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Unternehmenstrans-formation: Auf das Umfeld kommt es an
Der große Innovationsschub der Digitalisierung liegt erst noch vor uns.
Unternehmen aller Branchen müssen sich neu erfinden, um auch in Zukunft
bestehen zu können. Aus ihrer Projekterfahrung bei digitalen Transforma-
t ionen ziehen drei Strategieberater eine aus dieser Feder überraschende, aber
eindeutige Bilanz: Der Blick wird von den Ideen, den Märkten und der
Technologie auf die Organisation gelenkt. Die durchdachte Gestaltung des
Arbeitsumfelds spielt für den Umsetzungserfolg die größte Rolle.
Ein kleines Gedankenspiel: Machen Sie einen
Zeitsprung zurück ins Jahr 2000. Und ver-
bringen Sie einen hypothetischen Tag mit
den technischen Errungenschaften des frisch ange-
brochenen Jahrtausends. Handy und Internet stehen
natürlich schon zur Verfügung. Aber: kein Smart-
phone oder Tablet, kaum mobiles Web. Twitter,
Face book, Google-Maps, WhatsApp, Netflix? Alles
noch nicht erfunden. Was uns jetzt fast mittelalter-
lich erscheint, ist gerade mal 16 Jahre her und zeigt,
mit welcher enormen Dynamik die digitale Transfor-
mation fortschreitet.
Der Megatrend Digitalisierung hat neue Ge-
schäftsmodelle hervorgebracht, vor allem im Bereich
B2C. Airbnb, Uber, mytaxi, Foodora, Flixbus oder
Amazon Prime – die Liste der neuen großen Player
ist lang. Vertrieb, Verkauf, Service – auch in der old
economy hat die Digitalisierung viele neue Möglich-
keiten entstehen lassen. So nutzen Unternehmen
etwa die Digitalisierung ihrer Vertriebsaktivitäten,
um den Kundenwert signifikant zu steigern – und
dies zu deutlich geringeren Kosten. IBM beispiels-
Prof. Dr. Rainer Strack / Carsten von der Linden / Dr. Susanne Dyrchs
weise bietet B2B-Kunden personalisierte und maßge-
schneiderte Unterstützung und Informationen über
die Plattform „My IBM“. Die Informationen werden
passgenau zur jeweils individuellen Einkaufs- und
Interaktionshistorie konfiguriert.
Exponentielle Dynamik
Das ist längst nicht das Ende der Entwicklung. Denn
technologischer Fortschritt verläuft nicht linear, son-
dern in der Regel exponentiell. Fast jeder kennt die
Analogie aus der Mathematik: Ein indischer Maha-
radscha gewährt dem Erfinder des Schachspiels für
seine Großtat einen Wunsch. Der kluge Mann möchte
ein Reiskorn auf dem ersten Schachfeld, zwei auf dem
zweiten, vier auf dem dritten, acht auf dem vierten
und dann, immer weiter verdoppelt, bis zu mehr als
922 Trilliarden Reiskörnern auf dem letzten Feld.
Die digitale Transformation verläuft mit einer
ähnlichen Dynamik: Anfänglich, quasi in der ersten
Hälfte des Schachbretts, mit überschaubaren Zu-
CORPORATE CULTURE
4 changement!
wächsen. Aus Sicht vieler Forscher hat die Digita-
lisierung nun gerade die zweite Hälfte des Schach-
brettes erreicht. Anders ausgedrückt: Der eigentliche
Digitalschub liegt noch vor uns. Was vor 30 Jahren
als Superinnovation galt, steckt heute in jedem
Smart phone. Behält der von Intel-Gründer Gordon
Moore formulierte Satz über die Entwicklung von
Rechnerleistung seine Gültigkeit, stehen uns in
15 Jahren Computer mit der Rechenleistung des
menschlichen Gehirns zur Verfügung.
Scheinbarer Vorteil der Start-ups
Was sind die Folgen dieser disruptiven Entwicklung
für Unternehmen? Die scheinbaren Gewinner sind
Start-ups. Sie sind hochkonzentriert auf ein einziges
innovatives Geschäftskonzept. Ihre meist junge Be-
legschaft ist nicht nur extrinsisch motiviert – sprich
über Anteile – sondern auch intrinsisch, weil sie an
einem „coolen“ Projekt arbeitet. Ungebremst durch
die Historie einer großen Organisation sind die
Start-ups quasi die Schnellboote in Transformati-
onsmärkten.
Im Umkehrschluss verkörpern die klassischen
Konzerne die großen Frachter. Ihr Kurs lässt sich
nicht ohne Weiteres ändern. So gelang es beispiels-
weise keinem der beiden ehemaligen Versandhan-
delsgiganten Quelle und Neckermann, ihr Geschäfts-
modell der digitalen Transformation anzupassen.
Trotz Infrastruktur, Logistik-Know-how, finanzieller
Ausstattung und Millionen treuer Bestandskunden.
Das Berliner Startup Zalando hingegen wächst – auch
mit Hilfe strategischer Risikoinvestoren – kontinuier-
lich und erzielt einen weltweiten Umsatz von knapp
drei Milliarden Euro, Tendenz steigend.
Die Konzerne nutzen die Dynamik der Start-
Ups aber auch für sich, zuallererst durch Akquisiti-
onen. General Motors investierte Anfang 2016 eine
halbe Milliarde Dollar in den Fahrdienstvermittler
Lyft. Der Uber-Konkurrent arbeitet aktiv an der
Idee von Roboter- Taxis – GM will durch die Akquise
den Anschluss an das Mega-Thema autonomes Fah-
ren halten.
„Wer das Verhalten
seiner Mitarbeiter
grund legend ändern
möchte, muss den
Kontext innerhalb des
Unternehmens
verstehen, um ihn
dann an den richt igen
Stellen entsprechend
umformen zu können.
Mitarbeiter sind der zentrale Ansatzpunkt für eine Unternehmenstransformation.
Diese reagieren auf ihr Arbeitsumfeld, wobei bereits kleine Veränderungen eine große
Wirkung haben können.
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vCORPORATE CULTURE
501 NOVEMBER / DEZEMBER 2016
Menschen verändern Unternehmen
Wie aber können große Unternehmen sich noch stär-
ker aus sich selbst heraus transformieren? Neben Ak-
quisitionen kann nachhaltige Veränderung in einer
Organisation auch anders funktionieren, benötigt
aber viel Aufmerksamkeit und Mut. Zentraler Ansatz-
punkt sind die Menschen, die im Unternehmen arbei-
ten und die Transformation tragen und leben sollen.
Menschen reagieren rational auf ihr Umfeld, ih-
ren Kontext. Sprich: Das komplexe Gebilde aus Rol-
len, Regeln, Erwartungen und Gewohnheiten, das
unseren Arbeitsalltag ausmacht, bestimmt das be-
obachtbare Verhalten der Mitarbeiter. Wer also das
Verhalten seiner Mitarbeiter grundlegend ändern
möchte, muss den Kontext innerhalb des Unter-
nehmens verstehen, um ihn dann an den richtigen
Stellen entsprechend umformen zu können (siehe
Abbildung rechts). Die notwendigen Maßnahmen
sind oftmals völlig undramatisch, das Erkennen des
wunden Punkts dagegen schon schwieriger.
Kleine Kontextveränderung mit großer Wirkung
Ein großes Industrieunternehmen hatte Probleme
beim Recruiting – trotz sehr vieler Bewerber
und attraktiver Konditionen. Es dauerte einfach
alles zu lang, viele der Wunschkandidaten
sagten zudem oft unvermittelt ab. Die beteiligten
Akteure: die zuständige Fachabteilung und ein
Shared Service Center. Zur Qualitätskontrolle
wurde jeder Kontakt zwischen diesen Abteilun-
gen, der außerhalb des Regelprozesses stattfand,
protokolliert.
Genau hier lag das Problem. Eine Maßnahme, die
eigentlich die Qualität verbessern sollte, führte
ins Gegenteil. Die Mitarbeiter im Shared Service
Center fürchteten, sich bei Rückfragen direkt
an die Fachabteilung zu wenden, eben weil jede
Anfrage als Ausnahme des Regelprozesses (und
damit auch als eine Art Fehler) protokolliert wur-
de. Dadurch blieben aber viele Fragen hinsicht-
lich eines individuellen Vorgehens pro Kandidaten
unbeantwortet. Nachdem die Protokollnotizen
abgeschafft wurden, verbesserte sich die Leistung
in der Rekrutierung merklich – einfach durch
eine kleine Kontextveränderung.
BEISPIEL
Sieben Dimen sionen bestimmen die
Orga nisationskultur
2. Personalentwicklung
3. Performance-Management
4. Informelle Beziehungen
5. Organisationsdesign
6. Ressourcen & Tools
7. Werte & Vision
1. Führung
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6 changement!
Modernes Arbeiten
Gerade Mitarbeiter, die an Schlüsselstellen der digi-
talen Transformation arbeiten, brauchen ein Umfeld,
das diesen Wandel unterstützt. Top-Down-Ansagen
à la „Wir erwarten Motivation und innovative Ideen“
reichen nicht. Das Arbeitsumfeld – und dazu gehört
auch das Verhalten der Führungskräfte – muss dies
nicht nur erlauben, sondern fördern.
Das ist leichter gesagt als getan. Denn es bedarf
eines kritischen und unvoreingenommenen Blickes,
um die kleinen Kontextmerkmale im eigenen Un-
ternehmen, den Abteilungen und Teams zu erken-
nen und verlässlich einzuordnen. Informationen
über das, was im Unternehmen wirklich abläuft,
spielen hier eine wesentliche Rolle. Nicht selten ist
das Management tatsächlich von vielem isoliert. Es
gibt unterschiedliche Wege dem entgegenzuwirken.
Das können räumliche Gegebenheiten sein, etwa
die Abschaffung von Ein-Mann-Büros – auch für
Führungskräfte.
Hinsichtlich des Wandels zu modernen Arbeits-
methoden, die eine Transformation unterstützen,
kann man viele Wege gehen: flexible Arbeitszeit-
konzepte, offene Räume, die einen permanenten
Austausch möglich machen, Design-Thinking-Ses-
sions und modernes Projektmanagement mit agilen
Sprints als Alternative zum hierarchisch getriebenen
Top-down, Auszeichnungen von agilen Rollenvorbil-
dern sowie eine offene Fehlerkultur.
Eine zentrale Stellgröße für die Gestaltung des
Kontextes ist der Freiheitsgrad, den die Belegschaft
in ihrem Arbeitsumfeld subjektiv empfindet. Wenn
Mitarbeiter etwa mitbestimmen können, an wel-
chen Projekten sie arbeiten, steigert das nachhaltig
die Zufriedenheit. Beim Thema Präsenzpflicht kann
das Management ebenfalls große Spielräume aus-
nutzen, um den Kontext der Belegschaft im eigenen
Sinne auszugestalten. Das zeigt auch das untenste-
hende BEISPIEL.
Prof. Dr. Rainer Strack
ist Senior Partner
bei der Boston
Consulting
Group und leitet
weltweit das
Personal thema
bei BCG
Carsten von der Linden
ist Principal bei
der Boston
Consulting Group
Dr. Susanne Dyrchs
ist Projektleiterin
bei der Boston
Consulting Group
Kontextgestaltung ist Managementaufgabe
Die kontinuierliche Beschäftigung mit dem Kontext
ist eine Managementaufgabe. Denn die Führungskraft
ist Gestalter der Lebensrealität der Mitarbeiter. Dazu
gehört es auch, Veränderungen nicht nur zu diktieren,
sondern sie vorzuleben. Durch eigenes Verhalten und
durch die Gestaltung eines geeigneten Umfelds.
Die Veränderung dieses Kontextes verlangt Kon-
sequenz und auch den Mut, neue Wege zu gehen, alte
Traditionen und Arbeitsweisen – manchmal radikal –
aufzugeben. Die etablierten Unternehmen müssen
sich neu denken. Werden sie in der zweiten Hälfte des
Schachbretts mit ihren heutigen Arbeitsweisen beste-
hen können? Oder laufen sie Gefahr, eines Tages die
Dinosaurier der Wirtschaft gewesen zu sein?
Daimler / Hubspot
Daimler hat gerade erst allen Mitarbeitern das Recht eingeräumt, mobil zu arbeiten – wenn es die Tätig-
keit zulässt. Dann dürfen die Beschäftigten Zeit und Ort für ihre Tätigkeit selbst wählen. Was zählt, ist
das Ergebnis. Das Online-Marketing-Startup Hubspot geht noch einen Schritt weiter und offeriert seinen
Angestellten die totale Urlaubs-Freiheit: Freie Tage, so oft und so viel man will – und die bezahlt. Das
Kalkül, dass Mitarbeiter ihre Möglichkeit der Freiheit schätzen, ohne diese jedoch auszunutzen, scheint
aufzugehen: Die Unlimited-Vacation-Regel ist bei Hubspot seit nunmehr sechs Jahren in Kraft.
„Gerade Mitarbeiter,
die an Schlüsselstellen
der digitalen Trans-
formation arbeiten,
brauchen ein Umfeld,
das diesen Wandel
unterstützt. Top-Down-
Ansagen à la ,Wir
erwarten Motivation
und innovative Ideen‘
reichen nicht.
BEISPIEL
CORPORATE CULTURE
701 NOVEMBER / DEZEMBER 2016