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Untervazer Burgenverein Untervaz
Texte zur Dorfgeschichte
von Untervaz
1937
Marschlins - Molinära - Marsöl
Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
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1937 Marschlins - Molinära - Marsöl Gustav Bener in: Rätia - Bündnerische Zeitschrift für Kultur.
I. Jahrgang, Heft Nr. 2 vom Dezember 1937. Seite 79-84.
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S. 79: Benzin- und lippenstiftfreie Wanderungen durch Graubünden
von G. Bener senior
Marschlins - Molinära- Marsöl
"Dem Weisen ist die Ruhe heilig, Nur der Verrückte hat es eilig."
Dieser, unser Rekordzeitalter am treffendsten brandmarkende Spruch, stehe
auf irgendeiner Zürcher Garage ganz am richtigen Platz.
Der zuvorkommende Bahnhofwirt von Landquart begleitete Joggi nach dem
Frühstück durch die Musterwerkstätte der Rhätischen Bahn, die nach dem
Leitgedanken: "Möglichst grosser Nutzeffekt der Arbeitskraft bei möglichst
guter Bezahlung" organisiert ist, dann weiterhin am ausgesuchtesten
Braunviehbestand des Landes auf dem Plantahof, unserer kantonalen
Landwirtschaftlichen Schule, vorbei bis an die Fahrwegabzweigung nach
Marschlins.
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"Nun, Joggi, wie warst du mit deinem ersten Nachtquartier im teuren
Bündnerland zufrieden?" Da brach die Begeisterung los: "Herrliches Bett für 3
Fr. 50 Rp., reichliches Frühstück für 1½ Fr., und da warnte man mich vor der
Abreise noch vor den Bündner Gasthöfen, das ist wirklich eine
Verleumdung!"
Der immer tätige junge Gutsverwalter von Marschlins führte uns durch die
ganz neu und sehr rationell ein Landwirtschaft, durch den ehrwürdigen Garten
und die ausgedehnten Baumanlagen hinauf zu den Coazischen
Versuchswaldungen beim Maiensäss von wo man eine unvergleichliche
Aussicht auf das Schloss und darüber hinaus bis zu den nächsten Schlössern
und Burgruinen Zizers, Neuenburg bei Untervaz, Wartenstein und
Freudenberg bei Ragaz, ja bis
S. 80: zu dem baulich bewusst beherrschenden Sargans hat, dessen Silhouette dem
dahinter auftürmenden Gonzen ähnlich angepasst scheint wie die des
Schlosses Tarasp der Silhouette des Piz Pisoc und jene des so anmutigen
Klösterchens Claro talaufwärts von Bellinzona dem gleichnamigen Monte
Claro im Hintergrunde.
Wohl das ergreifendste Kapitel in Poeschels Burgenbuch, diesem Kleinod der
neuem Bündner Literatur, ist die Beschreibung, wie der Hohenstaufenjüngling
Friedrich II. aus seinem üppigen Sizilien und Apulien auf Nebenpässen aus
dem Münstertal über die rauhen Alpen eilt, in dem für ihn ärmlichen und
frostigen Chur zum erstenmal den Rhein und den deutschen Teil seines
Weltreiches kennenlernt, und wie er wahrscheinlich den Anstoss gegeben hat
zu der bis heute erhaltenen Grundform dieses an seine süditalienischen
Trutzburgen erinnernden Wasserschlosses, das ihm selbst oder seinem
Vertreter in Rätien einen sichern Hort bieten sollte. Den spätem Bewohnern
und Besitzern des Schlosses ward "des Lebens ungemischte Freude" auch
nicht zuteil, - ein österreichischer Erzherzog, der glaubte, das zerfallende
Gemäuer gehöre ihm, verlieh es um 1460 an die Brandis mit der
ausdrücklichen Verpflichtung, das Schloss wieder aufzubauen. Dennoch
überstrahlt Marschlins die meisten anderen Bündner Schlösser, im 17.
Jahrhundert als Sitz des mächtigen französischen Marschalls Ulysses von
Salis, des Eroberers von Dünkirchen, der gleichen Stadt, vor welcher ein Sohn
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des letzten Salis-Besitzers des Schlosses im Weltkriege als deutscher
Fliegeroffizier fiel, besonders aber Ende des 18. Jahrhunderts unter Minister
Ulysses von Salis, der dort von 1771-1778 als Vorläuferin der Schulen von
Heinrich Pestalozzi, von Jenins und von Reichenau das von Martin Planta und
Nesemann geleitete Philanthropin einrichtete.
Ei sieh! da kommt ja der heutige Besitzer und Verschönerer des herrlichen
Schlossgutes, mein lieber Freund und Couleurbruder. Er ist einer der
erfolgreichsten Wissenschafter und Industriellen unserer Generation, dem
nichts mehr fehlte als das Leben nach dem Geleitspruch, der obenan gesetzt
ist. "Frag ihn nur selbst, ob es ihm nicht ging wie dir gestern."
"Ja, gewiss, Herr Jaques, ohne Marschlins hätte ich es nicht mehr lange
ausgehalten, aber hier kann ich mich in Gut und Wald auch körperlich
angenehm betätigen, esse dann mit Lust und habe den Schlaf des jungen
Turners von ehedem wieder gefunden. Mit einem Wort, hier, abseits des
modernen Verkehrs und der gesellschaftlichen Überbeanspruchung, ist es mir
sauwohl. Sehen Sie die uralten
S. 81: Bäume, die zierlichen blauen Traubenhyazinthen im Baumgarten, riechen Sie
die verschiedenen Harze der Lärchen, Föhren, Schwarz- und
Weymouthskiefern. Die Natur lacht einem direkt ins Schlafzimmer hinein und
die Vöglein singen dazu: O Heimat, o Heimat, wie bist du so schön!"
Der glückliche Schlossherr und seine liebenswürdige Frau Gemahlin zeigten
uns dann noch die historischen, ferner die gesammelten und schliesslich die
mit gutem Geschmack neu eingerichteten Räume ihres als Ganzes prächtig
wirkenden Land- und Ruhesitzes. Die Dankesadressen der Kantonsregierung
und der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft, das Bündner Kulturdenkmal
Marschlins in schwerer Krisenzeit dem Lande zusammengehalten zu haben,
sind wirklich reichlich verdient.
Auf dem autofreien Strässchen, dem ehemaligen Haupttalweg Malans-
Felsenbach-Marschlins-Igis, schlendern wir gemächlich bis zur Kirche Igis,
besehen uns dort die wertvollen Wandmalereien aus vorreformatorischen
Zeiten und die der Zeit entsprechend etwas marmorüberladenen Grabmäler
derer von Salis-Marschlins, dann biegen wir ab nach dem Fusse der Ruine
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Falkenstein, wo die Wiesen immer noch "die Falkensteiner" und ein Flurname
"Zwingwolf" heissen, während über Bewohnbarkeit und Bewohner dieses,
höchstens als Feuerzeichenturm zwischen Chur und Sargans erklärbaren,
schwer zugänglichen Raubvogelhorstes fast nichts mehr bekannt ist.
Botanische Feinschmecker finden, wenn sie Glück haben, in den Falkensteiner
Wiesen die Gelbe hahnenfussähnliche Anemone. -
Das seit fünfzig Jahren anerkennenswert herausgeputzte Zizers, in welchem
für Kräuter- und Pendelkuren ebenso vorzüglich gesorgt wird wie für
hilfsbedürftige Kinderchen und ausgediente katholische Kilchherren, lassen
wir talseits liegen und bummeln längs dem Vögelparadies am alten Talweg
durch den "Rappagugg", dessen Name an die Galgenstätte erinnert, nach der
bischöflichen Musterlandwirtschaft Molinära. An diesem Vogelreichtum hätte
wohl sogar mein Kommilitone Schmidt in Rothenbrunnen, einer der besten
Bündner Ornithologen unserer Tage, der seit Jahrzehnten den Vogelflug durch
den Engpass von Rotenbrunnen-Rhäzüns genau beobachtet und
wissenschaftlich bearbeitet, seine helle Freude.
Nun, mein lieber Joggi, wagen wir einen Bittgang zu dem urchigen Berner
Verwalter der Molinära, um ein Glas seines aus gezeichneten Mostes, den er
für rekognoszierende Offiziere wie für andere durstige Kehlen gleich gerne
spendet. Seit 679 Jahren gehört
S. 82: das Molinäragut dem Bischof von Chur. Laut Urkunde vom 15. Juli 1258
verkaufte Graf Johann Peter zu Mesax seine von den Belmontern geerbte Burg
Aspermont mit dem Hof Molinära und der Alp (seither Fürstenälpli genannt)
an "unsern Öhem", den Bischof Heinrich IV. von Chur. Ein Nachfahre des
Käufers muss eine solche Freude an diesem Sitze gehabt haben, dass er ihn
mit seinem fürstbischöflichen Wappen schmückte, und zwar nicht nur das
Haus, sondern auch das für zirka 18'000 m Rebland genügende niedliche
Törkelchen, was ich besonders nett finde. Hier oben Alt-Aspermont und dort
drüben auf dem linken Rheinufer die Neuenburg, nur 2 km entfernt, bilden die
Kluppe, in welcher aller Zu- und Abschub militärischer wie ziviler Art
kontrolliert oder auch abgefangen werden konnte.
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In diese Kluppe geriet der österreichische Mordbrenner und Wortbrecher
Baldiron 1622 wie der österreichische noblere Kriegsmann Auffenberg 1798.
Mein Freund Joggi hielt offenbar nicht so sehr auf historische
Randbemerkungen wie auf den süffigen Most und den guten Käs, die er in
ansehnlichen Mengen verschlang. Der gastfreundliche Molinärakommandant
geleitete uns noch bis in das dornröschenähnliche Trimmiser Stück des alten
Landweges, von dem man auf die wohlgepflegten "Türkenläubler"-Weinberge
an der "Rüfe" hinunter wie an die weitbekannte "Costamser"-Rebhalde hinauf
schielt, nicht ohne ein wehmütiges trockenes Zusammenziehen im Halse zu
verspüren. Von der ehemaligen Burg Trimons zeugt höchstens noch die uralte
Eibe, die malerisch wie über einen Grabstein vom Schlossfelsen
herunterhängt. Merkwürdig, wie oft gerade in der Nähe mittelalterlicher Burg-
stellen sich Einzelexemplare oder kleine Bestände von Taxus bacata noch
erhalten haben, wie hier auch unter Bernegg im Calfreisertobel, unter Belmont
im Flimser- unter Lagenberg im Sagenserwald, bei Jörgenberg und im
Bereiche der Herrschaft Greifenstein, die grössten Strünke bei der heutigen
Station Stuls, einer derselben von mehr als 1½ m Umfang.
Joggi, jetzt schau dir einmal das Scaläratobel näher an, das ist, wie der
Illgraben gegenüber dem Städtchen Leuk im Wallis, der Verdammungsort für
alle ruhelosen Sünder, Scalära allerdings bloss nach dem alten Vers:
"Nur Churer sind so nobel,
Zu kommen in das Tobel...
Und diesen guten Glauben
Soll uns kein Beisäss rauben."
S. 83: So ein Ruheloser wärst du wahrscheinlich auch geworden, wenn du die
Ferienerholung nach deinem Programm weiter gesucht. Wir hätten auch in
unserm vielgepriesenen Land der 150 Täler und der 1500 Töbel nicht mehr
genug Töbel, um alle ruhelosen Benzin- und Lippenstiftgeister mit und ohne
Geist unseres "Tempo-Tempo-Zeitalters" für ihre irdische Unrast versorgen
und büssen zu lassen. Wie in Poseidons Fichtenhain, tritt er in frommem
Schauder ein in den wohlgepflegten Fürstenwald, ebenfalls dem Bistum Chur
gehörend, hart neben der Scalära, der Inbegriff von Ruhe und Erhabenheit,
wie ein Park nimmt er dich auf.
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Du kannst darin die Rehe des Wildasyls belauschen, oder nach den paar
Stöcken weisser Erika suchen, stundenlang bietet dir dieser Wald Erholung
und Rückkehr zur Natur, trotzdem er nur Dreiviertelstunden vor den Toren
des bündnerischen Hauptstädtchens liegt.
Wir Bündner Hinterwäldler, wie ihr Miteidgenossen uns gerne nennt, tun zwar
auch unsere Pflicht den Mitmenschen gegenüber, das beweisen dir die
stattlichsten Gebäude, an welchen wir jetzt vorbei kommen: dort draussen das
städtische Waisenhaus mit grossem Landwirtschaftsbetrieb, daneben das
behäbige Bürgerasyl für alte Leute einfacherer Verhältnisse, hier vor uns die
grosse kantonale Irrenanstalt, ebenfalls mit grosser Landwirtschaft, unten an
der Strasse die Erziehungsanstalt für zurückgebliebene Kinder. Hart an die
Astalt Waldhaus stösst die hochherzige Schenkung Arlibon, in welcher das
Kantons- und Regionalspital, das gerechter "Churer Spital der Stifter
Cadonau, Herold, Allemann" heissen sollte, zurzeit im Bau ist Oben
anschliessend folgt das kantonale Frauenspital Fontana, ebenfalls ein
Vermächtnis aus ägyptischem Baumwollvermögen wie der Plantahof bei
Landquart, der Allemannanteil des Regionalspitals und das Altersheim
Rigahaus an der Masanserstrasse für alleinstehende alte Leute, die etwas
höhere Ansprüche machen. An der Loestrasse, benannt nach einem weitern
grossen Wohltäter, schliesst das Kreuzspital des Ingenbohl-Mutterhauses den
Kranz dieses schön und gesund gelegenen grossen Bündner
Wohlfahrtsquartiers.
Joggi war seltenerweise wieder einmal stumm geworden. So hatte er sich
seinen Einmarsch in das Bären- und Gletscherland Graubünden denn doch
nicht vorgestellt. Durch einen kleinen Unterhaltungstrick brachte ich ihn noch
an den pietätvoll gepflegten letzten Rebengärten des in der Nordostschweiz
begehrten und beliebten "Churer Schiller", des sogenannten "Obersten
Rheinweins" vorbei über die Bondastrasse und den Waldweg zur
Orientierungstafel am untern
S. 84: Haldenpavillon im Bereiche der St. Luzi-Weinlagen. Ihm imponierte vor
allem der Marsöl mit den übrigen Hofbauten, der Hofkellerei, der Kathedrale,
Sankt Martin, dem originellen Rathausdach, auf dem auch die grössten Sünder
der Stadtverwaltung den Anlauf zur Himmelsfahrt gewinnen können.
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Erst in dem Urtyp der vielen Bündnerstübchen, welche in den letzten
Dezennien von Chur, Sankt Moritz, Davos bis Zürich, Bern, ja sogar bis Paris
entstanden sind, wohin er sein Köfferchen vorausgeschickt, löste ihm der
Veltliner bei Gerstensuppe und Beinwurst seine Zunge zu einem:
"Hergott, war das schön, friedlich und ruhig! Bei euch möchte ich länger als
nur acht Tage rasten!"
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Bener Gustav, (1873-1946) von Chur. Sohn des Peter Jacob, Ratsherrn und
Mitbegründers der Graubündner Kantonalbank. Bauingenieurstudium am
Polytechnikum Zürich. 1899-1911 Bauführer bei der RhB, 1911-14
Oberingenieur beim Bau der Chur-Arosa-Bahn, 1914-18 deren Betriebsleiter.
1918-36 Direktor der RhB. Verwaltungsrat der Schöllenenbahn 1918-36, der
SBB 1924-38 und der Furka-Oberalp-Bahn 1925-36. Oberst,
Militäreisenbahndirektor 1926-33. Präs. des Bündner Ingenieur- und
Architektenvereins und der Propagandakommission der Bündner.
Verkehrsvereine, Vorstand der Schweiz. Verkehrszentrale. Initiant versch.
Projekte zur wiss. Erforschung Graubündens, u.a. des Naturhist. Museums
Chur und der dem Kt. Graubünden gewidmeten Bände der Buchreihe "Die
Kunstdenkmäler der Schweiz". (mehr siehe Historisches Lexikon der Schweiz)
Internet-Bearbeitung: K. J. Version 08/2015
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