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Willensfreiheit und strafrechtliche Unrechtslehre

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Willensfreiheit und strafrechtliche Unrechtslehre

Von Professor Dr. Ernst-Joachim Lampe, Ober-Olm

I.

Die ewige Wiederkehr der Diskussion über die Willensfreiheit des Men-schen hat in den letzten Jahren nicht nur neue wissenschaftliche Erkennt-nisse, sondern sogar ein neues „Menschenbild“ hervorgebracht. Dieses Bildwird einerseits von der Selbsterfahrung idealistisch entworfen:

„Wir erfahren uns als freie und folglich als verantwortende, autonome Agenten. Esscheint uns, als gingen unsere Entscheidungen unseren Handlungen voraus und wirk-ten auf Prozesse im Gehirn ein, deren Konsequenz dann die Handlung ist“1.

Das Bild wird andererseits von den Neurobiologen als illusionär verworfenund mit kräftigen Strichen realistisch übermalt:

„Geist und Bewusstsein [lassen sich] ohne Widerspruch als physische Zustände auf-fassen. … Das Gefühl des ‚freien‘ Willensaktes entsteht in uns [erst], nachdem lim-bische Strukturen und Funktionen [des Gehirns] bereits festgelegt haben, was wir zutun haben“2. „[Unser subjektives Freiheitsgefühl] ist mit den deterministischen Ge-setzen, die in der dinglichen Welt herrschen, nicht kompatibel. … Frei zu sein, [ist] eineIllusion, die sich aus zwei Quellen speist: 1) der durch die Trennung von bewusstenund unbewussten Hirnprozessen widerspruchsfreien Empfindung, alle relevanten Ent-scheidungsvariablen bewusst gegeneinander abwägen zu können und 2) der Zuschrei-bung von Freiheit und Verantwortung durch andere Menschen“3.

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1 W. Singer, Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, 2003, S. 12 u. ö.;ders., Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in:Ch. Geyer, Hirnforschung und Willensfreiheit: Zur Deutung der neuesten Experi-mente, 2004, S. 30ff., 33 mit dem Zusatz, dass dieser Erfahrung aus der Ersten-Person-Perspektive die Erfahrung aus neurobiologischer Dritter-Person-Perspektive jedochentgegenstehe.

2 G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln: Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, 2003, S. 253, 553. In diesem Sinne schon P. Th. d’Holbach, System der Natur, oder: Von denGesetzen der physischen und der moralischen Welt, 1960 (Orig.: Système de la nature,ou: Des loix du monde physique et du monde moral, 1770), S. 89f.: „Das Denken istnur die Wahrnehmung von Modifikationen, die unser Gehirn von äußeren Gegenstän-den empfangen hat oder die es sich selbst gibt. … [Auch] der Wille ist eine Modifika-tion des Gehirns, durch die es geneigt ist zu wirken … Die willkürlichen Handlungensind also Bewegungen des Körpers, die durch Modifikationen des Gehirns bestimmtwerden.“

3 W. Singer, Verschaltungen legen uns fest (Anm. 1), S. 33, 36.

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Doch trotz Übermalung, so heißt es, scheine der ursprüngliche Entwurfnoch immer durch. Deshalb stehe der Mensch heute da als ein „zwischenSelbsterfahrung und neurobiologischer Fremdbeschreibung“ Zerrissener4.

Was bedeutet das neue Menschenbild für ein wissenschaftlich aufgeklärtesStrafrecht? Auch hierauf wissen die Neurobiologen eine Antwort: Einerseitsverlieren irdische wie himmlische Strafgerichte ihre Legitimation; denn Stra-fen bestätigen den Menschen ja nur in seinem Wahn, willensfrei und somitschuld zu sein an den eigenen Taten. Andererseits hat sich der menschlicheWahn seit Jahrtausenden bewährt und wohltuend auf das Zusammenlebenausgewirkt. Deshalb sollen zumindest die irdischen Strafgerichte beibehal-ten werden – aber nicht, um Menschen für schuldig zu befinden, sondernnur, um ihnen „das Gefühl der Verantwortung für das eigene Tun ein-zupflanzen“, damit nicht „ohne ein solches Gefühl der Verantwortung dasmenschliche Zusammenleben nachhaltig gestört ist“5.

Die Strafjuristen sind, soweit sie bisher Stellung genommen haben, nolensvolens der ‚Logik‘ dieser Argumentation gefolgt: Denn ohne Willensfreiheitgibt es in der Tat keine Schuld (im herkömmlichen Sinne), und ohne Schuldlässt sich Bestrafung (im herkömmlichen Sinne) in der Tat nicht rechtferti-gen. Sie haben sich aber umso heftiger (und emotionaler) gegen die Prämisseverwahrt: dass die Neurobiologen die menschliche Willensunfreiheit wis-senschaftlich bewiesen hätten6. Unter der Hand haben sie sich dabei aller-dings auch eine Diskussion aufdrängen lassen, welche die dogmatische Vor-frage überspringt: ob ein im Sinne der Neurobiologen willensunfreier Menschwenigstens rechtswidrig handeln kann, ob m. a.W. das Fehlen menschlicherWillensfreiheit nicht bereits das strafrechtliche Unrecht ausschließt? Dennsetzt nicht jedes Strafunrecht eine Handlung und setzt diese nicht wiederumWillkür i. S. von Handlungsfreiheit, gar Finalität i. S. von Entschlussfreiheitvoraus? Ist nicht gar die Behauptung auch nur von Unrecht ohne die An-nahme von Willensfreiheit sinnlos, weil dort, wo es an menschlicher Willens-freiheit fehlt, wo entweder determinierte Naturprozesse walten – etwa einUnwetter die Ernte vernichtet oder ein tollwütiger Fuchs einen Spazier-gänger anfällt – oder wo ein furioser Mensch wild schießend Amok läuft,nur Unglück, aber kein Unrecht geschieht? Muss also das Recht seine Auf-gabe, Schaden zu verhüten, das Strafrecht seine Aufgabe, sozialschädliche

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4 W. Singer, Verschaltungen legen uns fest (Anm. 1), S. 50.5 G. Roth (Anm. 2), S. 544.6 Vgl. etwa Th. Hillenkamp, Strafrecht ohne Willensfreiheit? Eine Antwort auf die Hirn-

forschung, JZ 2005, 313 ff. – dort auch weitere Nachweise.

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Mitmenschen zu bessern und von weiteren Schädigungen abzuhalten (die es bisher, zugegeben, nur unvollkommen hat lösen können), angesichtsmenschlicher Unfreiheit an die Neurowissenschaftler und Psychotherapeu-ten abtreten? Und wenn selbst diese die Aufgabe nicht lösen können (oder esihnen von vornherein aussichtslos erscheint) – muss dann nicht an die Stelledes Rechtszwangs die staatlich verfügte Sicherungsverwahrung des Schäd-lings einerseits und die Schadensversicherung für seine Opfer andererseitstreten?

Angesichts solcher Horrorvorstellungen scheint manchen Juristen diefreiheitliche Philosophie Immanuel Kants noch die sicherste Hilfe zu bie-ten7. Sie schreibt dem Menschen nicht nur Freiheit als Unabhängigkeit vonallen empirischen Anfechtungen zu8, sondern sieht auch im Schutz dermenschlichen Freiheit die wesensgemäße Aufgabe des Rechts. Deshalb ge-stattet sie, Zwang anzuwenden, wenn Missbrauch fremder Freiheit die eigene Freiheit bedroht9. Unrecht, so postuliert sie, ist „ein Hindernis derFreiheit nach allgemeinen Gesetzen“, Recht ist folglich, jedem die Freiheithindernden „Gebrauch der Freiheit“ den Zwang entgegenzusetzen10. VomStrafrecht her gesehen: Unrecht geschieht demjenigen, dessen Freiheit einanderer durch den Missbrauch seiner Freiheit gesetzwidrig antastet; dasRecht des Staates ist es, solchem Missbrauch mittels Strafzwang zu wehren.

Die heute vorherrschende Strafrechtslehre misstraut freilich dieser Lehre.Sie bestreitet zwar nicht, dass die Aufgabe des Strafrechts im Freiheitsschutzgegenüber dem Freiheitsmissbrauch bestehen kann, ja dass die Masse desstrafrechtlichen Unrechts – Tötung, Körperverletzung, Nötigung, Beleidi-gung u. a. m. – tatsächlich darin besteht (zumindest, wenn man den Frei-heitsradius des Einzelnen weit genug dehnt). Aber sie zweifelt, ob das Straf-unrecht diese Gestalt haben muss und ob sich daraus die Folgerung ergibt,

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7 Als Strafrechtler seien u. a. erwähnt: E. A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen,1965, S. 58ff.; M. Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 9ff. Vgl. auch K. Kühl,Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht, 2001, S. 23 f., 35 ff.

8 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, S. 59.9 I. Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, 2. Aufl. 1798, S. 33 (§ C): „Das Recht ist

also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkürdes andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werdenkann.“ S. 35 (§ D): „Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.“ Dass die freiheitliche Rechtsordnung Kants individuelle Willensfreiheit nicht notwendigvoraussetzt, begründet R. Merkel, Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und strafrecht-liche Schuld – Versuch eines Beitrags zur Ordnung einer verworrenen Debatte, in: Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium, 2005, S. 411 ff., 416 f.

10 I. Kant (Anm. 9), S. 35 (§ D).

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das Recht müsse (oder dürfe auch nur) ihm mittels Zwang entgegentreten –sei es in Form der Notwehr und Nothilfe (‚Recht braucht dem Unrechtnicht zu weichen‘), sei es in Form der Strafe. Kann nicht Unrecht auch sein,was nicht menschlicher Freiheit durch deren Missbrauch angetan wird? Unddarf das Recht dem Freiheitsmissbrauch wirklich stets mittels Strafzwangwehren? Muss es sich nicht vielmehr auf mildere Maßnahmen beschränken,wenn diese ausreichen, um die Rechte anderer zu wahren? Ich möchte dieFragen bejahen. Meine Begründung beschränke ich allerdings auf die Un-rechtsvoraussetzungen:

Dass erstens Unrecht nicht immer in der Verletzung menschlicher Freiheitbesteht, lässt sich am Nötigungstatbestand des § 240 aufweisen: Er greiftnach Abs. 2 nur ein, wenn der angestrebte Zweck die Anwendung der Nöti-gungsmittel nicht rechtfertigt. Ein viel erörtertes Beispiel dafür ist dieStraßenblockade. Dass zweitens Unrecht nicht nur in der Verletzung mensch-licher Freiheit besteht, beweisen beispielhaft die Umweltstraftaten, die Staats-schutzdelikte und das Verbot der Tierquälerei: Sie alle lassen sich mit derVerteidigung menschlicher Freiheit nicht oder jedenfalls nicht soweit be-gründen, dass sie vom Schutzumfang der strafrechtlichen Normen umfasstoder auch nur mitumfasst würden. Dass drittens Unrecht auch ist, was nichtdurch den Missbrauch menschlicher Freiheit geschieht, dass es vielmehrauch durch den Nichtgebrauch menschlicher Freiheit begangen werdenkann, dafür stehen sowohl die sog. ‚echten Unterlassungsdelikte‘, etwa die„unterlassene Hilfeleistung“ und die „Nichtanzeige geplanter Straftaten“,als auch die sog. ‚unechten Unterlassungsdelikte‘, etwa die Tötung durchNichternährung des eigenen Kindes und der Betrug durch nicht pflicht-gemäße Aufklärung des Vertragspartners. Und dass schließlich viertens Un-recht auch sein kann, was weder durch Gebrauch noch durch Nichtgebrauchmenschlicher Freiheit entsteht, was m. a. W. unvermeidbar ist, hat für das Zivilrecht Rudolph von Jhering am Beispiel des gutgläubigen Besitzes einerfremden Sache nachgewiesen:

„Ein rechtmäßiger ist er nicht; also bleibt nichts übrig, als ihn einen unrechtmäßigen zunennen. Ich sehe gar nicht ein, wie der Jurist diese Bezeichnung sollte entbehren kön-nen, und so viel ich weiß, ist das Gebrauch des Wortes Unrecht in diesem Sinne ebensoalt wie das Recht selbst“11.

Und das Strafrecht? Es setzt den gutgläubigen Besitz gestohlener Sachenoder verbotener Rauschmittel ebenfalls als rechtswidrig voraus, denn es

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11 R. von Jhering, Das Schuldmoment des römischen Privatrechts, 1867, S. 5 f.

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knüpft daran (unter bestimmten weiteren Voraussetzungen) die Rechts-folgen der Einziehung oder des Verfalls (§§ 73ff. StGB, § 33 Abs. 2 BtmG).

Gleichwohl verhindert an dieser Stelle ein Einwand das Ende der Diskus-sion über Unrecht und Freiheit: Kann wirklich derjenige, der gestohlene Sachen oder verbotene Rauschmittel gutgläubig besitzt, deswegen mit Strafebelegt werden? Die Verneinung der Frage ist unumstritten. Umstritten warfrüher lediglich, welche Grenze überschritten würde. R. von Jhering sah dieGrenze noch in der Schuld. Er schrieb:

„Jeder fühlt die Verschiedenheit zwischen dem Anspruch des Eigentümers gegen dendritten gutgläubigen Besitzer einer Sache und demjenigen des Bestohlenen gegen denDieb. In jenem Fall handelt es sich lediglich um die Existenz des bestrittenen Rechts,ohne dass von Seiten des Klägers sich der Vorwurf einer bewussten und verschuldetenRechtskränkung hinzuzugesellen braucht; er kann sich hinzugesellen, und dies ist aufdas Maß der Haftung von Einfluss, allein er braucht es nicht, m. a.W. das Moment dersubjektiven Verschuldung [!] ist diesem Anspruch unwesentlich, er hat zum Gegen-stand lediglich die Unrechtmäßigkeit des sachlichen Zustandes in der Person des Be-klagten. Die Klage gegen den Dieb dagegen beruht wesentlich auf dem Vorwurf derRechtskränkung, d.h. bewusster, wissentlicher Verletzung des Rechts, das Momentsubjektiver Verschuldung [!] ist ihr unerlässlich, es gibt keinen Diebstahl ohne Ab-sicht“12.

Dieselbe Auffassung war bis etwa Mitte des vorigen Jahrhunderts auch inder Strafrechtslehre verbreitet. Das Unrecht, hieß es, habe „einen objektivenBoden“; es sei die „Veränderung eines rechtlich gebilligten bzw. Herbei-führung eines rechtlich missbilligten Zustandes, nicht rechtlich missbilligteVeränderung eines Zustandes“13. Die rechtliche Missbilligung persönlichenVerhaltens sei dagegen der Schuld vorbehalten. Die heute herrschende Auf-fassung sieht das anders: Sie rechnet das „Moment subjektiver Verschul-dung“ dem Unrecht zu. Der Wille, eine fremde Sache wegzunehmen, dieAbsicht, sie sich zuzueignen, seien nicht Schuld-, sondern ‚personale Un-rechtselemente‘. Ich selbst habe mich dieser Meinung bereits in meiner Habi-litationsschrift angeschlossen und möchte hier der Kürze halber auf meinedamals gegebene Begründung verweisen14. Wie für die herrschende Auffas-sung spielt daher für mich innerhalb der Unrechtslehre die Frage eine Rolle,ob im Vorsatz, etwas wegzunehmen, und in der Absicht, es sich zuzueignen,ein freier Wille zum Ausdruck kommen muss oder nicht.

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12 R. von Jhering, aaO.13 E. Mezger, Die subjektiven Unrechtselemente, Gerichtssaal 89 (1924), S. 207ff., 233,

245f.14 E.-J. Lampe, Das personale Unrecht, 1967, S. 112 ff., 199 ff.

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II.

Doch nicht allein aus diesem Grunde spielt die Frage nach der Willens-freiheit innerhalb der Unrechtslehre eine Rolle! Ich habe die Handlungschon erwähnt und komme nochmals darauf zurück. Entsprechend einerüberkommenen Auffassung hatte Jhering, zusätzlich zur inneren Verschul-dung, vorausgesetzt, dass diese in einer äußeren Handlung zum Ausdruckgekommen sein müsse.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte die Voraussetzung in seiner „Philosophie desRechts“ Anfang des 19. Jahrhunderts nochmals bestätigt: Verbrecherisches Unrecht sei der bewusste (= vorsätzliche) Widerspruch des besonderen, durch Handlung betätig-ten Willens gegen den im Recht zum Ausdruck kommenden allgemeinen Willen15. DieHegelianer hielten hieran grundsätzlich fest, mussten allerdings aufgrund der induk-tiven Methode (der sie im Gegensatz zu ihrem Meister folgten) konstatieren, dass weder das soziale Leben noch die Gesetze die Grenze des Vorsatzes respektierten, viel-mehr auch die bloß fahrlässige Tötung als strafbar anerkannten bzw. als Kriminaldeliktnormierten (woran, wie sie fanden, wenig auszusetzen sei)16. Dass die Keimzelle desstrafrechtlichen Unrechts, die Amoralität des inneren Willens, der äußeren Handlungbedürfe, um zum Unrecht zu erstarken17, hielten sie indessen für eine unumstößlicheWahrheit18: Vorsatz (dolus) oder Fahrlässigkeit (culpa) als Überschreitung der inneren(moralischen) Freiheit, die Handlung als Überschreitung der äußeren (rechtlichen)Freiheit seien die notwendigen Bestandteile eines Verbrechens. Jede Straftat sei eine‚rechtswidrig-schuldhafte Handlung‘.

Was aber ist dies – die ‚Handlung‘, die den bloß unsittlichen zum verbre-cherischen Willen macht? Für Hegel war sie die Einheit des Inneren und desÄußeren, des Subjektiven und des Objektiven im menschlichen Tun.

„Der Mensch, wie er äußerlich, d. i. in seinen Handlungen (freilich nicht in seiner nurleiblichen Äußerlichkeit) [ist], ist er innerlich; und wenn er nur innerlich, d. i. nur in

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15 Vgl. G.W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§ 82ff., 95. Ferner§ 114 Zusatz: Das Recht des moralischen Willens besteht darin, dass die Person in denäußeren Handlungen nur das als das Ihrige anerkennt, was innerlich in ihrem Vorsatzelag.

16 So insbesondere K. L. von Bar, Geschichte des Deutschen Strafrechts und der Straf-rechtstheorien, 1882, S. 338f.: Kein absolutes, für alle Zeiten gültiges Gerechtigkeits-prinzip schließt dies aus, beherrschend ist vielmehr allein die historische Tradition.

17 G. W. F. Hegel (Anm. 15), § 94 mit Zusatz.18 Dezidiert A. F. Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 4. Aufl. 1868, S. 111: Es sei

davon auszugehen, „dass das Verbrechen Handlung ist. Alles, was man sonst noch vomVerbrechen aussagt, sind nur Prädikate, die man der Handlung, als dem Subjekt, bei-legt.“

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Absichten, Gesinnungen tugendhaft, moralisch usf. und sein Äußeres damit nicht iden-tisch ist, so ist eins so hohl und leer wie das andere“19.

Ähnlich äußerte sich gut hundert Jahre später Hans Welzel:

„Das gesamte Gemeinschaftsleben der Menschen baut … auf der menschlichen Zweck-tätigkeit auf. … Diese Zwecktätigkeit heißt ‚Handlung‘“20.

Allerdings besitze, so klagte Welzel, weder die Strafrechtsdogmatik nocheine andere Wissenschaft eine ausgearbeitete Handlungslehre; am überzeu-gendsten sei noch die Konzeption des Philosophen Nicolai Hartmann21.Diese lautete in Kurzfassung: ‚Handlung‘ ist eine vom Willen auf ein Ziel hingesteuerte Tätigkeit. Auf ihrer ersten (innerlichen) Stufe setzt sich der Han-delnde gedanklich ein Ziel, das er verwirklichen will, und wählt die zur Ziel-erreichung erforderlichen Handlungsmittel aus22; auf ihrer zweiten (äußer-lichen) Stufe setzt er die Handlungsmittel planmäßig in Gang und realisiertdie Handlung, indem er die naturhaft kausale Determination „überdetermi-niert“23. Welzel übernahm diese Konzeption. Die genaue Ausarbeitung derHandlungslehre erschien ihm deshalb wichtig, weil die ontologische Strukturder Handlung nicht nur der strafrechtlichen Dogmatik, sondern auch derStrafgesetzgebung vorgegeben sei:

„Rechtsnormen können sich nicht an blinde Kausalprozesse, sondern nur an Hand-lungen wenden, die die Zukunft zwecktätig zu gestalten vermögen. Normen könnennur ein zwecktätiges Verhalten gebieten oder verbieten“24.

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19 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,3. Aufl. 1830, § 140.

20 H. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, § 7 II.21 H. Welzel, Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1939), S. 491ff., 496 Fn. 12:

„Eine wirkliche Handlungslehre sehe ich gegenwärtig bezeichnenderweise nur in einerEthik entwickelt: in N. Hartmanns ‚Ethik‘“, 4. Aufl. 1962, S. 189 ff.

22 So auch schon Aristoteles, Nikomachische Ethik III 5 (1112b). Welzel hielt damit dieFrage nach dem systematischen Ort des Willens für beantwortet: Obwohl innerer Akt,gehöre der handlungssteuernde Wille (Vorsatz) nicht erst zur Schuld, sondern bereitszum Unrecht. Für die Schuld bleibe lediglich die innere Willensbestimmung durch dieMotive von Bedeutung. Ausdrücklich rügt Welzel (Anm. 20), § 8 III, dass die Hegelianerdie strafrechtliche Handlung mit der schuldhaften (‚freien‘) Handlung identifiziert hätten.

23 H. Welzel (Anm. 20), § 8 I 1. Über neuere „Erkenntnisse der Handlungs- und Voli-tionspsychologie“, insbesondere über die Arbeiten von W. Prinz, H. Heckhausen undJ. Kuhl, informiert kurz G. Roth (Anm. 2), S. 474 ff.

24 H. Welzel (Anm. 20), § 8 II. Unter „Zwecktätigkeit“ verstand Welzel in diesem Zu-sammenhang nicht bloße „Zweckhaftigkeit“, die auch tierischem Verhalten zugrundeliegt, sondern die bewusste und freie Aktivität – kurzum den ‚frei tätigen Willen‘.

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Die meisten Strafrechtswissenschaftler hatten hiergegen wenig einzu-wenden25; allenfalls innerhalb von Randbereichen erschien ihnen die onto-logische Handlungsstruktur fragwürdig26.

Neuestens freilich könnten empirische Untersuchungen wie die des Neu-rologen Benjamin Libet27 (und die sie bestätigenden Experimente von PatrickHaggard und Martin Eimer28) die Struktur grundsätzlich in Frage stellen:Nicht ein vom freien Willen ausgearbeiteter Plan scheint danach der Hand-lung voranzugehen, sondern ein neuronaler Prozess, dessen Wahrnehmungdem Bewusstsein entzogen ist und der die Vorstellung einer freien Hand-lungsplanung nur als einen Begleitumstand zur Folge hat. Sieht man aller-dings näher hin, ging es in den Libetschen Experimenten nicht um dieHandlungsplanung als erste Stufe der Handlungsstruktur, also um die Aus-wahl des Handlungsziels und der Handlungsmittel; beide, Ziel- und Mittel-auswahl, waren vielmehr vorgegeben29. Es ging ausschließlich um den Zeit-punkt, wann die zweite Handlungsstufe ‚gezündet‘, d.h. die vorgegebeneHandlungsplanung verwirklicht wird30. Die Experimente widersprechendaher der strafrechtswissenschaftlichen Auffassung nicht. Und schon garnicht tragen sie die daraus gelegentlich gezogene Schlussfolgerung: dass wirnicht tun, was wir wollen, sondern dass wir wollen, was wir tun31. Insoweitbleibt vielmehr alles beim Alten.

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25 Auch heute wird die ontologische Handlungsstruktur nur selten in Frage gestellt, vgl.etwa H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl.1996, § 23 II 2; M. Köhler (Anm. 7), S. 9.

26 So etwa für automatisierte Handlungsabläufe. Dazu G. Jakobs, Strafrecht. AllgemeinerTeil, 2. Aufl. 1993, Abschn. 6/16, 6/35 ff.

27 B. Libet, Unconscious cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary action, in: The Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), p. 529 pp.

28 P. Haggard/M. Eimer, On the relation between brain potentials and the awareness ofvoluntary movements, in: Experimental Brain Research 126 (1999), p. 128 pp. Vgl. fer-ner I. Keller/H. Heckhausen, Readiness potentials preceding spontaneous motor acts:Voluntary vs. involuntary control, in: Electroencephalography and Clinical Neuro-physiology 76 (1990), p. 351 pp.

29 Haggard und Eimer eröffneten immerhin einen winzigen Entscheidungsspielraumähnlich dem, der dem Esel des Buridan geblieben war. Dieser hatte zu entscheiden, vonwelchem Heuhaufen er frisst, die Vpn von Haggard und Eimer, welche Hand sie be-wegen. Die Experimentatoren maßen aber nicht einmal den Zeitpunkt der Entschei-dung, sondern den ihrer Ausführung.

30 Übereinstimmend die Kritik von M. Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und unmög-liche Konsequenzen der Hirnforschung, 2004, S. 207 ff., 210. Siehe ferner W. Heun, JZ 2005, 853ff., 856.

31 Auf diese prägnante Formel hat der Psychologe W. Prinz das Ergebnis gebracht (Frei-heit oder Wissenschaft? in: M. von Cranach/K. Foppa [Hrsg.], Freiheit des Entschei-

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Dass es dennoch um die Handlungslehre still geworden ist, hat einenganz anderen Grund: Die überwiegende Zahl der Strafrechtswissenschaftlerveranschlagt heute im Gegensatz zu Welzel die Bedeutung der ontologi-schen Handlungsstruktur für das strafrechtliche Unrecht als gering – unddas m. E. mit Recht32. Thema der ontologischen Analyse Hartmanns war,auf welche Weise der menschliche Wille etwas Gutes bzw. ein Sollen ver-wirklicht, nämlich durch „finale Überdetermination“ des Kausalgeschehensim Sinne eines erschauten Wertes33. Thema des Strafrechts dagegen ist dieHervorbringung von etwas Bösem bzw. die Nichtverwirklichung eines Sollens. Die strafbare ‚Handlung‘ kann infolgedessen auch in Untätigkeitoder Trägheit bestehen, der Vorwurf sich also statt auf die „finale Überdeter-mination“ des Kausalgeschehens auf deren (vermeidbares) Fehlen richten.Der Versuch, das strafbare Verhalten unter Bezug auf die Ethik Hartmannszu analysieren, musste also fehlgehen. Was sich etwa bei den Unterlassungs-und bei den Fahrlässigkeitsdelikten als „ontologische Struktur“ anbietet, istlediglich eine personale Handlungsfreiheit, die der Täter infolge von Wil-lensanspannung zu einer guten (oder zumindest sozialverträglichen) Tathätte verwenden können, aber nicht verwendet hat34.

Das war an sich von vornherein nicht schwer zu erkennen, und Welzel hates auch bald selbst erkannt. Er unterlegte deshalb die Unterlassungs- undFahrlässigkeitsdelikte nicht mehr mit einer final strukturierten Handlung,sondern nur noch mit der personalen Fähigkeit zu einer solchen Handlung35.

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dens und Handelns: Ein Problem der nomologischen Psychologie, 1996, S. 86ff., 98ff.).Allerdings stellt sich dann die Frage: warum wir das, was wir tun, eigentlich auch nochwollen? Welchen Sinn hat m. a.W. die Evolution eines Willens, wenn dieser nur die völlig überflüssige Begleitmusik zur neural determinierten Reaktion auf eine Situationist und dem Menschen überdies den für die Verfolgung seiner Eigeninteressen schäd-lichen Wahn eingibt, er handle frei und sei deshalb verantwortlich? Vgl. dazu J. R. Searle,Rationality in Action, 2001, p. 286; ders., Free will as a problem in neurobiology, in:Philosophy 76 (2001), p. 491 pp., 509; ders., Freiheit und Neurobiologie, 2004, S. 50; J. Eccles/K. Popper, Das Ich und sein Gehirn, 6. Aufl. 1997; K. Popper, Objektive Er-kenntnis, 1973, S. 120ff.; J. Habermas, Freiheit und Determinismus, in: Deutsche Zeit-schrift für Philosophie 52 (2004), S. 871ff.; G. Jakobs, ZStW 117 (2005), S. 247 ff., 249.

32 Freilich ist es übertrieben, wenn E. Schmidhäuser (Was ist aus der finalen Handlungs-lehre geworden?, JZ 1986, 109ff., 116) behauptet: „Anderthalb Jahrzehnte haben ge-reicht, die finale Handlungslehre verfallen zu lassen.“

33 N. Hartmann (Anm. 21), S. 198 f.34 Vgl. dazu aus den Kreisen der ‚Finalisten‘: Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unter-

lassungsdelikte, 1959, bes. S. 36ff., 104ff.; H. J. Hirsch, ZStW 93 (1981), S. 831ff., 851;G. Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil: Die Straftat, 3. Aufl. 1981, Rdn. 1032.

35 So allgemein H. Welzel (Anm. 20), § 7 II: „Die Fähigkeit [!] des menschlichen Willens,

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Und ihren Unrechtsgehalt gründete er auf die Pflichten, denen der Tätertrotz seiner Fähigkeit zur „finalen Überdetermination“ des Tatgeschehensnicht entsprochen hatte: bei den Unterlassungsdelikten auf die soziale Garantenpflicht, bei den Fahrlässigkeitsdelikten auf die soziale Sorgfalts-pflicht36.

Wenn es aber strafbares Unrecht auch ohne eine willensgesteuerte Hand-lung gibt37, dann müssen offenbar andere äußere Kriterien das Verbrechenvon der bloß inneren Verschuldung bzw. Unsittlichkeit abgrenzen. Von diesen Kriterien steht bisher nur soviel fest: Sie müssen dem Sozialbereichentnommen und dort mit einem negativen Wert besetzt sein. Ich benennedas gesuchte Kriterium als ‚asozialer Prozess‘38.

III.

Mit der Benennung ist natürlich nicht viel gewonnen. Zu fragen bleibt: Wasist bzw. woraus besteht der ‚asoziale Prozess‘? Wird nicht auch er von einer

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sich beliebige Ziele zu setzen und aufgrund des Kausalwissens die Ziele planmäßig ver-wirklichen zu können, ermöglicht [!] dem Menschen die spezifische Eigenart, die Fülleund Breite seines geschichtlichen Daseins, seiner Kultur, seiner Zivilisation.“ Speziellzur Unterlassung § 26 I: „Unterlassung … ist die Unterlassung einer dem Täter mög-lichen Handlung, die also der finalen Tatmacht (der potentiellen [!] Finalität der Per-son) untersteht.“ Speziell zur Fahrlässigkeit § 18 Einl. 4: „Bei den Fahrlässigkeitstat-beständen wird der konkrete Vollzug … der finalen Handlung in Beziehung gesetzt zueinem maßstäblichen, leitbildhaften Sozialverhalten.“

36 Bei den Unterlassungsdelikten müsse der Richter „die objektiv-täterschaftlichen Merk-male“ ergänzen, so dass die Täterschaft auf diejenigen Personen beschränkt wird, „diemit dem bedrohten Rechtsgut durch ein enges und spezielles Lebensverhältnis verbun-den“ sind (H. Welzel [Anm. 20], § 28, 1). Bei den Fahrlässigkeitsdelikten dagegenmüsse er die „Handlungsmerkmale“ ergänzen, so dass nur diejenigen finalen Handlun-gen tatbestandsmäßig sind, die den Vergleich mit einem „maßstäblichen, leitbildhaftenSozialverhalten, das an der Vermeidung sozial unerwünschter Handlungsfolgen orien-tiert ist,“ nicht bestehen (aaO., § 18 Einl. 4).

37 Annäherung hieran neuerdings bei T. Kaczmarek, Festschrift für Gössel, 2003, S. 41ff.,46.

38 Als weitere Kriterien kommen der „asoziale Status“ sowie der „asoziale Zustand“ inBetracht, welche in der Person des Täters bzw. in den Gegenständen seiner Herrschaftverwirklicht sein können. Andeutungen dazu bereits bei G. F. W. Hegel (Anm. 15), § 116. Zu den hieraus zusätzlich resultierenden Möglichkeiten zum einen von Status-delikten vgl. E.-J. Lampe, ZStW 113 (2001), S. 885ff., 896; zum anderen von Besitz-delikten vgl. K. Eckstein, Besitz als Straftat, 2001; ders., ZStW 117 (2005), S. 107ff. Hierlasse ich die beiden Kriterien außer Betracht.

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willensgesteuerten Handlung getragen – wie etwa Max Weber einst an-nahm39? Ist wenigstens menschliche Willensfreiheit bei ihm im Spiel?

Um dies zu untersuchen, verfolge ich Welzels ‚finale Handlungslehre‘ inzwei weitere Richtungen, in denen sie ebenfalls in Begründungsnot geriet:• Sie konnte zum einen die asozialen Folgen einer Handlung nicht in die

Unrechtswertung aufnehmen: Bei den Vorsatzdelikten blieb die Minder-bestrafung des Versuchs gegenüber der Vollendung einer Rechtsgutsver-letzung, bei den Fahrlässigkeitsdelikten das Strafbarkeitserfordernis einerRechtsgutsverletzung unbegründet40.

• Sie konnte zum anderen die Unrechtsbedeutung der zwischen Handlungund Erfolg vermittelnden Kausalität nicht klar erfassen: Welzel sah darinin erster Linie eine real-ontologische Kategorie, die vom handlungsleiten-den Willen in Dienst gestellt wird; in zweiter Linie verstand er sie aberauch als sozial-ontologische Kategorie mit der Aufgabe, die real-ontolo-gischen Kausalverläufe auf die „nach einsichtigem Urteil vorausseh-baren“ zu reduzieren41.Seinen ersten Begründungsnotstand versuchte Welzel zu beseitigen, indem

er den Erfolg einer Tat, z. B. den Tod eines Menschen, als unselbständigenBestandteil der (Tötungs-)Handlung begriff42. Terminologisch mochte das

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39 Vgl. M. Weber, Soziologische Grundbegriffe, 6. Aufl. 1984, S. 19: Aufgabe der Sozio-logie sei es, „soziales Handeln deutend [zu] verstehen und dadurch in seinem Ablaufund seinen Wirkungen [zu] erklären“. „Soziales Handeln“ ist bei Weber „menschlichesVerhalten …, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjek-tiven Sinn verbinden“, welcher „auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran inseinem Ablauf orientiert ist“.

40 Die gelegentlich vertretene Auffassung, dass der Taterfolg ohnehin nur eine für die Be-wertung irrelevante ,objektive Bedingung der Strafbarkeit‘ sei, hat nicht einmal in denKreisen der ,Finalisten‘ Anklang gefunden. Vgl. begründend: Armin Kaufmann, Fest-schrift für Welzel, 1974, S. 393ff. (403: „Hat der Täter alles nach seinem Tatplan Erfor-derliche getan, liegt der Handlungsunwert voll und abgeschlossen vor. Der Eintritt des Erfolges [Erfolgsunwert] vermag dem nichts hinzuzufügen.“); weiterführend: D. Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff: Untersuchungen zurStruktur von Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluss, 1973, S. 128ff., 200ff.;M. A. Sancinetti, Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom Versuch, 1995 (S. 131: Der Endpunkt jeden Unrechts liege in der Versuchsbeendigung). Kritisch vorallem H. J. Hirsch, Festschrift für Lampe, 2003, S. 515ff., der allerdings übers Ziel hinausschließt, wenn er (S. 521) behauptet, dass die von ihm kritisierte Auffassung aufein Gesinnungsstrafrecht hinauslaufe.

41 H. Welzel (Anm. 20), § 9 I und III 2.42 H. Welzel (Anm. 20), § 12 II 2: „Der personale Handlungsunwert ist der generelle Un-

wert aller strafrechtlichen Delikte. Der Sachverhaltsunwert (das verletzte bzw. gefähr-

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angehen und aus Sicht des handelnden Täters sogar gerechtfertigt sein. Fürdie soziale Erkenntnis und erst recht für die strafrechtliche Bewertung wardie Sichtweise jedoch inakzeptabel. Denn wie jede wissenschaftliche Er-kenntnis geht die soziale Erkenntnis von der Wirkung aus und bemüht sich,von dort zu den Ursachen vorzudringen. Die sichtbaren Fakten haben folg-lich den Vorrang vor den unsichtbaren, die leichter beweisbaren den Vorrangvor den schwerer beweisbaren43. Auch die strafrechtliche Erkenntnis folgtdem: Sie nimmt den Erfolg wahr und sucht von ihm aus nach der verur-sachenden Handlung, sie bewertet den Erfolg als rechtswidrig und siehtdarin zumindest ein Indiz für die Rechtswidrigkeit auch der Handlung.

Historisch spricht für die Richtigkeit dieser Methode, dass sie schon seit den frühestenAnfängen des Rechts geübt wurde: Die sichtbare Verletzung war stets Grundlage desVerbrechens; Vorsatz und Fahrlässigkeit, Handlung und Unterlassung, Vollendungund Versuch kamen erst später als Differenzierungsmomente hinzu. Die heutige Praxis setzt ebenfalls ihre Untersuchung beim Erfolg einer Straftat an und wendet sicherst von dort aus der Handlung und dem Vorsatz zu. Freilich kehrt die Theorie beimVersuch, wo es am Taterfolg fehlt, die Reihenfolge ihrer Untersuchung um: Der Vor-satz steht dann an der Spitze, die Feststellung, was er bewirkt hat, folgt nach. Die Praxis indessen verfährt auch hier i. d. R. anders: Sie nimmt die vorliegenden Indizienfür eine asoziale Gefährdung – das „unmittelbare Ansetzen zur Verwirklichung einesStraftatbestandes“ – zum Anlass, die Frage nach dem dahinter stehenden Tatplan zustellen44.

Gegen den Primat des Erfolgs vor der Handlung lassen sich allerdingszwei Einwände erheben. Der erste entspringt dem positiven Recht. Er lautet,dass die meisten Normen unserer Strafgesetze nicht Taterfolge, sondern Tat-handlungen inkriminieren. Sie bedrohen mit Strafe beispielsweise nicht denTod eines (anderen) Menschen, sondern dessen Tötung (§ 212 Abs. 1 StGB:„Wer einen [anderen] Menschen tötet“), nicht der Gewahrsamsverlust dereigenen Sache, sondern die Wegnahme der fremden (§ 242 Abs. 1 StGB:„Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen … wegnimmt“). Dass

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dete Rechtsgut) ist ein unselbständiges Moment bei zahlreichen Delikten (den Erfolgs-und Gefährdungsdelikten)“.

43 Von den Hegelianern hat vor allem K. L. von Bar (Anm. 16, S. 332) dies erkannt undzur Korrektur seines Ansatzes benutzt – allerdings mit der Begründung: es könne beider Feststellung der Handlung sehr leicht ein Irrtum unterlaufen, wodurch das Gefühlder öffentlichen Missbilligung erschüttert werde.

44 Im Streit um die finale Handlungslehre war der Unrechtscharakter des Vorsatzes beimVersuch seinerzeit eines der wichtigsten Argumente, um ihn auch bei der vollendetenTat im Unrecht zu verankern.

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dies keine moderne stilistische Entgleisung ist, beweist uns der älteste be-kannte Normentext, der Codex Ur-Namma (ca. 2100 v. u. Z.): „Wer einenMord begangen hat“, „wer eine Freiheitsberaubung begangen hat“, heißt esdort (§§ 1f.) in Anspielung auf die Tathandlung. – Gleichwohl erscheint mirder erste Einwand nicht als durchschlagend. Denn weder die alten noch dieneuen Strafgesetze handeln primär von ‚strafbaren Handlungen‘, sondern vonderen Bestrafung. Sie formulieren also „Verhaltensnormen“ im Vordersatzum der „Sanktionsnormen“ im Nachsatz willen45. Ihre „Sanktionsnormen“aber richten sie nicht an die Straftäter, deren Adressaten sind vielmehr dieStrafverfolgungsbehörden (die Straftäter „werden [von ihnen] mit … be-straft“ = „sollen [von ihnen] mit … bestraft werden“)46.

Allerdings provoziert meine Replik sogleich den zweiten Einwand. Erlautet, dass den Sanktionsnormen des Strafgesetzes offenbar Normen vorge-lagert sind, die ein Verhalten verbieten oder gebieten („du sollst nicht töten“,„du sollst nicht stehlen“, „du sollst in Notfällen Hilfe leisten“ usf.). Von ihnen gelte, womit Welzel – in Übereinstimmung mit der von manchenRechtsphilosophen vertretenen Imperativentheorie47 – seinen handlungs-theoretischen Ansatz begründete: „Normen können nur zwecktätiges Ver-halten gebieten oder verbieten“48.

Indessen schlägt auch der zweite Einwand nicht durch. Ihm lässt sichentgegenhalten, dass man zwischen Normen unterscheiden muss, die auf dieZukunft, und solchen, die auf die Vergangenheit gerichtet sind. Nur soweitNormen die Zukunft gestalten wollen, wenden sich an Handlungen, sind sieBestimmungsnormen (= „Verbote und Gebote des Rechts“)49; soweit sie

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45 Übereinstimmend W. Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 60 ff.46 Dazu im Einzelnen E.-J. Lampe, Verhaltensnormen und Sanktionsnormen, in: Memo-

ria del X Congreso Mundial Ordinario de Filosofia del Derecho y Filosofia Social,1982, vol. VI, p. 113 pp.

47 Vgl. etwa K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. 1989, S. 19ff.; R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1989, S. 22 ff.

48 H. Welzel (Anm. 20), § 8 II.49 Die sogen. ‚Imperativentheorie‘, die einst alle Rechtsnormen als an rechtsfähige Perso-

nen gerichtete Verbote oder Gebote begriff, ist heute nahezu aufgegeben. Sie setzte alsAdressaten aller Rechtsnormen nicht nur rechts-, sondern auch handlungsfähige Per-sonen voraus, womit sie den Kreis der Normadressaten in unzulässiger Weise verengte.Strafrechtlich bedeutsam ist, dass sie die Rechtswidrigkeit einer Tat von der Schuld-fähigkeit ihres Urhebers abhängig machte. Vgl. dazu E.-J. Lampe (Anm. 14), S. 19ff.,101ff., 109ff. Selbstverständlich bestreite ich nicht, dass unsere Rechtsordnung nebenden Bewertungen, die sie im Vordersatz ihrer Strafrechtsnormen formuliert, entspre-chende – aufgrund der staatlichen Herrschaftsgewalt ergangene – Verbote und Gebote

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dagegen die Vergangenheit aufarbeiten wollen, wenden sich an einen Beur-teiler, sind sie Bewertungsnormen50. Auf die strafrechtlichen Normen bezo-gen: Nur soweit sie sich (im Nachsatz) an die Strafverfolgungsbehördenwenden, gebieten sie zwecktätiges Verhalten, sind sie Bestimmungsnormen;was dagegen das (im Vordersatz benannte) strafbare Verhalten anbelangt, be-ziehen sie sich auf die Vergangenheit und sind folglich Bewertungsnormen.Die zitierten Normen des Codex Ur-Namma brachten diesen Unterschiednoch deutlich zum Ausdruck: Sie verwendeten das Perfekt, um eine ver-gangene Handlung zu bewerten51; und sie verwendeten das (zukunftsbezo-gene52) Präsens, um, auf diese Bewertung gestützt, die Strafe als Rechtsfolgezu bestimmen.

Deshalb bleibt es dabei, dass der asoziale Erfolg sowohl in theoria alsauch in foro den Primat vor der asozialen Handlung zu beanspruchen hat.

Ich gehe über zu Welzels zweitem Begründungsnotstand, der die Kausa-lität betrifft. Welzel behauptete zunächst, dass sie „eine Seinskategorie“ sei:

„der zwar nicht wahrnehmbare, aber im Denken erfassbare Zusammenhang in derAufeinanderfolge des realen Geschehens und darum ebenso real wie das Geschehenselbst“53.

Da sich jedoch aus einer Seinskategorie schwerlich eine Bewertung ablei-ten lässt, legte er zusätzlich eine „im Rahmen der allgemeinen Lebenserfah-rung“ liegende54 Vorstellung von der Kausalität dem Unrecht zugrunde: Beiden vorsätzlichen Delikten seien nur die vom Vorsatz des Täters „in ihrenallgemeinen Zügen“ vorgestellten und gesteuerten, bei den fahrlässigen De-likten nur die „nach einsichtigem Urteil vorhersehbaren“ Kausalverläufe fürdas Unrecht relevant55. Er verließ diese Auffassung allerdings wieder, wennein Täter über ein spezielles Kausalwissen verfügte (wie etwa der auf be-stimmte Operationen spezialisierte Arzt): Ein solcher Täter solle auch fürKausalverläufe haften, die Nichtspezialisten unerkennbar sind56. Die Ergeb-

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kennt und dass sie deren Übertretung ihren Bewertungen zugrunde legt. Vgl. dazunoch unten IV.

50 Zur Unterscheidung zwischen ‚Bewertungs-‘ und ‚Bestimmungsnormen‘ vgl. E. Mezger(Anm. 13), S. 242 ff.; E.-J. Lampe (Anm. 14), S. 51 f.

51 Vgl. Duden, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, 1959, Rdn. 84, 86.52 Vgl. Duden (Anm. 51), Rdn. 83.53 H. Welzel (Anm. 20), § 9 I 2. Vgl. ferner ders., ZStW 51 (1931), S. 703 ff.54 H. Welzel (Anm. 20), § 13 I 3d.55 H. Welzel (Anm. 20), § 9 III 1 und 2, § 13 I 3d.56 H. Welzel (Anm. 20), § 9 III 2: „Um diese Grenze (der ‚adäquaten Kausalität‘) zu

ermitteln, muss sich der Beurteiler (z. B. der Richter) in den Zeitpunkt der Handlung

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nisse dieser Differenzierung mag man für akzeptabel halten; die angewen-dete Methode ist es nicht, und die heutige Strafrechtsdogmatik ist denn auchvon ihr abgerückt.

Heute prüft die Strafrechtsdogmatik die Kausalitätsfrage mehrheitlich imHinblick auf die ‚Tat‘ als asoziales Geschehnis. Und sie beantwortet sie mehr-heitlich mit einer Theorie57, welche den sozialschädlichen Erfolg für „ob-jektiv zurechenbar“ erklärt, wenn eine Person für ihn „eine rechtlich rele-vante Gefahr geschaffen hat“58. Diese Theorie, der m. E. im Einzelnen nochmanche Unklarheiten und Mängel anhaften59, weist den Weg zu einer richti-gen Erkenntnis: dass der Ankerunwert für asoziale Prozesse nicht die vomfreien Willen gesteuerte Handlung mit ihren unterschiedlichen Attributen,sondern der sozialschädliche Erfolg ist, für den der Täter deshalb die Verant-wortung trägt, weil er ihn in sozial nicht hinnehmbarer (bzw. unerlaubt ris-kanter) Weise entweder herbeigeführt oder nicht abgewendet hat. Die Be-zeichnungen ‚Handlungsdelikt‘ und ‚Unterlassungsdelikt‘ sind in diesemZusammenhang zwar gebräuchlich, aber sie sind nur dann berechtigt, wenninnerhalb des ‚objektiven‘ Tatbestandes ausschließlich deren soziologischeBedeutung zur Bewertung ansteht. Denn:• Beim sog. ‚Handlungsdelikt‘ stehen Person und Taterfolg zwar zuvör-

derst in einem ontologischen (mechanisch-linearen) Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Nicht schon dieser Zusammenhang dient indessen derZurechnung zur Grundlage, sondern erst die soziale Rückkoppelung derWirkung an die verursachende Person. Eine solche Rückkoppelung lässtsich als einfache Rückführung (feedback) bereits bei primitiven Organis-men beobachten (biologisch-kybernetischer Ursache-Wirkungs-Zusam-menhang)60. Höhere Organismen haben sie bereits zu einem komplexen

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zurückversetzen und von dort aus das objektive Möglichkeitsurteil angeben. Dafürmuss er zugrunde legen (a) das allgemeine Erfahrungswissen seiner Zeit … (nomo-logische Urteilsbasis), (b) die zur Zeit der Begehung der Handlung vorhandnen Real-faktoren, die einem einsichtigen Menschen erkennbar waren, zusätzlich diejenigen, diedem Täter selbst bekannt waren (ontologische Urteilsbasis)“.

57 Ausführliche Darstellung dieser Lehre bei C. Roxin, Strafrecht: Allgemeiner Teil, Bd. I,3. Aufl. 1997, § 11 Rdn. 39ff.; ders., ZStW 116 (2004), S. 919ff. Ähnlich allerdings auchbereits H. Welzel, ZStW 51 (1931), S. 720, und (Anm. 21), S. 516.

58 J. Wessels/W. Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 34. Aufl. 2004, § 6 III 1b (Rdn. 179).59 Zur Kritik im Einzelnen vgl. E.-J. Lampe, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann,

1989, S. 189 ff., 194 ff.; ders., Festschrift für Roxin, 2001, S. 45 ff., 64 ff.60 Zum biologisch-kybernetischen Kausalitätsbegriff vgl. insbesondere F. M. Wuketits,

Biologie und Kausalität: Biologische Ansätze zur Kausalität, Determination und Frei-heit, 1981.

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Rückbezugssystem ausgebaut. Nur der Mensch aber hat dieses Systemnochmals kulturell übersteigert und in einem dynamischen System derVerantwortungszuschreibung verrechtlicht, worin er bestimmte Ereignissenicht nur naturwissenschaftlich-mechanisch als Folgen von Ursachen be-greift, sondern auch sozial- und rechtswissenschaftlich als ‚Erfolge‘ von‚Handlungen‘61. Auf der Unrechtsebene bedeutet das: Asoziale ‚Erfolge‘können sozial fehlerhaften ‚Handlungen‘ zugeschrieben werden, und zwarumso umfassender, je mehr beide kongruent sind62, d. h. je mehr die‚Handlung‘ in der sozialen Wahrnehmung oder Vorstellung eine sozialnicht hinnehmbare (reale oder sinnhafte) Gefahr für den ‚Erfolg‘ begrün-det hat.

Beispiele: Der Tod eines Menschen ist ein umso schwereres objektives Unrecht, jegrößer das reale Gefährdungspotential war, das der Täter hierfür geschaffen hatte. DieBeleidigung ist ein umso schwereres Unrecht, je stärker die beleidigende Intention so-zial hervortritt.

• Bei den ‚Unterlassungsdelikten‘ stehen Person und Taterfolg in keinemlinearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Hier wird die Zurechnungdaher anstatt durch eine Rückkoppelung durch eine soziale Vorkoppe-lung des Erfolgs an eine Person begründet. Eine derartige Vorkoppelungkennen wir ebenfalls bereits bei primitiven Organismen, auf genetischerGrundlage z. B. zwecks Brutpflege. Höhere Organismen haben sie bereitspsychisch ergänzt durch eine ‚Wir‘-Beziehung, welche zu altruistischemVerhalten auch gegenüber nicht verwandten Artgenossen ‚verpflichtet‘63.Doch nur der Mensch hat sie wiederum kulturell übersteigert und zu einer sozial verfestigten Garantenstellung ausgebaut, die eine soziale bzw.rechtliche Verantwortung für das ‚Rechtsgut‘ begründet, für das er ‚aufPosten gestellt‘ ist. Der asoziale Prozess entsteht hier auf der Grundlagevon Vorstellungen, deren Inhalte zwar auf die Realität bezogen, jedochmit ihr nicht identisch sind64. Er umfasst die pflichtwidrig ausgebliebeneprosoziale Handlung, z. B. die ‚Unterlassung‘ der Rettungshandlung zu-

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61 Vgl. dazu auch R. Bubner, Handlung, Sprache, Vernunft: Grundbegriffe praktischerPhilosophie, 1982, S. 146ff., der das rechtswissenschaftliche Interesse an einer Hand-lung allerdings zu eng an die Intention knüpft, die der Handelnde verfolgt.

62 Hierzu im Einzelnen E.-J. Lampe, Verantwortung und Verantwortlichkeit im Straf-recht, in: ders. (Hrsg.), Verantwortlichkeit und Recht, 1989, S. 286 ff., 298 ff.

63 Vgl. etwa H. A. Hornstein, Cruelty and Kindness: A New Look at Aggression andAltruism, Englewood Cliff/NJ, 1976.

64 Die zwar „Bestand“ haben, nicht aber „Existenz“ – so A. von Meinong, Zeitschrift fürPsychologie und Physik der Sinnesorgane 21 (1899), S. 182 ff., 186.

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gunsten eines ertrinkenden Kindes, ferner den ausgebliebenen prosozialen‚Erfolg‘, z.B. das Fortleben des zu rettenden Kindes; und er verknüpftbeide miteinander, indem der eine Inhalt, z. B. das Fortleben des Kindes,als vom anderen, z. B. von der Rettungshandlung, abhängig vorgestelltwird. Juristisch relevant ist er, wenn die Vorstellung, auf der er beruht,zusätzlich eine sozial inadäquate Gefahr umfasst, die sich aufgrund desunterlassenen prosozialen Eingriffs in den Ursache-Wirkungs-Zusam-menhang verwirklicht hat.

Erwähnt sei schließlich noch, dass eine strafbegründende Zurechnung von Taterfolgenheute ausschließlich den Gerichten obliegt: Nur sie sind dazu berufen, die soziale Gemeinschaft in der Wahrnehmung oder Vorstellung zu vertreten, dass einem Rechts-gut „nach der allgemeinen [!] Lebenserfahrung“ eine sozial nicht hinnehmbare (‚in-adäquate‘) Gefahr drohte, und nur sie sind berufen, eine Person hierfür verantwortlichzu machen.

IV.

Die bisherigen Ausführungen haben ergeben, dass der objektive (genauer:soziale) Tatbestand strafrechtlicher Delikte menschliche Willensfreiheit nichterfordert, und zwar weder als Entscheidungs- noch als Handlungsfreiheit.Soweit in ihm Handlungen (oder Unterlassungen) vorkommen – was mitAusnahme der Besitz- und Statusdelikte stets der Fall ist –, werden diese alsBestandteile von sozialen Prozessen begriffen, also von allen subjektiv-per-sonalen Erfordernissen gesäubert. Selbst unwillkürliche ‚Handlungen‘ sinddanach rechtswidrig, sofern sie sozial als verantwortlich wahrgenommenwerden65; und umgekehrt sind willkürliche Verhaltensweisen nur dannrechtswidrig, wenn die soziale Wahrnehmung sie als Verantwortung begrün-dend einstuft66. Wenn dennoch das Strafunrecht individuelle Freiheit erfor-

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65 Infolgedessen entscheidet sich die schwierige Abgrenzung zwischen Handlungen undNichthandlungen (etwa bei Spontanreaktionen und automatisierten Verhaltensweisen)nicht nach subjektiven, sondern nach sozialen Kriterien. Übereinstimmend Th. Lenck-ner, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, §§ 13ff. Vorbem. 42: Mehr oder weni-ger automatische Reaktionen würden ganz selbstverständlich daraufhin bewertet, obsie ‚falsch‘ oder ‚richtig‘ sind. Auch C. Roxin, Allg. Teil (Anm. 57), § 8 Rdn. 67, stelltder Sache nach auf die soziale Bewertung ab, obwohl er behauptet, dass „erlernteHandlungsdispositionen … zum Gefüge der Persönlichkeit“ gehören.

66 Das betrifft etwa den über besondere Fähigkeiten verfügenden Arzt, der – entgegen derMeinung von Welzel (oben bei Anm. 56) u. a. – nur dann für sein Spezialistentumeinzustehen hat, wenn dieses in irgendeiner Weise sozial hervorgetreten ist und deshalb

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dert, dann gibt es dafür offenbar nur einen Ansatzpunkt: die spezifischeRechtsfolge der Strafe. Sie kann nur verhängt werden, wenn jemand für einen Sozialprozess persönlich verantwortlich ist67. Und da persönliche Verantwortlichkeit an individuelle Freiheit gebunden ist68, ist diese notwen-diger Bestandteil eines zusätzlichen subjektiven (genauer: personalen) Un-rechtstatbestands.

Folgende terminologischen Unterscheidungen werden somit bedeutsam:Verantwortung ist die Relation zwischen einer Person und einem asozialenProzess, weshalb der Person für den asozialen Prozess eine Rechtsfolge zu-geschrieben werden kann. Verantwortlichkeit ist die Fähigkeit der Person,die ihr zugeschriebene Rechtsfolge auf sich zu nehmen69. Zu verantworten

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normativ zu erwarten war, dass er von seinen besonderen Fähigkeiten Gebrauch machen werde. Dazu auch G. Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 271ff., 283 ff.

67 Dazu neuestens G. Jakobs, ZStW 117 (2005), S. 257ff. Er vertritt die Auffassung, dasseine persönliche Verantwortlichkeit von der Rechtsordnung nicht vorausgesetzt, son-dern erst konstituiert werde. Das individuelle Können eines Täters sei eine „normativeKonstruktion“ ohne empirischen Gehalt (Anm. 26, Abschn. 17/23). Indessen schafftnicht das Recht sich als frei „geltende“ Normadressaten („Personen“), sondern indivi-duell freie („sich selbst verwaltende“) Individuen schufen und schaffen sich „geltendes“ Recht, um in sozialer Verbundenheit leben zu können. (Ich werde hierzu dem-nächst genauere historiogenetische und ontogenetische Forschungsberichte vorlegen.Vgl. einstweilen E.-J. Lampe, Genetische Rechtstheorie: Recht, Evolution und Ge-schichte, 1987; ders., Festschrift für Rolinski, 2002, S. 401ff.) Die Auffassung von Jakobs lässt offen, welche normativen Erwartungen die Gesellschaft erzeugen und anwelchen sie kontrafaktisch festhalten darf, bzw. auf welche hin der Einzelne sich ent-werfen soll, um sie erfüllen zu können. Weder der Nutzen für die Gesellschaft noch dieGewaltdrohung der sozial Mächtigen vermag dafür die hinreichende Legitimation zugeben. Die „Einräumung“ ungestörter Selbstverwaltung aber, auf die Jakobs letzthinrekurriert (ZStW 117 [2005], S. 261), setzt etwas voraus, was dem Recht (zumindest logisch, wahrscheinlich aber auch zeitlich) vorgegeben ist und um dessentwillen dasRecht geschaffen werden musste: die (reale) Freiheit der Person. Gegen Jakobs m. E.mit guten Gründen C. Geisler, Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbar-keit mit dem Schuldprinzip: Zugleich ein Beitrag zum Freiheitsbegriff des modernenStrafrechts, 1998, S. 59 ff. m.w.N.

68 Vgl. dazu aus philosophischer Sicht etwa J. St. Mill, An Examination of Sir W. Hamil-ton’s Philosophy, in: Collected Works IX (1963 pp.), ch. XXVI, p. 437 pp. – Die Bindung der Verantwortlichkeit an die persönliche Freiheit wird allgemein als ein An-spruch erlebt, dessen Nichterfüllung die menschliche Würde verletzt, weil sie die indi-viduelle Autonomie leugnet (N. Hartmann [Anm. 21], S. 730f.; vgl. auch G.W. F. Hegel[Anm. 15], § 100).

69 Der hier verwendete Begriff deckt sich folglich nicht mit dem von C. Roxin, Allg. Teil(Anm. 57), § 19 Rdn. 3ff. verwendeten, wo er den Oberbegriff für Schuld und Präven-tion bildet.

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ist ein asozialer Prozess, dessen Erfolg durch sozialadäquates Verhalten hättevermieden werden können. Zu verantworten hat den asozialen Prozess einePerson, die entweder ihre Freiheit wissentlich missbraucht oder die ihrer sozialen Verpflichtung zuwiderhandelt, sich diese Freiheit zu verschaffen,sie zu bewahren und sie im Rahmen sozialer Beziehungen adäquat einzu-setzen70. Kurz gesagt: Sozial zu verantworten ist „Freiheit als (soziale) Verpflichtung“, personal zu verantworten ist „Freiheit als (persönliche) Ob-liegenheit“71.

Historisch haben sich diese heute in der Strafrechtslehre überwiegend vertretenen Zu-rechnungsgrundsätze erst in geschichtlicher Zeit herausgebildet. In vorgeschichtlicherZeit kannte der Mensch Verantwortung nur als ein einheitliches, nämlich göttliches,natürliches und soziales Ordnungsprinzip. Deshalb glaubte er, dass jede Störung dergöttlichen oder sozialen Ordnung auch in der Natur ihre Folgen habe: die Freveltatendes Ödipus etwa den Ausbruch der Pest in Theben. Vermutlich erst während der sogen. Achsenzeit (8.–2. Jh. v. u. Z.) verlor der Mensch einerseits die unmittelbare Ver-bindung zur Götterwelt72, andererseits die unmittelbare Einbettung in die Natur. Dieeinheitliche Verantwortung zerfiel daraufhin: Man unterschied zwischen einer Ursäch-lichkeit im natürlichen Sinne und einer Verantwortung im religiösen und im anthropo-logischen Sinne („vor Gott und den Menschen“). Der Zusammenhang zwischen gött-licher, natürlicher und menschlicher Ordnung blieb allerdings zunächst noch erhalten:Wie der natürlichen Ursache die natürliche Wirkung entsprach (causa aequat effec-tum), so entsprach dem göttlichen Gebot die menschliche Verpflichtung und so sollteim Rechtsbereich der Straftat die Tatstrafe entsprechen (Talionsprinzip73). Erst späterlockerte sich der Zusammenhang, indem, was die Straftat anbelangt, zur natürlichen diepersonale Kausalität und, was die Tatstrafe anbelangt, zur kausal begründeten Talion dieanthropologisch begründete Abschreckung oder Besserung durch Erziehung hinzutrat(oder sie gar verdrängte74). Ganz verloren ging die Zusammengehörigkeit jedoch bisheute nicht: Beispielsweise wahrt unser Strafrecht sie noch in der Zweispurigkeit seinesSanktionensystems, in der Doppelfunktion seiner Strafe („punitur, quia peccatum est etne peccetur“) und in der poena naturalis als Ersatz für die Verhängung einer moralisch-

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70 Vgl. F.W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800), in: WW (Hrsg.K. F. A. Schelling) Bd. II (1799–1801), S. 573: „Das Ich soll nichts anderes wollen als dasreine Selbstbestimmen selbst“.

71 E.-J. Lampe (Anm. 14), S. 188ff.; ders., ZStW 79 (1967), S. 476 ff., 491 ff.72 Die Herrscher waren nicht mehr Götter oder deren Abkömmlinge, sondern standen

unter den Göttern und waren ihnen verantwortlich.73 Mit äußerster Konsequenz durchgeführt erstmals im Codex des Hammurabi.74 Seneca, De ira, lib. I, 19.7 (unter Bezug auf Platon, Nomoi XI, 933e/934a): „Nemo

prudens punitur, quia peccatum est, sed ne peccetur“ („Kein verständiger Menschstraft, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde; die Vergangenheitnämlich kann man nicht ungeschehen machen, doch Zukünftiges kann man verhin-dern.“)

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rechtlichen Strafe (§ 60 StGB) – etwa weil der einbrechende Dieb von der Leiter ge-fallen und zeitlebens zum Krüppel geworden ist. Darüber hinaus lebt allgemein nochder Glaube fort, dass außer dem irdischen Richter auch noch Gott als himmlischerRichter die Untaten der Menschen straft – wenn nicht zu Lebzeiten, dann wenigstensnach dem Tode75.

Allerdings führt die moderne Vereinigung der Verantwortung vor Gott, der Natur undden Menschen nicht mehr zur Einheitsstrafe für religiöse Sündhaftigkeit, unnatürlicheCharaktermängel und den Missbrauch individueller Freiheit. Demgemäß hat weder die „Verantwortung vor Gott“, von der noch die Präambel unserer Staatsverfassungspricht, Einfluss auf die Rechtsprechung unserer Strafgerichte, noch ist die Reparatureines krankhaft schlechten Charakters eine Funktion der strafgerichtlichen Sanktionen.Die Strafe des Rechts knüpft heute allein an die Verantwortlichkeit des Täters an, unddiese sieht man einzig begründet im Missbrauch oder Nichtgebrauch individuellerFreiheit anlässlich einer Situation, die einen asozialen Gebrauch verbot oder einen pro-sozialen Gebrauch gebot.

Auf die Frage nach der Bedeutung der menschlichen Freiheit innerhalbdes Strafunrechts lautet demnach die Antwort: Sie ist erforderlich, um zumeinen die persönliche Verantwortung für rechtswidrige Sozialprozesse undzum anderen die persönliche Zuständigkeit für das Erleiden von Strafe alsRechtsfolge zu begründen.

Diese Antwort bringt den Strafjuristen freilich in Verlegenheit; denn erist zur Erforschung, ob der Mensch generell frei ist und ob ein spezieller Täter frei gehandelt hat, außerstande. Als Wissenschaftler muss er sich aufdie Befunde von Neurologen und Psychologen, als Praktiker auf die Be-funde von psychiatrischen Sachverständigen stützen. Diese Befunde habenjedoch bisher ziemlich regelmäßig zu einem ignoramus (oder gar ignora-bimus) geführt. Um gleichwohl zu einem Urteil über die Freiheit mensch-lichen Verhaltens zu gelangen, muss er sich deshalb, will er vor dem Jahr-tausende alten Problem nicht kapitulieren, dogmatischer Postulate oderseiner „freien Überzeugung“ bedienen.

Ein Postulat des theoretischen Strafjuristen lautet denn auch: Zumindestabstrakt-generell ist der Mensch frei. Diesem Postulat ist die Entscheidungdes Großen Strafsenats des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1952 gefolgt:

„Der Mensch [ist] auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt unddeshalb befähigt, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Ver-halten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Ver-

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75 Die Vorstellung von einem Totengericht ist bei fast allen Völkern verbreitet, die an daspersönliche Fortleben nach dem Tode glauben.

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botene zu vermeiden, sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlagezur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht … vorübergehend gelähmt oder auf Dauerzerstört ist. Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sitt-licher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das Unrecht entscheidet, ist dieKenntnis von Recht und Unrecht“76

Begründet wird das Postulat hauptsächlich mit dem historisch geworde-nen – und in der Sprache verfestigten77 – Freiheitserlebnis, dessen sozialeRealität das Strafrecht anerkennen müsse78. Dem wird jedoch entgegen-gehalten, dass man aus einem – selbst universellen – Freiheitserlebnis nichtauf das Vorhandensein des Erlebten schließen dürfe, da man der Binnen-perspektive sonst eine Bedeutung zuweise, die ihr für das Vorhandensein des Erlebten wissenschaftstheoretisch nicht zukomme79. Auch der weitereHinweis auf den Indeterminismus des mikrophysikalischen Geschehens er-scheint den meisten als nicht beweiskräftig, da Regelungsmaterie für dasStrafrecht nichts Zufälliges oder auch nur mit einer bestimmten Wahrschein-lichkeit zustande Gekommenes sei80.

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76 BGHSt. (GS) 2, 194ff., 200. Kritisch zu dieser Entscheidung u. a. G. Jakobs, Strafrecht-liche Schuld ohne Willensfreiheit, in: D. Henrich (Hrsg.), Aspekte der Freiheit, 1982, S. 69ff., 70: „Die Richter waren keine schlechten Juristen, aber sie waren schlechte Phi-losophen“.

77 Dazu schon F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Bd. II (1886), in: WW(Hrsg. K. Schlechta) Bd. II, S. 879 (11): „Der Glaube an die Freiheit des Willens … hatin der Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt.“ Heute vor allem B. Schüne-mann, Festschrift für Lampe, 2003, S. 537 ff., 547 ff.

78 Vgl. Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 281f.; E. Dreher, Die Wil-lensfreiheit, 1987, S. 383; jeweils m. w. N.

79 Zur Unterscheidung zwischen Erster-Person-Perspektive und Dritter-Person-Per-spektive vgl. K. Jaspers, Der philosophische Glaube, 1948 (S. 50: „Zwei Wege zeigenuns den Menschen: entweder den Menschen als Forschungsgegenstand oder den Men-schen als Freiheit.“); D. Mac Kay, On the logical indeterminacy of a free choice, in:Mind 690 (1960), p. 31 pp.; Th. Metzinger, Subjekt und Selbstmodell, 1993 (S. 96: „DieMikro-Ereignisse, von denen wir nicht verstehen, wie sie Grundlage phänomenalenBewusstseins sein können und über die wir mehr und mehr erfahren, werden aus-schließlich aus der [,Dritte-Person‘-]Perspektive der Neurowissenschaftler untersuchtund erklärt. Sie gehören weder zu unserer mesokosmischen Lebenswelt noch sind sieintrospizierbar. Was wir ihnen manchmal vorschnell nach der Makro-Mikro-Analogieals subjektive Erlebnisinhalte zuordnen, sind nicht Gegenstände derselben Erkenntnis-methode, sondern Resultate der Anwendung des bis dato wissenschaftlich noch unver-standenen Prozesses der mentalen Repräsentation auf sich selbst.“). Siehe ferner obenbei und in Anm. 1.

80 Th. Herrmann, Willensfreiheit – eine nützliche Fiktion?, in: M. von Cranach/K. Foppa(Anm. 31), S. 56ff., 61f.; vgl. allerdings auch H. Walter, Neurophilosophie der Willens-freiheit: Von libertarischen Illusionen zum Konzept natürlicher Autonomie, 1999, S. 42ff., 194ff.

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Weitaus vorsichtiger ist daher ein anderes Postulat: Das Strafrecht könneohne den wissenschaftlichen Nachweis der Willensfreiheit auskommen81, (a) weil der Mensch sich selbst als ein autonomes, gesellschaftlich durchNormen bestimmtes Wesen versteht82 (b) weil die Gesellschaft den Men-schen normativ als frei und schuldhaft konstruiert, um ihren Normstabilisie-rungsbedarf durch seine Bestrafung befriedigen zu können83, (c) weil er vomintelligiblen Standpunkt aus, der für das Strafrecht maßgeblich ist, selbstdann als frei angesehen werden muss, wenn er sich von einem empirischenStandpunkt aus als unfrei darstellen sollte84.

Und geradezu trotzig lautet ein drittes Postulat: Auch ein erwiesener-maßen willensunfreier Mensch sei für sein Handeln verantwortlich, weil (a)die Determination seines Willens immerhin seine Handlungsfreiheit (alsFreiheit von physischem Zwang) bestehen lässt85 oder weil (b) sein rechts-widriges Verhalten in einem vom Normalfall abweichenden Charakter be-gründet liegt86.

Der praktische Strafjurist hat bisher das erstgenannte Postulat trotz derschmalen Erkenntnisgrundlage benutzt: die generell-abstrakte Freiheit desMenschen. Allerdings hat er selbst von diesem Postulat aus niemals ein-deutig deduzieren können, dass ein konkret-individueller Angeklagter imAugenblick der Tat frei gehandelt hat87. Denn das Postulat enthält keinenunumschränkten Allsatz; es behauptet lediglich die Freiheit des ‚normalen‘

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81 Denn das Freiheitsproblem sei wissenschaftlich unlösbar, seine Lösung aber für die Frageder Verantwortlichkeit (bzw. Schuld) auch nicht präjudiziell. Vgl. etwa G. Straten-werth/L. Kuhlen, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2004, § 1 Rdn. 6. Zur Fragwür-digkeit dieses Standpunkts vgl. E. Gimbernat-Ordeig, ZStW 82 (1970) S. 379 ff., 382 ff.

82 K. Lackner/K. Kühl, Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 2004, vor § 13 Rdn. 26. Ähnlich H.-H. Jescheck/Th. Weigend (Anm. 25), § 37 I 3 m. w. N.

83 G. Jakobs (Anm. 26), Abschn. 17/23f.; ders., ZStW 117 (2005), S. 264 (dazu schon obenAnm. 67). Als bloß „normative Setzung“ stellt sich auch für C. Roxin, Allg. Teil (Anm.57), § 19 Rdn. 41, die Freiheit dar.

84 So (im Anschluss an I. Kant) S. Haddenbrock, Festschrift für Salger, 1995, S. 633ff. (zuKant S. 642); u. ö.

85 Th. Hobbes, Leviathan, ch. 21; idem, De Cive, ch. 9, § 9; D. Hume, An Enquiry Con-cerning Human Understanding, VIII: Of Liberty and Necessity.

86 K. Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Dok-trin der Gegenwart, 2. Aufl. 1965, S. 45ff. m. w. N. Vgl. auch E. Kohlrausch, FestgabeGüterbock, 1910, S. 1ff., 26: „Das generelle Können ist tatsächliche Voraussetzung jedes Zurechnungsurteils, das individuelle Können aber wird zu einer staatsnotwendi-gen Fiktion“.

87 C. Roxin, Allg. Teil (Anm. 57), § 19 Rdn. 21.

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Menschen innerhalb einer Bandbreite von ‚normalen‘ Situationen88. Wederdie ‚Normalität‘ eines bestimmten Täters noch die einer bestimmten Tat-situation hat er jedoch nachträglich, d. h. im Zeitpunkt der Aburteilung, um-fassend ermitteln können; stets blieb ein Rest seinen Erkenntnisbemühun-gen entzogen89. Weil ein Strafprozess aber niemals mit einem non-liquetenden darf, erlaubt ihm das Gesetz die Würdigung der prozessualen Beweis-lage nach „freier Überzeugung“ (§ 261 StPO)90. Von diesem Recht hat erbisher Gebrauch gemacht – in der Regel, um die freie Selbstbestimmung desTäters selbst dann zu bejahen, wenn die Umstände der Tat eigentlich da-gegen sprachen91.

Doch zurück zur Theorie und zu den tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen der Strafjurist abstrakt-generell die Freiheit und infolgedessenVerantwortlichkeit eines Täters bejaht. Das Gesetz benennt zum einen denVorsatz als „Wissen92 und Wollen“ der Tatbestandsverwirklichung, lässtausnahmsweise aber auch die Fahrlässigkeit als „Außerachtlassung der imVerkehr erforderlichen Sorgfalt“ ausreichen (§§ 15f. StGB); und es benenntzum anderen die „Einsicht, Unrecht zu tun“, stellt ihr aber das vermeidbareFehlen zur Seite, wenn auch nicht gleich (§ 17 StGB). Bei diesen Merkmalenhandelt es sich um keine empirischen Phänomene, sondern um normativeKonstrukte, die lediglich einen empirischen Kerngehalt aufweisen. Infolge-dessen tritt bei ihnen das (faktische) ‚Wollen‘93 fast vollständig in den Hinter-

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88 K. Lackner, Festschrift für Kleinknecht, 1985, S. 245ff., stellt daher mit Recht fest, dasskeine wissenschaftliche Methode jemals eine Aussage über die Fähigkeit eines be-stimmten Menschen erlauben wird, „eine bestimmte Handlung in einer bestimmten Situation zu vermeiden“ (S. 249).

89 Infolgedessen heißt es bei H.-L. Schreiber, Rechtliche Grundlagen der psychiatrischenBegutachtung, in: U. Venzlaff/K. Foerster (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung,2. Aufl. 1994, S. 3ff., 10: Basis der Zurechnung rechtswidrigen Verhaltens könne nur„das Zurückbleiben hinter dem Maß an Verhalten [sein], das vom Bürger unter norma-len Bedingungen erwartet wird“. Zur Ermittlung einer solchen Basis bedürfe es dannnicht „der individuellen Feststellung [der] im Strafverfahren unzugängliche[n] Willens-freiheit …, sondern lediglich [der] normale[n] Bestimmbarkeit des Verhaltens durchsoziale Normen“.

90 Einzelheiten etwa bei B. Jähnke, in: LK-StGB, 11. Aufl. 2003, § 20 Rdn. 13 ff.91 Vgl. etwa B. Krümpelmann, ZStW 88 (1976), S. 6ff., 26.92 Ein ‚Wissen‘ ist allerdings nicht immer erforderlich (vgl. W. Frisch [Anm. 45], S. 90f.,

192ff.); denn auch der Irrtum des Täters, er werde die Tatbestandsmerkmale verwirk-lichen, reicht zum Vorsatz aus – es kommt eine Bestrafung wegen Versuchs in Betracht.§ 22 StGB spricht infolgedessen von der „Vorstellung“ des Täters.

93 Zum Begriff vgl. J. Kuhl, Wille und Freiheitserleben: Formen der Selbststeuerung, in:ders./H. Heckhausen (Hrsg.), Motivation, Volition und Handlung (Enzyklopädie derPsychologie, Bd. C IV 4), 1996, S. 665ff., 678: „Die Begriffe Volition und Wille be-

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grund; terminologisch lässt es sich sogar überall durch andere Begriffe (wieinsbesondere das ‚Wünschen‘) ersetzen.• Direkter Vorsatz: Die Kernaussage lautet, dass sich der ‚Wille‘ des Täters

sowohl auf den tatbestandlichen Erfolg als auch auf den zu ihm hin-führendenden sozialen Prozess bezieht. Doch werden Abweichungenzugelassen: Zum einen soll es genügen, wenn der Täter zwar auf den Erfolg aus ist, er aber über den zu ihm hinführenden Prozess im Un-klaren bleibt und insoweit auf sein ‚Glück‘ vertraut. Zum anderen soll esgenügen, wenn es dem Täter zwar auf den zum Erfolg hinführenden asozialen Prozess ankommt, nicht aber auf den Erfolg selbst, den er viel-mehr nur als unvermeidlich eintretend in seine Vorstellung aufnimmt.Normativ kompensiert also das Erwünschtsein des Erfolges die bloß un-sichere Vorstellung des asozialen Prozesses, die sichere Vorstellung einesasozialen Prozesses das Unerwünschtsein des Erfolges.

• Bedingter Vorsatz: Er wird von der Rechtsprechung nicht mehr als ‚Wol-len‘, sondern bloß als „billigende Inkaufnahme eines (an sich uner-wünschten) Erfolges“ definiert94. Wann ein Täter einen Erfolg billigendin Kauf nimmt, lässt sich nicht empirisch feststellen, sondern nur norma-tiv festsetzen. Da insoweit das Rechtsgefühl gefragt ist, rankt sich um dieRechtsprechung eine überreiche Literatur, die sich vor allem mit der Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit beschäftigt. Die meisten Ab-grenzungsversuche stellen auf das Motiv ab, weshalb der Täter handelte,obwohl er die Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung erkannte: weil ersich mit dem Erfolg abgefunden habe, weil er es auf ihn ankommen lassenwolle, weil er ihm gleichgültig gewesen sei, usw. Scheinbar ohne ein sol-ches motivisches Potential kommt lediglich eine weitere Theorie aus, dieschlicht auf die bewusste Nichteinlegung eines willentlichen Vetos gegendie Tatbestandsverwirklichung abstellt: Sie erkennt als das entscheidendeKriterium das Fehlen eines „Vermeidewillens“ trotz Wissen um die mög-liche Rechtsgutsverletzung95.

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zeichnen eine Kategorie kooperierender psychischer Funktionen, welche bei Vorliegenvon Realisierungsschwierigkeiten die zeitliche, räumliche, inhaltliche und stilistischeKoordination einer großen Zahl von Teilfunktionen … aufgrund eines einheitlichenSteuerungsprinzips vermittelt, das wir als ‚Absicht‘ oder ‚Ziel‘ bezeichnen.“

94 Vgl. etwa BGHSt. 21, 283 ff., 285; 7, 363, 369.95 Armin Kaufmann, ZStW 70 (1958), S. 64ff. Der Vorsatz ist danach zu definieren als

‚(subjektive) Vorstellung eines tatbestandlichen Erfolges und eines möglicherweise zuihm hinführenden sozialen Prozesses ohne den Willen, den Erfolg oder den zu ihmhinführenden sozialen Prozess zu vermeiden‘. Auch diese Theorie kommt allerdings

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• Bewusste Fahrlässigkeit: Die Definition der Fahrlässigkeit als „Außer-achtlassung der im [sozialen] Verkehr erforderlichen Sorgfalt“ (§ 276Abs. 2 BGB) setzt zunächst nur voraus, dass das Verhalten einer Personeine sozial inadäquate Gefährdung für ein Rechtsgut beinhaltet und dassdie Gefährdung wächst, je weiter der asoziale Prozess fortschreitet – in-soweit wiederholt sie also lediglich ein wesentliches Moment des asozialenProzesses96. Wesentlicher ist das Moment der ‚Bewusstheit‘, womit ge-meint ist, dass das Verhalten des Täters normativ nicht hinreichend ander Ausschaltung der asozialen Gefährdung (und somit an der Vermei-dung des Taterfolgs) orientiert war. Dafür werden wiederum von denmeisten Theorien teils empirische, teils normativ bewertete Motive ange-führt: etwa weil der Täter den Eintritt des Erfolges für überwiegend unwahrscheinlich angesehen, weil er ihn zwar ernst, aber nicht ernst genug genommen oder weil er auf sein Ausbleiben vertraut habe. Auchdie Theorie des „Vermeidewillens“ fügt hier eine Komponente ein, diezwar einen empirisch feststellbaren Kern besitzt, im Übrigen jedoch nor-mativ ist: die Existenz eines Bereitschaftspotentials, das stark genug war,einen Willensentschluss zur Vermeidung des sozialschädlichen Erfolgeszu erzeugen, jedoch nicht stark genug, um daraus eine hinreichend wirk-same Vermeideaktivität hervorgehen zu lassen97.

• Unbewusste Fahrlässigkeit: Sie weist keinerlei Willensbezug auf und wirddaher von einigen Autoren als Strafgrundlage auch nicht anerkannt98.Wenn dennoch Verantwortlichkeit bejaht wird, wird sie auf die personaleFähigkeit (d. i. Freiheit) gestützt, ein Bereitschaftspotential für einen zur Gefahrabwehr hinreichend wirksamen „Vermeidewillen“ aufzubauen.Voraussetzung dafür ist freilich eine soziale Situation, die auf eine Rechts-gutsgefährdung hindeutet: ein Ver‚antwortung‘ begründender situativer‚Anspruch‘, auf den sich normativ die Verantwortlichkeit bezieht.

• Den beiden Arten des Vorsatzes entsprechen zwei Arten des Unrechts-bewusstseins: Unbedingt besitzt es der Täter, der sicher weiß, dass er füreinen rechtswidrigen Sozialprozess die Verantwortung trägt, bedingt da-

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nicht ganz ohne Motivforschung aus: Sie setzt voraus, dass der Täter „seiner eigenenGeschicklichkeit eine reelle Chance einräumt“ (S. 77).

96 Vgl. C. Roxin, Allg. Teil (Anm. 57), § 24 Rdn. 12.97 Zur Kritik an der Theorie vom nicht betätigten Vermeidewillen vgl. etwa W. Frisch

(Anm. 45), S. 15 ff.98 So u. a. Arthur Kaufmann (Anm. 78), S. 156ff., 162; M. Köhler, Die bewusste Fahr-

lässigkeit, 1982, S. 414 f.

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gegen auch derjenige, der insoweit zwar Zweifel hat, sie aber (nach nor-mativem Maßstab ungenügend) überwindet.

• Vermeidbar fehlendes Unrechtsbewusstsein: Es entspricht der Fahrlässig-keit in Bezug auf einen asozialen Prozess, betrifft aber nicht dessen Rea-lität, sondern dessen Bewertung als Unrecht. Zu unterscheiden sind eineBewertung, welche das Gefährdungspotential des asozialen Prozesses(vermeidbar) falsch, nämlich als noch sozialadäquat, einschätzt und des-halb keine Vermeideaktivität veranlasst, und ihr potentielles Pendant,nämlich die (vermeidbare) Nichtbewertung trotz Aufforderungsgehalteiner sozialen Situation.Zu diesen rein inneren Merkmalen muss, darin ist der traditionellen Lehre

zuzustimmen, ein äußeres Verhalten (Tun oder Unterlassen) hinzutreten,welches einen asozialen Prozess entweder anstößt oder nicht abbricht oderin seinem Ablauf sozial negativ verändert. Die Soziologie bezeichnet die Beteiligung von Teilen eines personalen Systems an Teilen eines sozialen Systems als „Interpenetration“99. Der Begriff, der soviel wie ‚wechselseitigeDurchdringung‘ bedeutet, lässt sich m. E. auch auf das Verhältnis des perso-nalen Verhaltens zum asozialen Prozess anwenden: Die personale Handlungoder Unterlassung ‚durchdringt‘ den asozialen Prozess, indem z. B. ihre Finalität auch dem Prozess seinen Sinn verleiht (etwa als Tötungsversuch)100;umgekehrt ‚durchdringt‘ der asoziale Prozess die personale Handlung, in-dem z. B. die Rechtsgutsverletzung, worin er endet, auch der (intentionalschon im Versuch endenden) Handlung ihren sozialen101 Sinn gibt (z. B. alsfahrlässige Tötung).

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99 Vgl. insbesondere T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, 1972 (Orig.: TheSystem of Modern Societies, Englewood Cliffs/NJ 1971), S. 12ff., der den Begriff füreinen Verbindungsmechanismus zwischen kulturellen, sozialen, personalen Systemenund dem Gesamtorganismus verwendet, wodurch Teile der verknüpften Systeme alseinheitliches Subsystem fungieren. Hauptaufgabe der Persönlichkeitssysteme sei dieZielverwirklichung, Hauptaufgabe der sozialen Systeme die Integration der Persön-lichkeitssysteme. Es handle sich jedoch nicht um „konkrete Seinseinheiten“, sondernum „analytische Konstruktionen“.

100 Sachlich übereinstimmend M. Polaino-Navarrete, Festschrift für Gössel, 2002, S. 157ff.,168.

101 Zur „Heterogonie der Zwecke“, deren soziale Dimension die ungewollten Folgen eines gewollten Tuns sind, vgl. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psycho-logie, Bd. 3, 3. Aufl. 1911, S. 766. Nach den Untersuchungen von Blakemore et al. istder Mensch neuronal programmiert, zu Beginn einer Handlung erstens die Bewegungzu bestimmen, die einen Effekt in der (sozialen) Außenwelt erreicht, und zweitens dieErwartung zu produzieren, dass der Effekt aufgrund der Bewegung eintritt. Tritt der

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V.

Wenn Vorsatz, Fahrlässigkeit und Unrechtsbewusstsein lediglich normativeKonzepte sind, obzwar mit faktischem Kerngehalt, lässt sich die hierauf beruhende persönliche Verantwortlichkeit von Straftätern nicht rein empi-risch-logisch feststellen. Feststellbar ist lediglich das Vorhandensein oderFehlen ihrer Kerngehalte: (1) des Bewusstseins, dass ein Rechtsgüter gefähr-dender Prozess willentlich kontrolliert oder kontrollierbar abläuft, und (2)des Bewusstseins, dass die Ausübung oder Nichtausübung der Kontrollerechtswidrig ist. Das Freiheitsproblem erstreckt sich folglich: (1) auf daskontrollierende Planen und Handeln, (2) auf das wertende Abwägen des Fürund Wider einschließlich der jeweiligen Konsequenzen.

Die Differenz zwischen einer Vorsatz- und einer Fahrlässigkeitstatscheint dabei mit dem unterschiedlichen Defizit im Unrechts- und Realitäts-bewusstseins zu korrespondieren: Dem Vorsatztäter wird zur Last gelegt,etwas Rechtswidriges zu wollen, dem Fahrlässigkeitstäter, etwas (ungewollt)Rechtswidriges zu tun. Kürzer und pointierter: Dem Vorsatztäter fehle es anGewissen, dem Fahrlässigkeitstäter an Wissen. Indessen stimmt das nurschwerpunktmäßig. Denn dem Vorsatztäter wird als Folge mangelnden Gewissens auch sein Vorsatz (und dessen Verwirklichung), dem Fahrlässig-keitstäter als Grund für sein Wissensdefizit auch mangelndes Gewissen zurLast gelegt.

Deshalb ist es kaum überzeugend, wenn Vorsatz und Unrechtsbewusstsein von derheute ganz h. M. systematisch getrennt und die Trennung damit begründet wird, dassder Vorsatz etwas sei, was dem Täter vorgeworfen wird, das Unrechtsbewusstseinhingegen etwas, weshalb dem Täter etwas (scil. der Vorsatz) vorgeworfen wird102.Dass die Begründung der Trennung nicht stichhaltig ist, ergibt sich aus ihrer beliebi-gen Umkehrbarkeit; denn der Vorsatz ist auch etwas, weshalb dem Täter ein Vorwurfgemacht wird, und das Unrechtsbewusstsein auch etwas, was dem Täter (wegen derUnwirksamkeit auf seinen Willen) vorgeworfen wird. Und dass die Trennung selbstfehlerhaft ist, ergibt sich daraus, dass Ver- und Gebotsnormen nur über das Bewusst-sein wirksam werden können und deshalb nur derjenige, dem sie bewusst geworden

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erwartete Effekt nicht ein, dann wird dies als Gefühl wahrgenommen, nicht nur denstattdessen eingetretenen Effekt, sondern auch die Bewegung nicht selbst bestimmt zuhaben (S.-J. Blakemore/D. M. Wolpert/C. D. Frith, Abnormalities in the awareness ofaction, in: Trends in Cognitive Sciences 6 [2002], p. 237 pp.).

102 H. Welzel (Anm. 20), § 22 II (S. 161: „Weil der Täter die Rechtswidrigkeit erkennenund demgemäß seinen rechtswidrigen Handlungsentschluss unterlassen konnte, wirdihm dieser zum Vorwurf gemacht“).

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sind, den rechtlich relevanten Vorsatz fassen kann, ihrem Anruf zuwiderzuhan-deln103.

Genauer ist folglich die Behauptung, dass sowohl Vorsatz- als auch Fahr-lässigkeitstäter dann verantwortlich sind, wenn sie genügend Wissen undGewissen hatten, um sich willentlich für das Recht und gegen das Unrechtzu entscheiden und dementsprechend zu handeln. Doch selbst gegen eine sobegründete Verantwortlichkeit bestehen Bedenken: Ob jemand Wissen undGewissen genug besitzt, um sich für das Recht und gegen das Unrecht zuentscheiden, liegt oft nicht in seiner Macht. Deshalb muss abermals genauervorausgesetzt werden, dass Vorsatz- und Fahrlässigkeitstäter die Freiheithatten, sich das nötige Wissen und Gewissen zu erwerben. Hatten sie dieseFreiheit, dann waren sie innerlich verpflichtet, von ihr Gebrauch zu machen.Denn Freiheit ist Aufgabe104! Wiederum genauer ist also zu formulieren:Freiheit ist erstens (‚ontogenetisch‘) die Aufgabe, die eigenen natürlichenFähigkeiten, sowohl erkenntnis- und handlungsmäßiger als auch moralisch-rechtlicher Art, so auszubilden, dass man mit ihnen im sozialen Leben be-stehen kann; und sie ist zweitens (‚aktualgenetisch‘) die Aufgabe, die er-kenntnis- und handlungsmäßigen sowie die moralisch-rechtlichen Kräfte soeinzusetzen, dass man auf den ‚Anruf‘ der sozialen Umwelt hin mit einemver‚antwort‘lichen Verhalten ‚antworten‘ kann.

Verantwortlichkeit wird also nicht erst durch Willensfreiheit oder durch Wissen undGewissen erzeugt, sondern bereits durch die Freiheit zu Wissen und Gewissen. Würdesie erst durch Wissen erzeugt, könnte der unbewusst fahrlässig handelnde Täter nichtbestraft werden. Denn er war mangels Gefahrbewusstseins nicht frei, einen die Gefahrvermeidenden Willen zu bilden und entsprechend zu handeln. Ein Autofahrer, der am Straßenrand Ball spielende Kinder aus Unachtsamkeit nicht bemerkte und deshalbnicht schnell genug bremsen konnte, als ihm plötzlich eines der Kinder vor den Wagenlief, bliebe straffrei. Ein anderer, der die Kinder zwar bemerkte, aber aus Sorglosigkeitdarauf vertraute, dass keines dem Ball nach auf die Straße laufen werde, würde da-

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103 E.-J. Lampe (Anm. 14), S. 252f.; insoweit übereinstimmend H. Otto, Grundkurs Straf-recht: Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 7 V 1; ders., ZStW 87 (1975), S. 540ff., 590ff.; Arthur Kaufmann, Festschrift für Lackner, 1987, S. 185, 186ff. Vgl.ferner G. Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 33 ff.

104 Vgl. dazu E.-J. Lampe (Anm. 14), S. 188ff.; ders., ZStW 79 (1967), S. 491ff. Aus demphilosophischen Schrifttum vgl. insbesondere J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts:Versuch einer phänomenologischen Ontologie, 1993, S. 163ff., 753ff. (Orig.: L’être et lenéant: Essai d’ontologie phénoménologique, 1943, p. 115 pp., 508 pp.): Der mensch-lichen Existenz ist die Notwendigkeit auferlegt, ständig sich wählen zu müssen: „Ichbin verurteilt, frei zu sein!“ (S. 515). Da meine Freiheit keinerlei äußere Beschränkun-gen kennt, ist sie eng an die Verantwortlichkeit gekoppelt (S. 950 ff.).

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gegen bestraft werden. Eine offenbar ungerechte Diskrepanz! Würde die Verantwort-lichkeit erst durch Gewissen erzeugt, müsste das Strafrecht denjenigen Täter vonStrafe verschonen, dem die Rechtswidrigkeit seines Tuns nicht bewusst wurde und derdeshalb kein Veto gegen die Verwirklichung seiner Handlungsbereitschaft einlegte.Dagegen wäre er strafbar, wenn er die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens zwar im Gewissen erwog, aber fälschlich zu einem (vermeidbar) verneinenden Ergebnis kam.Am Beispiel verdeutlicht: Wer seinen Beleidiger verprügelte, bliebe straffrei, wenn eraufgrund seiner Erregung im Augenblick der Tat105 nicht bedachte, dass er rechtswid-rig handelt. Dagegen würde er – wenngleich milder (vgl. § 17 Satz 2 StGB) – bestraft,wenn er die Situation zwar bedachte, aber fälschlich meinte, ein Ehrenmann habe dasRecht, seinen Beleidiger zu verprügeln. Eine ebenfalls ungerechte Diskrepanz!

Aus diesem Grunde besteht das personale Unrecht im Verstoß gegen dasGebot, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln106. Doch an wen,wenn nicht an den Willen, richtet sich dieses Gebot? Und wer, wenn nichtder Wille, ist frei, ihm zu folgen oder ihm zuwiderzuhandeln? Die m. E.richtige Antwort lautet: Die Freiheit hierzu existiert innerhalb eines Funk-tionszentrums, das dem Willen vorgelagert ist: im personalen Ich-Selbst107.Nicht der Wille des Menschen ist frei, sondern sein Ich entschließt sich frei,ob es handeln will oder nicht108. Nicht das Sollen des Menschen ist frei, son-dern sein reflexives Selbst109 entscheidet frei, ob Ich handeln soll oder nicht.

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105 Zum Problem der Affekttaten, auf das ich hier nicht eingehen kann, vgl. aus strafrecht-licher Sicht R. Lange, Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 259ff., 270ff.; aus psychia-trischer Sicht W. Mende, Die ‚tiefgreifende Bewusstseinsstörung‘ in der forensisch-psychiatrischen Diagnostik, ebenda S. 311ff. Weitere Literaturangaben etwa bei B. Jähnke (1992), Schrifttum (F) zu § 20; K. Lackner/K. Kühl (Anm. 82), § 20 Rdn. 7.

106 E.-J. Lampe (Anm. 14), S. 205; ähnlich G. Jakobs (Anm. 103), S. 39.107 Dieser Begriff erscheint mir treffender als der traditionelle des Geistes (lat. animus),

dessen Fähigkeiten dann Wissen (intellectus) und Wollen (voluntas) sind.108 Vgl. J. Kuhl (Anm. 93), S. 681: Ich als „Auftraggeber des Volitionssystems“. Überein-

stimmend J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, 1757 (Orig.: An EssayConcerning Human Understanding, 1690), 2. Buch, 21. Hauptstück, § 21: „Um nunwieder auf die Untersuchung der Freiheit zu kommen, so glaube ich, dass eigentlich dieFrage nicht ist: ob der Wille frei sei; sondern ob der Mensch frei sei [zu wollen].“ Ähn-lich schon Aristoteles, Über die Seele I 4 (408b): „Denn es ist wohl besser nicht zu sagen, die Seele habe Mitleid oder lerne oder denke nach, sondern der Mensch mittelsder Seele“.

109 Der Begriff des Selbst ist äußerst vieldeutig, wie die Zusammensetzungen in Selbst-bewusstsein, Selbstbestimmung, Selbstbewertung, Selbstvertrauen, Selbstkontrolle u.dgl. zeigt. Hier wird er im Sinne einer Kontrolle des Ich aufgrund des abwägenden undbewertenden Bewusstseins (‚Gewissen‘) gebraucht. Vgl. dazu N. Matros, SalzburgerJahrbuch für Philosophie 10/11 (1966/67), S. 169ff. (Wiederabdruck in: J. Blühdorn[Hrsg.], Das Gewissen in der Diskussion, 1976, S. 187 ff.).

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Daher ist die Annäherung an das personale Ich-Selbst die sich nun stellendeAufgabe.

Was zunächst die Definition anbelangt, möchte ich mich auf die bereitserwähnten Untersuchungen des Neurologen Libet stützen. Nach dessen eigener Interpretation führen sie zu dem Ergebnis, dass der (normale)Mensch die Fähigkeit besitzt, durch sein Wollen das Wirksamwerden einesbereitstehenden Handlungspotentials abzublocken110. Auf dieser Grund-lage muss die Definition lauten: Das ‚Ich‘ ist die Fähigkeit des Menschen,mittels seines Willens nicht verwirklichen zu müssen, wozu das Handlungs-potential in ihm fertig bereitsteht.

Bereits aufgrund dieser Definition besitzt der Mensch nicht die Fähigkeit, statt so auchanders zu handeln – wie die Freiheit oft missverständlich definiert wird; denn jede andere Handlung erfordert das Vorhandensein eines entsprechend anderen Bereit-schaftspotentials, was aber aufgrund des ontologischen Identitätssatzes ausgeschlossenist: ‚Wo ein Bereitschaftspotential ist, kann (gleichzeitig!) kein anderes sein‘111.

Die genannte Definition ist jedoch unvollständig und deshalb zu eng. Sieumfasst nicht die Fähigkeit des Menschen, aufgrund eines Sollens ein Hand-lungspotential zu kreieren und anschließend wirksam werden zu lassen112.Immerhin eine Annäherung hieran bringt der „Vorschlag“ Libets: dass dashandlungshemmende „Veto des Willens“ ohne ein Bereitschaftspotential

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110 B. Libet, Haben wir einen freien Willen?, in: Ch. Geyer (Hrsg.), Hirnforschung undWillensfreiheit, 2004, S. 268ff. (Orig.: Do we have a free will?, in: Journal of Con-sciousness Studies 6 [1999], p. 47 pp.), 276ff.: Der bewusste Wille folge zwar dem Be-ginn des Bereitschaftspotentials, trete aber immer noch etwa 150 ms vor der Muskel-aktivation auf, so dass er das Fortschreiten des Willensprozesses zur abschließendenBewegung aufhalten oder verhindern könne. Zu beachten ist, dass sich die neurologi-schen Untersuchungen Libets nur auf die Verwirklichung einer geplanten Handlungbeziehen, dass die Frage, ob ein Veto des Willens auch die Handlungsplanung selbstverhindern kann, also offen bleibt. Vgl. dazu schon oben bei und in Anm. 27 bis 31.

111 Zum selben Ergebnis kommt H. Walter (Anm. 80), S. 223ff., 358, aufgrund der vonihm postulierten „nichtlinearen, chaotischen Systemdynamik des Gehirns“.

112 Überhaupt ist bemerkenswert, dass die heutige Freiheitsdiskussion sich fast ausschließ-lich von der Determination durch das Kausalgesetz her entfaltet. Die rechtlichen Ge-und Verbote greifen indessen so offensichtlich in die kausale Determination ein, dasssie überhaupt nur unter der Voraussetzung der Heterogenität zu dieser sinnvoll sind.Zumindest für den Juristen kann daher die entscheidende Frage nur sein: ob ein derNatur völlig unterworfener empirischer Mensch dennoch für das Sollen offen seinkann, oder ob er, um sollen zu können, den Gesetzmäßigkeiten der Natur gegenüberfrei sein muss?

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auskommt113. Verfolgt man den Ansatz weiter, lässt er sich tentativ dahin ergänzen, dass ein Mensch, der ohne ein motivationales Bereitschaftspoten-tial eine asoziale Handlung verbieten kann, auch in der Lage sein sollte, eineprosoziale Handlung ohne motivationales Bereitschaftspotential zu gebieten –und darüber hinaus jenes Bereitschaftspotential zu kreieren, das die pro-soziale Handlung trägt. Die Definition muss dann lauten: Das Ich-Selbst istdie Freiheit des Menschen, statt seinem Wollen dem Sollen den Vorzug zugeben.

Begründend für diese Definition ist, dass die Verpflichtung, anders zu handeln, mit derPotenz zum Handeln offensichtlich zusammen bestehen kann. Libet erklärt denn auch,dass das Veto des Willens gegen die Verwirklichung eines Handlungspotentials auf einer solchen Verpflichtung beruhen kann114. Das Postulat Kants und Fichtes, dass das Sollen für die Genese eines Wollens bedingend sein kann, bewahrheitet sich folglichfür ihn – wenngleich nur in negativer Hinsicht: Sollen kann ein nicht-mehr-Wollengenerieren115.

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113 B. Libet (Anm. 110), S. 279f., ferner S. 282: „Die Rolle des bewussten freien Willenswäre also nicht, eine Willenshandlung einzuleiten, sondern vielmehr zu kontrollieren,ob die Handlung stattfindet. … Diese Art von Rolle für den freien Willen stimmttatsächlich mit religiösen und ethischen Mahnungen überein.“ Libet begründet seinen„Vorschlag“ nur mit dem Fehlen gegenteiliger experimenteller Belege. Daran ist sicherrichtig, dass das Nichtvorhandensein eines vorangehenden unbewussten Prozesses experimentell nur widerlegt, nicht aber bewiesen werden kann. Es bleibt aber dieFrage, ob sich nicht eine Versuchsanordnung finden lässt, mittels derer sich das Bewusst-sein eines Sollens und eines darauf beruhenden Handlungsimpulses als dem Wollenvorangehend nachweisen lässt.

114 B. Libet (Anm. 110), S. 277f.: „Der bewusste Wille könnte den Prozess blockieren oderverbieten, so dass keine Bewegung auftritt. … Das kommt häufig dann vor, wenn derHandlungsdrang eine sozial inakzeptable Konsequenz beinhaltet.“ Vgl. in diesemSinne auch schon J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, 1798, § 16 (= WW, Hrsg.I. H. Fichte, Bd. IV S. 196). Zum Zustandekommen rechtlich-sittlicher Entscheidungenkönnen allerdings die Untersuchungen Libets – wie schon die ähnlichen Versuche vonN. Ach (Analyse des Willens, 1935) – nur wenig beitragen, nicht allein wegen dergrößeren Komplexität der Lebenswirklichkeit gegenüber der Laborsituation, sondernauch wegen der Ausblendung der Sollfrage und damit der Verantwortung für die Teil-nahme an sozialen Prozessen.

115 I. Kant (Anm. 8), S. 4 Anm., 54: Die Erfahrung moralischen Sollens berechtige uns zupostulieren, dass wir frei handeln können; J. G. Fichte, Beitrag zur Berichtigung derUrteile des Publikums über die französische Revolution, 1793 (Akad.-Ausg. I/1, 230):„Der Mensch kann, was er soll; und wenn er sagt: ich kann nicht, so will er nicht.“;ders., Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 (Hrsg. R. Lauth/H. Wid-mann, 1975), S. 212f.: „Ein Soll ist in seinem innersten Wesen selber Genesis, und for-dert eine Genesis“.

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Bewiesen ist durch den „Vorschlag“ Libets allerdings nichts. Doch nur,wenn der Nachweis gelingt, dass der Mensch aufgrund seiner Freiheit nichtnur gemäß seinem Wollen, sondern auch gemäß seinem Sollen zum Handelnimstande ist, findet das Strafrecht eine sichere Grundlage für seine Forde-rung: Handle nach bestem Wissen und Gewissen! Schon bisher sprechenfreilich eine Reihe von empirischen Ansätzen für eine Berechtigung dieserForderung:• Handlungen sind nach allgemeiner Ansicht das Ergebnis aktualgeneti-

scher Prozesse, die (entsprechend dem Aufbau des Gehirns in der Phylo-genese sowie der Aktualisierung der Hirnfunktionen in der Ontogenese)von unten nach oben ablaufen116, d. h. intern117 im limbischen System initiiert werden und sodann – außer in bestimmten Stresssituationen –kortikale Funktionen einbeziehen. Allerdings werden die von den kor-tikalen Funktionen erbrachten kognitiven Leistungen vom limbischenSystem nicht voll ausgesteuert, und zwar umso weniger, je komplexervernetzt die daran beteiligten neuronalen Strukturen sind118. Insbeson-dere wird unsere Aufmerksamkeit nur teilweise emotional durch unsereBedürfnisse kanalisiert; zusätzlich sind wir in der Lage, sie einem Gegen-stand rational begründet zuzuwenden119. Urheber dieser Zuwendung istunser Ich, das sich dadurch die Grundlage u. a. für seinen Vorsatz schafft,das Erkannte zweckhaft zu wollen, genauer: sich dafür (oder dagegen)einzusetzen120. Das Strafrecht findet daher in dieser Fähigkeit die erste

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116 Vgl. die Nachweise zur Neurologie etwa bei M. M. Bradley, Emotion and motivation,in: J. T. Cacioppo/L. G. Tassinary/G. G. Berretson (eds.), Handbook of Psychophysio-logy, 2000, p. 602 pp.; zur Psychologie etwa bei N. Schwarz, Feelings as information:Informational and motivational functions of affective status, in: E. T. Higgins/E. M. Sorrentiano (eds.), Handbook of Motivation and Cognition: Foundation of Social Behavior, 1990, vol. II, p. 527 pp.; C. E. Izard, The Face of Emotion, 1971.

117 Extern gehen natürlich Wahrnehmungs- oder Vorstellungsprozesse voran.118 M. D. Lewis/I. Granic, Self-organization of cognition-emotion interactions, in: T. Dalg-

leish/M. J. Power (eds.), Handbook of Cognition and Emotion, 1999, p. 683 pp. Teil-weise enger G. Roth (Anm. 2), S. 291: „Emotionen greifen in die bewusste Verhaltens-planung und Verhaltenssteuerung ein … Als Wille ‚energetisieren‘ sie die einenHandlungen bei ihrer Ausführung und unterdrücken als Furcht oder Abneigung dieanderen.“ Vgl. aber auch ebenda S. 491 f.

119 R. A. Cohen, The Neuropsychology of Attention, 1993, p. 356, 463.120 Vgl. E.-J. Lampe (Anm. 14), S. 175ff.; H. Walter (Anm. 80), S. 346ff., 361; L. Wittgen-

stein, Philosophische Untersuchungen, 1967, Nr. 621, fragt: „Was ist das, was übrig-bleibt, wenn ich von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die abziehe, dass meinArm sich hebt?“ Seine Antwort ist, dass nichts übrigbleibt; die Nachfrage nach den inneren Ursachen des Handelns schneidet er mit logischen Argumenten ab. Richtig

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Grundlage für sein Gebot: dass jede an sozialen Prozessen beteiligte Per-son sich nach bestem Wissen verhalten soll.

• Die Grundlage für das strafrechtliche Gebot, nach bestem (= optimal erreichbarem) Wissen zu handeln, bedarf der weiteren Fähigkeit, dieAufmerksamkeitsleistung mit dem Ziel zu optimieren, dass sie die sozialeUmwelt adäquat erfasst und kontrolliert. Hierzu liegen psychologischeUntersuchungen hinsichtlich der Aktivierung (arousal bzw. alertness),der Selektivität und der Verarbeitungskapazität vor121, die zu dem Ergeb-nis führen, dass der normale Mensch seine Aufmerksamkeit bis zu einemgewissen Grade122 bewusst anspannen und lenken sowie die Ergebnissedes Wahrgenommenen bewusst auf ihren Zeichencharakter und ihre soziale Bedeutsamkeit hin verarbeiten kann. Das Strafrecht kann an dieseFähigkeiten des Menschen wiederum anknüpfen und fordern, (a) dass jeder, der an sozialen Prozessen teilnimmt, adäquate Wahrnehmungs-schemata besitzt123 und sich durch Anspannung und Lenkung seinerAufmerksamkeit zusätzlich die konkret nötige Sach- und Bedeutungs-kenntnis verschafft; (b) dass derjenige, der eine besonders gefahrgeneigteTätigkeit ausüben will, sich speziell hierauf vorbereitet124.

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erscheint mir die Antwort, dass die personale Struktur der Handlung meinen körper-lichen Akten einen – auf die Zukunft gerichteten – Sinn verleiht, nämlich mein Ich zuverwirklichen. Vgl. auch J. Habermas (Anm. 31), S. 877: „Zur verantwortlichen Autor-schaft gehört nicht allein die Motivation durch Gründe, sondern das begründete Er-greifen einer Initiative, die sich der Handelnde selbst zuschreibt: Das macht den Aktor erst zum ‚Urheber‘ .“

121 F. Rösler/M. Heil, Kognitive Psychophysiologie, in: F. Rösler (Hrsg.), Ergebnisse undAnwendungen des Psychophysiologie (Enzyklopädie der Psychologie Bd. C I 5), 1998, S. 165ff., 171ff.: sequentiell-hierarchische Selektion; G. Underwood/J. Everatt, Auto-matische und gesteuerte Informationsverarbeitung: Die Rolle der Aufmerksamkeit beider Verarbeitung des Neuen, in: O. Neumann/A. F. Sanders (Hrsg.), Aufmerksamkeit (Enzyklopädie der Psychologie Bd. C II 2), 1996, S. 267ff., 271ff.; H. S. Koelega, Vigilanz, ebenda S. 403ff. Physiologische Untersuchungen deuten darauf hin, dass unterschiedliche funktionale Systeme des Neokortex in die Steuerung bzw. Streuungder Aufmerksamkeit involviert sind, so vor allem der Frontallappen.

122 Nämlich abhängig vor allem von der Bedeutung, die einer Aufgabe zugemessen wird,und von den Kräften, die er zu ihrer Bewältigung einsetzen kann. Vgl. dazu im Einzel-nen R. A. Cohen (Anm. 119), p. 30 p., 67 p., 122.

123 J. S. Bruner/L. Postman, An approach to social perception, in: W. Dennis/R. Lippitt(eds.), Current Trends in Social Psychology, 1951, p. 71 pp.; W. Lilli, Die Hypothesen-theorie der sozialen Wahrnehmung, in: D. Frey (Hrsg.), Kognitive Theorien der Sozial-psychologie, 1978, S. 19ff.; ders., Hypothesentheorie der Wahrnehmung, in: D. Frey/S. Greif, Sozialpsychologie: Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, 4. Aufl. 1997, S. 192ff.

124 Vgl. dazu R. Kaminski, Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeits-

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Die §§ 4ff. StVZO formalisieren die letztgenannten Anforderungen, indem sie von jedem Verkehrsteilnehmer, der ein Kraftfahrzeug führen will, verlangen, dass er sichzuvor „ausreichende Kenntnisse der für den Führer von Kraftfahrzeugen maßgeben-den gesetzlichen Vorschriften und der lärmmindernden Fahrweise“ aneignet und sievon Sachverständigen prüfen lässt (§ 11 Abs. 3 Nr. 1).

• Allerdings reicht selbst bestes Wissen nicht aus, sofern das Ich nicht auchdie Kraft besitzt, danach zu handeln. Hierfür ist die Ausbildung derHandlungsfähigkeit durch Übung erforderlich. Denn nur ‚Übung machtden Meister‘ – was neurologisch, soweit mir bekannt, zwar bisher nur anMäusen und Ratten nachgewiesen ist125, gemäß der Hebbschen Lern-regel aber wohl auch für Menschen gilt126. Das Strafrecht knüpft hierwiederum an und rechtfertigt die Zuschreibung von Verantwortung für asoziale Prozesse u. a. damit, dass die Beteiligten sich aufgrund der ge-forderten praktischen Übung unter bewusstem Einsatz der dadurch ge-wonnenen Kraft zur Verhaltenssteuerung hätten rechtmäßig verhaltenkönnen127.

Beispielsweise reicht die vollständige „Kenntnis der … maßgeblichen gesetzlichen Vor-schriften“ nicht aus, um eine Fahrerlaubnis zu erwerben. Der Führer eines Kraftfahr-zeugs muss vielmehr zusätzlich nachweisen, dass er die nötige Übung im verkehrs-

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delikts: Struktur und Inhalt, 1992, S. 121ff. Zu Sondernormen auf bestimmten Sach-gebieten vgl. die Literaturangaben bei K. Lackner/K. Kühl (Anm. 82), § 15 Rdn. 39.

125 G. Kempermann/G. Kuhn/F. Gage, More hippocampal neurons in adult mice living inenriched environment, in: Nature 386 (1997), p. 493 pp.; M. E. Nilsson et al., Enrichedenvironment increases neurogenesis in the adult rat dentate gyrus and improves spatialmemory, in: Journal of Neurobiology 39 (1999), p. 569 pp. (: Es wurden folgende Ver-änderungen am Hippocampus beobachtet: Zunahme der Größe, Zunahme der dendri-dischen Verästelung, Vermehrung der Glia- und der Granulazellen.); M. A. Wilson/B. L. Mc Naughton, Dynamics of the hippocampal ensemble code for space, in: Science261 (1993), p. 1055 pp. Zu Untersuchungen an Taxifahrern, die ebenfalls eine Ver-größerung des Hippocampus ergaben, vgl. E. A. Maguire et al., Navigation-relatedstructural change in the hippocampi of taxi drivers, in: Proceedings of the NationalAcademy of Sciences 97 (2000), p. 4398 pp.

126 D. H. Hebb, The Organization of Behavior, 1949, p. 50: Je häufiger eine Verbindungder synaptischen Übertragung (erfolgreich) genutzt wird, desto stärker wird sie (“whatfires together that wires together”) – man spricht hier von ‚Neuroplastizität‘. Die Regelwurde empirisch nachgewiesen von S. R. Kelso/A. H. Ganong/T. H. Brown, Hebbiansynapses in hippocampus, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 83[1986], p. 5326 pp. Vgl. auch schon Aristoteles, Nikomachische Ethik II 1: „Baumeisterwird man, indem man baut, und Kitharakünstler, indem man das Instrument spielt“.

127 Nach BGHSt. 4, 182ff., 185 sind rechtliche Verhaltensvorschriften „das Ergebnis einerauf Erfahrung und Überlegung beruhenden umfassenden Voraussicht möglicher Ge-fahren“.

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richtigen Verhalten besitzt (§ 11 Abs. 3 Nr. 2 StVZO), also beispielsweise in der Lageist, angesichts eines Vorfahrtschildes das Tempo seiner Fahrt rechtzeitig zu drosselnund dadurch einen Unfall zu vermeiden128. Der strafrechtliche Vorwurf richtet sichalsdann entweder auf das Fehlen von Übung oder auf den Nichteinsatz der durchÜbung gewonnenen Kraft.

• Theoretisches und praktisches Handelnkönnen genügen immer nochnicht, um ein verkehrsrichtiges Verhalten zu generieren, solange der Auf-forderungsgehalt der Situation hierfür nicht stark genug ist. So wie tieri-sche Instinkthandlungen eines Auslösers bedürfen um abzulaufen, bedarfauch menschliches Verhalten einer Aufforderung aus der Umwelt, umeine adäquate Reaktion hervorzurufen129. Fehlt es daran, entsteht keinReaktionsbedürfnis und infolgedessen auch kein Wollen – keine Ver-meidbarkeit, kein ‚Aussein auf ein Ziel‘130.

Im Straßenverkehr beinhaltet Aufforderungscharakter zu einer vorsichtigeren Fahr-weise etwa der Anblick Ball spielender Kinder 131.

• Soweit ich vorstehend von ‚Bewusstheit‘ gesprochen habe, habe ich da-mit die spezifisch menschliche, weil moralisch-rechtliche Reflexion aufein Sollen gemeint.

Auf sie nimmt bereits die Aristotelische Unterscheidung zwischen causa efficiens(Wirkursache) und causa finalis (Zweckursache) Bezug, mehr noch die Cartesischezwischen res extensa und res cogitans, die im „cogito ergo sum“132 gipfelt und darin die Souveränität der Vernunft anerkennt. In der neueren Diskussion geht hierauf dieUnterscheidung zwischen Handlungsursachen und Handlungsgründen zurück: Ur-sachen einer Handlung sind die mich bestimmenden (weil empfundenen) Motive,Gründe einer Handlung sind die die mich bestimmenden (weil gedachten) Gedanken.

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128 Einzelheiten zum Sorgfaltserfordernis im Straßenverkehr etwa bei P. Cramer/D. Stern-berg-Lieben (Anm. 65), § 15 Rdn. 211–215; ferner in den Spezialkommentaren zumStraßenverkehrsrecht.

129 Vgl. dazu J. J. Gibson, The Ecological Approach to Human Perception, 1979; aber auchG. Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten,2001, S. 355, 427.

130 Selbstverständlich wird damit nicht gesagt, der handelnde Mensch sei das bloß reagie-rende Objekt von Umwelteinflüssen, etwa im Sinne der Kontingenztheorie B. F. Skin-nerss, Jenseits von Freiheit und Würde, 1973.

131 Die Aufforderung wirkt allerdings i. d. R. nur in Verbindung mit einer erlernten Be-wertung, z. B. dass Ball spielende Kinder nicht hinreichend auf die Gefahren desStraßenverkehrs achten. Vgl. P. J. Lang, The motivational organization of emotion: Affect-reflex connections, in: S. van Goozen/N. E. van de Poll/J. A. Sergeant (eds.),Emotion: Essays on Current Issues in the Field of Emotion Theory, Hillsdale/NJ.1994, p. 51 pp.

132 R. Descartes, Principia Philosophiae, 1644, Teil I, 7 und 10.

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Die Bestimmung aus Motiven lässt sich sowohl kausal (mechanistisch) als auch funk-tional (organismisch) erklären; die Bestimmung aus Gedanken lässt sich sowohl instru-mental (hypothetisch-teleologisch) als auch moralisch-rechtlich (kategorisch-teleo-logisch) verstehen. Typisch menschlich ist lediglich das letztgenannte Verständnis.

Organ der rechtlich-moralischen Bestimmung ist das Gewissen133. Esantwortet nicht auf die (meist nur unbewusst gestellte) Frage: ‚Was willich tun?‘ bzw. ‚Auf was bin ich eigentlich aus?‘, sondern auf die Frage:‚Was soll ich tun (wollen)?‘ bzw. ‚Auf was soll ich aus sein‘134? Wir be-treten damit den Boden der Teleologie, auf dem insbesondere die Gesetz-gebung, aber auch die Auslegung der Gesetze gründet135. Der (heutigeabendländische) Mensch ist auf diesem Boden grundsätzlich frei: Er unterliegt der Determination weder durch das Sittengesetz noch durchdie Rechtsgesetze136. Vielmehr kann er einem Sollen folgen, aber auchvon ihm abweichen, kann er sich rechtmäßig, aber auch rechtswidrig ver-halten. Erforderlich ist lediglich, dass er, bevor er handelt, innehalten und sich die Sollfrage stellen kann, um reflexiv darauf zu antworten undgemäß seiner Antwort zu handeln. Aufgrund seiner Selbstbezüglichkeitist er hierzu zeitlebens gefordert; denn nochmals: Freiheit ist Aufgabe137!Auch das Recht kann ihm deshalb diese Forderung stellen; denn sie istErsatz für den ihm fehlenden Instinkt zum richtigen ‚sozialadäquaten‘Handeln.

• Die Antwort, die das Gewissen auf die Sollfrage gibt, bleibt allerdings solange unbegründet und deshalb ungenügend, bis zusätzlich die Ver-nunft138 gesprochen hat. Wie das Strafrecht in Bezug auf den Seins-

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133 Zum Problem des Gewissens vgl. den Sammelband von J. Blühdorn (Anm. 109). Allge-mein gesprochen ist Gewissen das Kundwerden persönlichen Gut- oder Böse-Seins(vgl. H. G. Stoker, Das Gewissen, 1925, S. 209 ff.).

134 Vgl. O. Engelmayer, Einführung in die Wertpsychologie, 1977, S. 142: „Das Gewissenspricht mit dem Ich aus der Gewissheit und Autorität der Wahrheit und der Maße.“

135 Mit Recht bemerkt N. Hartmann (Anm. 21), S. 690: „Es ist ein Grundirrtum, das bloßeWertentsprechen der Person für Sittlichkeit zu halten. … Das höchste Wertentsprechenwäre gerade dort, wo höchste Unfreiheit ist, nämlich im Falle vollkommener Deter-miniertheit durch das Prinzip. Und das gerade wäre am wenigsten Sittlichkeit. Nur dasWertentsprechen eines freien Wesens, eines Wesens, das gerade den Werten gegenüber‚auch anders kann‘, ist Sittlichkeit“.

136 Vgl. N. Hartmann (Anm. 21), S. 664 ff., 688 ff.137 Vgl. oben Anm. 104.138 Der Begriff ‚Vernunft‘ wird in vielerlei Hinsicht gebraucht. In der neueren Diskussion

wird er meist handlungstheoretisch dahin verstanden, dass die Vernunft ‚Gründe‘ fürein Verhalten liefert, die wiederum ‚Ursachen‘ entgegengesetzt sind. Vgl. dazu etwa

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bereich fordert, dass die Aufmerksamkeit des Täters auf die optimale Er-kenntnis der sozialen Situation gerichtet ist und somit der Wahrheit sonahe wie möglich kommt, so fordert es im Wertbereich, dass die Gewis-senhaftigkeit des Täters sich auf die optimale Bewertung der sozialen Situation richtet und somit der wahren (‚richtigen‘) Werterkenntnis sonahe wie möglich kommt139. Diese Forderung nach einem best(mög-lich)en Gewissen bleibt solange unerfüllt, wie das Gewissen unbedenk-lich spricht. Im Gegenteil – wer unbedenklich Menschen umbringt,stiehlt oder betrügt, gilt als unwillig, der geltenden Normenordnung zufolgen, und zieht deshalb verstärkten Vorwurf auf sich. Allerdings kannbisher nur aufgrund einer Analogie zur Aufmerksamkeitsforschung an-genommen werden, dass der Mensch eine spezielle Fähigkeit zur Ge-wissensanspannung und somit zum vernünftigen Entscheiden besitzt –spezifisch wertpsychologische Untersuchungen sind mir jedenfalls nichtbekannt geworden140.

Die menschliche Vernunft, welche die Antwort auf die Sollfrage be-gründet, ist im präfrontalen Kortex lokalisiert bzw. besitzt dort ein Inte-grationszentrum, das Selbstreflexion ermöglicht. Ihre Arbeitsweise wirdzwar von energetischen Prozessen angeregt und getragen, verläuft selbstjedoch energiefrei – ersichtlich daran, dass die zur Arbeit benötigte Ener-giemenge nicht von der Art oder Qualität der geistigen Tätigkeit, son-dern lediglich von der Quantität der hierfür erforderlichen Gedanken-operationen abhängt. Nicht der Gedanke, sondern ihn zu denken, bedarfm. a.W. der Energie141! Allerdings muss das Ergebnis einer vom Denken

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R. Audi, Actions for reasons, in: Philosophical Review 95 (1986), p. 511 pp.; L. Röska-Hardy, Denken, Handeln und Erklärung nach Gründen: Ein Diskussionsbeitrag, in:Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), S. 259 ff.

139 Vgl. dazu F. Mattil, ZStW 74 (1962), S. 201 ff., 215 f.140 Ebenso O. Engelmayer (Anm. 134), S. 27ff., aber auch S. 146ff. sowie D. Rüdiger, Der

Beitrag der Psychologie zur Theorie des Gewissens und der Gewissensbildung, in: J. Blühdorn (Anm. 109), S. 461ff., 472ff. (Wiederabdruck aus: Jahrbuch für Psycho-logie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie 16 [1968], S. 135ff.). Zur „Gewissensanspannung“ zwecks Vermeidung eines Verbotsirrtums im Strafrecht vgl.Ch. Roos, Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB im Spiegel derBGH-Rechtsprechung, 2000, S. 155 ff., 360 ff. m. w. N.

141 Dass das Denken eines Gedankens allerdings nicht nur Energie verbraucht, sondern einem Gedanken auch ‚Gewicht‘ zu verleihen vermag, hat den großen wissenschafts-theoretischen Vorteil, dass ein Widerspruch zum Energieerhaltungsgesetz und die da-mit verbundene wissenschaftliche Anomalie vermieden wird. Vgl. dazu H. Walter(Anm. 80), S. 80 ff., 106 ff., 122 ff.; R. Merkel (Anm. 9), S. 436 ff., 449 ff.

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getragenen Gedankenfolge (etwa eines Problemlösungsverfahrens142) inenergetische Prozesse rückübersetzt werden, wenn es als Motiv auf dasHandeln wirken soll143.

• Die Forderung nach Gewissensanspannung und vernünftiger Überlegungist nur sinnvoll, wenn deren Ergebnis der Beginn eines Prozesses seinkann, der primär von oben nach unten verläuft, d. h. nicht nur intern144

im Kortex initiiert wird, sondern gleichzeitig auch bestimmend auf dieFunktionen des limbischen Systems und des Zwischenhirns einwirkt unddadurch eine Handlung erzeugt145. In der Tat sind die kortikalen Anteileunseres Gehirns (insbesondere der orbitale und präfrontale Kortex sowiedie Sprachregionen des Assoziationskortex146) aufgrund ihrer engen

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142 Innerhalb einer Gedankenfolge (etwa innerhalb eines Problemlösungsverfahrens)schaffen – neben Erfahrungen über die konkrete Umwelt – abstrakte Konzepte (etwaGegenstands- und Mengenbegriffe) und Strategien (etwa logische Subsumtion undAnalogiebildung) die nötige Ordnung. Sie werden nicht durch das Denken erzeugt,sondern erzeugen umgekehrt eine bestimmte Art des Denkens. Es besteht also im Ver-hältnis zwischen dem (energiefreien) ‚objektiven Geist‘ und dem (energetischen) ‚sub-jektiven Geist‘ eine Parallele zum Verhältnis zwischen den (von personaler Energiefreien) sozialen Prozessen und den (energetischen) personalen Handlungen: Sie durch-dringen sich wechselseitig (vgl. oben IV a. E.). Ohne gesellschaftliche Grundlage gibt eskeine personale Freiheit! Vgl. dazu auch H.-P. Krüger, Das Hirn im Kontext exzentri-scher Positionierungen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), S. 257ff.,273f.; W. Detel, Forschungen über Hirn und Geist, ebenda S. 891ff., 911ff.; aber auchR. H. Kluwe, Steuerung von Denkvorgängen in Modellen menschlicher Informations-verarbeitung, in: M. von Cranach/K. Foppa (Anm. 31), S. 151 ff.

143 So schon H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 257: „DasVerständnis des objektiv-allgemeinen Wert- und Pflichtgehaltes der Norm hat … nochkeine motivierende Kraft. Es bildet lediglich den Beweggrund zum zielgerichteten Ver-halten, enthält aber in sich noch nicht die Bewegkraft, die den Antrieb zum Handelngibt. Diese entsteht erst, wenn das vernunftmäßig als ‚richtig‘ erfasste Ziel durch dasWert- und Pflichtfühlen emotional besetzt wird … Zum Beweggrund und der Beweg-kraft … muss allerdings letztlich noch die Durchsetzungskraft des Willens hinzukom-men, um zum äußeren Verhalten zu führen“.

144 Extern gehen normbezogene Wahrnehmungs- oder Vorstellungsprozesse voran.145 Vgl. auch § 20 StGB. Die dort genannten einschränkenden Gründe, auf denen die Ein-

sichts- oder Handlungsunfähigkeit beruhen soll, sind ohne praktische Bedeutung, weiljegliche Unfähigkeit zur Unrechtseinsicht einen Unterfall des Verbotsirrtums bildet(BGH in NStZ 1985, 309; 1986, S. 264) und weil jegliche Unfähigkeit zur Handlungs-steuerung gemäß der Unrechtseinsicht die Willensfreiheit beseitigt und somit ebenfallszum Schuldausschluss führt (G. Blau, Festschrift für Rasch, 1993, S. 113ff., 123).

146 J. Le Doux, The Emotional Brain: The Mysterious Underpinnings of Emotional Life,1996, p. 163 pp. (dtsch: Das Netz der Gefühle: Wie Emotionen entstehen, 1998, S. 174f.),u. a. weisen allerdings zusätzlich darauf hin, dass Informationen auf zwei Wegen zurAmygdala verlaufen können: Der kürzere führt vom Thalamus direkt zur Amygdala,nur ein längerer nimmt den Umweg über den Neokortex.

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Verbindungen zum limbischen System Mitproduzenten von Gefühlen;sie besitzen über sie eine – in der Evolution sich verstärkende, wenn-gleich immer noch begrenzte – Macht, sie bestimmen ihre Stärke mit undkönnen somit ihre motivische Kraft sowohl erhöhen als auch absenken.Infolgedessen können sie auch den Aufbau eines Bereitschaftspotentialsvon unten nach oben initiieren, etwa indem die antizipatorisch geplanteHandlung die Vorstellung eines emotional positiv besetzten Zustandsentstehen lässt: das Gefühl einer belohnenden Wirkung (z. B. durchhöhere Selbstachtung) oder der Vermeidung einer Bestrafung147. Dieswiederum beeinflusst die Vornahme oder Nichtvornahme der geplantenHandlung148. Es erzeugt ferner das Gefühl des freien Willens, das sichnoch verstärkt, wenn die beteiligten kortikalen Areale über mehrereHandlungsmöglichkeiten und deren Folgen Reflexionen anstellen (unddadurch gemischte Gefühle hervorbringen). Es entsteht dann das Gefühlder Wahlfreiheit149. Dass diesen Gefühlen eine Realität zugrunde liegt,d. h. dass wir uns bei unserer Wahl nicht nur frei fühlen, sondern auch frei

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147 Vgl. etwa M. Lewis, The role of the self in cognition and emotion, in: T. Dalgleish/M. J. Power (Anm. 118), p. 125 pp., 133.

148 Dass Teile des frontalen Kortex Emotionen kontrollieren und modifizieren und soauch auf Handlungen Einfluss nehmen können, wird u.a. belegt von E. T. Rolls, Atheory of emotion and consciousness, and its application to understanding the neuralbasis of emotion, in: M. S. Gazzaniga (ed.), The Cognitive Neurosciences, Cam-bridge/Mass. 1994, p. 1091 pp., 1101 (:“It may be that evolutionary newer parts of thebrain, such as the language areas and parts of the prefrontal cortex, are involved in analternative type of control of behaviour, in which actions can be planned with the useof a [language] system that allows relatively arbitrary [syntactic} manipulations of semantic entities.”) Weitere Nachweise bei W. Heun, JZ 2005, 859f. Hingewiesen seiinsbes. auf A. Beckermann, in: Hermanni/Koslowski (Hrsg.), Der freie und Der unfreie Wille, 2004, S. 19ff., 25ff. Dazu, dass die Stärke der geistigen Anspannung gesteuert werden kann und alsdann auch unterschiedlich stark auf die emotionale Basiseinwirkt, vgl. W. Klimesch, Verantwortung und Persönlichkeit aus psychobiologischerSicht, in: H. Schmidinger/C. Sedmak (Hrsg.), Der Mensch – ein freies Wesen? 2005, S. 125ff., 131. Ausgeschlossen ist die Einflussnahme lediglich in existentiellen Angst-situationen, worin allgemein die geistigen Kapazitäten erheblich herabgesetzt sind und ‚Not kein Gebot kennt‘. Einen ausführlichen Bericht über das vieldiskutierte Ver-hältnis zwischen mentalen ‚Gründen‘ und neutralen ‚Ursachen‘ für Handlungen gibtR. Merkel (Anm. 9), S. 440ff., 446ff. (mit Nachweisen vor allem aus der philosophi-schen Literatur).

149 Vgl. D. Dörner, Der freie Wille und die Selbstreflexion, in: M. von Cranach/K. Foppa(Anm. 31), S. 125.

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sind, ist zwar nicht notwendig, aber immerhin physiologisch möglich150

und in der Regel auch wirklich, weil im Outputsystem für unsere Hand-lungen, in den Basalganglien, stets die Informationen des jeweils stärkstender dort zusammenlaufenden Kanäle in Handlung umgesetzt werdenund stärkster Kanal durchaus das für Planung und self-involvement zu-ständige Reflexionszentrum151 sein kann152. Ob und unter welchen Vor-aussetzungen es allerdings der stärkste Kanal ist, ob und unter welchenVoraussetzungen es der ‚Pflicht‘ den Vorrang vor der ‚Neigung‘ ver-schafft, ist eine Frage der Willensbildung und gehört strafrechtsdog-matisch in den Bereich der Schuld, der außerhalb des hier behandeltenProblemkreises liegt.

Erwähnt sei lediglich noch, dass das ‚Veto‘, das wir aufgrund einer Gewissensentschei-dung unserer Neigung entgegensetzen, entgegen der Interpretation von Libet153, keinAkt eines voraussetzungslosen und folglich zufälligen Wollens ist, sondern eine Ent-scheidung des Selbst, das der intellektuellen Einsicht in das Sollen den Vorzug vor demWollen gibt154.

• Die Aufforderung zu prosozialem Handeln muss, das sei abschließendhinzugefügt, keineswegs immer intellektuell erzeugt werden; sie kannauch unmittelbar in den Bewertungskernen des limbischen Systems ent-stehen und somit allen Vernunftüberlegungen vorangehen, ja diese über-flüssig machen155. Voraussetzung ist dann allerdings, dass der Aufforde-

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150 Nachweise bei P. N. Johnson-Laird/K. Oatley, Cognitive and social construction inemotions, in: M. Lewis/J. M. Haviland-Jones (eds.), Handbook of Emotions, 2. Aufl.2000, p. 458 pp., 465 p.

151 Es verarbeitet auch die aus limbischen System stammenden Informationen, vgl.G. Roth (Anm. 2), S. 491f.

152 E. T. Rolls/A. Treves, Neural Networks and Brain Function, 1998, p. 216 pp.Teilweiseabweichend G. Roth (Anm. 2), S. 531, insoweit aber im Widerspruch zu ebd. S. 489,491, 493.

153 Welche Gründe sollten die von Libets haben, eine Handlung zu unterlassen, zu der siebereit sind? Sie konnten sich m. E. nur fragen, ob sie das, was sie gerade ausführen wollen, auch ausführen sollen? Und wenn sie dann der Ausführung ein ‚Veto‘ ent-gegensetzen, dann ist dies, als ein Verbot, eben kein Wollens- sondern ein Sollensakt.

154 Vgl. dazu bereitsAristoteles, Nikomachische Ethik III 5 (1112b/1113a), VI 2 (1139a/b).155 Zur situationsbezogenen Gefühlsgrundlage für die Entscheidung zwischen Recht und

Unrecht, die allen sich etwa anschließenden rationalen Erwägungen den Weg weist undmeistens eine Entscheidung über die Rechtslage schon bereit hält, wenn die rationalenArgumente für ihre Begründung noch nicht beisammen sind, vgl. E.-J. Lampe, Rechts-gefühl und juristische Kognition, in: ders. (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl, 1985,S. 110 ff.

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rungsgehalt der sozialen Umwelt, handelnd tätig zu werden, stark genugund die erwartete Handlung von vornherein mit einem positiven Gefühlbesetzt ist, so dass es der Gewissensmahnung gar nicht erst bedarf. (Bei-spiel: Die Mutter-Kind-Beziehung löst ‚bedenkenlos‘ altruistisches Ver-halten aus, sobald das Kind die Hilfe der Mutter braucht.) Der Umfangderartiger sozialer Handlungserwartungen ist umstritten156, wohl auchkulturabhängig. Soweit er reicht, verliert der Mensch zwar an individuellerFreiheit; er gewinnt aber an sozialer Freiheit, weil er seinerseits das Ver-halten an den Erwartungen gegenüber anderen ausrichten kann. Juristischkommt das im Vertrauensgrundsatz zum Ausdruck, d. h. in der rechtlichgeschützten und stabilisierten Vermutung, dass sich jeder Teilnehmer amGemeinschaftsleben nach den dort allgemein geltenden Erwartungenverhalten wird157.

VI.

Fazit zur Unrechtslehre: Statt von einem (wie immer zu verstehenden) ‚ob-jektiven‘ oder ‚äußeren‘ Tatbestand sollte man genauer von einem ‚sozialen‘(Unrechts-)Tatbestand, statt von einem ‚subjektiven‘ oder ‚inneren‘ Tat-bestand genauer von einem ‚personalen‘ (Unrechts-)Tatbestand158 sprechen.Verbindendes Merkmal zwischen sozialem und personalem Tatbestand istdie ‚Kultur‘, der sowohl das personale Individuum als auch die soziale Ge-meinschaft angehören. Individuum und Gemeinschaft ‚durchdringen‘ sich inder Kultur, weil diese einerseits auf individuellen Leistungen beruht, anderer-seits von der Gemeinschaft getragen wird159. Innerhalb der Unrechtslehrezeigt sich die Durchdringung (‚Interpenetration‘) in der teils personalen,teils sozialen Interpretation der ‚Tat‘: Sie wird einerseits von der Intention

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156 Nicht umstritten ist dagegen ihre Realität – vgl. etwa N. Luhmann, Das Recht der Ge-sellschaft, 1993, S. 151 ff.

157 OLG Stuttgart, JR 1997, 517ff. mit zustimmender Anmerkung von K. H. Gössel S. 519f.Zur Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes speziell im Straßenverkehr vgl. die Nach-weise bei P. Cramer/D. Sternberg-Lieben (Anm. 65), § 15 Rdn. 211 ff.

158 Die Redeweise von einem personalen ‚Tatbestand‘ kann allerdings missverständlichsein, weil ‚Tat‘ innerhalb des ‚sozialen Tatbestandes‘ logischerweise ein sozialer Begriffist, nunmehr aber als personaler Begriff gebraucht wird.

159 Vgl. dazu E.-J. Lampe, Methodenprobleme der Rechtsentstehung und des Rechts-wandels, in: F. Haft u. a. (Hrsg.), Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts (Interdisziplinäre Studien zu Staat und Recht Bd. 16), 2001, S. 279 ff.

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des Täters her definiert (‚Tötungsversuch‘), andererseits von ihrer sozialenBedeutung (‚fahrlässige Tötung‘).

Handlungen und Unterlassungen spielen als von einer Person ausgehendeintentionale Äußerungen nur innerhalb des personalen Unrechts eine Rolle;innerhalb des sozialen Unrechts werden sie Bestandteile von sozialen (d. h.interaktional oder kommunikativ bedeutsamen) Prozessen. Sowohl der so-ziale als auch der personale Tatbestand beruhen auf Tatsachen (‚Tat‘ jetzt imontologischen Sinne verstanden), die teilweise identisch, teilweise unter-schiedlich sind. Der Unterschied kommt insbesondere in der Trennung von‚Vorsatz‘ und ‚Unrechtsbewusstsein‘ im Rahmen der sogen. Schuldtheoriezum Ausdruck: Der ‚Vorsatz‘ bezieht sich nur auf die soziale Situation,während das ‚Unrechtsbewusstsein‘ sich auch auf die Stellung der eigenenPerson innerhalb der sozialen Situation bezieht.

Fazit zur Willensfreiheit: Individuelle Freiheit spielt innerhalb des sozia-len Unrechts schon per definitionem keine Rolle. (Gleichwohl ist Subjekt inden gesetzlichen Straftatbeständen die entscheidungs- und handlungsfreie,sozial durch Normen bestimmbare Person!) Individuelle Willensfreiheitspielt auch innerhalb des personalen Unrechts keine Rolle. Entscheidend isthier vielmehr, ob die Normadressaten frei waren, zu wollen und ihr Wollenzu verwirklichen – bzw. ob ihr ‚Ich‘ es war. Eine solche Freiheit ist unter derBedingung zu bejahen, dass jemand in einer tatbestandlichen Situation – alsoin einer Situation, in denen er töten, betrügen oder stehlen konnte – in derLage war, sich die Sollfrage zu stellen und sie im Sinne des gesollten recht-mäßigen Verhaltens zu beantworten160.

Freiheit gegenüber dem Gesollten gibt es nur innerhalb einer teleologischunvollständig determinierten Welt, worin der Mensch aufgrund einer eben-falls unvollständigen kausalen Determination durch seine natürlichen Nei-gungen sowohl rechtmäßig als auch rechtswidrig handeln kann. Rechtlich ister gefordert, rechtmäßig zu handeln, d. h. seine natürlichen Neigungen nöti-genfalls seinen rechtlichen Pflichten unterzuordnen. Diese Forderung ist legitim und muss gestellt werden, weil der Mensch im Laufe der Evolutiondie Fähigkeit erworben hat, mehr zu sein, als er von Natur aus ist: nämlichzugehörig zu einer bipolaren, nur teilweise kausal, teilweise dagegen teleo-logisch determinierten Welt. Das Strafrecht erkennt an, dass der Menschseine naturhafte Determination nur begrenzt überwinden kann. Daher muss

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160 J. Habermas (Anm. 31), S. 874: „Frei ist nur der überlegte Wille. … Der Handelnde istdann frei, wenn er will, was er als Ergebnis seiner Überlegung für richtig hält“.

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das „Vorbild“, welches das Strafrecht als Telos vorgibt, der Natur des Men-schen, seinem „Abbild“, ähnlich sein und zumutbar erreicht werden kön-nen161. Ist das aber der Fall, dann hat jede Person nicht nur die Freiheit, son-dern auch die Pflicht, sich an diesem Vorbild zu orientieren: nach bestemWissen und Gewissen zu handeln.

Die empirischen Erkenntnisse, dass die (normale) Person hierzu fähig ist,dass sie die Kraft zur Rechtstreue gewinnen kann, reichen nach meiner Auf-fassung aus, um in abstracto mit gutem Gewissen ihre Bestrafung an der Ver-letzung dieser Pflicht zu orientieren. In concreto kann die Bestrafung da-gegen nur bestmöglich an der Schuld der individuellen Person orientiertwerden.

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161 E.-J. Lampe, Das Menschenbild des Rechts – Abbild oder Vorbild?, in: ders. (Hrsg.),Beiträge zur Rechtsanthropologie (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft22), 1985, S. 9 ff., 13, 16 f., 20.

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