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IN|FO|NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2012; Vol. 14, Nr. 2 39 Journal Screen Schmerz Hohe Opiatdosis reduziert spinale Langzeitpotenzierung Wird die Schmerztherapie revolutioniert? Fragestellung: Wie können kurze, hochdosierte Opiatgaben im Tiermodell die synaptische Langzeit- potenzierung in nozizeptiven C-Fasern verändern? Hintergrund: Schmerzhafte Stimuli aktivieren nozi- zeptive C-Fasern und führen an deren synaptischen Terminalen zu einer Langzeitpotenzierung (LTP). Die Induktion von LTP an C-Fasern stellt einerseits ein zelluläres Modell für Mechanismen der Hyperalgesie dar als auch ein Korrelat einer spinalen „Gedächtnis- spur“ von Schmerz. Opiate führen an C-Faser-Synapsen zu einer starken, aber reversiblen Depression, was die kontinuierliche Niedrig-Dosis-Therapie mit Opiaten zum Goldstandard der Schmerztherapie macht. Patienten und Methodik: Die Autoren untersuchten an Ratten, inwiefern eine Niedrigfrequenz-Stimulation von peripheren Nervenbahnen LTP an C-Fasern indu- zieren kann und wie sich die induzierte LTP durch verschiedene Formen der Opiatgabe modifizieren lässt. Darüber hinaus untersuchten sie die dahinterliegenden molekularen und zellulären Prozesse. Ergebnisse: Die Niedrigfrequenz-Stimulation indu- zierte LTP an C-Fasern, die sich durch eine 60-minütige intravenöse Infusion mit einer hohen Dosis des kurz- wirksamen Opiats Remifentanil (450 µg/kg/h) abschwä- chen ließ. Diese Abschwächung wurde bei Applikation der Hälfte der Dosis nicht beobachtet. Remifentanil wirkt dabei über µ-Opiat-Rezeptoren und kalzium- abhängige Signaltransduktionsprozesse, die wiederum PP1 und PKC aktivieren. In einem Tiermodell für Capsaicin-induzierten Schmerz wurde parallel zu der verminderten LTP auch eine deutliche Abnahme der Hyperalgesie durch die gleiche Remifentanil-Dosis gesehen Schlussfolgerungen: Kurze, hohe Opiatdosen kön- nen spinale LTP-Prozesse abschwächen. Dies könnte ein Ansatzpunkt nicht nur für die Linderung, sondern die Heilung bestimmter Schmerzprozesse darstellen. Drdl-Schutting R, Benrath J, Wunder- baldinger G et al. Erasure of a spinal memory trace of pain by a brief, high-dose opioid administration. Science 2012; 335: 235–8 Kommentar: Sicherlich sollte man bei Tiermodellen immer mit der Schluss- folgerung für den Menschen vorsichtig sein. Dennoch muss man konstatieren, dass es sich um einen spannenden Ansatz mit hoher potenzieller Relevanz für die Schmerztherapie darstellt. Wenn es gelänge, durch eine hohe, kurz- zeitige Opiatapplikation nicht nur akute Schmerzen zu lindern, sondern auch Initialprozesse einer Chronifizierung zu unterbrechen, käme das sicher einer Revolutionierung der Schmerztherapie gleich. Laut Angaben der Autoren sind erste Studien beim Menschen geplant. Einschränkend wird man davon ausgehen müssen, dass dieser Ansatz bei bereits chronifizierten Prozessen und entsprechenden anderen plastischen Veränderungen in Rückenmark und Gehirn nicht 1 : 1 wirksam sein wird. Welche Rolle dieser Ansatz bei der Verhinderung posttraumatischer Belastungsstörungen nach schweren Unfällen spielen könnte, wäre zusätzlich lohnend zu untersuchen. Klaus Lieb, Mainz

Wird die Schmerztherapie revolutioniert?

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IN|FO|Neurologie & Psychiatrie 2012; Vol. 14, Nr. 2 39

Journal ScreenSchmerz

Hohe Opiatdosis reduziert spinale Langzeitpotenzierung

Wird die Schmerztherapie revolutioniert?Fragestellung: Wie können kurze, hochdosierte Opiat gaben im Tiermodell die synaptische Langzeit­potenzierung in nozizeptiven C­Fasern verändern?

Hintergrund: Schmerzhafte Stimuli aktivieren nozi­zeptive C­Fasern und führen an deren synaptischen Terminalen zu einer Langzeitpotenzierung (LTP). Die Induktion von LTP an C­Fasern stellt einerseits ein zelluläres Modell für Mechanismen der Hyperalgesie dar als auch ein Korrelat einer spinalen „Gedächtnis­spur“ von Schmerz. Opiate führen an C­Faser­Synapsen zu einer starken, aber reversiblen Depression, was die kontinuierliche Niedrig­Dosis­Therapie mit Opiaten zum Goldstandard der Schmerztherapie macht.

Patienten und Methodik: Die Autoren untersuchten an Ratten, inwiefern eine Niedrigfrequenz­Stimulation von peripheren Nervenbahnen LTP an C­Fasern indu­zieren kann und wie sich die induzierte LTP durch verschiedene Formen der Opiatgabe modifizieren lässt. Darüber hinaus untersuchten sie die dahinterliegenden molekularen und zellulären Prozesse.

Ergebnisse: Die Niedrigfrequenz­Stimulation indu­zierte LTP an C­Fasern, die sich durch eine 60­minütige intravenöse Infusion mit einer hohen Dosis des kurz­wirksamen Opiats Remifentanil (450 µg/kg/h) abschwä­chen ließ. Diese Abschwächung wurde bei Applikation der Hälfte der Dosis nicht beobachtet. Remifentanil wirkt dabei über µ­Opiat­Rezeptoren und kalzium­

abhängige Signaltransduktionsprozesse, die wiederum PP1 und PKC aktivieren. In einem Tiermodell für Capsaicin­induzierten Schmerz wurde parallel zu der verminderten LTP auch eine deutliche Abnahme der Hyperalgesie durch die gleiche Remifentanil­Dosis gesehen

Schlussfolgerungen: Kurze, hohe Opiatdosen kön­nen spinale LTP­Prozesse abschwächen. Dies könnte ein Ansatzpunkt nicht nur für die Linderung, sondern die Heilung bestimmter Schmerzprozesse darstellen.

Drdl-Schutting R, Benrath J, Wunder-baldinger G et al. Erasure of a spinal memory trace of pain by a brief, high-dose opioid administration. Science 2012; 335: 235–8

Kommentar: Sicherlich sollte man bei Tiermodellen immer mit der Schluss-folgerung für den Menschen vorsichtig sein. Dennoch muss man konstatieren, dass es sich um einen spannenden Ansatz mit hoher potenzieller Relevanz für die Schmerztherapie darstellt. Wenn es gelänge, durch eine hohe, kurz-zeitige Opiat applikation nicht nur akute Schmerzen zu lindern, sondern auch Initialprozesse einer Chronifizierung zu unterbrechen, käme das sicher einer Revolutionierung der Schmerztherapie gleich. Laut Angaben der Autoren sind erste Studien beim Menschen geplant. Einschränkend wird man davon ausgehen müssen, dass dieser Ansatz bei bereits chronifizierten Prozessen und entsprechenden anderen plastischen Veränderungen in Rückenmark und Gehirn nicht 1 : 1 wirksam sein wird. Welche Rolle dieser Ansatz bei der Verhinderung posttraumatischer Belastungsstörungen nach schweren Unfällen spielen könnte, wäre zusätzlich lohnend zu untersuchen. Klaus Lieb, Mainz