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04 SCHLESWIG-HOLSTEIN JOURNAL
VON MERLE BORNEMANN
Es ist Freitagvormittag. Die Luft ist drü-ckend schwül unddie Sonneheizt denKlas-senraum der 12c in der Gemeinschafts-schule Friedrichsort imKielerNorden kräf-tig ein. Sicherlich nicht die besten Voraus-setzungen für eine Doppelstunde Ge-schichte, die mit dem Gong um 9.55 Uhreingeläutetwird.WährenddieSchülernochin ihren Taschen kramen, den letzten Bissdes Pausensnacks nehmen und ihre Map-penwälzen, schreibt ihrLehrer JürgenTim-mannmit gelber Kreide „1917“ an die Tafel.Dahinter ein Fragezeichen. „Wir machenheute einen Sprung ins Kriegsjahr 1917.Warum wohl?“, fragt er.Auch wenn sich wegen der Sommerhitze
viele wohl einen leibhaftigen Sprung inskalte Wasser wünschen, erfordert dieserhistorische Kaltstart Überwindung. Dochnach und nach recken sich ein paar Arme indie Luft. Vorsichtig äußern die Schüler Ver-mutungen, was jenes Jahr so besondersmacht. In der letzten Stunde haben sie einePrioritätenliste mit entscheidenden Ereig-nissen imErstenWeltkrieg erstellt – wer dafleißig war, kann nun glänzen. „Oktoberre-volution“, lautet ein Vorschlag. „Da ist –pardon, sind – die USA in den Krieg einge-treten“ ein anderer. NachwenigenMinutenist dieTafel gut gefüllt, aberderGeschichts-
lehrer ist noch nicht zufrieden. „Welcheswar denn das Wichtigste?“, will er wissen.Der Erste Weltkrieg steht in Schleswig-
Holstein zweimal auf dem Lehrplan: dieGrundlagen in Klasse 9, die Vertiefung inKlasse 12. Vieles muss Timmann in derOberstufe dennoch wieder von Grund aufdurchnehmen. Doch was bleibt hängen?Was interessiert ammeisten? „Das ist vor al-lem derGrabenkrieg, der Einsatz der erstenTanks 1916 und die Frage ,Was macht derKrieg mit den Menschen?’, aber auch ,WasmachendieMenschenmit demKrieg?’“, be-richtet der Pädagoge, dermit seinen 65 Jah-ren auf reichlich Erfahrung zurückgreifenkann.Bei der Frage nach demEreignis, welches
das Jahr 1917 so bedeutend macht, bahnt
sich imKlassenzimmer der 12c eine Lösungan. Svea wagt einen Vorstoß: „Die Wirt-schaftwar ja schon ziemlich amBodennachdrei JahrenKrieg.AmerikakonntedurchLe-bensmittel und Waffenlieferungen wiederneuen Schwung reinbringen“, so ihre Ver-mutung.MitschülerundLehrer lauschenihraufmerksam, niemand widerspricht und siefährt fort: „Deutschland lag ja eingekesseltin der Mitte. Wenn man so eine Burg bela-gert und die Kräfte außen immermehrWaf-fen und Ausstattung bekommen, hat man inder Mitte irgendwann nichts mehr.“ Damithabe sie völlig recht, sagt der Lehrer.Und re-feriert kurz ein paar Zahlen zu den Waffen-lieferungen der USA im Laufe des Krieges,die zu Beginn noch an alleMittelmächte gin-gen, später nicht mehr an Deutschland.A propos Mittelmächte, wer zählt eigent-
lich 1917 dazu? Hätten Sie’s gewusst? DieSchüler schon.DeutschesReich,Österreich-Ungarn,OsmanischesReich undBulgarien –zur Sicherheit wird der Stift gezückt und dieListe schnell in der Geschichtsmappe no-tiert. Schließlich steht in Kürze die Klausuran.Aber warum sind denn die USA eigentlich
in den Krieg eingetreten? Das sollen die jun-gen Leute nun herausfinden, mithilfe des„Zimmermann-Telegramms“, dasTimmannihnenausteilt.ObinGruppenoderallein,das
Wie wird der Erste Weltkrieg heute inSchleswig-Holstein gelehrt? Zu Gast im Geschichtsunterricht
in der Gemeinschaftsschule Kiel-Friedrichsort.
Warum traten die USA in den Krieg ein?Hier wird fleißig recherchiert.
ILLUSTRATION: LUNDT
Sonnabend, 21. Juni 2014 05
bleibt ihnen selbst überlassen. Auch die Re-cherchewerkzeuge können die Schüler freiwählen – die Computer-Arbeitsplätze aufdemFlurvordemKlassenraum,dasgutealteGeschichtsbuch, das Smartphone. „Aus-nahmsweise kann ich Euch sogar den Wiki-pedia-Artikel empfehlen“, sagt der Lehrer.RundzweiDrittel derKlasse setzt sich andieComputerundbefragtzunächstGoogle.Miahat nach einerWeile zwarGründe gefunden,„aber verstehen tue ich sie nicht“, räumt sieein. „Na dann: weitersuchen“, ordnet derPädagoge an. Schnell zeigt sich:Das Internetkann Fakten, kann aber nicht gut erklären.Warum-Fragen lassen sich damit nicht soeinfach beantworten. Also nochmal intensivdas „Zimmermann-Telegramm“ lesen, dasein deutscher Staatssekretär 1917 nach Me-xiko sandte. Daraus geht hervor, dassDeutschland den uneingeschränkten U-Boot-Krieg führen will. Und auch das Ge-schichtsbuch, das zwischen den ganzenSmartphoneswieeinRelikt ausvergangenenZeitenwirkt, schätzenvieleSchüleralsQuel-le. Es sei gut gegliedert, komprimiert undbiete vor allem übersichtliche Karten, die ei-nem das Verständnis erleichtern.Die Arbeitsatmosphäre verdient Respekt.
Kein Quatschen, kein WhatsApp oder Face-book. Weltkrieg statt Wochenendplanung.Und das am Freitag um 11 Uhr unter 17-und18-Jährigen. „Ich finde, derErsteWelt-krieg ist der richtige Anfang der deutschenGeschichte“, sagt Lena. „Der Zweite folgtedann ja schnell – viele sagen, dass esnur einWeltkrieg mit Pause war. Es ist das span-nendste Thema seit Langem. Das Mittelal-ter finde ich dagegen langweilig, weil esschon soweitweg ist.“GenaudieseZusam-menschau mit dem Zweiten Weltkrieg istes, die auch JürgenTimmann für sowichtighält. „Den Aufstieg der Nazis kann mandurch die Ereignisse im Ersten Weltkriegbesonders gut verstehen.“ Und überhaupt:Geschichtsunterricht, das sei eingefrorenePolitik. „Sein Sinn ist es, politisch denkenzu lernen und komplexe Zusammenhängezu verstehen.“
MittlerweilehatTimmanndieKlasse aus18 Mädchen und einem Jungen wieder zu-sammengetrommelt. Die Ergebnissamm-lungwirktwie eine Sportstunde, in der sichdie Schüler gegenseitig die Bälle zuwerfen.Weiß jemand nicht weiter, übernimmt eineandere. Jürgen Timmann bringt den Ballzwischendurch immer wieder auf die rich-tige Bahn. Das Tor allerdings, das sollenundmüssen die Lernenden selbst erzielen.Seine Vorlage: „Was wäre denn passiert,
wenn Deutschland den Krieg gewonnenhätte?“ Sveas Arm ist am schnellsten oben.„Haben die USA vielleicht Angst gehabt,dass sie die großenKredite, die sieGroßbri-tannien und Frankreich gegeben hatten,nicht wieder zurückkriegen?“ Treffer. DieKredite wären verfallen, das hätte die US-Wirtschaft nicht verkraftet, erklärt derLehrer. „Aber das ist nur ein Mosaikstein.Es gibt nicht DENGrund, weshalb die USAin den Krieg eingetreten sind.“
Da ist zum Beispiel noch das „Zimmer-mann-Telegramm“, das die Schüler auf ei-nem „Zettel“ bekommen haben. Zettel? So-wasverteileernie, empörtsichJürgenTim-mann. „Arbeitsblätter“, korrigieren dieSchüler beinahe im Chor, bei allgemeinemSchmunzeln. Genauso wenig heiße es„England“, sondern „Großbritannien“, bit-teschön. „Wir sagen ja auch nicht Bayern,sondern Deutschland“, mahnt Timmann.Am Ende der Stunde steht die Erkenntnis:
1917 war ein Epochenjahr. „Wenn sich dieUSA nicht eingemischt hätten, würden wirheutewohlnicht vom1.Weltkrieg sprechen“,sagt Jule.Jürgen Timmann geht zufrieden aus dem
Klassenraum. „So eine Stunde macht mirSpaß“, sagt er. „InmeinemAlter bin ichmitt-lerweile wie einGroßvater für die Schüler“ –das schaffe ein ganz anderes, entspanntesVerhältnis. Nur noch wenige Schulwochen,dann verabschiedet er sich zum Sommer indenRuhestand.DasThemaErsterWeltkriegwird ihn abernichtnur aufgrundder zahlrei-chen Dokumentationen, die dazu in diesemJahr gezeigt werden, weiter beschäftigen. Essind vor allem die Erinnerungen an seinenVater, die ihn immer noch beschäftigen. Derwurde 1917 eingezogen, kämpfte in derSchlacht von Cambrai in Frankreich undkehrte mit nur einem Bein zurück. ●
„Geschichte soll kein Paukfach,
sondern ein Denkfach sein.“
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Das gute alte Geschichtsbuch ziehen viele dem Internet als Quelle vor. BORNEMANN (5)
Jürgen Timmann,Oberstudienrat
Jürgen Timmann (65) unterrichtet Geschichte und Religion.Rauchende Köpfe im Klassenraum der Zwölftklässlerinnen.