bekannteste Laienbewegung ist die der Phariser. Sie ist aber nicht die einzige, nur wissen wir nichts mehr von den anderen Laien-Bewegungen.9 Was wir wissen, ist, da jeder kleine Ort nach dem 2. Jh. v. Chr. bis in die Zeit Jesu hinein eine eigene Synagoge erhalten hat. 10

    Wir knnen davon ausgehen, da es auch in N azareth eine Syn-agoge gegeben hat. Dicht bei Nazareth, nur fnf Kilometer entfernt, liegt die damalige Hauptstadt Sepphoris. Sepphoris war in der Jugend-zeit Jesu die Hauptstadt. Erst 20-21 n. Chr. begann Herodes Antipas, der Landesherr von Galila, mit dem Bau der neuen Hauptstadt Tiberi-as am See von Genezareth. J esus war zu dem Zeitpunkt bereits 26 oder 27 Jahre alt. Wenige Jahre spter ging er zu Johannes dem Tufer und begann anschlieend mit seinem ffentlichen Wirken. Also noch ein-mal unter dem Strich, Sepphoris war die Hauptstadt von Galila, solan-ge Jesus Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener war, und Sep-phoris lag lediglich fnf Kilometer von Nazareth entfernt.U

    Ich bin verblfft, wie stark sich noch immer die ntl. Kollegen da-

    Koch 1980, 8ff.; Dorrneyer/Hauser 1991, 34ff. Sternherger 1991, 91ff.

    10 Safrai 1978, 52f. 11 Bsen 1985, 60ff.; Batey 1991; ders. 1992, SOf.

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  • Jesus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernens

    gegen wehren, den Einflu von Sepphoris auf Nazareth und damit auf die Sozialisation Jesu anzuerkennen. Dieser Widerstand hat seine Wur-zeln in der Jahrhundertwende. Die liberale Theologie hatte Jesus als Vorbild ethischen Lehrensund Lernens vorgestellt.12 Albert Schweitzer hatte gegen diese Art Leben-J esu-Forschung protestiert und seinerseits den apokalyptischen Propheten J esus herausgestellt.13 Bultmann hatte sachkundig den apokalyptischen Weisheitslehrer J esus betont, ihn aber dem Judentum zugerechnet.14 Das eigentlich Christliche beginnt erst mit Kreuzestod und Auferstehung. Die kritische Jesusforschung nach Bultmann verzichtete dann weitgehend auf eine Rekonstruktion der Sozialisation Jesu, obwohl die Sozialisationsforschung erst im 20. Jh. ihre Triumphe gefeiert hat - gegen Rassenwahn und Klassenideologien. Schotten sich Experten nur gegen einen bedrohlichen Bereich der Selbsterfahrung ab, wenn sie den zentralen Bereich der Sozialisation Jesu schlichtweg ignorieren?

    Im Frhjahr des letzten Jahres hatte ich das Glck, mit einer Stu-dentengruppe eine Exkursion nach Israel unternehmen zu knnen, und endlich gelang es mir, Sepphoris zu besuchen. Ich war fasziniert von dem groen hellenistischen Theater aus der Zeit Jesu, das nun vollstn-dig ausgegraben ist. Dieses Theater liegt mitten im Zentrum. Daneben befinden sich grere Villen. Diese Villen haben mehrere Bder. Das heit, hier lebten in den Villen fromme Juden, die die levitischen Rei-nigungsvorschriften exakt einhielten.15 Wir haben also in der Haupt-stadt fromme Juden, die sowohl die frhjdischen Reinigungsvorschrif-ten beobachteten, auf deren Erfllung die Phariser besonders drng-ten, die sich aber auch gleichzeitig Schauspiele im groen, prchtigen Theater ansahen. Und da es nur eine ganz geringe judenhellenistische Theaterliteratur gab, die sich wiederum eng an die hellenistische Thea-terliteratur anlehnte, knnen wir annehmen, da dort griechische Schauspiele aufgefhrt wurden.16 Hat Jesus sie gesehen? Wir werden diese Frage nicht beantworten knnen. Aber ich halte es fr nahelie-

    12 Dormeyer 1989, 41f. 13 Schweitzer 1977, 402-451. 14 Bultmann 1926, 12ff. 15 N egev 1991, 399; Batey 1992, 59ff. 16 Schwank 1987, 78f.; Weber 1989, 140-202.

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  • Detlev Dormeyer

    gend, da er sowohl von diesen Schauspielen wute, wie auch, da er die Gelegenheit wahrgenommen hatte, sie sich anzusehen. Willibald Bsen verweist zurecht darauf, da Jesus ebenfalls das Leben einer Hauptstadt mitbekommen hat: Banken, Verwaltung u. . - Themen, von denen seine Gleichnisse geprgt sindY Was hat Jesus gelernt? Auch das wissen wir nicht. Vielleicht hat er in der kleinen Synagoge von Nazareth Lesen und Schreiben gelernt. Das flchendeckende Angebot solcher elementaren Tara-Schulen in den Synagogen wird vom Talmud vorausgesetzt und als Anordnung in die Zeit des 1. Jahrhunderts und noch frher zurckdatiert. 18 Allerdings ist gegenber dieser Rckdatie-rung auf die Zeitenwende Vorsicht angebracht.19 Nicht alle Orte haben um die Zeitenwende bereits eine Schule gehabt. Doch sprechen die Zeugnisse der Evangelien {Mk. 6, 1-6a par) fr die Existenz einer Syn-agoge in N azareth. Die Synagogen wiederum stellten Lehrer an, die den Unterricht in den Buchstaben gaben und die dazu anleiteten, das Gesetz auswendig zu lernen.

    Josephus, der zeitgleich zu den Evangelien schreibt, rhmt, da Mose auferlegt habe,

    an jedem siebten Tag uns aller sonstigen Geschfte zu enthalten, zur Anhrung des Gesetzes zusammenzukommen und dasselbe grndlich zu erlernen ... Bei uns hingegen mag man den ersten besten ber die Gesetze erfragen und er wird smtliche Bestimmungen derselben leichter hersagen als seinen eigenen Namen.20

    Josephus behauptet also, da jeder jdische Mann das gesamte Gesetz und die Erzhlungen dazu auswendig kann, soweit sie in 1-5 Mose, also im Pentateuch, stehen.

    Lassen wir es dahingestellt, ob diese Behauptung zutrifft. Wichtig ist, da dieses Auswendigknnen das Ideal der pharisischen Bewegung ist, zu der Josephus zhlt. Um dieses Ideal zu erreichen, haben die Pha-riser und die anderen Frommen dafr gesorgt, da Synagogen gebaut wurden, und da in diesen Synagogen als Lehrhusern Unterricht gege-ben wurde. Es galt, in der Zeit der hellenistischen berfremdung die jdische Volksreligiositt in das Bekenntnis, die Konfession, des einzel-

    17 Bsen 1985, 70ff.; Theien 1989, 14. 18 bBB 21; j Ket 32c. 19 Riesner 1981, 177f. 20 Apion 2, 17f.

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  • fesus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernens

    nen umzuwandeln.21 Wir knnen als sicher annehmen, da Jesus eine elementare Ausbildung im Gesetz erhalten hat. Im Unterschied zu Bultmann mssen wir festhalten, da wir von einer Schriftgelehrten-Ausbildung nichts wissen.22 So sind wir auf Vermutungen angewiesen. Vermutlich wirdJesus ber den Elementarunterricht hinaus eine inten-sive Einfhrung in das Gesetz erhalten haben, entweder in der Synago-ge von Nazareth oder in einer der Synagogen von Sepphoris. Noch immer wird in Sepphoris ausgegraben, vielleicht wird einmal ein Ostra- kon, eine Scherbe, entdeckt, auf der steht: Abba ho pater. Jesus, ho hyios Joseph Nazarenou. Der griechische Sprachgebrauch soll andeu-ten, da zur Zeit J esu Multilingualitt (Hebrisch fr die hl. Schrift = AT; Aramisch als Muttersprache; Griechisch als Umgangssprache mit der griech. Minderheit) in Galila bereits in die unteren Schichten ein-gedrungen war.23 Denn Tonscherben waren das bliche Material, auf dem jdische Schler das Schreiben lernten. Die mit abba beschriftete Scherbe des Schlers Jesus, Sohn des Josef ist natrlich ein Scherz. Es ist ja gerade Jesu hchste und revolutionrste theologische Leistung, den Gottvater des Judentums als das Papachen, als die kindliche An-sprechform abba, sich selbst und seinen Zeitgenossen nahezu bringen. Doch ich mchte festhalten, da Jesus eine grndliche Unterweisung in der Kenntnis des Alten Testaments erhalten hat.

    Allerdings bleibt zu beachten, da die entscheidende Neuorientie-rung Jesu durch seinen Gang zu Johannes dem Tufer stattfand, ohne da er aber sein erlerntes religises Vorwissen ausschalten mute. Dann ist es verstndlich, da Jesus weiterhin so viel Spruchgut vom Alten Testament verwandt hat. Blieb doch das AT auch fr Johannes die Hl. Schrift. Interessanterweise ist bisher in den Jesusdarstellungen auf dieses Spruchgut als Ganzem wenig eingegangen worden. Denn in der Exege-se galt seit Bultmann als Echtheitskriterium, da sich ein Ausspruch Jesu in origineller Weise vom Judentum und vom Hellenismus zu un-terscheiden habe. Bultmann stellte nun fest, da weitgehend die Spr-che J esu jener jdischen und hellenistischen Umwelt entsprachen.24 Das

    21 Weber 1923, 400. 22 Ggn. Bultmann 1926, 43. 23 Schmitt 1983, 575f.; Schwank 1987, 78f.; Reck 1991, 73f. 24 Bultmann 1957, 105f.

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  • Detlev Dormeyer

    Authentische Jesu ist also nach ihm in diesen Sprchen nicht zu fin-den. W estermann hlt jetzt zurecht dagegen, da sich gerade in der Auswahl von berliefertem Spruchgut ebenfalls J esu theologische Inten-tion zeigt.25 Gerade die Selektion des berlieferten Spruchguts konstitu-iert das unverwechselbare Profil Jesu, und nicht nur die schpferische Originalitt - eine Vorstellung, die erst im Geniebegriffs des Sturm und Drangs und der Romantik entwickelt worden ist.

    3. Die weisheitliehen Worte = Sentenzen/Gnomen Jesu

    Bereits die Begriffe sind etwas kompliziert. Weisheitswort heit im Griechischen yvc4!TJ, im Lateinischen sententia. Als Sentenz ist uns der Begriff gebruchlich geworden. Etwas Allgemeingltiges wird in knap-per Form zum Ausdruck gebracht. Bultmanns Untersuchung hatte zu dem Ergebnis gefhrt, da der Groteil der Worte J esu Sentenzen sind. Dieses Ergebnis ist weiterhin gltig. Wenn wir die Lehre Jesu kennen-lernen wollen, sollten wir die Worte Jesu zur Kenntnis nehmen. Die Sentenzen sind verstreut ber die ganze synoptische Tradition; denn die Weisheitsworte haben, wie bereits Bultmann beobachtet hat, die Tendenz, Erzhlungen an sich zu ziehen, besonders die Gesprche, Fachausdruck Apophthegmen. Die Mahnworte sind interessanterweise schon frh nach Ostern zu kleinen Reden zusammengestellt worden. In Q finden sich in den greren Reden (Feldrede, Aussendungsrede) lngere Partien von Mahnworten; auerhalb der groen Reden finden sich bei Matthus und Lukas weiterhin kleine Zusammenstellungen von Mahnworten. Dasselbe gilt fr Markus. Auch er hat innerhalb und auerhalb seiner beiden Reden (Gleichnisse, nachsterliche Zeit) Mahn-wortsammlungen eingefgt. Matthus und Lukas haben dann aus der Spruchquelle Q und von Markus die kleinen Reden bernommen und ausgebaut. Matthus hat in der Bergpredigt und in der Aussendungs-rede fr die Jnger die besonders originellen Mahnworte gesammelt. Und bis auf den heutigen Tag gelten ja gerade diese beiden Reden, Bergpredigt und Jngeraussendungsrede, als die Komplexe, aus denen der Geist Jesu am deutlichsten spricht.

    25 Westerrnann 1990, 244.

    20

  • Jesus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernens

    3.1. Indikative, interrogative und imperative Gnomen/Sentenzen

    Kchler zhlt 108 weisheitliehe Logien Jesu (indikative, interrogative und imperative Gnomen) bei den Synoptikern und stellt die Logien erstmals in einer Liste zusammen.26 Von Lips erweitert diese Liste fr den Bereich der Spruchquelle Q, um einen tabellarischen Vergleich mit den Vorschlgen von Bultmann27 und anderen herzustellen.28

    Kchlers Aufstellung, die von von Lips fr Q untermauert wird, gibt weitgehend den Konsens wieder, wenn auch die Zuordnung einzel-ner Worte umstritten bleibt.

    Die Zahl von 108 Sentenzen lt sich noch geringfgig erhhen, da Kchler die Seligpreisungen nicht aufgenommen und einigen Wort-Reihungen (Mk. 9, 43-47) nur eine Nummer gegeben hat. Nimmt man die Gemeinderegeln und Gesetzesworte hinzu, vergrert sich die Zahl um ungefhr 50 Worte.29 So lt sich von rund 170 Weisheitsworten Jesu sprechen, die ber die Synoptiker verstreut sind. Zum Vergleich zur Spruchquelle Q mit rund 200 Versen30 handelt es sich um eine ansehnliche Materialflle, die allerdings weder direkt auf J esus zurck-zufhren noch vollstndig in einer der synoptischen Evangelien anzu-treffen ist.

    Wieviel Gnomen lassen sich dem vorsterlichen Jesus zuweisen? Bultmann ist grundstzlich skeptisch in der Zurckfhrung von

    Herrenworten auf den vorsterlichen Jesus. Von den vorsterlichen Worten stammt nach ihm aber der grte Teil aus den Weisheitsspr-chen, also aus den Gnomen/Sentenzen. Diese Gewichtung hat die For-schungsgeschichte besttigt, auch wenn gegenwrtig die Tradierung der authentischenJesusworte insgesamt als umfassender gilt.31 Es lassen sich

    'nach den gngigen Kommentaren von den Weisheits-Worten 81 (und mehr) als authentisch bestimmen. Also knapp die Hlfte der 170 Weis-

    26 Kchler 1979, 587-593. 27 1957. 28 Berger (1984a), Schulz (1972), Sato (1988), Kloppenborg (1987), Zeller (1977), Kch-

    ler (1979) und Crossan (1983). 29 Nach Bultmann 1957, 138-176. 30 Schulz 1972, 40. 31 Zeller 1983, 148f., fr die Mahnungen.

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  • Detlev Dormeyer

    heitsworte lt sich auf J esus mit hoher Wahrscheinlichkeit zurckfh-ren. Wenn man die Stimme des vorsterlichen Jesus hren will, mu man auf seine Gnomen = Sentenzen hren. Die Satzform des Sprich-worts oder des Befehls zielt auf Selbstverstndliches. Elementares wird in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt, um Einverstndnis und neue Sichtweise zu erzielen. Die vorsterlichen Worte lassen sich weiterhin nach thematischen Gesichtpunkten ordnen. In den Themen whlt Jesus bewut die Korrelation zur Erfahrung seiner Zuhrer. Wie schon Bultmann nachwies, haben die Sentenzen Parallelen in der atl.-frhjdischen und in der hellenistischen Weisheitsliteratur. Es geht also nicht um Originalitt, sondern um Verstehen aufgrundgemeinsamer Erfahrungen. Ich stelle hier besonders die hellenistischen Parallelen heraus.

    3.2. Gnomen/Sentenzen fesu (= G)

    3.2.1. Zuwendung zu Sndern und Gesetzeskritik

    G 1 Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken (Mk. 2, 17a par). Dieser antithetische Parallelismus hat den Charakter eines Sprichwortes, weil die Richtigkeit der Aussage unmittelbar aus der Alltagserfahrung besttigt wird. Die hellenistischen Parallelen sind reichhaltig.32 Besonders nahe kommt Plutarch:

    Und nicht sind die rzte bei den Gesunden ... , sondern wo die Kranken sich aufzuhalten pflegen.33

    J esus bevorzugt aber einen fr ihn typischen PerspektivenwechseL Nicht die Aktivitt des Arztes bestimmt wie bei Plutarch den Kranken als Objekt, sondern der Kranke definiert als Subjekt seine Beziehung zu Jesus. Aus diesem Perspektivenwechselleben auch Gleichnisse Jesu wie der barmherzige Samariter (Lk. 10, 30-37). Die Gleichnisse sind das andere Bein, das Spielbein des Weisheitslehrers Jesus. Da Bultmann diesen Perspektivenwechsel nicht erkennt, vermag er diese Sentenz Jesus auch nicht sicher zuzuweisen:

    32 Z.T. gesammelt bei Wettstein 1751-52, 358f.; ergnzt von Klauck 1978, 153f. 33 Plutarch, Apophthegrrw.ta Laconica, 230f.; Pesch 1, 1976, 166.

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  • fesus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lemens Da er das verbreitete Bild vom Arzt, der nicht fr die Gesunden, sondern fr die Kranken da ist (Mk. 2, 17) aufgenommen haben kann, um die Art seines Wirkens zu verteidigen, ist an sich natrlich keineswegs unmglich."

    Doch diesem Sprichwort aus der profanen Weisheit hat Jesu durch die Subjektverschiebung vom Arzt zum Kranken einen neuen, eschatologi-schen Sinn gegeben, der eine Rckfhrung auf den vorsterlichen J esus zwingend macht. Der Kranke ist nicht mehr wie bei Plutarch der phi-losophisch Ungebildete, sondern der Snder, der sich an den die Got-tesherrschaft verkndenden J esus wendet, um den Anfang dieser sich bald vollendenden Nhe Gottes zu erfahren.

    3.2.2. Gesetzeskritik

    Mehrere gesetzeskritische Sentenzen gehen ebenfalls auf den vorsterli-chen J esus zurck:

    G 2 Nichts, was von auen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein (Mk. 7, 15 par).

    G 3 Der Sabbat ist fr den Menschen und nicht der Mensch fr den Sabbat da (Mk. 2, 27).

    G 4 Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Bses, ein Leben zu retten oder zu tten (Mk. 3, 4 par).

    Diese antithetischen Parallelismen gehren in den Bereich der jdi-schen Gesetzesdiskussion.35 Sie haben Parallelen in der judenhellenisti-schen und hellenistischen Literatur:

    Die Reinigungen der Seele, nicht des Leibes, sind die wahren Reini-gungen.36 Mit der Antithetik zwischen Leib und Seele nimmt der ju-denhellenistische Verfasser von Pseudo-Phokylides griechische Anthro-pologie auf. Mit ihrer Hilfe weist er den jdischen Reinheitsgesetzen einen untergeordneten Rang zu, da sie fr den Leib bestimmt sind, hebt sie aber nicht auf.37

    Jesu Antithese hingegen fhrt die atl. Verlagerung von Unreinheit

    34 Bultmann 1957, 109. 35 Billerbeck 1, 718f.; 2, 5; Gnilka 1, 1978, 123 u. 277f. 36 Pseudo-Phokylides 228. 37 Gnilka 1, 1978, 278.

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  • Detlev Dormeyer

    auf ihren anthropologischen Ursprung zurck und befreit die Auen-welt von den Restbestnden eines magischen Realismus. Das Herz des Glaubenden allein entscheidet ber die Macht von Leben und Tod. Die Aufhebung der Macht des Todes ber die materielle Welt durch die Gottesherrschaft konzentriert die Reinheit auf das Innere des Men-schen.38 Die Unreinheit ist noch nicht explizit aufgehoben, sondern zunchst wie in Pseudo-Phokylides auf ihren Ursprung zurckgefhrt. Da aber die ganzheitliche Anthropologie J esu den hellenistischen Kom-promi einer Unterordnung der Reinigungsgebote unter die Moralge-setzgebung nicht zult, erzwingt Jesu Grundsatz in neuer Weise die radikale Aufhebung der Ritualgesetzgebung.39 Der faule Kompromi einer Weitergeltung der Reinheitsgesetze bei gleichzeitiger Aufhebung ihrer Grundlage kann auf die Dauer nicht weitergehen, wie Paulus nach Ostern klar erkannt hat.

    Von gleicher zentraler Bedeutung sind die Gnomen vom Sabbat. Die hellenistischen Parallelen verdeutlichen wieder den eigenstndigen Denkansatz J esu:

    Pausanias, Sohn des Pleistonax, sagte zu einem, der fragte, warum es bei ihnen verboten sei, eines von den alten Gesetzen zu verndern:

    Weil die Gesetze ber die Menschen (Mnner), nicht die Menschen (Mn-ner) ber die Gesetze Herr sein sollen

  • ]esus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lemens Glaube nicht, sagte er [sc. Musonius], da es jemanden anderen mehr zukommt, Philosophie zu treiben als dir [sc. einem der Knige in Syrien] und wegen keiner anderen Sache mehr als deshalb, weil du ein Knig bist. Denn es mu der Knig wahrhaft imstande sein, Menschen zu retten [crc/J;uv] und [sc. ihnen] Gutes zu tun [~o:uv].43

    Euergetes war ein beliebter Nebentitel in der hellenistischen Knigs-titulatur.

    Ein weiteres Beispiel bietet Artemidor: Nun erfllen sich aber sowohl die guten wie auch die bsen Trume.44

    Indem Jesus alltgliche Lebenserfahrungen aufnimmt, kann er die Sabbat-Gebote als inhuman und unplausibel entlarven und durchbre-chen.

    Singulr ist hingegen im folgenden, synthetischen Parallelismus die Auffassung Jesu zur Ehe:

    G 5 Jeder, der seine Frau aus der Ehe entlt und eine andere heiratet, bricht die Ehe und wer eine vom Mann Entlassene heiratet, bricht die Ehe. (Lk. 16, 18 I Mt. 5, 32; Mk. 10, Hf. I Mt. 19, 6). Nur die Qumran-Essener haben eine hnliche Auffassung vom Verbot einer Ehescheidung:

    Sie sind durch zweierlei gefangen: in der Hurerei, da sie zwei Weiber zu ihren Lebzeiten nahmen; aber die Grundlage der Schpfung ist: Als Mann und Weib hat er sie geschaffen (Gen. 1, 27).45

    3.2.3. Weitere Themen der Gnomen Jesu

    Machtvoller Anfang der Gottesherrschaft in Festfreude und Wunder Seligpreisungen der Armen, Machtlosen und Kinder Kritik an den Reichen und Mchtigen Jesu Bruch mit der Familie das neue Leben im Jngerkreis neues Handeln Gottes in der Entscheidungszeit der unbedingte Gottesglaube

    43 Musonius 8, b. v. Berger/Colpe 1987, 39. 44 Artern 4, 59 p. 238, 9.11; Bauer/ Aland 1988, 806. 45 Dam 4, 20-21.

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  • Detlev Dormeyer

    Hinzu kommen noch die imperativen Gnomen, das sind die Mah-nungen und Aufforderungen, die dieselben Themen behandeln. Wie gelangt Jesus zu der Weisheit seiner Logien?

    Diese Frage stellten sich bereits die Bewohner seines Heimatdorfes Nazareth. Die Bildungsmglichkeiten in Sepphoris haben wir kennen-gelernt. Wie liest Jesus die Schrift?

    Auch dieser Frage knnen wir nicht nher nachgehen. Thesenhaft aber sei gesagt, da J esus die Schrift einerseits nach den' damaligen, schriftgeiehrten Auslegungsregeln las (Mk. 12, 28-34), andererseits aber die Schrift in poetisch freier Form als Gleichnis neu erzhlte oder als Sentenz und Prophetie formulierte {2. Sam. 12, 1-4 --1Lk. 15, 3-7 par). Doch wenden wir uns noch kurz den Prophetien und dem Ich-Wort vom Menschensohn zu.

    4. Die Prophetien und Ich-Worte Jesu

    Neben den 81 Weisheitsworten lassen sich aus den rund 40 propheti-schen Worten der synoptischen Tradition 5-6 auf den vorsterlichen Jesus zurckfhren. Denn zusammen mit den anderen Gattungen Heilsankndigung, Drohwort und Weissagung ergeben sich bei Aus-grenzung der weisheitliehen Gattungen, der Erzhlgattungen {Gleich-nisse) und des apokalyptischen Flugblattes Mk. 13, 6-2746 ungefhr 40 prophetische Herrenworte.47 Von diesen lassen sich wieder nur eine geringe Zahl {5-6) auf den vorsterlichen Jesus zurckfhren:

    1. die prophetische Heilsankndigung und der prophetische Buruf: >>Die Zeit ist erfllt und die Gottesherrschaft ist nahe, kehrt um {Mk. 1, 15; Lk. 10, 9 ohne Umkehrruf);

    2. die prophetischen Weherufe: 2 Weherufe gegen die Schriftgelehrten {Mt. 23, 4.13); 1 Weheruf gegen die Phariser (Mt. 23, 23);

    3. die prophetische Weissagung {Mk. 14, 25).

    46 Pesch 1968, 208f. 47 Nach Bultmann 1957, 113-138.

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  • ]esus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernens

    Die weitere atl. prophetische Gattung, die Vision, ist nur einmal belegt in dem visionren Wort vom Satanssturz (Lk. 10, 18), das sich aber nicht sicher auf Jesus zurckfhren lt.48

    4.1. Heilsankndigung der nahenden Gottesherrschaft

    Als prophetische Heilsankndigung geht nur ein Wort auf Jesus zu-rck: Erfllt ist der Augenblick [mtpb:j und die Gottesherrschaft ist nahegekommen. Kehrt um ... (Mk. 1, 15 par).49

    Da die Ankndigung der nahegekommenen Gottesherrschaft auch ohne Umkehrruf berliefert ist (Lk. 10, 9 I Mt. 10, 7), liegt bei dem programmatischen Ruf Jesu Mk. 1, 15 eine Kombination aus Heilsan-kndigung und Umkehrruf vor.50

    Zunchst wird nach dem klassischen Aufbau der Heilsankndigung die Lage der Gegenwart beschrieben. Der von den Propheten verhei-ene Zeitpunkt des Kommens Gottes hat sich erfllt. Die Heils- und Gerichtszeit ist angebrochen. Die Krfte der nahen Gottesherrschaft wirken schon jetzt. Aus dem allgemeinen Verweis auf die Erfllung der prophetischen Voraussagen wird sich nach Ostern das Zitationsschema Verheiung-Erfllung entwickeln (s.u. 5.5.).

    Die zweite Hlfte des Wortes Mk. 1, 15 sagt fr die nahe Zukunft die Vollendung der Gottesherrschaft an. An diese Heilsankndigung schliet sich der prophetische Umkehrruf an.

    Wie bei den Seligpreisungen ist die apokalyptische Ankndigung der sich nahenden Gottesherrschaft ohne enge Parallele im Hellenis-mus. Auch der prophetische UmkehrrufMk. 1, 15 als Antwort auf das bedingungslose Angebot der Zuwendung Gottes setzt ohne hellenisti-sche Analogie die atl. Prophetie fort. Die Religionskritik von Xenopha-nes, Empedokles, Pythagoras, Sokrates, Apollonius von Tyana und anderen hellenistischen Grndungsphilosophen vermag gerade nicht sich von der andrngenden Nhe des einen, alles neu schaffenden Got-

    48 Bultmann 1957, 113. 49 Bultmann 1957, 124f. 50 Pesch 1, 1976, 101f.; Gnilka 1, 1978, 64ff.; Schlosser 1980, 104ff.

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    tes her zu legitimieren.51 Wohl kennt Epikur das Herannahen der wahren, philosophischen

    Denkhaltung, die das gesamte Leben umkehrt und neu qualifiziert:

    Wer da sagt, die Stunde zum Philosophieren sei fr ihn noch nicht erschienen oder bereits entschwunden, der gleicht dem, der behauptet, die Zeit fr die Glckseligkeit sei noch nicht da oder nicht mehr da.52

    Doch die eschatologische Einmaligkeit fehlt bei dieser individuellen Entscheidungsansage.

    4.2. Drohworte und Umkehrruf

    Von den Drohworten lassen sich einige auf Jesus zurckfhren. Sie sind die Kehrseite des Heilsrufes und gehren auf die Seite des Um-kehrrufes. Die konkurrierenden Schriftgelehrten und die reformerische Laienbewegung der Phariser werden von Jesus kritisiert.

    Wehe euch, ihr Schriftgelehrten; denn ihr verschliet die Gottes-herrschaft vor den Menschen. Ihr nmlich tretet nicht ein und hindert die, die eintreten wollen, am Eintreten {Mt. 23, 13 I Lk. 11, 52).53

    Fr Authenzitt spricht das hier pointiert zur Geltung gebrachte Eintreten fr die Irregeleiteten.54 Die Beziehung zur Gottesherrschaft gibt diesem Weheruf seine Besonderheit.

    Wehe euch, ihr Phariser; denn ihr verzehntet die Minze, den Dill, den Kmmel und lat fahren das Recht, das Erbarmen, den Glauben {Mt. 23, 23 I Lk. 11, 42).55

    Im Gesetz war die Verzehntung dieser Gartenkruter nicht vor-geschrieben. Die Ausdehnung der Abgabevorschriften von l, Most, Getreide fr den Tempel (Num. 18, 12; Dtn. 14, 22f.; Lev. 27, 30) auf die Gartenkruter fhrt in der pharisischen Laienbewegung zum bersehen des Zentrums des Gesetzes, und zwar von Recht, Barmher-

    51 Ggn. Berger/Colpe 1987, 30. 52 Diogenes Laenius 10, 122; vgl. die Philosophenberufungen parallel zu Mk. 1, 16-20. 53 Bultmann 1957, 118f. 54 Gnilka 2, 1988, 293. 55 Gnilka 2, 1988, 293f.

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  • ]esus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernens

    zigkeit und Glauben. Diese uerliche Rigiditt veranlat Jesus zu einer grundstzlichen

    Kritik: Sie binden schwere und unertrgliche Lasten und legen sie den Menschen auf die Schultern, sie selbst wollen sie aber nicht mit ihrem Finger bewegen (Mt. 23, 4 I Lk. 11, 46).

    Die Gesetzeskritik der weisheitliehen Gnomen wird nun prophe-tisch und antithetisch auf die Urheber der Kasuistik bezogen. Die prophetische Drohung oder der prophetische Weheruf mit Nennung der Adressaten sind implizit gegeben.

    Fr diese prophetische Kritik an falscher Lehre gibt es wie fr die Gnomen wieder weisheitliehe hellenistische Parallelen:

    Erweise dich nicht in Worten, sondern in Taten als sittlich gut.56

    4.3. Weissagung

    Es ist umstritten, ob Jesus zustzlich zu den Drohworten eigene apoka-lyptische Untergangsvoraussagen geformt hat. Die Untergangsweissa-gungen der frhjdischen Schriftapokalyptik sind erst nachsterlich in breitem Umfang von der Urgemeinde aufgenommen worden. 57 Auf je-den Fall pat es zu seiner Verkndigung, da er in bezug auf das Wie des Endzeitliehen-Eschatologischen keine detaillierten Ausknfte gibt. 58

    Bultmann hlt zwar die Voraussage der endzeitliehen T empelzer-strung Mk. 13, 2 fr vorsterlich.59 Doch die in Folge des jdischen Aufstandes 66-70 n. Chr. ausgelste Zerstrung des Tempels macht eine Neubildung des Wortes von der Tempelzerstrung als >>vaticinium ex eventu wahrscheinlicher.60

    Auch weist Bultmann J esus eine kleine apokalyptische Rede zu, die in Q den Grundstock fr die apokalyptische Abschlurede bildet: Lk.

    56 Epiktet, diss 3, 24, 110; b. v. Gnilka 2, 1988, 274. 57 Dormeyer/Hauser 1990, 31-99. 58 Gnilka 1990, 264. 59 Bultmann 1957, 126f.; Pesch 2, 1977, 271f. 60 Gnilka 1, 1979, 184; Brandenburger 1984, 75.

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    17, 21.23-24 I Mt. 24, 26-27.61 Doch auch diese Worte passen besser zur nachsterlichen Men-

    schensohnerwartung als zu J esu Verkndigung von der nahegekom-menen GottesherrschaftY

    Hingegen lt sich die indirekte Voraussage des Todes und der Auf-erweckung beim Abschiedsmahl mit den Jngern auf den vorsterli-chen J esus zurckfhren:

    (Amen, ich sage euch:) Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, wenn ich sie neu trinken werde in der Gottesherrschaft (Mk. 14, 25 par).63

    Jesus spricht wie ein atl. Prophet mit elementarer Symbolik, die aber nicht im Stile der Buchapokalyptik die Zukunft expliziert, son-dern in weisheitlicher Weise ein testamentarisches Abschiedswort gibt.64 Die Festsymbolik greift u.a. auf die Gnome vom freudigen Anfang der Gottesherrschaft zurck (Mk. 2, 19a). J esus ist sich in seinem Vertrauen auf den Vatergott sicher, da Gott seine f!errschaft von ihm, Jesus, auch im Tode nicht abziehen wird.

    Ebenfalls lt sich eventuell die antithetische Weissagung ber den Untergang des Kosmos und das Weiterbestehen der eigenen Worte auf den vorsterlichen Jesus zurckfhren:

    Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen (Mk. 13, 31 par).65

    Jesus offenbart in Wort und Tat endgltig und unwiderruflich die Gottesherrschaft und betont durch die Ich-Rede die Einmaligkeit seiner Gottesbeziehung und Offenbarungsvollmacht.

    Diese Weissagung ist wie das Becherwort eng mit den Ich-Worten verbunden und zeugt von dem singulren, die Prophetie bersteigenden Selbstbewutsein Jesu.

    Im Unterschied zu den weisheitliehen Gnomen besteht also ber nur fnf bis sechs prophetische Worte der Konsens, sie dem vorsterli-

    61 Bultmann 1957, 128 u. 133ff.; Schneider 2, 1977, 354. 62 Schulz 1972, 277-287. 63 Dockx 1965, 447-453; Dormeyer 1974, 108f.; Gnilka 2, 1979, 243-249; Leon-Dufour

    1983, 229f. 64 Leon-Dufour 1983, 217. 65 Gnilka 2, 1979, 204; dagegen kaum authentisches Logion Pesch 2, 1977, 309.

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  • ]esus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernens

    chen Jesus zuzuweisen.66 Doch reichen die Heilszusage der Gottesherr-schaft, der daraus resultierende U mkehrruf, die Drohworte gegen die Schriftgelehrten und Phariser und die Weissagungen vom W eitertrin-ken des Bechers sowie vom Weitergeben der Worte aus, der Weisheits-lehre Jesu eine unverwechselbare, prophetische Ausrichtung zu geben.

    Die Ansage der Gottesherrschaft ist das Zentrum der Verkndigung Jesu. Von ihrer andrngenden Nhe wird die singulre Zeitspannung von schon jetzt -noch nicht aufgebaut. Aus dieser Zeitspannung er-wchst die prophetische Verheiung ihrer endgltigen Vollendung, wie sie auch die Ich-Worte und die Gleichnisse bringen. Den prophetisch-weisheitliehen Zuspruch der wirkenden Gegenwart verknden ebenfalls die Gnomen gemeinsam mit den Gleichnissen und Wundertaten. Die prophetische Drohung betont das noch nicht gegenber den From-men, die mit einer kasuistischen Gesetzesauslegung sich selbst gegen die andrngende Zukunft verschlieen.

    Weisheit und Prophetie hat J esus aufgrund seines Selbstverstndnis-ses als letzter, apokalyptischer Bote mit groer kreativer Freiheit der Schriftauslegung zusammengefhrt. Das bergewicht an weisheitliehen Grundstzen und Mahnungen betont die schon angebrochene Prsenz der Gottesherrschaft.

    So vermeidet es Jesus, wie sein groer prophetischer Lehrer Johan-nes der Tufer die Gegenwart zu entwerten und den bedrohlichen Untergang im nahenden Gericht fortwhrend zu beschwrenY Auch flchtet sich Jesus nicht in die Pseudepigraphie eines Propheten der Vergangenheit, um in seinem Namen eine Buchapokalypse zu schrei-ben.68 Jesus hat das Selbstbewutsein, da in ihm als individueller Persnlichkeit die Prophetie der groen Vergangenheit weiterwirkt.69 Aber er wei zugleich als Schriftgelehrter Weisheitslehrer um seine Distanz zu der vorexilischen, prophetischen Unmittelbarkeit. Er kn-digt nicht mit der Botenformel So hat gesprochen Jahwe das Wort Gottes an, sondern bringt indirekt durch seine Botschaft von der Got-tesherrschaft schriftgelehrt Gottes Wort und Wille zum Ausdruck.

    66 Vgl. Aune 1983, 187f. 67 Reiser 1990, 30Sff. 68 Rost 1971, 22ff. 69 Schnider 1973, 258ff.

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  • Detlev Dormeyer

    Dafr aber ist in ihm endgltig und unwiderruflich die Gottesherr-schaft angebrochen und wird sich bald vollenden. Die Zeit der Prophe-ten ist in ihm erfllt (Mk. 1, 15). Auf diese Spannung von erfllter Gegenwart und noch ausstehende Zukunft verweisen auch die Ich-Worte.

    So ist J esus beides: Weisheitslehrer und Prophet, und zwar ein Prophet, wie er sekundr aus den Schriften herausgelesen werden kann, und zwar von J esus selbst und von anderen zeitgeschichtlichen Prophe-ten wie Johannes dem Tufer.

    Das singulre, eschatologische Selbstverstndnis Jesu beruht auf der prophetischen Heilsankndigung von der sich nahenden Gottesherr-schaft, auf seinen die Gottesherrschaft zusprechenden Weisheitsworten, also der apokalyptischen Weisheit, und auf seinen Ich-Worten. Kom-men wir zu den Ich-Worten. Wir haben zwei authentische Ich-Worte: Wer mich vor den Menschen verleugnet, den wird auch der Men-schensohn vor den Engeln Gottes verleugnen (Lk. 12, 9 I Mt. 10, 32; Mk. 8, 38).

    Wenn aber ich die Dmonen durch den Finger Gates austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen (Lk. 11, 20 I Mt. 12, 28).

    Die Gottesherrschaft schon jetzt mit Wundern anbrechen zu lassen und in der vollendeten Zukunft vom himmlischen Menschensohn be-sttigt zu werden, entsprechen einander. An dieser Stelle durchbricht Jesus am strksten die Rolle des prophetischen Weisheitslehrers. Sein Wirken wird von Gott und dem himmlischen Menschensohn, d.i. der Vlkerengel Israels, als der Anbruch des eschatologischen Heils best-tigt werden. Jesus versteht sich selbst als der singulre, eschatologische Eine, der die Gottesherrschaft innerhalb der Erfahrungswelt semer Zuhrer verbindlich zur Geltung und zum Verstehen bringt.l0

    5. Schlu

    Das Portrt Jesu als Lehrer, das die Evangelien zeichnen, geht in seinen charakteristischen Zgen auf den vorsterlichen J esus zurck. Das Markus-Evangelium, die Spruchquelle Q und das synoptische Sonder-

    70 Dormeyer 1993, 67-124.

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  • Jesus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernens

    gut vermgen es zu besttigen und zu ergnzen. Jesus hat die Gottes-herrschaft angekndigt, in charismatischer Weise Wunder gewirkt, Zllner und andere Snder berufen {Mt. 11, 19 I Lk. 7, 34), die Sn-denvergebung Gottes zugesagt (vgL die Gleichnisse vom Verlorenen Lk. 15, 3-32). Jesus hat einen Jngerkreis gebildet, hat mit diesem Galila durchwandert, ist schlielich zum Tempel nach J erusalem gewallfahrtet und ist dort aufgrund seiner Lehre festgenommen worden. Die Verhandlungen machen nur den indirekten messianischen Anspruch zum Gegenstand, da der allein justitiabei war. Der Tod am Kreuz ist das Ergebnis der gesamten Praxis J esu.

    Modell fr die Lehre ist daher Jesus von Nazareth, wie er uns in den Evangelien entgegentritt und durch die Rckfrage zum vorsterli-chen J esus ber die Tradition, den Gattungsvergleich und das kulturelle Umfeld geschichtliche Absicherung erhlt. Nicht jeder Erzhlzug oder jedes Wort sind historisch, aber sie sind notwendig, um fr die jeweili-ge Gemeinde eine Praxis J esu zu entfalten, die fr das eigene Leben zum Modell werden soll.

    Nahe wird uns J esus heute, weil er modellhaft mit seiner Erfahrung Weisheit und Prophetie aus seiner hl. Schrift und dem hellenistischen Umfeld ausgewhlt, in elementare Sprach- und Inhaltsformen gebracht und so seinen Hrern bis heute unmittelbare Zustimmung und Ver-nderung ermglicht hat.

    Fremd bleibt uns Jesus, weil er seine Weisheitsworte und Prophe-tien mit der Ansage der andrngenden Gottesherrschaft und seiner exklusiven Beziehung zum kommenden Menschensohn verbunden hat. Jesus bersteigt bewut das austauschbare Modell eines Weisheitsleh-rers, indem er den singulren, endgltigen Anfang der Zuwendung des monotheistischen Gottes Israels in ihm mit Hilfe der Korrelation un-berhrbar zum Ausdruck bringt und so unsere Entscheidung einfor-dert.

    Die Evangelien als Praxen Jesu mssen fortgeschrieben werden, und das ist die Aufgabe der Lehre. Verkndigung und Praxis der Kirche lagern sich als Interpretationsrahmen um die in den Evangelien aufgehobene Lehre und Praxis Jesu. Durch die kirchliche Tradition sind die Bahnen der Auslegung geprgt worden. Aber deren Typisie-rung mu durch die Rckfrage zum Neuen Testament immer wieder

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  • Detlev Dormeyer

    aufgebrochen werden.71 Sie kann aufgebrochen werden, wenn die eige-nen Erfahrungen und Erwartungen mit einem erprobten, bewhrten Lehrer-Ideal-Modell auf den Jesus der Evangelien projiziert werden und im Dialog mit diesem prophetisch-weisheitliehen Jesusmodell umge-formt werden. Die neuen Wege der Bibelauslegung ermglichen solche Erfahrungsexegese.72 Besonders die Rckfrage zum vorsterlichen J esus ist hilfreich, nach der Besttigung eigener Fragen nach den Erwerbs-mglichkeiten von Weisheit und Prophetie in Korrelation zur Erfah-rung Jesu den Anruf der Gottesherrschaft neu und unbekannt zu h-ren. Deshalb habe ich hier den sozialgeschichtlichen Ansatz mit der Beachtung des Lokalkolorits und der mndlichen Wortgattungen be-vorzugt. Das so von unseren Fragen rekonstruierte historische Modell des lernenden und lehrenden J esus elementarisiert unsere neuzeitliche Frage nach uns selbst und gibt uns elementare Formen des weisheitli-ehen und prophetischen Lernens, des korrelativen Glauben-Lernens, zurck.l3

    Ich bin zuversichtlich, da nicht nur der studierte Theologe, son-dern auch jeder lernfreudige, kritische Leser die elementare Lehr- und Lernweise Jesu zu erkennen und mit ihr zu handeln, sich zu erbauen vermag.74

    Literatur

    AUNE, David E., Prophecy in Early Christianity and the Ancient Mediterranean World, Grand Rapids 1983.

    BALDERMANN, Ingo, Einfhrung in die Bibel (UTB 1486), Gttingen 3/1988.

    BATAY, Richard A., Jesus and the Forgotten City. New Light on Sepphoris and the Urban World of Jesus, Grand Rapids (MI) 1991.

    ders., Sepphoris -An Urban Portrait of fesus, BAR 18 (1992) 50-64.

    71 S.u. Hoye. 72 Dormeyer 1978; Berg 1991; s.u. Ulonska; Kitzberger; Rolinck; Sturm; Spiegel. 73 Baidermann 1988, 20-60; s.u. Abromeit; Sandberger. 74 Wegenast 1979, 109ff.

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  • fesus als Lehrer und Modell weisheitliehen und prophetischen Lernern BAUER, Walter I ALAND, Kurt u. Barbara (Hg.), Griechisch-deutsches Wrterbuch, Ber-

    lin/New York 6/1988.

    BERG, Horst Klaus, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, Mnchen/Stutt-gart 1991.

    BERGER, Klaus I COLPE, Carsten (Hg.), Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Test4ment (NTD, Textreihe 1), Gttingen 1987.

    BILLERBECK, Paul I STRACK, Hermann, Komment4r zum Neuen Test4ment aus Talmud und Midrasch, 4 Bde., Mnchen 3/1961 = Billerbeck 1961.

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    38

  • Herbert Ulonska

    DIE BIBEL - EIN ERLEBNISBUCH

    Von der Geistesgegenwart neutestamentlicher Wundergeschichten,

    aufgezeigt an Lk. 5, 1-11

    In dankbarer Erinnerung an Willi Marxsen (t am 18.2.1993}

    Prolegomena

    Aus einem groangelegten Projekt zur Elementarisierung biblischer Texte, das das Comenius-Institut hier in Mnster initiierte, entstand 1979 eine Publikation mit dem Titel: Die Geistesgegenwart der Bibel. Elementarisierung im Proze der Praxis.

    Es hat mich gereizt, mit diesem provozierenden Programm von der Geistesgegenwart der Bibel in einem Seminar im letzten Semester an-hand der synoptischen Wundergeschichten zu experimentieren. Erste Ergebnisse mchte ich Ihnen heute im Rahmen unseres Projektes Ele-mentare und neue Zugnge zur Bibel vorlegen und der weiteren Refle-xion zufhren. Auf diesem Erlebnishintergrund mchte ich das Fol-gende vortragen:

    1. Die Bibel - ein Erlebnisbuch. Lassen sich mit der Bibel heute noch religise Erfahrungen machen?

    2. Methodische Fortschreibungen ber die historisch-kritische Rekonstruktion des Textes hinaus

    3. Konkretionen am Beispiel einer wunderhaften Berufungsgeschichte (Lk. 5, 1-11).

    39

  • Herbert Ulonska

    1. Die Bibel - ein Erlebnisbuch

    1.1. Klrung von Vorverstndnissen

    Warum interessieren mich heute noch Texte, die vor 2000 Jahren ge-schrieben wurden? Genauer: Was interessiert mich heute als Kind der Aufklrung mit historisch-kritischem Bewutsein an neutestamentli-chen Epiphanie- und Wundergeschichten? Ich wei doch, da sie litera-risch gestaltete, bestimmte tradierte Erzhlregeln beachtende Geschich-ten sind. Sie dienten nicht der historischen Rekonstruktion, sondern der Erbauung und Mission durch von Erzhlern inszenierten Personen und Motive.

    Oder frage ich weiter: Was interessiert Sie an diesem Projekt ber die Bibel und am Thema dieser Vorlesung? Ich vermute- und darum sind Sie hier -, da Sie ein intellektuelles und sicherlich auch emotiona-les Interesse an der Bibel und ihren Texten haben. Dieses doppelte Vor-verstndnis, das Sie und ich mitbringen, mu ich bercksichtigen, wenn ich auf der Erkenntnisebene mit biblischen Texten umgehe, von denen ich glaube und voraussetze, da sie mich und Sie etwas angehen. Insofern bin ich als Theologe immer mitgemeint, wenn ich biblische Texte behandle. Ich betreibe Eis-Egese; denn ich kann mich nicht hin-ter einer objektiven Ex-Egese verstecken und unbekannt bleiben. Inso-fern trage ich hchst Subjektives vor, und das soll auch so sein. Den Traum von einer objektiven Textauslegung sollten wir nicht mehr tru-men.

    Von diesem Vorverstndnis der Neugier und des Interesses im Um-gang mit biblischen Texten gehe ich auch in meiner Darstellung der Sachverhalte aus, auch wenn ich unter 2) auf der kognitiven Ebene nach weiteren Interpretationsmethoden frage. Auch auf der emotiona-len Ebene unter 3) bleibe ich ebenso an dieser Neugier interessiert, wenn ich z.B. von einem Epiphaniewunder hre, das einen Menschen, nmlich Petrus, sozial entwurzelte, indem er seinen Beruf aufgab, hei-matlos wurde, um einem Wandercharismatiker zu folgen.

    Ich formalisiere: Im Kontext der wirkungsgeschichtlichen Fragestel-lung klre ich mein individuelles Vorverstndnis, in dem nach meiner Frmmigkeitsgeschichte im Umgang mit der Bibel gefragt und klrend geantwortet wird: Dieser Text, der den Ruf in die Nachfolge so inten-siv artikuliert, hat etwas mit meinem Christsein zu tun. Er geht mich

    40

  • Die Bibel- ein Erlebnisbuch

    etwas an, solange oder weil ich (noch) Christ bin. Die wirkungsgeschicht-liche Frage klrt auch das soziale Vorverstndnis, weil dieser Ruf in die Nachfolge ber die erzhlte Primrperson hinaus Menschen gerufen und zu Gruppenbildung gefhrt hat bis hin zur institutionellen Kirche.

    Nehme ich die wirkungsgeschichtliche Frage in den hermeneuti-schen Zirkel auf, so zeigt sich der doppelte Bogen.

    Wirkungsgeschichte Frmmigkeitsgeschichte

    Vorverstndnis

    / t ~ biblischer Text Dialog Christsein heute

    ~ t / Identittsbildung

    Das Verstehen dieses hermeneutischen Horizonts bleibt eine Voraus-setzung, um zu einer Existenzklrung des Christseins heute zu kom-men, wenn Christsein sich nicht nur im stillen Kmmerlein ereignen soll. Will der Ruf in die Nachfolge verstndlich bleiben, ist es notwen-dig, da die dem Ruf Folgenden ber ihren Glauben begrndend und einsichtig Auskunft geben knnen. Diese Lernwege, wie es zum Glau-ben gekommen ist, lassen sich heute, wie ich meine, nur noch wir-kungsgeschichtlich beschreiben, es sei denn, da jemand wie Petrus durch eine Epiphanie des Kyrios herausgerufen wurde. Doch solche Erlebnisse halte ich fr begnadete Ausnahmen, die in charismatischen Gruppen gepflegt werden. Wir aber im Bereich der Lehre fr Schule und Hochschule mssen uns bemhen, einen verstehenden Glauben zu vermitteln. Bildung ist also ntig, um nach dem Christsein heute fragen zu knnen und Antworten zu finden, solange oder weil ich es wissen will, was den christlichen Glauben neben und vor anderen auszeichnet.

    Dieses Wissenwollen orientiert sich in der christlichen Tradition auf der Beziehungsebene am Anfnger des Glaubens, dem Jeschua aus Na-zareth. Ignoriere ich diesen historischen Orientierungspunkt, genauer:

    41

  • Herbert Ulonska

    Vergesse ich den Menschen Jeschua, suche ich fr die Identittsbildung andere Leit- und Idealfiguren, seien sie der vergttlichte Mensch (Mk), der Weltheiland (Lk) der groe Retter (Mt), der Herr (Paulus) oder heute der androgyne Mann (Hanna Wolff), der erste neue Mann {Pranz Alt), der glcklichste Mensch (Dorothee Slle). Darum kann ich Detlev Dormeyer nur zustimmen, wenn er den historischen J eschua aus N aza-reth, der ganz in der Nhe der hellenistisch geprgten Provinzstadt Sephoris gelebt hat, so unbedingt festhlt; denn mit einem Menschen kann ich mich orientierend identifizieren. Ob es aber mit den oben genannten christologisch berhhten Idealfiguren ebenso mglich ist, das hngt von meiner religisen Erziehung und Frmmigkeit ab.

    Damit ich nicht miverstanden werde: Ich frage nach der Erleh-aisfhigkeit auf der Beziehungsebene im Umgang mit Texten, von de-nen ich glaube, da sie uns etwas angehen. Da eine direkte Begegnung mit dem Menschen Jeschua nicht mehr mglich ist, geschieht Begeg-nung heute mit (zu Texten gewordenen) Geschichten ber ihn, auch wenn sich, wie Dormeyer deutlich gemacht hat, in diesen Jesus-Chri-stus-Geschichten durchaus authentische Logien finden lassen.

    Allen Schwrmern, Charismatikern, New Age-Anhngern gegen-ber melde ich deshalb Vorbehalte an, weil sie ignorieren, da sie J esus heute nur noch in Texten begegnen, die dann von diesen Gruppen un-historisch gelesen werden. Nur deshalb knnen diese Leute von unmit-telbarer Jesus-Erfahrung sprechen, weil sie die Frage nach dem histori-schen Jesus verworfen haben. Am Kyrios Jesus Christos Soter bin ich aber nur interessiert, wenn dieser Himmlische am irdischen J eschua aus Nazareth orientiert bleibt. Insofern mu die Frage nach dem histori-schen Jesus immer neu gestellt werden. Damit stellt sich uns die Frage nach der Rezeption von Literatur, auch der biblischen.

    1.2. Wie nehmen wir Geschichten wahr und auf?

    Ich mchte auf einen Lernfortschritt verweisen, den die Formgeschich-te erbracht hat: Frage ich nach der Wirkung von Texten (Geschichten/ Gnomen/Chrien/Gleichnissen/Wundern etc.) mu ich auch nach Form und Gattung fragen. Nicht jede Geschichte spricht mich an, nicht jeder Vortrag interessiert mich. Vieles mu bedacht sein, wenn ich Gehr finden, Aufmerksamkeit wecken, Neugier erregen, Lernen

    42

  • Die Bibel- ein Erlebnisbuch

    auslsen will. Was fr mich zutrifft, gilt auch fr biblische Texte. Eine biblische Geschichte interessiert, wenn ich erkenne, da sie mich an-geht. Doch ber diesen inhaltlichen Aspekt hinaus spricht mich auch die Form der Erzhlung an. Ist sie spannend, aufregend, motivierend, lern- und zuhrintensiv? Bewegt das Gehrte/Gelesene mich kognitiv/ emotional? Diese Fragen der Rezeptionssthetik werden besonders dort lebendig, wo es um Normen und Bedrfnisse geht. Konkret: Meine Be-drfnisse nach Bibellektre sind bestimmt durch mein V orverstndnis. Die Erfahrungen im Umgang mit biblischen Texten fr mein Christ-sein heute wecken mein Bedrfnis. Der Orientierungsgewinn, die Ant-worten, nach denen ich suche, bestimmen wiederum meine Identitt, stabilisieren oder korrigieren sie.

    Bibellektre / ~

    Bedrfnis

    Orientierung

    Christsein heute

    / Auch bei der Auswahl des Textes fr diese Vorlesung haben mich re-zeptionssthetische Kriterien bestimmt. Der Text hat uns schon einmal im Seminar (im letzten Sommer) bewegt. Wir haben an ihm gelernt, ber ihn diskutiert und mit den inszenierten Personen uns zu identifi-zieren versucht. Zum anderen provozieren uns Wundererzhlungen bis zum heutigen Tag, da sie den/die Leser und Hrer fragen, ob sie in das Primrerleben einsteigen oder sich abgrenzen wollen, sensibel bleiben fr ungewhnlich berraschendes und Deutungen fr das eigene Leben vornehmen knnen. Wundergeschichten ntigen uns, ber Grenzerfah-rungen des Lebens und ihre Grenzberschreitungen nachzudenken. Das kann in unserer zweckrationalen Welt eine Lebensqualitt wachhalten, nicht im alles o.k., alles im Griff, es luft ausgezeichnet und wie

    43

  • Herbert Vlonska

    diese verplanenden Stze heien mgen, aufzugehen. Da der Text dann noch Petrus thematisiert, geschieht in kumenischer Absicht; denn dieser frhe Petrus des Textes gehrt noch beiden Konfessionen.

    2. Methodische Fortschreibungen ber die historisch-kritische Rekonstruktion des Textes hinaus

    Diente der 1. Teil mehr der Einfhrung in das Thema, der Anknp-fung an bisher Gesagtes und dem Abholen der Hrer im vermuteten Vorverstndnis, so mchte ich mich im 2. Teil den Vermittlungs-prozessen durch textorientierte Interpretationsmethoden widmen.

    Alle Arbeit beginnt bei der Exegese. Verstehe ich Exegese mit Willi Marxsen als Nachsprechen dessen, was ein Erzhler damals seinen Lesern zu seiner Zeit sagen wollte mit meinen heutigen Worten, so leite ich einen Rekonstruktionsproze ein, der sowohl die Textgestalt als Endprodukt bedenkt als auch die Ereignisse, die zur Textwerdung gefhrt haben.

    Mein Bemhen um historische Rekonstruktion geht von der selbst-verstndlichen Prmisse aus, da der biblische Text nicht von mir stammt, ich nur der Nachsprechende und auch nicht der Adressat von Lk. 5, 1-11 bin. Ich wiederhole bewut: Dieser vor 2000 Jahren ge-schriebene Text geht mich zuerst einmal nichts an, ich komme in ihm nicht vor. Er ist mir fremd. Insofern kann ich in kritischer Distanz als Exeget eine gewisse Objektivitt im Umgang mit biblischen Texten walten lassen. Ich bitte darum um Verstndnis fr manche trockenen, nchternen, distanziert geschriebenen Exegesen in den Kommentaren. Es ist richtig, da in der Phase der Rekonstruktion des Textwerdungs-prozesses nicht sofort die Deutung des Exegeten einfliet - auch wenn dieses oft ein frommer Wunsch bleibt. Hierin stimme ich Dormeyer zu, da Ex-Egese kaum ohne Eis-Egese mglich ist, da ich als Exeget bei aller historischen Redlichkeit auch meine Vorverstndnisse dem Text gegenber habe (s.o. die Kriterien der Textauswahl). Auch nur so ist es - wie bei den Synoptikern schon damals - erklrbar, da beim Lesen von Kommentaren heute verschiedene Interpretationen zu finden sind - zum Leidwesen unserer Studierenden, die immer wieder fragen, welche Auslegung die richtige sei. Doch darauf gibt es keine eindeutige Antwort.

    44

  • Die Bibel - ein Erlebnisbuch

    Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung: Ich bezeichne es als Ironie des Schicksals, da diese seit ber 100 Jahren in den biblischen Ausle-gungen benutzte Methode seit ca. 15_Jahren zu berwinden und weiter-zufhren versucht wird, obwohl sie noch gar nicht richtig in der Ge-meinde angekommen und angenommen wird. Das macht der Streit um Eugen Drewermann so deutlich. Was er an historisch-kritischen Kennt-nissen ber biblische Texte weitergibt, ist 30-60 Jahre alt und lngst in der neutestamentlichen Wissenschaft ausdiskutiert, aber in den Gemein-dentrotzdes Studiums der Theologie nicht angekommen. Was ist da alles verschwiegen worden? Und welches Mitrauen besteht gegenber der Theologie als Wissenschaft in Kirche und Gemeinde? Hier mssen wir Lehrenden der Theologie selbst zur Verstndigung beitragen.

    Wo liegen nun die Schwchen der historisch-kritischen Methode, da es zu einer berwindung und Weiterarbeit gekommen ist? Ich nenne zuerst den Wunsch nach Objektivitt. Durch die beraus ver-feinerten Fragestellungen lt sich dieser Wunsch fast erfllen, doch zugleich verliert der Text dadurch seine Originalitt und Qualitt, Menschen zu bewegen, sich dem Kerygma des J esus, der der Christus des Glaubens geworden ist, zu stellen, ihm zu glauben und sich als mit Gott vershnt anzunehmen. Das Heil schaffende Kerygma wird rekon-struktiert, nicht aber neu verkndigt. Ich mchte es auf die Formel bringen: Die Entmythologisierung biblischer Texte hat zur Entkeryg-matisierung ihrer Aussagen gefhrt.

    Die vorangestellte Prmisse, da mich der 2000 Jahre alte Text zuerst einmal nichts angehe, besttigt sich: Die perfekte historische Rekonstruktion des Textes und seines Kerygmas geht mich in meinem Glauben dann auch nichts mehr an. Fr mich ist die Zeit des problem-orientierten Religionsunterrichts ein typisches Beispiel dafr: Die Bibel verschwand als ungeeignetes Interpretationsmaterial und wurde durch die Vorlesebcher Religion ersetzt.

    So nimmt es nicht wunder, da aus der Praxis der Predigtarbeit und des Religionsunterrichts der Ruf nach einer Fortschreibung der histo-risch-kritischen Methode kam.

    Wo wurde nun weitergefragt? Angesichts der Flle des Materials beschrnke ich mich auf einige Akzente. Ich nenne drei Bereiche:

    1. Die Formgeschichte analysiert die Komposition der Motive (was weiter erzhlt wird),

    45

  • Herbert Ulonska

    2. die Traditionsgeschichte rekonstruiert die Dramaturgie der insze-nierten Personen (wie neu erzhlt wird),

    3. die Redaktionsgeschichte schreibt sich in den Versuchen der Rein-szenierung im Bibliodrama fort (wie das Erzhlte neu erlebt wird).

    2.1. Die Komposition der Motive

    Die Entdeckungen der formgeschichtlichen Schule bestanden darin, da die Texte nicht mehr einer beliebigen Erzhlkultur unterlagen, sondern nach klaren, einprgsamen und weiter erzhlbaren narrativen Regeln und Mustern erfolgte. Ich rufe in Erinnerung: Diese Erkenntnis von den narrativen Regeln relativierte die damals geltende Vorstellung, die Texte seien Berichte, Protokolle, Erzhlungen von historischen Wider-fahrnissen. Als z.B. Martin Dibelius 1919 in seiner Formgeschichte des Evangeliums von Predigten, Novellen, Legenden sprach, war die Frage nach Dichtung und Wahrheit kontrovers gestellt. Wenn die Texte nur Dichtung der Urgemeinde waren, und dort ihren Sitz im Leben hatten, was war dann noch historisch?

    Die Frage nach der Historizitt mu heute anders gestellt werden, vor allem bei der Frage nach dem Sitz im Leben der einzelnen For-men und Gattungen. Fr uns ist jetzt wichtig, wie die formgeschicht-liche Frage weiter entwickelt wurde. Es hatte sich gezeigt, um einmal drei Textsorten zu nennen, da ein Streitgesprch aus vier Erzhlteilen bestand: Situation, Frage der Gegner, Gegenfrage des Gefragten, L-sungswort; eine Wundererzhlung aus: Einleitung, Exposition, Mitte, Chorschlu; Gleichnisse berliefert werden als: Gleichnis im engeren Sinn, Parabel, Beispielgeschichte, Allegorie: Das Interesse konzentrierte sich immer mehr auf die in den Erzhlungen benutzten Motive und ihre Hintergrnde. Nicht mehr die historische Frage, was denn gesche-hen sei, wurde gestellt, sondern die, wie eine Geschichte komponiert war, welche Erzhlmotive zur Komposition gehrten. Gefragt wurde also nach der Rekonstruktion der Kompositionsmotive und ihrem sym-bolischen und tiefenpsychologischen Hintergrund.

    Was fr ein Material wird benutzt und wie wird es verarbeitet? Sind es Symbole, die eine breite Identifikation der Leser erffnen? Sind es bekannte Bilder aus der religisen oder sozialen Umwelt, z.B. Fruchtbarkeitssymbole aus der Gartenlandschaft am See Genezareth,

    46

  • Die Bibel- ein Erlebnisbuch

    vom Fischfang auf dem See, vom Seesturm oder Seewandel? Sind es Klischees als Abgrenzungsmotive, wie sie von exklusiven, elitren heils-egoistischen Frmmigkeitsbewegungen benutzt werden, z.B. als Ab-grenzung von die da und wir hier, die Bsen und die Guten, die Verlorenen und die Geretteten. Kurz: Die Form der Erzhlung be-dingt auch die Auswahl der benutzten Motive.

    Wie klischeehaft sind in den Streitgesprchen die Phariser insze-niert. Sie sind die frommen Perfektionisten, die Heilsarroganten, die Snder verachten, die selbstbewut Heilsgewissen, die ihre Frmmig-keit ffentlich vermarkten. Diese Klischees, die bis zum heutigen Tag groartig in der Apologie funktionieren, bedrfen dringend der Revi-swn.

    2.2. Die Dramaturgie der inszenierten Personen

    In der traditionsgeschichtlichen Frage wird untersucht, welche Perso-nen oder Trgergruppen des Kerygmasam Text mitgestaltet haben und durch welche Situationen die einzelnen Fortschreibungen bestimmt waren. Es wird dabei vorausgesetzt, da ein Text gewachsen und nicht von Anfang an seine Endgestalt besessen hat, da er durch Raum und Zeit fortschreitend verndert wurde. So konnten neue Ereignisse (z.B. die Parusieverzgerung) die Erzhlmotive verndern, die Personen und ihre Handlungen ergnzen oder Inszenierungen korrigieren oder fort-schreiben.

    Damit stellt sich die Frage nach den gestaltenden und inszenierten Personen, die nicht beliebig, sondern nach einer erkennbaren Drama-turgie auftreten. Das Interesse gilt also der dramaturgischen Rekon-struktion eines Textes. Wie wird der Hauptakteur Jesus inszeniert? Welche Rollen spielt er, und welche Rollensegmente werden ihm zu-geordet? Zeigen sich hinter der Rolle eines Idealtyps mglicherweise Archetypen, Grundmuster menschlichen Verhaltens, das idealisierte Ich/Du - Allmachtsphantasien -, die wiederkehrend uns zur Identifika-tion reizen?

    Da ist einmal der Menschenfischer Jesus (Lk. 5, 1-3), der schon sein Volk um sich am See gesammelt hat. Welch eine Menge hat er in den Netzen seiner Worte gefangen!

    Als Gegentyp mit archaischem Charakter tauchen Sirnon und seine

    47

  • Herbert Ulonska

    Leute als Jger, Sammler, Fischer auf, die einfangen, tten, Nahrung besorgen. Die Dramaturgie inszeniert diese beiden Sammlertypen nach den narrativen Regeln einer Berufungsgeschichte, in die eine Epipha-nieszene eingebaut wird. Durch die Komposition beider Erzhlmuster kommt es zu dieser spannenden Begegnung auf dem See mit dem uns bekannten Ergebnis: Der eine (Petrus), der Gehorsame, der Wissende als Fischer, erkennt im anderen Gesus), der nicht vom Fach ist, trotz-dem seinen Meister und wird- wieer-zum Menschenfischer.

    Auf das eingefgte Epiphanieelement (im Fischfangwunder) Be-gegnung mit dem Heiligen (tremens et faszinans) mchte ich im dritten Teil eingehen.

    Ich ergnze noch kurz: In Wundergeschichten verluft die Drama-turgie der inszenierten Personen in der Regel als Dreiecksgeschichte. Die Rollen sind bekannt und dienen Betroffenen als Erzhlmuster bis zum heutigen Tag: Kranke, Hungernde, Leidende, Verfolgte sind Op-fer; Jesus der Wundertter der Retter; Dmonen, Chaosmchte, unwis-sende, abwehrende Menschen die Verfolger. Wieder frage ich rheto-risch: Wer die Geschichte historisch befragt, was denn nun tatschlich am See geschehen sei, wird im Rahmen dieses methodischen Schrittes keine objektive Antwort bekommen. Entdeckt werden narrative Mu-ster und Interpretationen, nicht aber eine historische Berichterstattung.

    2.3. Reinszenierungen

    Es lag auf der Hand, da sich beide methodischen Erweiterungen, die Komposition der Motive und die Dramaturgie der inszenierten Rollen kombinieren lassen - auch wenn das Bibliodrama nicht in den Kpfen der Exegeten entstanden ist, sondern in denen der Pastoralpsychologen. Ich mchte jetzt nicht die historischen Ableitungen des Bibliodramas aus dem Psychodrama, den bungen zur symbolischen Interaktion mit therapeutischer Tendenz, dem Rollenspiel als Identitts- und Identifika-tionsbung, dem knstlerisch-sthetischen Gestalten, dem ganzheitli-chen Ansatz der Pdagogik ausfhrlich diskutieren, vielmehr geht es mir - wie bei den beiden ersten Punkten - um eine kurze Darstellung, damit ich sie gleich auf den Text bertragen kann.

    Das Bibliodrama lebt von der Transformation der in biblischen Texten vorhandenen komponierten Motive und den dramaturgisch ge-

    48

  • Die Bibel- ein Erlebnisbuch

    stalteten Strukturen auf die Erfahrungsebene im Hier und Jetzt. Ge-lingt die Identifikation mit den Interaktionsfiguren des Textes oder vorsichtiger gesagt: Finden sich Rollenspieler, die bereit sind, sich mit den inszenierten Personen des Textes zu identifizieren, kann das Spiel um die Wahrheit beginnen. Es ist eine Wahrheit, die nicht jenseits von Wahrheiten gedacht und geglaubt wird, sondern hchst subjektiv in den einzelnen Rollenspielern geschieht, sich ereignet, als Selbsterfah-rung angenommen wird und Zustimmung im Kreis der Mitspielenden und Beobachtenden findet. Diese gruppenabhngige, konsensfhige Wahrheit als Selbsterkenntnis wird wieder im Spiegel der Gruppe zur Diskussion gestellt, um womglich am Ende eines langen Prozesses als dialogdefinierter Satz zu einer neuen Lebenserfahrung zu werden, das heit, die Spieler finden in der Gruppe Zustimmung zu ihrer Selbster-kenntnis.

    An dieser Stelle schliet sich der Kreis, und ich kann das Thema dieser Vorlesung wieder aufnehmen und diesen zweiten Punkt zum Ab-schlu bringen. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, warum und wie die Bibel zum Erlebnisbuch wird:

    Komposition der Motive

    Text

    Bibliodrama

    Dramaturgie der inszenierten

    / Rollen

    Im Spiel um die Wahrheit erweist sich die Geistesgegenwart des bibli-schen Textes; denn hier komme ich vor, bin ganz gemeint und heraus-gefordert, riskiere und gewinne mein Ich, mache auf der Beziehungs-ebene Erfahrungen, die zu meiner Lebensqualitt beitragen, mich heil werden und sein lassen in der Begrenztheit meines Lebens. Wer einmal die Faszination des Lebensspiels im Bibliodrama erlebt und erlitten hat,

    49

  • Herbert Ulonska

    sprte das Wehen des Geistes J esu und wurde berhrt von der Begeg-nung mit dem Heiligen im tremens et faszinans.

    Um nicht miverstanden zu werden: Das Bibliodrama verstehe ich nicht als Allheilmittel gegen ein Desinteresse an der Bibel, vielmehr wollte ich aufzeigen, wie die methodischen Entwicklungen weitergegan-gen sind, um mit der Bibel heute noch in einen erlebnisreichen Dialog eintreten zu knnen.

    3. Die Berufung des Petrus: Lk. 5, 1-11

    Ich mchte im folgenden anhand des Textes einige Impulse geben, um an einem konkreten Textbeispiel das zuvor Gesagte so zu verdeutli-chen, da es zur eigenen Weiterarbeit an anderen Texten verhelfen kann.

    3 .1. Die historisch-kritische Rekonstruktion

    Zur Textberlieforung: Eingangs- und Schlumotive unseres Textes fin-den sich bei allen Synoptikern (Lk. 5, 1-3 I Mk. 4, 1-2 I Mt. 13, 1-3a und Lk. 5, 10-11 I Mk. 1, 16-20 I Mt. 4, 18-22).

    Das Epiphanieelement vom wunderbaren Fischzug findet sich bei Lk. 5, 4-9 und Joh. 21, 1-11, hier noch kombiniert mit dem Auferste-hungsmotiv.

    Unser Text basiert also einmal auf der Vorlage in Mk und einem Sondergut des Lk.

    Zur Form: Lk kombiniert zwei Erzhlmuster in einer Geschichte. Ein-mal erzhlt er eine Berufungsgeschichte (vgl. 1. Kn. 19, 19; Jes. 6, 1-8; Ex. 3, 1-11; Apg. 9, 1-9).

    Motive dieser Textsorte sind:

    1. Ruf I Anruf I Antwort 2. Epiphanie I berwltigung I Rechtfertigung/ Verzgerung/Sn-

    denbekenntnis 3. Annahme des Rufes I Zurstung I Abschied 4. Zuspruch I Sendung

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  • Die Bibel- ein Erlebnisbuch

    Zum anderen fgt Lk in den Erzhlzusammenhang ein Epiphaniewun-der ein, das im Kontext der Berufung Initiationscharakter enthlt: vom Fischer zum Menschenfischer.

    Folgende Motive sind zu finden:

    1. Einleitung: Auftreten des Wundertters und der Menge 2. Exposition: Annherung an den Wundertter 3. Mitte: Szenische Vorbereitung

    4. Schlu:

    wunderwirkendes Wort als absurder Befehl Skepsis und Zurckweichen Vertrauensuerung Konstatierung des Wunders berhhung Admiration

    Wir sehen, da sich Lk bei der bernahme seiner Geschichte durchaus an die gngigen Erzhlmuster gehalten hat. So kann ich auch Traditions- und Redaktionskritik zusammenfassen: Lk als Redaktor zweier Geschichten will die Berufung des Petrus besonders herausstel-len (hnlich wie Lukas es spter fr Paulus in Apg. 9, 1-9 jeweils am Anfang einer Mission gestaltet). Er benutzt zwei bekannte Erzhlmu-ster, die er so kombiniert, da an die Stelle der Epiphanie in der Beru-fungserzhlung ein wundersames Vermehrungswunder eingeschoben wird. Geholfen hat ihm bei der Kombination das Menschenfischer-Motiv aus Mk. 1, 17, das schon dort mit dem Ruf in die Nachfolge verbunden ist.

    So endet die kurze historisch-kritische Rckfrage bei der Rekon-struktion der Erzhlabsicht des Lk, wie er sie seinem Gnner Theo-philus {Lk. 1, 1-4) und dessen Gemeinde anhand der Berufung des Pe-trus verdeutlichen wollte.

    3.2. Die Komposition der Motive

    Wir kehren zum Text zurck und betrachten ihn erneut. Drei Motive mchte ich ansprechen:

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  • Herbert Ulonska

    1. auf der Selbsterfahrungsebene die Begegnung mit dem idealisierten Du. Die Projektionen der Allmachts- und Ohnmachtsphantasien auf diese Begegnung lt das Ich klein, bescheiden, gehorsam, abhngig, sndig erscheinen -das idealisierte Du dagegen groartig, selbst bewut, stark und mchtig, allmchtig. Das Du hat das Sagen, das Ich das Ge-horchen. Dem idealisierten, mchtigen Du wird eine wundersame Fisch-, Brot-, Weinvermehrung zugetraut, das Beschenken mit ber-flu, das das kleine Ich in Dankbarkeit annimmt. Folge mir, ich habe die Flle des Heils fr Dich. Heute noch wirst Du mit mir im Paradie-se sem.

    2. auf der sozio-kulturellen Ebene den absurden Befehl. Fische werden bei Nacht gefangen. Es ist schlimm, einen Tag nichts zu fangen. Wo-von wollen wir leben, wenn kein Vorrat besteht und wie bei Sammlern und Jgern aus der Hand in den Mund gelebt wird. Gesammeltes, Ge-fangenes wird verbraucht, verzehrt, und morgen beginnt die Arbeit erneut im Schweie des eigenen Angesichts. Und dann diese ber-schwengliche Flle! Ein solches Geschenkwunder macht die bisherige Arbeit berflssig. Ende der tglichen Nahrungssuche. Auf, ihm nach! Es gibt Greres zu tun: Menschen einladen, in die Nachfolge rufen, aufbrechen aus Gewohntem, verlassen des Vorhandenen, neu anfangen auf bewuterer Ebene, ein anderer werden.

    3. auf der mythologischen Ebene die Begegnung mit dem Heiligen: Ein Schrecken hatte ihn (Simon) ergriffen ber die Flle der Fische (V 9). Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Unheimlich dieser Wun-dertter, gefhrlich eine Begegnung mit ihm. Wer ist denn dieser, da ihm die Fische im Meer gehorchen und sich fangen lassen? Schrecklich, unheimlich, zum Frchten dieser andere. Faszinierend, was der kann. Das mchte ich verstehen, aus der Nhe ansehen, miterleben, dabei sein. Von der Macht mchte ich etwas abhaben, Anteil nehmen, mich beauftragen lassen, Jnger sein.

    Frchte Dich nicht, von jetzt an wirst Du Menschen fangen. Wir haben im letzten Sommer im Seminar versucht, alle drei Motive in einer Komposition zu gestalten. Es war ein spannender Suchproze. Ihn wiederzugeben ist kaum mglich.

    Darum nenne ich die Ergebnisse:

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  • Die Bibel- ein Erlebnisbuch

    1. die Liebe: Sie ist erschreckend und faszinierend zugleich, bedarf der Distanz und Nhe. Lt ohnmchtig, zugleich berreich beschenkt sein. Wer der Liebe begegnet, begegnet dem H