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Unzureichende kommunale Finanzausstattung als Ausdruck einer Krise des Finanzausgleichssystems? Zum aktuellen Konflikt um die institutionelle Ausgestaltung des Kommunalen Finanzausgleichs in Nordrhein-Westfalen Thomas Döring Gliederung 1 Einführung in die Problemstellung: Kommunale Selbstverwaltung und angemessene Finanzausstattung als Streitthema zwischen Land und Kommunen 2 Grundlegende institutionelle Gestaltungsprinzipien eines Finanzausgleichssystems aus finanzwissenschaftlicher Sicht 2.1 Zum ökonomischen Grundverständnis des Finanzausgleichs: Der Vorrang von Effizienz- vor Verteilungsfragen 2.2 Zielsetzungen und Besonderheiten des Finanzausgleichs auf kommunaler Ebene 3 Ökonomische Bewertung der Forderung nach institutioneller Absicherung einer kommunalen Mindestfinanzausstattung 3.1 Zur Zweckmäßigkeit einer kommunalen Mindestfinanzausstattung 3.2 Gleichrangigkeit der Aufgaben von Land und Kommunen 3.3 Selbstverwaltungsgarantie und objektive Bestimmung des kommunalen Finanzierungsbedarfs 3.4 Verfahrensorientierte Ansätze einer kommunalen Finanzausstattung 4 Angemessenheit der Berücksichtigung von Soziallasten und mögliche Neutralisie- rungseffekte im Rahmen des nordrhein-westfälischen Finanzausgleichs 4.1 Ökonomische Beurteilung der bestehenden Erfassung räumlich divergierender kommunaler Soziallasten 4.2 Bewertung der Ausgestaltung des Kreisfinanzausgleichs 5 Alternative Maßnahmen zur Reduzierung kommunaler Finanzierungsprobleme Literatur Fachhochschule Kärnten Forschungszentrum für Interregionale Studien und Internationales Ma- nagement (isma), Europastraße 4, A-9524 Villach (Technologiepark), Tel.: +43-5-90500-1238, Fax: -1210, eMail: [email protected].

Unzureichende kommunale Finanzausstattung als Ausdruck einer … · 2010. 7. 28. · rungsgesetz – GFG 2008) eingereicht wurde.2 Den Anlass für die Verfassungsbeschwerde bildet

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  • Unzureichende kommunale Finanzausstattung als Ausdruck einer

    Krise des Finanzausgleichssystems?

    Zum aktuellen Konflikt um die institutionelle Ausgestaltung des

    Kommunalen Finanzausgleichs in Nordrhein-Westfalen

    Thomas Döring

    Gliederung

    1 Einführung in die Problemstellung: Kommunale Selbstverwaltung und angemessene Finanzausstattung als Streitthema zwischen Land und Kommunen

    2 Grundlegende institutionelle Gestaltungsprinzipien eines Finanzausgleichssystems aus finanzwissenschaftlicher Sicht

    2.1 Zum ökonomischen Grundverständnis des Finanzausgleichs: Der Vorrang

    von Effizienz- vor Verteilungsfragen

    2.2 Zielsetzungen und Besonderheiten des Finanzausgleichs auf kommunaler

    Ebene

    3 Ökonomische Bewertung der Forderung nach institutioneller Absicherung einer kommunalen Mindestfinanzausstattung

    3.1 Zur Zweckmäßigkeit einer kommunalen Mindestfinanzausstattung

    3.2 Gleichrangigkeit der Aufgaben von Land und Kommunen

    3.3 Selbstverwaltungsgarantie und objektive Bestimmung des kommunalen

    Finanzierungsbedarfs

    3.4 Verfahrensorientierte Ansätze einer kommunalen Finanzausstattung

    4 Angemessenheit der Berücksichtigung von Soziallasten und mögliche Neutralisie-rungseffekte im Rahmen des nordrhein-westfälischen Finanzausgleichs

    4.1 Ökonomische Beurteilung der bestehenden Erfassung räumlich

    divergierender kommunaler Soziallasten

    4.2 Bewertung der Ausgestaltung des Kreisfinanzausgleichs

    5 Alternative Maßnahmen zur Reduzierung kommunaler Finanzierungsprobleme

    Literatur

    Fachhochschule Kärnten – Forschungszentrum für Interregionale Studien und Internationales Ma-

    nagement (isma), Europastraße 4, A-9524 Villach (Technologiepark), Tel.: +43-5-90500-1238, Fax: -1210, eMail: [email protected].

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    1 Einführung in die Problemstellung: Kommunale Selbstverwaltung und

    angemessene Finanzausstattung als Streitthema zwischen Land und Kommunen

    Die über den kommunalen Finanzausgleich gewährte finanzielle Ausstattung für Städte und

    Gemeinden stellt in Nordrhein-Westfalen – wie auch in anderen Bundesländern – ein perma-

    nentes Streitthema zwischen Land und Kommunen dar.1 Seinen aktuellen Höhepunkt hat die-

    ser Konflikt durch die seit Ende 2008 laufende Verfassungsbeschwerde beim Verfassungsge-

    richtshof für das Land Nordrhein-Westfalen erreicht, die vom Kreis Recklinghausen und sei-

    nen zehn kreisangehörigen Städten gegen das Gesetz zur Regelung der Zuweisungen des

    Landes an die Gemeinden und Gemeindeverbände im Haushaltsjahr 2008 (Gemeindefinanzie-

    rungsgesetz – GFG 2008) eingereicht wurde.2 Den Anlass für die Verfassungsbeschwerde

    bildet die prekäre Finanzsituation der genannten Kommunen, die im Vergleich zu den übrigen

    Kreisen und Gemeinden des Landes Nordrhein-Westfalen durch eine unterdurchschnittliche

    Steuerkraft (2008: 68,5 %), deutlich über dem Durchschnitt liegenden Pro-Kopf-Ausgaben

    insbesondere im Sozialbereich (2008: 456,8 Euro im Vergleich zu 369,7 Euro) sowie weit

    überdurchschnittlichen Kassenkrediten pro Kopf (2008: 1659,6 Euro im Vergleich zu 351,2

    Euro) gekennzeichnet ist. Mit der Verfassungsbeschwerde verbindet sich vor diesem Hinter-

    grund der Vorwurf, dass das GFG 2008 die Vorschriften der Landesverfassung über das

    Recht der kommunalen Selbstverwaltung insofern verletze, wie die über den kommunalen

    Finanzausgleich bereitgestellten Zuweisungen nicht zu einer Überwindung der krisenhaften

    Haushaltsituation des Kreises Recklinghausen und seiner Städte beitragen.

    Die institutionelle Grundlage für die Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleichs in

    Nordrhein-Westfalen liefern die Regeln der Landesverfassung, die – neben dem Verweis auf

    das kommunale Selbstverwaltungsrecht (Art. 78 Abs. 1 LV) – den Landesgesetzgeber zur

    Durchführung eines entsprechenden Finanzausgleichs verpflichten. In Art. 79 LV heißt es

    hierzu im Wortlaut: „Die Gemeinden haben zur Erfüllung ihrer Aufgaben das Recht auf Er-

    schließung eigener Steuerquellen. Das Land ist verpflichtet, diesem Anspruch bei der Gesetz-

    gebung Rechnung zu tragen und im Rahmen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit einen

    übergemeindlichen Finanzausgleich zu gewährleisten.“ Die Konkretisierung dieser allgemei-

    nen verfassungsrechtlichen Vorgabe erfolgt in Gestalt des Gemeindefinanzierungsgesetztes

    (GFG), welches für das jeweilige Haushaltsjahr die finanziellen Zuweisungen des Landes an

    die Kommunen festlegt. Die genannten landesverfassungsrechtlichen Regelungen in Verbin-

    dung mit dem jeweiligen Gemeindefinanzierungsgesetz bilden somit gemeinsam den norma-

    tiven Rahmen („rules of the game“) zu Bestimmung der finanziellen Ausstattung der Kom-

    munen des Landes. In Anbetracht dessen zielt die aktuelle Verfassungsbeschwerde nicht al-

    lein auf das GFG 2008, sondern zugleich auch auf die finanzverfassungsrechtlichen Regeln

    als solche. Dies drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass die Kritik am GFG 2008 mit der For-

    derung nach einer verfassungsrechtlichen Absicherung einer „aufgabenangemessenen Finanz-

    ausstattung“ bzw. einer „finanziellen Mindestausstattung“ von Städten und Gemeinden ver-

    knüpft ist, um die sowohl in der Landesverfassung als auch im Grundgesetzt verankerte

    kommunale Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG) zukünftig besser gewährleisten zu

    können.

    Im bestehenden föderativen System setzt die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung ein

    hinreichendes Maß an dezentraler Finanzautonomie voraus. Die Bewältigung der den Kom-

    munen im Rahmen der föderalen Zuständigkeitsverteilung zugewiesenen Aufgaben ist ohne

    eine entsprechende Ausstattung mit finanziellen Mitteln nicht möglich. Diese grundlegende

    1 Siehe hierzu etwa Anton/Diemert (2008, S. 46ff.) oder Städtetag Nordrhein-Westfalen (2009). 2 Siehe Begründung der Verfassungsbeschwerde mit Schriftsatz vom 19.12.2008 im verfassungsge-

    richtlichen Verfahren VerfGH 32/08.

  • 3

    Einsicht spiegelt sich bereits in Art. 28 Abs. 2 GG, wonach den Gemeinden und Gemeinde-

    verbänden das Recht gewährleistet sein muss, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemein-

    schaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln“. Und weiter heißt es:

    „Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Ei-

    genverantwortung“. Dieser im Rahmen der Grundgesetzänderung von 19943 hinzugefügte

    Satz stellt nicht allein die verfassungsrechtliche Grundlage für die Zuweisung eigener Steuer-

    hoheiten an die kommunale Ebene durch den Bundesgesetzgeber dar. Er ist zugleich auch die

    grundgesetzliche Basis einer garantierten (vertikalen) Zuweisung von finanziellen Mitteln

    eines jeweiligen Landes an seine Kommunen und bildet damit den rechtlichen Bezugspunkt

    für die auf Landesebene bestehenden kommunalen Finanzausgleichssysteme4, deren je kon-

    krete Ausgestaltung der föderalen Finanzautonomie der einzelnen Länder und damit der je-

    weiligen Landesgesetzgebung überlassen bleibt.5

    Die im Grundgesetz festgeschriebene kommunale Selbstverwaltungsgarantie enthält somit

    lediglich eine allgemeine Rahmenvorgabe als Verpflichtung der Länder, für eine angemessene

    Finanzausstattung der Kommunen zu sorgen. Jenseits dessen besteht ein mehr oder weniger

    großer Gestaltungsspielraum bezüglich der konkreten Ausgestaltung der Finanzbeziehungen

    zwischen Land und Kommunen. Zwar enthält Art. 28 Abs. 2 GG zum einen eine zunächst

    weit gefasste Definition des zu finanzierenden Aufgabenkatalogs im Rahmen kommunaler

    Selbstverwaltung, wenn von „allen Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ die Rede

    ist. Der Zusatz „im Rahmen der Gesetze“ beinhaltet hier jedoch bereits eine erhebliche Ein-

    schränkung und macht deutlich, dass es weder eine Garantie bestimmter kommunaler Aufga-

    ben noch eine Bestandsgarantie für die einzelne Kommune gibt. Zum anderen lässt Art. 28

    Abs. 2 GG aber ebenso offen, in welcher Art und Weise der Vorgabe nach „finanzieller Ei-

    genverantwortung“ und damit dem Recht auf kommunale Finanzhoheit Rechnung zu tragen

    ist. Zusätzliche Hinweise enthalten hier die Ausführungen in Art. 106 Abs. 7 Satz 1 und 2

    GG, wonach die Kommunen an den Gemeinschaftssteuereinnahmen eines jeweiligen Landes

    zu beteiligen sind (obligatorischer Steuerverbund) bzw. zudem – freiwillig – an den Landes-

    steuereinnahmen beteiligt werden können (fakulativer Steuerverbund). Danach haben die

    Länder zwar keine Wahl, ein kommunales Finanzausgleichssystem (Steuerverbund) einzu-

    richten, es steht ihnen jedoch frei, in welcher Form dies geschieht. Damit ist grundgesetzlich

    im Wesentlichen lediglich das „Ob“ einer finanzpolitischen Verantwortung der Länder für die

    Finanzen der Kommunen geregelt. Das „Wie“ bleibt demgegenüber nach den grundgesetzli-

    chen Bestimmungen offen. Es obliegt damit den Ländern im Rahmen eigener Regeln die

    grundgesetzliche Ausstattungsgarantie entsprechend zu konkretisieren. Ob dies überwiegend

    durch die Eröffnung eigener Einnahmequellen – was ökonomisch die vorrangige Lösung wä-

    re6 – oder überwiegend durch (allgemeine oder spezielle) Finanzzuweisungen an die Kom-

    munen erfolgt, liegt in der Gestaltungsfreiheit der Länder.7

    Aus ökonomischer Sicht verbindet sich mit der grundgesetzlich vorgegebenen „finanziellen

    Eigenverantwortung“ schließlich ein weiterer Aspekt: So sind zwar als ausgleichsrelevant

    anzusehende Lücken in der Finanzausstattung durch einen vom Land organisierten kommuna-

    3 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27.10.1994, BGBl.. I. 3146. 4 Siehe hierzu etwa Meffert/Müller (2008). Siehe ebenso Reding (1995) oder auch Schwarz (1997). 5 Siehe hierzu stellvertretend Schwarz (1997). Bei Meffert/Müller (2008, S. 7) heißt es hierzu: „Dem-

    nach ist es Aufgabe der Länder, in ihren Verfassungen die grundgesetzliche Ausstattungsgarantie zu konkretisieren. Auf welche Weise dies geschieht, ob überwiegend durch die Eröffnung eigener Ein-nahmequellen für die Kommunen oder vorrangig durch staatliche Finanzzuweisungen, ist den Län-dern weitgehend freigestellt“.

    6 Siehe hierzu etwa Zimmermann (2009, S. 108ff.). 7 Siehe zu diesen Feststellungen auch Henneke (2002, S. 146) sowie Schwarz (1997, S. 25).

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    len Finanzausgleich zu kompensieren. Soweit eine unzureichende Finanzausstattung jedoch

    das Ergebnis autonomer kommunaler Haushaltsentscheidungen ist, sind die damit verbunde-

    nen negativen Folgen jedoch ausschließlich von den für diese Entscheidungen verantwortli-

    chen Kommunen zu tragen. Der Grundsatz der „finanziellen Eigenverantwortung“ als Be-

    standteil der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie enthält somit nicht allein einen durch

    das Land zu deckenden Anspruch auf angemessene Finanzausstattung. Er fordert zugleich

    verantwortungsbewusste Entscheidungen bezogen auf das Ausgaben- und Einnahmeverhalten

    auf der kommunalen Ebene, was nicht zuletzt die Überwälzung von Haushaltsdefiziten ver-

    bietet, die aufgrund unzureichender Wirtschaftlichkeit und mangelnder Effizienz des kommu-

    nalen Verwaltungshandelns entstanden sind.8

    Die Interpretationsbedürftigkeit der dargestellten rechtlichen Grundsätze zur kommunalen

    Selbstverwaltung, aber auch die Entwicklung der öffentlichen Haushalte in den zurückliegen-

    den Jahren, die nicht zuletzt auf allen staatlichen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) durch

    steigende Defizite gekennzeichnet war, haben immer wieder zu Streitigkeiten um die Ange-

    messenheit der kommunalen Finanzausstattung geführt. Während die Kommunen wiederholt

    ihre geringe Finanzausstattung beklagten, um dabei das jeweilige Land sowie den Bund dafür

    allein verantwortlich zu machen, weisen Bund und Länder diese Vorwürfe in aller Regel als

    unzutreffend zurück. Vor diesem Hintergrund ist auch die aktuelle Verfassungsbeschwerde

    gegen das Gesetz zur Regelung der Zuweisungen des Landes Nordrhein-Westfalen an die

    Gemeinden und Gemeindeverbände im Haushaltsjahr 2008 (GFG 2008) einzuordnen. Im

    Kern hat die Begründung der Verfassungsbeschwerde mit Schriftsatz vom 19.12.2008 im ver-

    fassungsgerichtlichen Verfahren VerfGH 32/08 und die zu ihrer Untermauerung angefertigten

    finanzwissenschaftlichen Gutachten9 die drei folgenden Punkte zum Gegenstand:

    Es bestehe eine Situation der „strukturellen Unterfinanzierung“ der öffentlichen Haus-halte auf der kommunalen Ebene (Gemeinden und Gemeindeverbände), die durch die

    Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleichs keine angemessene Korrektur erfah-

    re. Es wird bemängelt, dass die über das GFG 2008 vom Land zur Verfügung gestellte

    Finanzmasse nicht ausreichend sei, um eine im Rahmen der kommunalen Selbstver-

    waltungsgarantie angemessene Aufgabenerfüllung zu gewährleisten.

    Darüber hinaus seien die auf der kommunalen Ebene bestehenden Belastungen der öf-fentlichen Haushalte aufgrund steigender Sozialausgaben angesichts einer nicht hin-

    reichenden Bedarfsmessung innerhalb des kommunalen Finanzausgleichs nur unzurei-

    chend berücksichtigt worden.

    Schließlich wird bemängelt, dass die Ausgestaltung des kommunalen Finanzaus-gleichs mit seinem bestehenden Schlüsselzuweisungssystem zu einer Benachteiligung

    insbesondere jener Kreise führe, die durch hohe Sonderbedarfe gekennzeichnet sind.

    Dies gilt als ein systematischer Mangel, der durch das besondere Zusammenspiel von

    Gemeinde- und Kreisfinanzausgleich – hervorgerufen werde

    Das Schwergewicht der Verfassungsbeschwerde – nicht zuletzt gemessen an den quantitati-

    ven Ausführungen in Beschwerdeschrift und finanzwissenschaftlichen Gutachten – liegt dabei

    auf der zuerst genannten These, die von einer durch das GFG 2008 bewirkten finanziellen

    Unterausstattung der kommunalen Ebene in Relation zu den zu erfüllenden Aufgaben aus-

    8 Siehe grundsätzlich zu den negativen Anreizwirkungen im kommunalen Finanzausgleich auch

    Büttner (2002) und (2003) sowie Baretti (2002). Siehe für eine vergleichbare Argumentation aus rechtswissenschaftlicher Sicht Henneke (2002, S. 146).

    9 Siehe Junkernheinrich et al (2009), Junkerheinrich/Micosatt (2009) sowie Junkerheinrich/Micosatt /Blome (2009).

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    geht. Im Vergleich dazu erfahren die beiden anderen Thesen eine deutlich geringere Auf-

    merksamkeit.10 Anknüpfend an die so vorgenommene Schwerpunktsetzung der Beschwerde-

    führer wird auch im vorliegenden Beitrag das Augenmerk primär auf einer (kritischen) Dis-

    kussion der „Unterfinanzierungsthese“ und der mit ihr – zumindest implizit – verknüpften

    Forderung nach einer (verfassungsrechtlich abzusichernden) kommunalen Mindestfinanzaus-

    stattung gelegt (Kapitel 3), zumal diese Fragestellung über Nordrhein-Westfalen hinaus auch

    für alle anderen Bundesländer von Bedeutung ist. Demgegenüber nachrangig wird die Frage

    einer unzureichenden Berücksichtigung von insbesondere im Sozialbereich bestehenden Son-

    derbedarfen diskutiert (Kapitel 4), da es sich hier um eine landesspezifische Ausgestaltungs-

    komponente des kommunalen Finanzausgleichs handelt. Diesen Überlegungen vorangestellt

    ist eine Betrachtung der grundlegenden Ziele und Gestaltungsprinzipien eines Finanzaus-

    gleichssystems aus finanzwissenschaftlicher Sicht (Kapitel 2).

    2 Grundlegende institutionelle Gestaltungsprinzipien eines Finanzausgleichsystems

    aus finanzwissenschaftlicher Sicht

    Eine aufgabenangemessene Finanzausstattung bildet innerhalb eines föderal organisierten

    Gemeinwesens die notwendige Voraussetzung für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Dies

    gilt nicht allein mit Blick auf die kommunale Ebene, dies gilt ebenso bezogen auf die Ebenen

    von Bund und Ländern. Die Angemessenheit einer Finanzausstattung kann dabei nicht losge-

    löst von der Aufgaben- und Ausgabenverteilung bewertet werden. Aus ökonomischer Sicht

    umfasst ein Finanzausgleichssystem daher immer die Gesamtheit an Regelungen, welche die

    Verteilung von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen zwischen den Ebenen eines föderativen

    Staates mit seinen Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Kommunen) zum Gegenstand ha-

    ben. Ein Finanzausgleichssystem beinhaltet damit zum einen mehr als nur die Verteilung fi-

    nanzieller Mittel, da es auch die Zuordnung öffentlicher Aufgaben regelt. Zum anderen ver-

    bindet sich mit einem solchen System keine finanzielle Gleichstellung aller Ebenen oder ein-

    zelner Gebietskörperschaften. Vielmehr sollen die Einnahmen an jene Ausgaben angeglichen

    werden, die ihrerseits aus der Erfüllung bestimmter vorgegebener Aufgaben resultieren. Die

    Gestaltung der Finanzausgleichsbeziehungen steht damit in einem grundlegenden Spannungs-

    verhältnis zwischen der Effizienz des staatlichen Leistungsangebots einerseits und vertikalen

    wie horizontalen Ausgleichszielen andererseits.11

    2.1 Zum ökonomischen Grundverständnis des Finanzausgleichs: Der Vorrang von

    Effizienz- vor Verteilungsfragen

    Aus Sicht der ökonomischen Theorie des Fiskalföderalismus steht die Lösung eines Optimie-

    rungsproblems im Mittelpunkt der Gestaltung eines Finanzausgleichssystems. Es geht dabei

    um die Frage, wie öffentliche Aufgaben und finanzielle Mittel auf verschiedene Staatsebenen

    aufgeteilt werden sollten, damit eine angemessen Bereitstellung staatlicher Leistungen ge-

    währleistet ist.12 Erst auf dieser Grundlage lassen sich konkrete Finanzausgleichsbeziehungen

    – etwa zwischen Land und Kommunen – innerhalb eines bestehenden föderalen Systems be-

    urteilen. Zu diesem Zweck werden bestimmte Gestaltungsgrundsätze formuliert, die in erster

    Linie allokationstheoretischer Natur sind.13 Bezogen auf die Aufgabenzuordnung sollte eine

    10 So sind in der Begründung der Verfassungsbeschwerde von 76 Seiten allein 55 Seiten der Unterfi-

    nanzierungsthese gewidmet. 11 Siehe hierzu auch Dickertmann/Gelbhaar (1996) oder auch Zimmermann (1983). Siehe für eine

    Zusammenfassung der ökonomischen Sicht auf den Finanzausgleich auch Döring (2005). 12 Siehe grundlegend zur Fiskalföderalismustheorie Musgrave (1959), Pennock (1959), Oates (1972)

    sowie Breton/Scott (1978. Siehe für neuere Beiträge Weingast (2009) oder auch Oates (2005. 13 Siehe als Überblick Kirsch (1984), Postlep (1993) oder auch Wildasin (1996).

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    Zuständigkeitsverteilung unter Effizienzaspekten dabei bekanntermaßen so erfolgen, dass eine

    räumliche Koinzidenz von Entscheidern, Nutznießern und Kostenträgern des öffentlichen

    Güterangebots besteht. Streut der Nutzen staatlicher Leistungen in Abhängigkeit von den

    Bürgerpräferenzen räumlich unterschiedlich stark, ist eine effiziente Versorgung im Sinne

    von auf die Wünsche der Bürger abgestimmter öffentlicher Leistungen nur dann zu erwarten,

    wenn die Zuständigkeitsverteilung sich am Grundsatz der institutionellen Kongruenz orien-

    tiert.14 Eine Erfüllung dieses Grundsatzes spricht in vielen Bereichen der staatlichen Leis-

    tungsbereitstellung für eine weitgehend dezentrale Angebotsplanung, die im Ergebnis zu einer

    räumlich divergierenden Versorgung mit öffentlichen Gütern führt. Zugespitzt ließe sich auch

    formulieren, dass der Vorteil eines Finanzausgleichssystems aus ökonomischer Sicht nicht in

    der Herstellung gleichwertiger oder gar einheitlicher Lebensverhältnisse besteht, sondern in

    der Betonung vorhandener Unterschiede zwischen Gebietskörperschaften, die unter Effizienz-

    aspekten zugelassen und nicht vorschnell durch eine zu stark auf Verteilungs- und Gerechtig-

    keitsziele ausgerichtete Ausgestaltung des Finanzausgleichs nivelliert werden sollten.

    Neben der angemessenen Aufgabenverteilung stellt sich in jedem Finanzausgleichssystem

    auch die Frage nach der zweckmäßigen institutionellen Zuordnung von Ausgaben und Ein-

    nahmen. Aus Sicht der Theorie des Fiskalföderalismus ist eine umfassende Verwirklichung

    der Effizienzvorteile eines föderalen Systems nur dann zu erwarten, wenn auch bezogen auf

    die Ausgestaltung der fiskalischen Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen

    bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Um die aus allokativen Gründen wünschenswerte

    politische Selbst- und Eigenverantwortung – die sich nicht zuletzt auch in der kommunalen

    Selbstverwaltungsgarantie spiegelt – zu stärken, gilt eine Orientierung der Ausgabenzuord-

    nung an der Verteilung der Aufgaben als zweckmäßig. Eine entsprechende Ausgabenzuord-

    nung wird mit der Realisierung des Prinzips der Konnexität gleichgesetzt.15 Nordrhein-

    Westfalen hat mit der Änderung von Art. 78 Abs. 3 LV und mit dem Konnexitätsausfüh-

    rungsgesetz vom 22. Juni 200416 den Übergang zum dualistischen Modell der Finanzverfas-

    sung vollzogen.17 Danach verlangt die Auferlegung bestimmter zusätzlicher Aufgaben für die

    Kommunen, dass das Land gleichzeitig auch eine Entscheidung über die Finanzierung der

    Kosten trifft, um eine angemessen Finanzausstattung der Kommunen zu gewährleiten. Unter

    anderen auf diese Regelung ist es zurückzuführen, dass die gesamten Zuweisungen des Lan-

    des an die Kommunen in der jüngeren Vergangenheit stark angestiegen sind.18

    Die unter Effizienzaspekten geforderte Selbstverantwortung dezentraler Gebietskörperschaf-

    ten (Kommunen, Länder) setzt zudem voraus, dass zusätzlich zur Aufgaben- und Ausgaben-

    autonomie auch eine größtmögliche Einnahme- bzw. Steuerautonomie auf den verschiedenen

    Staatsebenen besteht. Eine hohe finanzielle Selbstverantwortung wird somit als Grundlage

    einer möglichst effizienten Aufgabenerfüllung angesehen. Bezogen auf die Finanzierung

    kommunaler Aufgaben folgt daraus, dass die Zuweisungen aus dem kommunalen Finanzaus-

    gleich aus ökonomischer Sicht einen subsidiären Charakter besitzen, d.h. sie fungieren ledig-

    14 Siehe Olson (1969) oder auch Blankart (2006). Siehe hierzu auch Döring (2001, S. 41ff.). 15 Siehe zum Konnexitätsprinzip und seinen verschiedenen Varianten Geske (1999) oder auch Döring

    (2004). Siehe darüber hinaus auch Müller/Meffert (2006). 16 GV. NRW, Ausgabe 2004, Nr. 23, S. 359-374. 17 Im Unterschied zum dualistischen Modell wird im monistischen Modell den Kommunen lediglich

    eine quantitativ ausreichende Finanzausstattung für den Gesamtbestand ihrer Aufgaben gewährt. Siehe hierzu Meffert/Müller (2008, S. 8). Bis zur Änderung von Art. 78 Abs. 3 LV galt in Nord-rhein-Westfalen das Konnexitätsprinzip bereits als gewahrt, wenn den Kommunen im kommunalen Finanzausgleich ohne konkreten Aufgabenbezug allgemeine Mittel zur Verfügung gestellt wurden.

    18 So hat sich etwa die Finanzausstattung, die das Land den Kommunen insgesamt in den Jahren 2000 bis 2008 zur Verfügung gestellt hat, deutlich positiver entwickelt (+ 17,2 %) als die Steuereinnah-men des Landes (+ 11,4 %) oder die gesamten Landeseinnahmen (+ 13,5 %).

  • 7

    lich als Ergänzung der originären Einnahmequellen.19 Vor allem die Realisierung des institu-

    tionellen Kongruenzprinzips erfordert hierbei eine weitgehende Ausschöpfung der Finanzie-

    rungsmöglichkeiten aus Entgelten (Erwerbseinkünfte, Gebühren, Beiträge) und eigenen Steu-

    ern (Gewerbesteuer, Grundsteuer, örtliche Aufwand- und Verbrauchsteuern), um die Effizi-

    enzvorteile einer dezentralen Aufgabenerfüllung umfassend zum Tragen zu bringen.

    2.2 Zielsetzungen und Besonderheiten des Finanzausgleichs auf kommunaler Ebene

    Der kommunale Finanzausgleich ist eingebettet in das gesamte Regelwerk des Finanzausg-

    leichssystems im Sinne einer funktionsfähigen Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmevertei-

    lung. Aus finanzwissenschaftlicher Sicht sind dabei primär die beiden folgenden Funktionen

    zu erfüllen:

    Eine zentrale Aufgabe des kommunalen Finanzausgleichs besteht in der Erfüllung der fiskalischen Funktion, die auf eine Sicherung bzw. Aufstockung der kommunalen Fi-

    nanzkraft in ihrer Gesamtheit ausgerichtet ist. Wesentliche Zielsetzung ist dabei, die

    „Finanzquellen der Kommunen [zu] ergänzen und subsidiär die Finanzmasse der Ge-

    samtheit der Kommunen so auf[zu]stocken, dass die finanzielle Möglichkeit zu eigen-

    verantwortlicher sachgerechter […] Verwaltungstätigkeit gegeben ist“.20

    Eine weitere zentrale Aufgabe des kommunalen Finanzausgleichs stellt die Erfüllung der redistributiven Funktion dar, die darin besteht, teilweise deutlich ausgeprägte hori-

    zontale Steuerkraftunterschiede zwischen den Kommunen zu mindern.21 Dabei ist

    hervorzuheben, dass ausschließlich interkommunal bestehende strukturbedingte fiska-

    lische Disparitäten ausgeglichen werden sollen, nicht jedoch solche Unterschiede zwi-

    schen den Kommunen, die auf autonom zu verantwortende (und damit eigene finanz-

    politische) Entscheidungen zurückzuführen sind.

    Unter besonderer Berücksichtigung der beiden zentralen Aufgaben – der fiskalischen und der

    redistributiven Funktion – enthält der kommunale Finanzausgleich insofern eine vertikale

    Komponente, als er die Finanzmittelverteilung zwischen der jeweiligen Landesebene und den

    Kommunen eines Landes in ihrer Gesamtheit steuern soll. Darin spiegelt sich der Sachverhalt,

    dass in Deutschland die Kommunen nicht in hinreichendem Maße mit eigenen Einnahmequel-

    len ausgestattet sind (Stichwort: „fiscal gap“) und daher systembedingt ein permanenter Be-

    darf für Zuweisungen seitens des Landes besteht.22 Daneben wirkt der kommunale Finanz-

    ausgleich auch horizontal ausgleichend im Hinblick auf die angemessene Finanzausstattung

    der Kommunen im Verhältnis untereinander. Insgesamt soll auf diese Weise ein möglichst

    gleichmäßiges Niveau öffentlicher Leistungen in den Kommunen eines Landes gesichert wer-

    den. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der durch den Finanzausgleich bewirkte

    Ausgleich zwischen Finanzkraft und Finanzbedarf nicht nivellierend sein sollte.23 Diesbezüg-

    lich kann vor allem auf zwei grundlegende Fehlanreize verwiesen werden: Zum einen verbin-

    det sich mit jedem Transfer- bzw. Zuweisungssystem – so auch mit dem kommunalen Fi-

    19 Siehe hierzu etwa Zimmermann (2009, S. 115ff.). 20 Vgl. Henneke (2002, S. 146). Siehe hierzu ebenso Reding (1995, S. 534) oder auch Schwarz (1997,

    S. 25), der feststellt, dass der „als Komplementärsystem zu den originären Einnahmen anzusehende Gemeindefinanzausgleich […] die kommunale Finanzmasse insgesamt aufstocken“ soll.

    21 Vgl. Schwarz (1997, S. 25). Siehe auch Henneke (2002, S. 146). 22 Allerdings stellt Zimmermann (2009, S. 224) in diesem Zusammenhang auch fest: „Wenn der

    Zweck lediglich darin besteht, der Gemeindeebene insgesamt genügend Mittel zur Verfügung zu stellen, d.h. eine fiskalische Lücke zu vermeiden, so sollte dies an sich überhaupt nicht durch Zu-weisungen, sondern durch vermehrte Einnahmen ‚aus eigenen Quellen‘ geschehen“.

    23 Vgl. Schwarz (1997, S. 26). Siehe hierzu auch Reding (1995, S. 539f.).

  • 8

    nanzausgleich – der Effekt, das notwendige realwirtschaftliche Anpassungen in Gebietskör-

    perschaften (Kommunen) mit wirtschaftlichen Strukturproblemen hinausgezögert werden

    („Moral-hazard-Problem“). Zum anderen lassen sich Transfersysteme auch als eine Art „Bail-

    out-Zusage“ interpretieren, d.h. Gebietskörperschaften mit einer defizitären Haushaltspolitik

    haben aufgrund in Aussicht stehender Transfers einen nur geringen Anreiz zur Haushaltskon-

    solidierung mit der Folge, dass Anstrengungen zur Ausweitung der eigenen Steuer- und Ein-

    nahmekraft nicht im notwendigen Umfang erfolgen. Sowohl die beiden zuletzt genannten

    Punkte als auch die weiten oben genannten allgemeinen Gestaltungsprinzipien eines Finan-

    zausgleichssystems sind bei einer Bewertung der Forderung nach institutioneller Absicherung

    einer kommunalen Mindestfinanzausstattung zu berücksichtigen.

    3 Ökonomische Bewertung der Forderung nach institutioneller Absicherung einer

    kommunalen Mindestfinanzausstattung

    Das Streitthema um eine angemessene Finanzausstattung der Kommunen hat sich über

    Nordrhein-Westfalen hinaus zu einem Dauerbrenner in der finanzpolitischen Auseinanderset-

    zung zwischen Landes- und Kommunalebene entwickelt.24 Bei dem aus kommunaler Sicht

    häufig formulierten Vorwurf einer nur unzureichenden Finanzausstattung steht dabei nicht

    allein die aufgrund geringerer Haushaltsmittel sinkende Lebens- und Standortqualität auf lo-

    kaler Ebene im Vordergrund. In einer den kommunalen Aufgaben nicht angemessenen Fi-

    nanzausstattung wird vielmehr eine Gefährdung des grundgesetzlich verankerten Rechts auf

    kommunale Selbstverwaltung gesehen. Angesichts dessen kann nicht überraschen, dass auch

    mit Blick auf die Verfassungsbeschwerde in Nordrhein-Westfalen dieser Entwicklung von

    Seiten der Kommunen mit der Forderung nach einer institutionellen Absicherung der finanzi-

    ellen Mindestausstattung sowohl im Rahmen der Landesverfassung als auch bezogen auf den

    kommunalen Finanzausgleichs begegnet wurde. Inwieweit das bisherige Fehlen einer solchen

    Absicherung als ein grundlegendes Defizit des bestehenden institutionellen Regelwerks und

    damit als Ursache der krisenhaften Entwicklung der Kommunalfinanzen in Nordrhein-

    Westfalen zu bewerten ist, bedarf aus ökonomischer Sicht jedoch einer genaueren Prüfung.

    3.1 Zur Zweckmäßigkeit einer kommunalen Mindestfinanzausstattung

    Auseinandersetzungen um die Mittelverteilung zwischen den föderativen Ebenen sind kei-

    neswegs neu. Aus Sicht der Finanzwissenschaft wurden diese in der Vergangenheit allerdings

    vornehmlich bezogen auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern betrachtet.25 Grundsätz-

    lich sind die dabei gewonnen Erkenntnisse aber auch auf das Verhältnis zwischen Ländern

    und ihren Kommunen übertragbar. Vor diesem Hintergrund soll hier zunächst die Zweckmä-

    ßigkeit einer kommunalen Mindestfinanzausstattung in Abwägung mit dem Finanzierungsbe-

    darf staatlicher Aufgaben näher betrachtet werden. Aus ökonomischer Sicht ist eine solche

    Abwägung zwingend erforderlich, weil nur auf diese Weise die Opportunitätskosten einer

    kommunalen Mindestfinanzausstattung aufgezeigt werden können. Damit eng verknüpft ist

    die Beantwortung der Frage, wie der Ausgabenbedarf von Land und Kommunen objektiv be-

    stimmen werden kann. In diesem Zusammenhang werden aus rechtswissenschaftlicher Sicht

    häufig auch sogenannte prozedurale Lösungen zur Absicherung der kommunalen Finanzaus-

    24 Siehe zu den nachfolgenden Ausführungen auch Döring (2007). 25 Siehe hierzu bereits das Gutachten zur Einnahmenverteilung zwischen Bund und Ländern der so-

    genannten Tröger-Kommission aus dem Jahr 1966, das hinsichtlich der Charakterisierung der Prob-leme im Bereich der vertikalen Finanzverteilung sowie der diesbezüglich seitens der Wissenschaft verfügbaren Problemlösungsmöglichkeiten nichts an Aktualität verloren hat. Siehe Kommission für die Finanzreform (1966).

  • 9

    stattung (z.B. in Form des Modells einer Finanzverteilungskommission) vorgeschlagen, auf

    die an späterer Stelle noch ausführlicher eingegangen wird.26

    Für eine ökonomisch angemessene Bewertung von Fragen der vertikalen Finanzverteilung ist

    von der grundlegenden Annahme auszugehen, dass eine „angemessene Finanzausstattung“ die

    notwendige Voraussetzung für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben auf jeder staatlichen Ebe-

    ne (und jeder einzelnen Gebietskörperschaft) in einem föderativen System ist und somit –

    neben der Ebene der Kommunen – auch für die Ebene von Bund und Ländern gilt. Die Forde-

    rung als solche kann nicht ausschließlich für die Kommunen erhoben werden. Sie zeigt insbe-

    sondere unter den gegenwärtigen Bedingungen, in denen gewachsene (Ausgaben-)Ansprüche

    auf allen Ebenen des föderativen Systems aufgrund faktisch rückläufiger Einnahmen und da-

    mit allgemein knapper Finanzmittel nicht mehr vollständig befriedigt werden können, keinen

    Ausweg aus dem allseits bestehenden staatlichen Finanzierungsdilemma.

    Aus rechtswissenschaftlicher Sicht wird der Vorschlag zugunsten eines verfassungsrechtli-

    chen Schutzes der kommunalen Finanzausstattung häufig von der Kernthese geleitet, dass

    kommunale Selbstverwaltung eine „unantastbare Mindestfinanzausstattung“ voraussetzt, die

    landesseitig garantiert werden müsse.27 Entsprechend seien in Zeiten knapper Mittel finanziel-

    le Kürzungen nur für einen „Randbereich“ der kommunalen Zuständigkeiten zulässig. Aus

    dieser Annahme wird die Forderung nach einer rechtlichen Absicherung der Mindestfinanz-

    ausstattung abgeleitet. Anderenfalls könnten und würden die Länder durch Mittelkürzungen

    den „unantastbaren Kernbestand“ der kommunalen Selbstverwaltung verletzen und so die

    grundgesetzlich gesicherte kommunale Selbstverwaltung beeinträchtigen. Vor diesem Hinter-

    grund sind die nachfolgenden Ausführungen auf eine ökonomische Kritik der Forderung nach

    einer garantierten kommunalen Mindestfinanzausstattung ausgerichtet.

    Geht man davon aus, dass die landesinterne Organisation staatlicher und kommunaler Aufga-

    ben zentraler Bestandteil der Eigenständigkeit und damit der Finanzautonomie der Länder ist,

    beinhaltet die Forderung nach einer kommunalen Mindestfinanzausstattung aus ökonomischer

    Sicht eine Vorabverteilung von Mitteln an die kommunalen Aufgabenbereiche. Im Ergebnis

    bedeutet dies aber eine Herabstufung in der Wertigkeit der Landesaufgaben, da diese aus dem

    Residuum – nach Vorwegabzug der kommunalen Mindestausstattung – finanziert werden

    müssten.28 Einer derart der politischen Entscheidungsfindung entzogenen Vorabverteilung

    von Mitteln an die Kommunen ist jedoch nur begrenzt mit ökonomischen Überlegungen in

    Einklang zu bringen. Dies gilt zum einen unter einer politökonomischen Perspektive, die zwar

    institutionelle Bindungen in der Verteilung und Verwendung von staatlichen Finanzmitteln

    aufgrund eines latenten Misstrauens gegenüber dem Entscheidungsverhalten politischer Ak-

    teure befürwortet29, deren einseitige Anwendung (hier: nur bezogen auf den Landesgesetzge-

    ber) aber für wenig zweckmäßig zu erachten ist. Dies gilt zum anderen aber auch unter der

    allgemeinen Perspektive einer dynamischen Allokationseffizienz in der Verwendung öffentli-

    cher Mittel.30 Denn unter der realistischen Annahme von sich im Zeitablauf verändernden

    26 Siehe hierzu die Ausführungen im Teilkapitel 3.4 des vorliegenden Beitrags. 27 Siehe hierzu stellvertretend Schoch/Wieland (2004). 28 Vor diesem Hintergrund kann nicht überraschen, dass es parallel zur Diskussion um eine aufgaben-

    angemessene kommunale Finanzausstattung auch eine solche um die „Voraussetzungen einer auf-gabenadäquaten Finanzausstattung der Länder“ gibt. Siehe hierzu Bofinger et al. (2008).

    29 Für eine grundlegende Darstellung politökonomischer Ansätze und deren Anwendung auf den Bereich der öffentlichen Finanzwirtschaft siehe Blankart (2006).

    30 Siehe Musgrave et al. (1994, S. 211f.), die auf eine notwendige Berücksichtigung von unter anderen der „Dynamik der ökonomischen Entwicklung“, der „Entwicklung von Nutzen- und Kostenprofi-len im Zeitablauf“ oder auch der „zukünftigen Nachfrage nach [...] Leistungen“ verweisen.

  • 10

    Bürgerpräferenzen in der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen, aber auch unter der Erfah-

    rung sich stetig wandelnder ökonomischer Rahmenbedingungen und damit verbindender Ge-

    wichtsverschiebungen in den Aufgabenbündeln von Bund, Ländern und Kommunen kann

    eine wie auch immer geartete Vorfestlegung bezüglich der Verwendung der verfügbaren Res-

    sourcen nur als suboptimal bewertet werden. Daraus folgt zugleich, dass die Kommunen kei-

    nen Anspruch auf eine einmal erreichte Finanzmittelausstattung bezogen auf die Struktur des

    kommunalen Finanzausgleichs geltend machen können. Weder können die Kommunen ge-

    genüber dem Land einen solchen Anspruch einfordern, noch verfügen die Länder im Verhält-

    nis zum Bund über ein Recht auf den Erhalt eines einmal erreichten finanziellen Status quo.

    3.2 Gleichrangigkeit der Aufgaben von Land und Kommunen

    Mit der zuletzt getroffenen Feststellung im Einklang steht die Einschätzung, dass die Ausei-

    nandersetzung um die relativen Gewichte einzelner staatlicher Aufgabenbereiche zu den ori-

    ginären Aufgaben der Politik zu rechnen ist. Sie muss die Verantwortung für stärkere und

    schwächere Gewichtungen einzelner Politikfelder übernehmen und diese Verantwortung ge-

    gebenenfalls (nach Ablauf der Wahlperiode) auch wieder abgeben. D.h. es ist die Aufgabe des

    Gesetzgebers, die erforderlichen komplexen Einschätzungen, Beurteilungen und Bewertungen

    vorzunehmen und den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem er auf veränderte Rahmenbedingun-

    gen, neue Erkenntnisse und gewandelte Präferenzen bei der Regelung der vertikalen Finanz-

    mittelverteilung reagiert. Dies gilt umso mehr, wie es neben dem kommunalen Selbstverwal-

    tungsrecht noch zahlreiche andere, gleichwertige „Rechtsgüter“ zu schützen bzw. bereitzustel-

    len gilt (Innere Sicherheit, Bildung, Justiz etc.), so dass der den Kommunen verfügbare finan-

    zielle Spielraum für die Erfüllung von Selbstverwaltungsaufgaben – insbesondere in einer

    Situation sehr knapper finanzieller Möglichkeiten (des Landes) – über die geltenden rechtli-

    chen Bestimmungen hinaus nicht in normierter Form vorgegeben sein kann.

    Bei einem gegebenen Volumen an zu verteilenden Finanzmitteln und einer faktischen Vorab-

    reservierung von Mitteln für kommunale Zwecke könnte der Landesgesetzgeber seine politi-

    sche Entscheidung nur durch Schulden31, zusätzliche Einnahmen und/oder überproportionale

    Einsparungen in anderen landespolitischen Politikfeldern umsetzen. Zugleich würde das Land

    auch weiterhin als „Letztversicherer“ für den Fall (extremer) fiskalischer „Schieflagen“ auf

    der kommunalen Ebene in Anspruch genommen werden. Dies kann jedoch – bei Finanzierung

    staatlicher und kommunaler Ausgaben aus nur einem Einnahmetopf – kaum ernsthaft ge-

    wünscht sein. Die Fragwürdigkeit dieses Vorschlags wird deutlich, wenn man – in einer Art

    Gedankenexperiment – von dem entgegengesetzten Fall ausgeht, dass mittels einer verfas-

    sungsrechtlichen Regelung aus den Einnahmen von Land und Kommunen vorab ein Mittelan-

    teil für staatliche Zwecke, so etwa für den Bereich der Inneren Sicherheit, für Familienpolitik,

    für Bildungs- oder Hochschulpolitik (als Länderkompetenzen), entnommen wird. Dies würde

    zwangsläufig zu einem relativ geringeren Gewicht kommunaler Belange führen. Angesichts

    dessen kann die Forderung nach einer kommunalen Mindestfinanzausstattung als ein Versuch

    bewertet werden, den bestehenden Politik- und Parlamentsvorbehalt in der Gestaltung des

    kommunalen Finanzausgleichs außer Kraft zu setzen und durch einen Vorrang der Kommu-

    nen gegenüber dem Landtag zu ersetzen.

    31 Mit Blick auf die Schuldenfinanzierung von Landesaufgaben gilt es dabei zudem zu berücksichti-

    gen, dass das Land angesichts der neuen verfassungsrechtlichen Verschuldungsgrenzen (Stichwort: Schuldenbremse) zukünftig noch weniger in der Lage sein wird, etwaige Mehrbedarfe oder Minder-einnahmen durch Kreditaufnahme zu finanzieren. Siehe grundsätzlich zu den im Rahmen der Fö-deralismusreform II beschlossenen neuen Schuldenregeln die Beiträge von Kremer/Stegarescu (2009) sowie Feld/Schnellenbach (2009).

  • 11

    Darüber hinaus ist aus ökonomischer Sicht eine Definition von kommunaler Selbstverwal-

    tung, der zufolge Selbstverwaltung nur durch Verausgabung von Finanzmitteln gewährleistet

    ist, in Zeiten knapper öffentlicher Mittel als nicht sachadäquat einzustufen. Im Gegensatz da-

    zu und aus der Perspektive einer auf den Staat angewendeten Innovationsökonomik32 könnte

    kommunale Selbstverwaltung vielmehr gerade auch als Instrument zu einem kreativen Um-

    gang mit knappen Mitteln genutzt werden.33 Vor diesem Hintergrund sollte sich eine moderne

    kommunale (Selbst-)Verwaltung dem bestehenden Trend zur Privatisierung, Deregulierung

    und Konsolidierung nicht entziehen.34

    Schließlich ist drittens davon auszugehen, dass in einer Gesamtschau von Land und Kommu-

    nen die verfassungsrechtliche Absicherung einer kommunalen Mindestfinanzausstattung

    nichts anderes bedeutet als eine einseitige Verbesserung der kommunalen Haushaltsposition,

    während diejenige des Landes sich verschlechtert. Hierzu wurde bereits von anderen Autoren

    angemerkt: „Aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung folgt indessen nicht, dass den

    Gemeinden und Gemeindeverbänden ein bestimmter und gleich bleibender Bestand an Fi-

    nanzmitteln zur Erfüllung ihrer Aufgaben garantiert ist. Vielmehr kann die Frage der Ange-

    messenheit der kommunalen Finanzausstattung wegen der Gleichrangigkeit der Aufgaben von

    Bund, Ländern und Kommunen nur unter gleichzeitiger Berücksichtigung der übrigen im Fi-

    nanzverbund zusammengeschlossenen Körperschaften und ihrer Aufgaben und Belange be-

    antwortet werden“.35

    In der Summe der genannten Argumente kann festgehalten werden, dass der Inhalt der Ge-

    währleistung einer aufgabenangemessenen Finanzausstattung nicht allein aus Sicht der kom-

    munalen Ebene bestimmt werden kann. Vielmehr ist grundlegend von einer Gleichrangigkeit

    der Aufgaben und Ausgaben von Land und Kommunen auszugehen.36 Diese Feststellung

    steht in enger Verbindung mit dem Problem, dass aus finanzwissenschaftlicher Sicht eine ob-

    jektive Bestimmung der Ausgabenbedarfe von Land und Kommunen – und damit indirekt

    auch eine Abwägung von deren Dringlichkeit – faktisch nicht möglich ist.

    32 Siehe hierzu etwa Blancke (2003, S. 31ff.). Siehe auch Feld/Schnellenbach (2004, S. 259ff.). 33 Mit anderen Worten ausgedrückt, stellt die ständige Forderung nach „mehr Geld“ zur Bereitstel-

    lung von in Quantität und Qualität interkommunal identischer (bzw. standardisierter) Leistungen nur eine Seite der Medaille dar. So verweisen auch Anton/Diemert (2009, S. 46) auf „die Gefahren, die sich durch diese Standardisierung für die kommunale Selbstverwaltungshoheit ergeben“.

    34 Zwar ist diesbezüglich mit Blick auf die gegen das GFG 2008 Beschwerde führenden Städte des Kreises Recklinghausen festzustellen, dass in der Vergangenheit Privatisierungs- ebenso wie Konso-lidierungsanstrengungen unternommen wurden. Eine zusammenfassende Darstellung von entspre-chenden Maßnahmen mit Blick auf die Kommunen des Kreises Recklinghausen findet sich in Junkernheinrich et al. (2009, S. 82ff.). Erstens ist jedoch offen, inwieweit hierbei die bestehenden Potenziale bereits hinreichend ausgeschöpft wurden. Zweitens ist zu kritisieren, dass ein Teil dieser Maßnahmen lediglich der kurzfristigen Einnahmeerzielung unter Vernachlässigung der sich daraus langfristig für die kommunalen Haushalte ergebenden fiskalischen Belastungen diente. Siehe hierzu im Detail Döring et al. (2010, S. 110).

    35 Vgl. Henneke (2000, S. 323). Mit ähnlichem Wortlaut hat bereits der Verfassungsgerichtshof des Landes Rheinland-Pfalz in einem Urteil vom 5. Dezember 1977 zur kommunalen Finanzhoheit und der Aufwendungen für den übertragenen Wirkungskreis festgestellt, dass infolge der „Einbettung der gemeindlichen Finanzhoheit in ein Gesamtgefüge des Lasten- und Finanzausgleichs [...] die Frage der Angemessenheit der kommunalen Finanzausstattung jeweils nur unter gleichzeitiger Be-rücksichtigung der übrigen im Finanzverbund zusammengeschlossenen Körperschaften und ihrer Aufgaben und Belange beantwortet werden“ kann (VGH 2/74). Siehe auch die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen vom 9. Juli 1998 (VerfGH 16/96, 7/97).

    36 Siehe hierzu auch Hardt/Schmidt (1998, S. 49ff.), die in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis kommen, dass „kommunale Aufgaben mit Landesaufgaben ebenso wenig vergleichbar sind wie Landes- mit Bundesaufgaben“.

  • 12

    3.3 Selbstverwaltungsgarantie und objektive Bestimmung des kommunalen

    Finanzierungsbedarfs

    3.3.1 Notwendige Ausgaben und zwingende Ausgabenbedarfe

    Die fehlende Möglichkeit zur Abwägung der Vorrangigkeit von Ausgabenbedarfen von Land

    und Kommunen macht deutlich, dass die Forderung nach einer Mindestfinanzausstattung der

    jeweiligen Kommunen eines Landes auch rein technisch zu erheblichen Umsetzungsproble-

    men führen würde. Der bisweilen in der juristischen Literatur diesbezüglich zu findende Ver-

    weis auf die Rolle der Finanzwissenschaft bei der Operationalisierung des „Konzeptes“ einer

    den kommunalen Aufgaben angemessenen Finanzausstattung ist lediglich ein Kunstgriff, um

    die Tatsache zu verschleiern, dass aus ökonomischer Sicht eine exakte Konkretisierung nicht

    möglich ist.37 Die notwendige Voraussetzung für eine entsprechende technische Umsetzung

    wäre, dass als zwingend anzusehende kommunale Ausgabenbedarfe bzw. als notwendig zu

    bewertende kommunale Aufgaben und Ausgaben objektiv identifiziert werden könnten. Eine

    objektive Quantifizierung solcher „Bedarfe“, „notwendigen Aufgaben und Ausgaben“ etc. ist

    bislang jedoch nicht gelungen und wird absehbar auch in Zukunft nicht gelingen. Alle bis

    dato unternommenen Versuche, in diesem Bereich zu methodisch belastbaren Ergebnissen zu

    gelangen, sind fehlgeschlagen, weil die jeweilige Erforderlichkeits- und Dringlichkeitsbewer-

    tung nicht finanzwissenschaftlich geleistet werden kann. Inwieweit die ökonomische Finanz-

    ausgleichsforschung hier zukünftig – und sei es auch nur in Form einer Annäherung an eine

    solche Quantifizierung – zu neuen und für die Finanzausgleichspraxis verwertbaren Untersu-

    chungsergebnissen gelangt, bleibt bezogen auf den aktuellen Stand des Wissens in diesem

    Bereich abzuwarten.38

    Als exemplarisch für dieses Bewertungsdilemma kann die Umsatzsteuerverteilung zwischen

    Bund und Ländern gelten. Es hat sich dabei in einer Reihe von finanzwissenschaftlichen Gut-

    achten und Publikationen gezeigt, dass die Kategorie der „notwendigen Ausgaben“ (im über-

    tragenen Sinne: die Mindestfinanzausstattung) nicht hinreichend konkretisiert oder gar quanti-

    fiziert werden kann. Der Methodenstreit dauert seit den 1970er Jahren an und ist letztlich kei-

    nen Schritt weitergekommen.39 Aus eben diesem Grund hat auch das „Maßstäbegesetz“ zum

    bundesstaatlichen Finanzausgleich keine über das Grundgesetz hinausgehende Konkretisie-

    rung vornehmen können. Der aus rechtswissenschaftlicher Sicht in diesem Zusammenhang

    formulierte Vorschlag, das Modell des „Maßstäbegesetzes“ auf den kommunalen Finanzaus-

    gleich zu übertragen40, um auf diese Weise zu inhaltlichen Entscheidungsvorgaben bei der

    Bestimmung der den Kommunen zuzuwenden Finanzmittel zu gelangen, muss vor diesem

    Hintergrund als wenig hilfreich bewertet werden. Im Rahmen der ökonomischen Finanzaus-

    gleichsforschung gilt vielmehr uneingeschränkt die Erkenntnis, dass eine Algorithmisierung

    oder Schematisierung der vertikalen Finanzmittelverteilung nicht gelingen kann. Weiterhin

    sind auch die „Begriffe ‚aufgabenangemessene Finanzausstattung‘ und ‚Mindestausstattung‘

    […] empirisch nicht quantifizierbar. Die Ausgabenintensität hängt ab von der Effizienz der

    Aufgabenerfüllung, und im Ländervergleich sind die kommunalen Finanzausstattungen auf

    37 Siehe für entsprechende Verweise in juristischen Beiträgen zum Thema wiederum Schoch/Wieland

    (2004). In einer eher kritischen Sicht siehe hierzu ebenso Dombert (2006, S. 1139f.). 38 Siehe hierzu etwa die verschiedenen internationalen Beiträge in Kim/Lotz (2007). 39 Siehe hierzu Sachverständigenkommission zur Vorklärung finanzwissenschaftlicher Fragen für

    künftige Neufestlegungen der Umsatzsteueranteile (1981). Siehe auch Wolf (1982, S. 251ff.), Wis-senschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (1996), Peffekoven (1999), Wissen-schaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2000) oder auch Institut für Weltwirt-schaft: (2001). Siehe für eine Zusammenfassung der Diskussion Döring (2001, S. 251ff.).

    40 Siehe hierzu etwa Dombert (2006, S. 1142) mit weiteren Literaturnachweisen.

  • 13

    Grund von Unterschieden in der Aufgabenverteilung zwischen Land und Gemeinden kaum zu

    vergleichen“.41

    Dieses Problem lässt sich auch nicht dadurch umgehen, dass „auf in der Betriebswirtschafts-

    lehre entwickelte Verfahren zu den Normkosten der Produkterstellung“42 Bezug genommen

    wird. Eine Bedarfsermittlung mittels der Verwendung entsprechender Kostensätze würde es

    erforderlich machen, die Aufgaben einer jeden Gemeinde exakt zu definieren und die mit der

    Erfüllung dieser Aufgaben verbundenen Kosten zu ermitteln. Dazu wäre im Vorfeld eine poli-

    tische Festlegung entsprechender Ausstattungsstandards erforderlich, was jedoch dem Grund-

    gedanken der kommunalen Selbstverwaltung zuwider laufen würde: „Den unterschiedlichen

    örtlichen Verhältnissen und den politischen Entscheidungen vor Ort könnte dabei nicht Rech-

    nung getragen werden“.43 Oder anders ausgedrückt: Bei einer originären, an objektiven Maß-

    stäben wie den Normkosten ausgerichteten Bedarfsermittlung „müssten im ersten Schritt die

    Aufgaben der einzelnen Kommunen sowie das notwendige Maß der Aufgabenerfüllung fest-

    gelegt werden. Im zweiten Schritt wären dann die mittleren Kosten der Aufgabenerfüllung je

    Aufgabeneinheit (z.B. Kosten pro Meter Kreisstraße) zu ermitteln. Durch Multiplikation der

    beiden Größen würden die Kosten der Aufgabenwahrnehmung jedes einzelnen Aufgabenbe-

    reichs berechnet. Der Finanzbedarf einer Kommune ergäbe sich dann aus der Summe der

    Kosten der Einzelbereiche. Entsprechend würde sich der gesamte Finanzbedarf der kommuna-

    len Ebene aus der Summe der Bedarfe der einzelnen kommunalen Gebietskörperschaften zu-

    sammensetzen. Der Vorteil einer originären Bedarfsermittlung läge darin, dass der Finanzbe-

    darf der kommunalen Ebene unabhängig von der finanziellen Lage des Landes und den zur

    Verfügung stehenden Mitteln bestimmt würde […] Gegen eine originäre, aufgabenbezogene

    Bedarfsermittlung spricht jedoch zum einen, dass sie im eklatanten Widerspruch zum kom-

    munalen Selbstverwaltungsrecht steht. Zum anderen ist die Ermittlung von effizienten (nicht

    von tatsächlichen) Kostensätzen kaum möglich. Schließlich wäre das Verfahren reichlich

    kompliziert“.44

    Aufgrund dieser Problemlage sind die meisten Finanzausgleichssysteme daher einnahme-

    orientiert. In diesem Zusammenhang stellen die im Rahmen einer vergleichenden Analyse

    von Landes- und Kommunalhaushalten häufig verwendeten Parameter (Finanzierungssaldo,

    Schuldenstand, Zinsbelastung etc.) lediglich Hilfskonstrukte dar, auf die zwar angesichts feh-

    lender Alternativen zurückgegriffen wird, die aber aufgrund ihrer „Behelfsmäßigkeit“ immer

    wieder zwischen Land und Kommunen kontrovers diskutiert werden. Auch führt eine auf-

    wendige Dokumentation von überdurchschnittlichen Kassenkrediten, wachsenden Schulden-

    ständen, relativer Steuerschwäche, ansteigenden Erhaltungs- und Sozialausgaben – gepaart

    mit entsprechenden Verweisen auf Vermögensveräußerungen und Konsolidierungsbemühun-

    gen – der Kommunen lediglich zu einer Verschiebung des Grundproblems einer objektiven

    Bedarfsbestimmung, ohne es jedoch methodisch angemessen zu lösen. Aus finanzwissen-

    schaftlicher Sicht mangelt es hier an umfassenden (und damit geeigneteren) Indikatoren zur

    41 Vgl. Seitz (2007, S. 100). 42 Vgl. Junkernheinrich et al. (2009, S. 39). Die weitergehende Feststellung, dass die Anwendung die-

    ser Verfahren „überall, nur im öffentlichen Bereich nicht möglich sei“ in das „Feld persistenter Fehleinschätzungen“ gehöre (ebenda), ignoriert jedoch die Besonderheiten des öffentlichen Sektors im Allgemeinen sowie den Kerngehalt der kommunalen Selbstverwaltung im Besonderen.

    43 Vgl. Bundesministerium der Finanzen (2003). Siehe hierzu auch Meffert/Müller (2008, S. 10f.). 44 Vgl. Scherf (2003, S. 13), der zudem anmerkt, dass dieses Verfahren „seine Vorzüge schnell verlie-

    ren [würde], wollte man sich aus diesem Grund auf nur wenige Aufgabenbereiche beschränken“. Darüber hinaus bliebe strittig, ob angesichts der festgestellten Gleichrangigkeit der öffentlichen Aufgabenerfüllung von Land und Kommunen tatsächlich auf eine Berücksichtigung der finanziel-len Leistungsfähigkeit des Landes bei der vertikalen Einnahmeverteilung verzichtet werden könnte.

  • 14

    Bestimmung der jeweiligen Finanzlage von Land und Kommunen.45 Zweckmäßig wären sol-

    che Indikatoren, die auf empirisch nachgewiesenen Zusammenhängen zwischen bestimmten

    sozioökonomischen Strukturdaten und den Ausgaben von Gebietskörperschaften beruhen.

    Entsprechende Studien liegen bislang jedoch nur in begrenzter Zahl und – was entscheidend

    ist – nur im Bezug auf einzelne kommunale Aufgabenbereiche vor.46 Ebenfalls lediglich

    Hilfskonstrukte bilden die im Rahmen des Finanzausgleichs in der Vergangenheit entwickel-

    ten Verteilungsgrundsätze (z.B. der so genannte Gleichmäßigkeits- bzw. Symmetriegrund-

    satz47 im Verhältnis von Land und Kommunen) oder Verteilungsverfahren (z.B. das De-

    ckungsquoten- oder Deckungslückenverfahren sowie das Ausgabenquotenverfahren im Rah-

    men der Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern48). Letztlich führen jedoch auch

    diese Ansätze zu keiner nachhaltigen Lösung des zugrunde liegenden Problems: Unabhängig

    davon, welche Indikatoren, Grundsätze oder Verfahren praktisch zur Anwendung kommen,

    muss in jedem Fall vorab eine politisch normative Einigung zwischen den betroffenen Akteu-

    ren (Land und Kommunen) darüber herbeigeführt werden, welche Kenngrößen oder Verfah-

    rensregeln zum Einsatz kommen sollen.

    Vor dem Hintergrund der fehlenden Möglichkeit, den Finanzbedarf nach objektiven Kriterien

    nachrechenbar exakt zu bestimmen, muss auch die von Seiten einzelner Rechtswissenschaft-

    ler vorgetragene These als fraglich gelten, dass die Finanzausstattung einer Kommune den

    Anforderungen von Art. 28 Abs. 2 GG dann nicht genügt, wenn nicht wenigstens 5 % oder

    auch 10 % der insgesamt zur Verfügung stehenden Finanzmitteln für freiwillige Selbstverwal-

    tungsaufgaben verwendet werden können.49 Für solche Quotenmodelle zur Bestimmung der

    kommunalen Finanzausstattung gibt es aus ökonomischer Sicht weder eine sachliche noch

    eine methodische Rechtfertigung. Zwar ist mit der finanzwissenschaftlichen Theorie des op-

    timalen Budgets – übertragen auf ein föderativ strukturiertes Gemeinwesen – die normative

    Aussage verbunden, dass das Budget einer Gebietskörperschaft oder einer Gruppe von Ge-

    bietskörperschaften (z.B. das der Kommunen) ausgabenseitig so lange ausgeweitet werden

    sollte, wie der Grenznutzen der Aufgabenerfüllung höher ist als die Grenzkosten der verrin-

    gerten Möglichkeit einer alternativen Bedarfsdeckung durch eine andere Ebene (z.B. der des

    Landes). Unter Anwendung dieses Opportunitätskostenkalküls wäre eine optimale Einnahme-

    verteilung zwischen Land und Kommunen dann realisiert, wenn Grenznutzen und Grenzkos-

    ten der Aufgabenerfüllung auf allen Ebenen ausgeglichen sind.

    Die Umsetzung dieser marginalanalytischen Herangehensweise scheitert jedoch in der Praxis

    nicht – wie bisweilen behauptet50 – am damit verbundenen erheblichen Informationsbedarf.

    Vielmehr führt die konsequente Anwendung der Theorie des optimalen Budgets zu der

    Schlussfolgerung, dass unter der (realistischen) Bedingung unterschiedlicher Mittelverwen-

    dungspräferenzen auf den verschiedenen Gebietskörperschaftsebenen (d.h. zwischen Land

    und Kommunen) ein eindeutiges (optimales) Finanzverteilungsmuster nicht mehr abgeleitet

    45 Siehe stellvertretend für diese Feststellung Schwarting (2006, S. 130). 46 Siehe für die Ermittlung entsprechender Indikatoren in ausgewählten Bereichen der kommunalen

    Aufgabenerfüllung Baretti/Langmantel (2002, S. 5ff.). Siehe auch Büttner et al. (2008, S. 92ff.), Baretti (2000, S. 5ff.) sowie Parsche et al. (1998, S. 31ff.).

    47 Siehe zur Erläuterung diese Grundsatzes Junkernheinrich/Micosatt (1998, S. 13ff.). 48 Siehe zur Erläuterung der beiden genannten Grundsätze einschließlich der damit verbundenen

    Probleme Wolf (1982, S. 251ff.). Siehe hierzu auch Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministe-rium der Finanzen (1996, S. 21ff.) sowie Döring (2001, S. 251f.).

    49 Siehe Schoch/Wieland (1995, S. 81f.) oder auch Schoch (1997, S. 353f.). Siehe zum Quotierungs-modell auch die Ausführungen bei Henneke (2000, S. 323).

    50 Siehe für diese Einschätzung etwa Junkernheinrich (2003).

  • 15

    werden kann. Ein entsprechendes Ergebnis kann vielmehr nur auf dem Weg einer politischen

    Einigung bzw. Verhandlungslösung erzielt werden.51

    Aus den genannten Gründen ist das Konzept einer „kommunalen Mindestfinanzausstattung“

    aus finanzwissenschaftlicher Sicht materiell nicht operationalisierbar. In Anbetracht dessen

    kann es nicht überraschen, dass bereits der Bayrische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil

    vom 28. November 2007 (VerfGH 60, 184) zu dem Ergebnis kommt, dass keine Aussage da-

    rüber möglich ist, wann „der kommunale Finanzausgleich sachgerecht ist. Eine solche Aussa-

    ge ist nämlich untrennbar mit politischen Wertungen verbunden. So entscheidet z.B. die

    Kommune selbstverantwortlich über die Höhe von Umlagen, über die zumutbare Höhe der

    Hebesätze bei den Kommunalsteuern, über die Erschließung weiterer Einnahmequellen und

    über mögliche Einsparpotenziale bei der Aufgabenwahrnehmung. Deshalb gibt es […] keinen

    wissenschaftlich messbaren objektiven Finanzbedarf der Kommunen“.52 Die mangelnden

    Möglichkeiten einer objektiven Quantifizierung des kommunalen Finanzbedarfs bedeutet al-

    lerdings keineswegs, dass innerhalb der Finanzwissenschaft nicht dennoch versucht wurde,

    bestimmte (weitere) Kriterien für die Ermittlung einer unzureichenden Ausstattung der kom-

    munalen Ebene mit finanziellen Mitteln zu definieren. Danach kann das Recht auf kommuna-

    le Selbstverwaltung dann als verletzt gelten, wenn die folgenden fünf Punkte vorligen53:

    Die Einnahmepotenziale in Gestalt der originär vorhandenen Steuer- und Finanzkraft einer Kommune sind ausgeschöpft.

    Sämtliche Einsparpotenziale der Kommunen im Rahmen der Aufgabenerfüllung wur-den vollständig ausgeschöpft.

    Die Kommunen sind – jenseits der Wahrnehmung freiwilliger Aufgaben – nicht mehr in der Lage, mit den zur Verfügung stehenden Finanzmitteln die Pflichtaufgaben bzw.

    die übertragenen Aufgaben zu finanzieren.

    Das Land hat zusätzliche Aufgaben an die Kommunen übertragen ohne für eine ent-sprechende zusätzliche Finanzausstattung zu sorgen.

    Das Land hat keine ausreichend starke horizontale Umverteilung zwischen den Kom-munen vorgenommen.

    Auch wenn diese Prüfkriterien aus ökonomischer Sicht ausschließlich kumulativ anzuwenden

    sind, soll nachfolgend auf eine genauere Betrachtung der beiden zuletzt genannten Punkte

    verzichtet werden. Zum einen bezieht sich das Argument der Gewährleistung einer ausrei-

    chend starken horizontalen Umverteilung auf die Ausgestaltung der interkommunalen Vertei-

    lungsrelationen im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs und liegt damit nicht im Fo-

    kus der hier im Zentrum stehenden vertikalen Finanzmittelverteilung zwischen Landes- und

    Kommunalebene.54 Zum anderen wurde bezogen auf die Übertragung von zusätzlichen Auf-

    51 Siehe hierzu grundlegend Samuelson (1955, S. 350ff.). Siehe auch Mackscheidt (1973). In diesen

    Kontext ist auch die Aussage von Münstermann (2003, S. 134) einzuordnen: „Wer sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, einer gewissen Scheinrationalität das Wort zu reden, muss akzeptieren, dass es dabei [der vertikalen Finanzmittelverteilung – T.D.] einen deutlichen Primat der Politik gibt“.

    52 Vgl. Bayerischer Landtag (2009, S. 9). 53 Siehe hierzu auch Döring (2010, S. 254). 54 Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage, inwieweit es sowohl bezogen auf die fiskalische als auch die

    redistributive Funktion des kommunalen Finanzausgleichs zweckmäßig ist, einerseits die zur Verfü-gung stehende Finanzausgleichsmasse durch die Einführung einer Finanzausgleichsumlage zu er-höhen und auf diese Weise andererseits abundante (finanzstarke) Gemeinden in den Prozess der Finanzausstattung finanzschwacher Gemeinden mit einzubeziehen. Siehe hierzu auch Büttner et al. (2008, S. 90) oder Lenk/Rudolph (2003, S. 6).

  • 16

    gaben und damit verbundenen Ausgaben auf die Kommunen mit dem Übergang zum dualisti-

    schen Modell der Finanzverfassung durch die Implementierung des strikten Konnexitäts-

    grundsatzes in der nordrhein-westfälischen Landesverfassung (Art. 78 Abs. 3 LV) ein rechtli-

    cher Schutz der kommunalen Ebene vor der Wahrnehmung von solchen neuen Aufgaben in-

    stitutionalisiert, für deren Erfüllung keine hinreichende Mittelausstattung seitens des Landes

    zur Verfügung gestellt wird. Vor diesem Hintergrund sind die weiteren Überlegungen auf die

    drei erstgenannten Punkte konzentriert, wobei zunächst der Frage nachgegangen werden soll,

    inwieweit die (Nicht-)Erfüllung freiwilliger Aufgaben aus finanzwissenschaftlicher Sicht ein

    notwendiges Kriterium für die Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung darstellt.

    3.3.2 Erfüllung pflichtiger und freiwilliger Aufgaben

    Im Rahmen der Kritik am bestehenden kommunalen Finanzausgleichssystem in Nordrhein-

    Westfalen wird als vermeintlicher Beleg für die Behauptung einer strukturellen Unterfinanzie-

    rung der Kommunen unter anderen darauf verwiesen, dass Gemeinden und Gemeindeverbän-

    de „über keinerlei Mittel zur Erfüllung freiwilliger Aufgaben mehr verfügen“ (Seite 22 der

    Begründung der Verfassungsbeschwerde). Damit verbindet sich die grundsätzliche Frage, ob

    – und wenn ja – bis zu welchem Grad die Erfüllung freiwilliger Aufgaben einen ökonomisch

    sinnvollen Maßstab für eine unzureichende Finanzausstattung von Kommunen darstellen

    kann. Die Unterscheidung zwischen gemeindlichen Pflichtaufgaben und freiwillig zu erfül-

    lenden Gemeindeaufgaben stellt eine für den deutschen Rechtsbereich spezifische Differen-

    zierung von kommunalen Aufgaben dar, die jedoch weder in allen Bundesländern Anwen-

    dung findet55, noch eine originär ökonomische Unterscheidung darstellt. Wird jedoch zu-

    nächst der rechtswissenschaftlichen Klassifizierung gefolgt, lassen sich nach dem unter-

    schiedlichen Grad der Pflichtigkeit drei Aufgabentypen unterscheiden56:

    Freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben – Bei diesen Aufgaben können die Kommunen über das „Ob“ und das „Wie“ der Aufgabenerfüllung entscheiden (z.B. Sportförde-

    rung, Theater, Orchester, etc.).

    Pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben – In diesen Aufgabenbereichen, zu denen Berei-che wie Schulbau, Gemeindestraßen, Abwasserbeseitigung oder auch Wasserversor-

    gung zählen, müssen die Gemeinden ein Angebot bereitstellen, wobei das „Wie“ je-

    doch weitgehend offen ist.

    Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung – Bei diesen Aufgaben (z.B. Feuerschutz, örtliche Ordnungsbehörde) bestimmt das Gesetz den Umfang des Weisungsrechts, das

    in der Regel jedoch beschränkt ist.

    Anknüpfend an diese Typisierung von Gemeindeaufgaben steht zwar außer Frage, dass die

    Erfüllung freiwilliger Aufgaben allein schon definitionsgemäß den größten Autonomiespiel-

    raum beinhaltet, auch wenn selbst diese Beschränkungen unterliegen.57 Demgegenüber ent-

    halten aber auch die weisungsfreien ebenso wie die weisungsgebundenen Pflichtaufgaben

    unter dem Aspekt der kommunalen Finanzautonomie Gestaltungsfreiheiten, die im Rahmen

    der kommunalen Selbstverwaltung entsprechend genutzt werden können. Betrifft dies im Fall

    55 Siehe hierzu stellvertretend Henneke (2008, S. 64ff.). 56 Siehe zu den nachfolgenden Ausführungen Zimmermann (2009, S. 105f.). Siehe darüber hinaus

    auch Postlep (1993) ebenso wie Schmidt-Eichstaedt (1983). 57 So bestehen in Deutschland eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen (z.B. Sportförderungsge-

    setz, Spielplatzverordnung etc.), die „eine gewisse Normierung der Aufgabenerfüllung nicht nur im Bereich der pflichtigen kommunalen Aufgabenerfüllung bewirken, sondern sogar auch bei den ei-genverantwortlichen kommunalen Aufgaben“ (Postlep 1993, S. 207).

  • 17

    der pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben sowohl die Gestaltung aufgabenbezogener Zweck-

    als auch Verwaltungsausgaben, kann die Kommune im Fall der weisungsgebundenen Pflicht-

    aufgaben auf die Höhe der damit verbundenen Verwaltungsausgaben (maßgeblich) Einfluss

    nehmen. Wenn die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben damit auch über den höchsten

    Grad an kommunaler Gestaltungsfreiheit verfügen, stellen diese jedoch nicht den alleinigen

    Gradmesser für die Realisierung kommunaler Selbstverwaltung dar. Aus ökonomischer Sicht

    steht hier vielmehr der Aspekt der kommunalen Finanzautonomie im Vordergrund, die – be-

    zogen auf die Höhe von Zweck- und Verwaltungsausgaben – für den Bereich der weisungs-

    freien Pflichtaufgaben in vollem Umfang und für den Bereich der weisungsgebundenen Auf-

    gaben zumindest mit Blick auf die Gestaltung der Verwaltungsausgaben gewährleistet ist.58

    Zudem kann die Unterscheidung zwischen pflichtigen und freiwilligen Aufgaben – und damit

    ihre Relevanz als Prüfkriterien für die Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung – auch

    noch in anderer Hinsicht kritisch hinterfragt werden. Wird der Theorie des Fiskalföderalismus

    gefolgt, lassen sich staatliche Leistungen lediglich anhand ihres räumlichen Nutzenstreukrei-

    ses in nationale, regionale und lokale öffentliche Güter unterteilen.59 Unter Effizienzaspekten

    ist dabei einzig von Bedeutung, dass auf der kommunalen Ebene die Bereitstellung jener öf-

    fentlicher Güter erfolgt, die durch eine lokale Heterogenität der Präferenzen und damit einen

    räumlich stark beschränkten Nutzenstreukreis gekennzeichnet sind. Eine Verwirklichung des

    Prinzips der institutionellen Kongruenz setzt hierbei voraus, dass sich die Zuständigkeit für

    die Aufgabenerfüllung am Kreis der Nutznießer ausrichtet und diese gleichzeitig zu deren

    Finanzierung herangezogen werden. Diesbezüglich kann jedoch als nachrangig bewertet wer-

    den, ob die Bereitstellung lokaler öffentlicher Güter freiwillig, halb-freiwillig oder weitge-

    hend pflichtig erfolgt. Mit Blick auf die Praxis ist vielmehr festzustellen, dass das Prinzip der

    institutionellen Kongruenz in weit größerer Zahl im Bereich der pflichtigen Selbstverwal-

    tungsaufgaben als erfüllt gelten kann (z.B. im Bereich der kommunalen Ver- und Entsor-

    gungsleistungen aufgrund der weitgehenden Äquivalenzfinanzierung dieser Leistungen), wäh-

    rend im Bereich der freiwilligen Gemeindeaufgaben dies weit weniger der Fall ist (z.B. bei

    der Sport- und Kulturförderung aufgrund der fast vollständigen Finanzierung aus allgemeinen

    Deckungsmitteln ohne Äquivalenzcharakter).

    Vor dem Hintergrund der zurückliegenden Ausführungen kann nicht überraschen, dass es

    keine aktuellen finanzwissenschaftlichen Studien gibt, in denen eine quantitative Erfassung

    der Anteile von freiwilligen und pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben bezogen auf das ge-

    samte kommunale Aufgabenbündel und die damit verbundenen Ausgaben erfolgt.60 Entspre-

    chend gibt es aus ökonomischer Sicht keinen quantitativen Anhaltspunkt dafür, ob ein be-

    stimmter Anteil – und wenn ja welcher – an freiwilliger Aufgabenerfüllung hinsichtlich der

    Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung als „bedenklich“ anzusehen ist. Somit entzieht

    sich auch die als Kritik am bestehenden kommunalen Finanzausgleich in Nordrhein-

    Westfalen getroffene Aussage, dass der „Anteil für freiwillige Leistungen […] bei den Be-

    58 Siehe für die kommunalen Gestaltungsmöglichkeiten mit Blick auf Zweck- und Verwaltungsausga-

    ben auch Döring (2004) ebenso wie Döring/Stahl (1999). 59 Siehe zu diesen für die Theorie des Fiskalföderalismus grundlegenden Überlegungen stellvertretend

    Postlep (1993, S. 40ff. und S. 61ff.). 60 Die letzte Untersuchung dieser Art stammt aus dem Jahr 1982 und enthält lediglich eine grobe

    Schätzung der Anteile von freiwilligen Aufgaben (17 %), weisungsfreien Pflichtaufgaben (43 %) und weisungsgebundenen Pflichtaufgaben (12 %). Bei dieser Schätzung konnten zudem 28 % der insgesamt von einer Kommune zu erfüllenden Aufgaben keiner der genannten drei Kategorien zu-geordnet werden (darunter beispielsweise solche Bereiche wie „Allgemeine Finanzwirtschaft“). Sie-he Postlep (1987, S. 65ff.). Es ist davon auszugehen, dass die seinerzeit ermittelten Anteilssätze we-der repräsentativ für die aktuelle Situation auf der Kommunalebene sind, noch dass diesen ein normativer Gehalt im Sinne eines selbstveraltungsadäquaten Mindestanteils beizumessen ist.

  • 18

    schwerdeführern nur noch zwischen 9 % und 14,2 % der Gesamtausgaben“ liegt (Begründung

    der Verfassungsbeschwerde, S. 22), einer validen Bewertung durch finanzwissenschaftliche

    Erkenntnisse oder Methoden. D.h. solche oder ähnliche Prozentwerte liefern keinerlei Beitrag

    zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzausstattung von Kommunen als (un-)angemessen

    bewertet werden kann. Oder mit anderen Worten: „Nicht anzunehmen ist, dass die finanzielle

    Mindestausstattung gleichsam automatisch als unterschritten gilt, wenn die Gemeinden weni-

    ger als 5 – 10 % ihrer Mittel für die Erfüllung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben ver-

    wenden kann. Denn es fällt in die Entscheidungskompetenz der Gemeinden, sich in Zeiten

    knapper Einnahmen bei der Erfüllung der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben Beschrän-

    kungen aufzuerlegen und weniger als 5 % ihrer Mittel dafür aufzuwenden, ohne dass ihre fi-

    nanzielle Mindestausstattung gefährdet wäre“.61 Der Verweis auf die in Zeiten finanzieller

    Engpässe vorzunehmenden Einschränkungen bei der Erfüllung freiwilliger Leistungen ist

    zudem als Hinweis auf das Konsolidierungspotenzial der kommunalen Haushalte in diesem

    Bereich zu verstehen, was aus ökonomischer Sicht unumstritten ist.62 Zwar mag dabei offen

    sein, bis zu welcher Grenze eine dauerhafte Reduktion zu erfolgen hat. Es gibt jedoch – der

    dargelegten Logik des Fiskalföderalismus folgend – kein plausibles finanzwissenschaftliches

    Argument, welches dagegen spricht, dass zu Zwecken der Haushaltskonsolidierung kurz- bis

    mittelfristig weitgehend oder gar vollständig auf die Bereitstellung freiwilliger Leistungsan-

    gebote verzichtet wird.

    3.3.3 Realsteueranspannung und interkommunaler Steuerwettbewerb

    Neben der eingeschränkten Erfüllung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben wird die hohe

    Realsteueranspannung der betroffenen Kommunen seitens der Beschwerdeführer als ein wei-

    terer Beleg für deren finanzielle Unterausstattung im Rahmen des nordrhein-westfälischen

    Finanzausgleichs ins Feld geführt. Unter Bezug auf die beiden Realsteuern und hier insbeson-

    dere mit Blick auf die Gewerbesteuer wird zudem reklamiert, dass aufgrund „der Bedeutung

    des Hebesatzniveaus für die Standortattraktivität für Unternehmen und Abwanderungseffekte

    […] eine weitere Anhebung der Gewerbesteuerhebesätze […] verwehrt und damit hieraus

    resultierende Einnahmemöglichkeiten abgeschnitten“ sind (Begründung der Verfassungsbe-

    schwerde, S. 29).

    Wird zunächst die Grundsteuer betrachtet, zeigt sich für den Zeitraum von 1995 bis 2008 ein

    stetiger Anstieg der Pro-Kopf-Einnahmen, wobei sich die Entwicklung im Kreis Reckling-

    hausen nur marginal von jener in den übrigen nordrhein-westfälischen Kreisen unterscheidet

    (siehe Abbildung 1). Auffälliger gestalten sich demgegenüber die Werte der Pro-Kopf-

    Einnahmen aus Gewerbesteuer, die für den Kreis Recklinghausen zwar weitgehend dem Ent-

    wicklungstrend auf Kreis- und Landesebene folgen, jedoch unterhalb des Durchschnittswertes

    der Kreise insgesamt liegen (siehe Abbildung 2). Bei Betrachtung der Entwicklung der Hebe-

    sätze im Zeitraum von 1995 bis 2008 ist sowohl für Nordrhein-Westfalen insgesamt als auch

    für den Kreis Recklinghausen bei der Grundsteuer ebenso wie bei der Gewerbesteuer ein

    merklicher Anstieg zu erkennen (siehe Tabelle 1). Zwar weist die Datenlage auf eine gestie-

    gene Realsteueranspannung in den zurückliegenden Jahren hin. Aus finanzwissenschaftlicher

    Sicht kann jedoch weder für die nordrhein-westfälischen Kommunen in ihrer Gesamtheit

    noch bezogen auf die Städte des Kreises Recklinghausen allein aus diesen Daten geschlossen

    61 Vgl. Henneke (2008) mit Verweis auf ein entsprechendes Urteil des Niedersächsischen Oberverwal-

    tungsgerichts (NdsVbl 2005, S. 124ff.), gegen das auch die eingelegte Revision der Kläger erfolglos blieb. Mit der gleichen Intention stellt auch Zimmermann (2009, S. 105) fest: „In Zeiten knapper Kassen treten freiwillige Aufgaben allerdings, weil aufschiebbar, zeitweilig zurück“.

    62 So stellen auch Junkernheinrich et al. (2009, S. 122) fest: „Die Reduktionsnotwendigkeit freiwilliger Aufgaben bzw. Ausgaben im Rahmen der Haushaltskonsolidierung steht außer Zweifel“.

  • 19

    werden, dass für eine weitere Steigerung der Hebesätze zur Realisierung zusätzlicher Ein-

    nahmen keinerlei Spielraum vorhanden ist und es folglich – sei es direkt (bzw. explizit) im

    Rahmen der Finanzverfassung des Landes oder sei es indirekt über eine entsprechende Aus-

    gestaltung des kommunalen Finanzausgleichs – der institutionellen Garantie einer gemeindli-

    chen Mindestfinanzausstattung bedürfe.

    Abbildung 1: Grundsteuereinnahmen (A + B) in Euro pro Kopf (1995-2008)

    Quelle: IT NRW, eigene Berechnungen.

    Abbildung 2: Gewerbesteuereinnahmen in Euro pro Kopf (1995-2008)

    Quelle: IT NRW, eigene Berechnungen.

  • 20

    Tabelle 1: Entwicklung der durchschnittlichen Hebesätze von Grund- und Gewerbesteuer im Kreis Recklinghausen, in den Kreisen und den kreisfreien Städten sowie im Landesdurchschnitt (1995-2008)

    1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

    Kreisfreie Städte Grundsteuer A 206 220 222 224 222 224 224 224 224 224 Grundsteuer B 442 475 477 484 484 484 484 483 485 483 Gewerbesteuer 445 452 452 452 453 453 452 452 452 451 Kreise Grundsteuer A 187 200 202 203 214 215 216 219 220 220 Grundsteuer B 308 344 348 354 385 387 392 396 397 398 Gewerbesteuer 380 397 399 402 413 414 415 416 417 417 Kreis Recklinghausen Grundsteuer A 182 211 214 216 218 213 217 217 219 219 Grundsteuer B 384 443 446 447 447 448 450 457 459 461 Gewerbesteuer 427 441 441 445 447 447 446 453 450 454 NRW Grundsteuer A 189 202 203 205 215 216 217 219 220 220 Grundsteuer B 370 401 405 411 429 430 432 434 436 435

    Gewerbesteuer 409 424 424 426 432 432 434 435 435 433

    Quelle: IT NRW, eigene Darstellung.

    Unter Bezug auf Ansätze zu den Wirkungen des interkommunalen Steuerwettbewerbs trifft in

    allgemeiner Form zunächst zu, dass unterschiedlich hohe Steuerbelastungen zwischen dezent-

    ralen Gebietskörperschaften (hier: Kommunen) zu Mobilitätsreaktionen bei den Besteuerten

    (hier: Unternehmen) in Gestalt der Abwanderung in eine andere Kommune führen können. Es

    wird somit davon ausgegangen, dass Gebietskörperschaften, die in einem Wettbewerb unter-

    einander stehen, versuchen werden, über ein möglichst attraktives Angebot von öffentlichen

    Leistungen und adäquaten „Steuerpreisen“ mobile Produktionsfaktoren anzuziehen.63 Dieses

    strategische Verhalten der einzelnen Kommunen führt – analog zum Preiswettbewerb auf Gü-

    termärkten – zu einer Orientierung an den Konkurrenten und beschränkt die Möglichkeiten

    von Steuererhöhungen. Gegenüber dieser zunächst allgemeinen Feststellung zu den ökonomi-

    schen Effekten des interkommunalen Steuerwettbewerbs haben finanzwissenschaftliche Un-

    tersuchungen jedoch gezeigt, dass sich die steuerpolitische Entscheidung von Kommunen

    nicht an der Gesamtheit der übrigen Kommunen, sondern vor allem an ihren direkten Nach-

    barkommunen orientiert. Damit ist die Intensität des interkommunalen Steuerwettbewerbs

    geographisch stark begrenzt mit der Folge, dass die davon ausgehenden Wirkungen auf die

    kommunale Steuerpolitik einen sehr engen räumlichen Radius aufweisen. D.h. solange auch

    im näheren Umfeld einer Gemeinde Kommunen mit hohen Steuer- bzw. Hebesätzen anzutref-

    fen sind, ist eine negativer Wettbewerbseffekt – vor allem in Form entsprechender Abwande-

    rungsbewegungen ortsansässiger Unternehmen – unwahrscheinlich bzw. marginal.64

    63 Die Grundlage für diese Überlegungen bildet die sogenannte Fragmentierungshypothese, die auf

    Brennan/Buchanan (1980) zurückgeht Siehe auch Feld (2000) sowie Feld/Kirchgässner (2001). 64 Siehe zur empirischen Analyse entsprechender Nachbarschaftseffekte unter anderen die Studien

    von Inman (1989), Ladd (1992), Saavedra (1999) oder auch Schaltegger (2003).

  • 21

    Für Nordrhein-Westfalen durchgeführte empirische Analysen der kommunalen Hebesätze

    bestätigen diese Sicht.65 So belegen die Untersuchungsergebnisse, dass die Interaktion zwi-

    schen den örtlichen Hebesätzen räumlich deutlich beschränkt ist, wobei die Wirkungen des

    Steuerwettbewerbs nicht über einen Radius von 30 km hinausgehen. Dieser Effekt gilt für alle

    Kommunen in gleicher Weise, d.h. der Einfluss der Nachbarschaft fällt für Gemeinden unter-

    schiedlicher Größe jeweils identisch aus. Zudem konnte festgestellt werden, dass auch inner-

    halb des genannten Radius von 30 km mit der Entfernung der Steuerwettbewerb zwischen den

    Kommunen deutlich abnimmt. Dieser empirische Befund legt die Schlussfolgerung nahe, dass

    der Hebesatz in erster Linie ein aktives Instrument des kommunalen Standortwettbewerbs mit

    den angrenzenden Nachbarschaftsgemeinden ist, wobei auch innerhalb dieses näheren räumli-

    chen Umfelds „Spielraum in der lokalen Hebesatzpolitik verbleibt“.66 Damit gilt aber auch im

    Umkehrschluss, dass über dem Landesdurchschnitt liegende Hebesätze, wie dies auf die

    Kommunen im Kreis Recklinghausen zutrifft, nicht als Beleg dafür gelten können, dass die

    betroffenen Gemeinden über keinerlei Spielräume für weitere Hebesatzsteigerungen verfügen.

    Abbildung 3: Vergleich von Grundsteuer- und Gewerbesteuerhebesätzen von Kreisen (Durchschnittswert) und kreisfreien Städten in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kreis Recklinghausen (2008)

    Quelle: IT NRW, eigene Darstellung.

    Um dies beurteilen zu können, ist vielmehr die Höhe der Gewerbesteuerhebesätze der übrigen

    Kommunen in der unmittelbaren Nachbarschaft von Bedeutung. Diesbezüglich zeigt sich mit

    Blick auf den Kreis Recklinghausen einschließlich der angrenzenden Nachbarkreise und

    kreisfreien Städte ein annähernd gleich hohes Niveau bei den Realsteuerhebesätzen (siehe

    Abbildung 3). Danach bewegten sich in 2008 die durchschnittlichen Hebesätze von Grund-

    und Gewerbesteuer der Recklinghäuser Städte (461 % bzw. 454 %) auf mittlerem Niveau

    65 Siehe hierzu die von Büttner (2000) durchgeführte Untersuchung von 396 nordrhein-westfälischen

    Kommunen im Zeitraum von 1977 bis 1996. Die parallel vorgenommene Untersuchung von 1111 Kommunen in Baden-Württemberg bestätigt dabei die für NRW gewonnenen Ergebnisse.

    66 Vgl. Büttner (2000, S. 78).

  • 22

    zwischen jenen Sätzen der Kreise Borken (381 % bzw. 403 %) und Coesfeld (392 % bzw.

    414 %) einerseits sowie der Städte Gelsenkirchen (530 % bzw. 480 %) und Bottrop (530 %

    bzw. 490 %) andererseits. In Anbetracht dessen ist aus ökonomischer Sicht davon auszuge-

    hen, dass sehr wohl die Möglichkeit zu weiteren Hebesatzsteigerungen besteht, ohne dass es

    zwangsläufig zu entsprechenden Abwanderungseffekten kommt.

    Tabelle 2: Bedeutung unternehmensbezogener Standortfaktoren

    Standortfaktor Bewertung Standortfaktor Bewertung

    Höhe der Arbeitskosten 1,7 Nähe zu Beschaffungsmärkten/

    Zulieferern/Dienstleistern 2,0

    Höhe der Gewerbemieten 2,2 Nähe zu Dienstleistern

    (z.B. Handwerkern) 2,2

    Höhe der Grundstückspreise 2,3 Verfügbarkeit von

    qualifizierten Arbeitskräften 1,3

    Höhe der Baukosten 2,6 Nähe zu Hochschulen und

    Forschungseinrichtungen 2,1

    Höhe von Ver- und

    Entsorgungsgebühren 2,7

    Ausstattung mit Schulen und

    Berufsschulen 2,3

    Höhe des

    Gewerbesteuerhebesatzes 2,8 Weiterbildungsangebote 2,5

    Abgabenpolitik der Gemeinde 2,8 Wohnraumangebot 2,3

    Ausbau und Erhalt

    des Straßennetzes 1,5

    Naherholungsgebiete,

    landschaftliche Attraktivität 2,5

    Verfügbarkeit von Gewerbeflächen 1,7 Kulturelles Angebot 2,6

    Parkraum für

    Kunden- und Lieferverkehr 2,2 Günstige Wohnraummieten 2,6

    Überregionale

    Verkehrsanbindung (Luft) 2,3

    Zusammenarbeit mir Unternehmen

    und Behörden aller Ebenen 1,6

    Überregionale

    Verkehrsanbindung (Schiene) 2,5 Wirtschaftsförderung 1,8

    Öffentliches

    Personennahverkehrsnetz 2,6 Standortmarketing 2,2

    Nähe zu

    Absatzmärkten/Kunden 1,7

    Räumliche Nähe zu

    öffentlichen Einrichtungen 2,6

    Der Befragung zugrundeliegende Bewertungsskala: 1 = sehr wichtig bis 5 = eher unwichtig.

    Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

    Neben dem Argument der drohenden Abwanderungseffekte kann auch die Befürchtung eines

    steuerinduzierten Verlustes an Standortattraktivität unter Verweis auf regionalökonomische

    Untersuchungen zur unternehmerischen Standortwahl zurückgewiesen werden. So zeigt etwa

    eine empirische Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln67 zur Relevanz von 28 aus-

    gewählten Standortfaktoren, die auf einer Skala von „sehr wichtig“ (1,0) bis „eher unwichtig“

    (5,0) von 103 bundesweit befragten Wirtschaftsförderungsgesellschaften zu bewerten waren,

    dass die „Höhe des Gewerbesteuerhebesatzes“ ebenso wie die „Abgabenpolitik der Gemein-

    de“ mit einem Wert von jeweils 2,8 auf dem letzten Rang eingestuft wurden (siehe Tabelle 2).

    Als besonders relevant für die Standortentscheidung von Unternehmen werden demgegenüber

    Standortfaktoren wie etwa die „Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften“ (1,3), der

    „Ausbau und Erhalt des Straßennetzes“ (1,5), die „Zusammenarbeit zwischen Unternehmen

    und Behörden“ (1,6), die „Verfügbarkeit von Gewerbeflächen“ (1,7), die Höhe der „Arbeits-

    kosten“ (1,7) oder die „Nähe zu Absatzmärkten“ (1,7) eingestuft – um nur die wichtigsten

    Entscheidungsdeterminanten zu nennen. Komplementär hierzu durchgeführte Befragungen

    67 Siehe hierzu ausführlich die Studie vom Institut der deutschen Wirtschaft (2003).

  • 23

    von Unternehmen bestätigten die genannten Befunde.68 Vor dem Hintergrund dieser Ergeb-

    nisse ist nicht davon auszugehen, dass eine (weitere) Erhöhung der Grund- oder Gewerbe-

    steuerhebesätze zu einer massiven Beeinträchtigung der Standortattraktivität führen würde.

    3.3.4 Ausschöpfung anderweitiger Einnahmepotenziale

    Neben einer verbesserten Nutzung der vorhandenen Spielräume zur Anhebung der Realsteu-

    erhebesätze ist vor einer Änderung der Finanzverfassung oder einer verstärkten Alimentie-

    rung über den Finanzausgleich des Weiteren danach zu fragen, inwieweit – dem Grundsatz

    der institutionellen Kongruenz folgend – die vorhandenen Potenziale für eine Steigerung der

    kommunalen Gebühreneinnahmen ebenso wie für eine Erhöhung der örtlichen Aufwand- und

    Verbrauchsteuern bereits erschöpfend genutzt wurden. Wird dabei zunächst der Blick auf die

    Gebühren- und sonstigen Entgelteinnahmen gerichtet, ist zunächst festz