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Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat Protokoll der neunundvierzigsten Sitzung am 29. November 2013, 13.00 bis 17.00 Uhr Tagesordnung Schwerpunktthema Engagementpolitik nach der Bundestagswahl 1. Engagementpolitik des Bundes 3 1.1 Engagementpolitik im Koalitionsvertrag Dr. Serge Embacher, Steuerungsgruppe des Arbeitskreises „Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat“ 3 1.2 Überlegungen zur Bedeutung von Engagement und Beteiligung in der parlamentarischen Demokratie Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages 3 1.3 Engagementpolitische Aspekte aus Koalitionsvertrag und - verhandlungen Dr. Karamba Diaby, MdB 5 1.4 Aus der Diskussion 6 2. Engagementpolitik in der EU, den Bundesländern und Kommunen9 2.1 Engagementpolitik auf europäischer Ebene – Instrumente und Forderungen Dr. Frank Heuberger, Europa-Beauftragter des BBE 9 2.2 Partizipative Demokratie in Europa Dr. Jeannette Behringer, Sprecherin der BBE-AG „Engagement und Partizipation in Europa“ 12 2.3 Die Engagementpolitik der Länder Manfred Bauer, Koordinierungsstelle für bürgerschaftliches Engagement in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg 14

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Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat

Protokoll der neunundvierzigsten Sitzung

am 29. November 2013, 13.00 bis 17.00 Uhr

Tagesordnung

Schwerpunktthema

Engagementpolitik nach der Bundestagswahl

1. Engagementpolitik des Bundes 3

1.1 Engagementpolitik im Koalitionsvertrag Dr. Serge Embacher, Steuerungsgruppe des Arbeitskreises „Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat“ 3

1.2 Überlegungen zur Bedeutung von Engagement und Beteiligung in der parlamentarischen Demokratie Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages 3

1.3 Engagementpolitische Aspekte aus Koalitionsvertrag und -verhandlungen Dr. Karamba Diaby, MdB 5

1.4 Aus der Diskussion 6

2. Engagementpolitik in der EU, den Bundesländern und Kommunen 9

2.1 Engagementpolitik auf europäischer Ebene – Instrumente und Forderungen Dr. Frank Heuberger, Europa-Beauftragter des BBE 9

2.2 Partizipative Demokratie in Europa Dr. Jeannette Behringer, Sprecherin der BBE-AG „Engagement und Partizipation in Europa“ 12

2.3 Die Engagementpolitik der Länder Manfred Bauer, Koordinierungsstelle für bürgerschaftliches Engagement in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg 14

2.4 Beteiligung in den Kommunen stärken Franz-Reinhard Habbel, Deutscher Städte- und Gemeindebund 15

2.5 Aus der Diskussion 17

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Engagementpolitik nach der Bundestagswahl

„Deutschlands Zukunft gestalten“ – diesen Titel trägt der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD. In der Präambel zu den 181 Seiten bekennen sich die künftigen Regierungsparteien dazu, zivilgesellschaftliches Engagement für die Demokratie zu fördern. Zudem enthält der Vertrag einen Teilabschnitt zu bürgerschaftlichem Engagement und Freiwilligendiensten. Neben dem Bund existieren mit der Europäischen Union, den 16 Bundesländern sowie den Städten und Gemeinden aber weitere Akteure, die Engagementpolitik betreiben und so die Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft mitgestalten. In der 49. Sitzung beleuchten die Mitglieder des Arbeitskreises „Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat“ die Engagementpolitik der EU und drei föderalen Ebenen. Dabei geht es unter anderem um diese Fragen: Welches Engagementverständnis liegt dem Koalitionsvertrag zugrunde? Welche Partizipationsmöglichkeiten eröffnet der Vertrag von Lissabon auf europäischer Ebene? Warum sollten und wie können Kommunen ihre Beteiligungsangebote ausbauen?

Zu Beginn des ersten Teils der Sitzung, in deren Mittelpunkt die Bundespolitik steht, fasst Dr. Serge Embacher, Mitglieder Steuerungsgruppe des Arbeitskreises, die Aspekte zu Engagement und Bürgerbeteiligung aus dem zusammen (1.1). Daran anschließend formuliert Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Mitglied der Linken, Überlegungen zu Engagement und Beteiligung in der parlamentarischen Demokratie. Dabei kritisiert sie u. a. die Einsetzung eines Hauptausschusses im Bundestag und geht auf den Kampf gegen Rechtsextremismus ein (1.2). Dr. Karamba Diaby, Mitglied des Bundestages und der SPD, greift in seinem Beitrag verschiedene engagementpolitische Aspekte aus Koalitionsverhandlungen und -vertrag auf. Hierzu zählen die Gründung von unternehmerischen Initiativen und generationenübergreifende Engagementbündnisse (1.3). In der Diskussion kritisieren die Mitglieder des Arbeitskreises, dass das Engagementverständnis im Koalitionsvertrag, die Dimensionen Demokratie und Partizipation nur unzureichend einbezieht. Zudem setzen sie sich damit auseinander, wie die Engagementpolitik in den kommenden vier Jahren in der Bundesregierung und im Parlament institutionell verankert wird (1.4).Der zweite Teil der Sitzung befasst sich mit Engagement und Partizipation in der EU, den Ländern sowie den Kommunen. Dr. Frank Heuberger, Europa-Beauftragter des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE), skizziert zentrale Elemente der europäischen Engagementpolitik und formuliert fünf Forderungen, um diese zu verbessern (2.1). Dr. Jeannette Behringer, Sprecherin der AG „Engagement und Partizipation in Europa“ des BBE, befasst sich in ihrem Beitrag mit dem Artikel 11 des Lissabon-Vertrags. Dabei geht es u. a. mehr Dialog zwischen den Organen der EU und der Zivilgesellschaft sowie die Europäische Bürgerinitiative (2.2). Daran anknüpfend skizziert Manfred Bauer, Mitarbeiter in der Koordinierungsstelle für bürgerschaftliches Engagement in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg, die Engagementpolitik der Länder und deren Abstimmung mit dem Bund (2.4). Im letzten Beitrag formuliert Franz-Reinhard Habbel, Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, acht Thesen zur Zukunft von Städten und Gemeinden sowie dazu, wie die Partizipation dort gestärkt werden kann (2.5). Abschließend setzen sich die Mitglieder des Arbeitskreises mit der schwierigen Balance zwischen Beteiligung und einer gerechten Einbindung aller in den Kommunen auseinander und überlegen,

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welchen Beitrag der Arbeitskreis leisten kann, um die Engagementpolitik auf den verschiedenen staatlichen Ebenen zu verbessern.

1. Engagementpolitik des Bundes

1.1 Engagementpolitik im KoalitionsvertragDr. Serge Embacher, Steuerungsgruppe des Arbeitskreises „Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat“

Der Abschnitt im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD zu bürgerschaftlichem Engagement (S. 111-12) beginnt mit einem Bekenntnis zum Engagement: „Die Zivilgesellschaft und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger halten unser Gemeinwesen zusammen und machen es erst lebendig.“ Hierauf folgt das Bekenntnis, dass die Koalitionspartner die Voraussetzungen für ehrenamtliches Engagement verbessern und die Erfahrungen und Ideen aus dem Engagement verstärkt aufnehmen möchten. Wie dies geschehen soll, ist nicht beschrieben. Im Zusammenhang mit der Anerkennungskultur wird der deutsche Engagementpreis genannt. Darüber hinaus bezeichnen die Koalitionspartner die Arbeit der Wohlfahrtsverbände, soziale Innovationen und Sozialunternehmen als unterstützenswert. Die Gründung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement soll gefördert und geeignete Unternehmensformen im Genossenschafts- und Vereinsrecht gefunden werden. Welche Unternehmensformen dies sein können, bleibt allerdings offen. In dem folgenden Abschnitt zu den Freiwilligendiensten heißt es, dass die Koalition den Bundesfreiwilligendienst als Erfolgsmodell weiter führen will. Auch die Jugendfreiwilligendienste werden anerkannt. Konkret will man einen einheitlichen Freiwilligendienstausweis ausstellen und ein Gesamtkonzept des freiwilligen Engagements entwerfen. Als Teil dieses Gesamtkonzepts wird neben den Jugend- und dem Bundesfreiwilligendienst auch der Freiwilligendienst bei der Bundeswehr erwähnt. Die Zuständigkeiten für alle geregelten Auslandsfreiwilligendienste sollen im Bundesfamilienministerium gebündelt werden.Im Hinblick auf Bürgerbeteiligung heißt es: „Den Sachstand und die Meinung der Bevölkerung suchen wir auch über digitale Beteiligungsplattformen, sodass konstruktive und frühzeitige Einflussnahme von Bürgerinnen und Bürgern besser gelingt.“ (S. 151) Die Digitalisierung soll folglich dazu beitragen, die Demokratie zu stärken. Darüber hinaus wollen die Koalitionspartner die Bürgerbeteiligung bei Bau- und Planungsvorhaben in der Vorphase der Planfeststellung weiter verbessern. Es sollen auch neue Formen der Bürgerbeteiligung und der Wissenschaftskommunikation entwickeln und in einem Gesamtkonzept zusammengeführt werden. Allerdings ist auch hier nicht klar, wie dieses Konzept aussehen soll. Zudem will die große Koalition die Partizipation Jugendlicher stärken.

Im Hinblick auf diese rund 1½ Seiten zu bürgerschaftlichem Engagement und Partizipation stellen sich viele Fragen. Unter anderem wäre zu diskutieren, inwiefern das hier skizzierte Verständnis von Engagementpolitik an Demokratiepolitik gekoppelt ist.

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1.2 Überlegungen zur Bedeutung von Engagement und Beteiligung in der parlamentarischen Demokratie Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

Am 28. November, rund zehn Wochen nach der Wahl hat die Mehrheit aus CDU/CSU und SPD erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik einen Hauptausschuss eingesetzt. Dieser soll die wichtigsten parlamentarischen Aufgaben übernehmen, da die Koalitionspartner die Einsetzung von Fachausschüssen, die den Motor des parlamentarischen Betriebs bilden, wegen der Koalitionsgespräche bislang verhinderten. Zu den Aufgaben dieses Hauptausschusses gehört es u. a., die rund 7.000 seit Juli aufgelaufenen Petitionen von Bürgern zu bearbeiten.Mit diesem Hauptausschuss haben die Abgeordneten weder der Demokratie einen Gefallen getan, noch die Bürger motiviert, sich zu engagieren und einzumischen. Vielmehr haben sie die Bürger und das Parlament in ihren Rechten beschnitten, denn in dem Ausschuss arbeiten lediglich 47 der 631 Volksvertreter. Wie problematisch dieses Vorgehen ist, unterstreicht auch die Tatsache, dass sich bereits der Konvent zur Schaffung des Grundgesetzes seinerzeit gegen einen solchen Hauptausschuss für die Zeit nach einer Wahl entschieden hatte.Dieser holprige Start in die neue Legislatur steht beispielhaft für die grundlegenden Probleme in der Bundesrepublik mit Blick auf die Demokratie, die Grundrechte der Bürger und auch das bürgerschaftliche Engagement.

Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen sollen im Zusammenhang mit Engagement im Folgenden vier Aspekte beleuchtet werden:

Digitale Beteiligung In Bezug auf die Beteiligung im Internet sind zwei Aspekte hervorzuheben: Erstens ist das im Grundgesetz verbriefte Grundrecht auf Datenschutz nicht mehr ausreichend gewährleistet. Hier muss das im Jahr 1977 vom Bundestag verabschiedete Bundesdatenschutzgesetz im Lichte grundlegender Veränderungen vor allem durch das Internet angepasst werden. Zweitens muss sich die Politik fragen, wie sie Beteiligung organisieren kann, ohne eine neue Zweiklassengesellschaft zu schaffen. In dieser droht eine neue Trennlinie zwischen Menschen zu entstehen, die einen Internetzugang haben und über die nötigen Kompetenzen verfügen und solchen, denen der Zugang oder die Kompetenzen fehlen. Es reicht nicht aus, Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten im Internet zu schaffen. Es muss auch allen Menschen ein Zugang ermöglicht werden. Mitbestimmung von Parlament und Bürgern in der Euro-Krise Den Kern der Euro-Krise bilden nicht Griechenland, Portugal oder Spanien, sondern Finanzmagnaten, die teilweise über die Politik und die Demokratie bestimmen können. Das unterhöhlt das Grundgesetz, die EU-Grundrechtecharta und ist ein Angriff auf das Primat der Politik. Hier gibt es bisher keine tiefergehende Diskussion darüber, wie das Parlament und die Bürger besser beteiligt werden und mitentscheiden können.

Globalisierung Im Zug der Globalisierung werden immer mehr nationale Kompetenzen auf internationale Gremien verlagert. Dies geht mit weitreichenden Demokratieverlusten einher. Sei es auf EU-Ebene, wo sich das Europäische Parlament aktuell mehr und mehr Rechte erstreitet, oder in Regierungsgremien wie G-8 oder G-20, die überhaupt nicht demokratisch legitimiert sind. Trotzdem treffen sie grundlegende Entscheidungen, welche die nationalen Parlamente und die Bürger kaum noch korrigieren können.

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Rechtsextremismus, Rassismus und AntisemitismusDer Nationalsozialistische Untergrund (NSU) ist keine Ausnahme in einer intakten Bundesrepublik. Es gibt vielmehr eine massive Bedrohung durch Rechtsextremismus und Antisemitismus. Wobei sich letzterer nicht nur von rechts speist, sondern auch von Linken verbreitet wird. Mit Blick auf die neue Regierung besteht die Hoffnung, dass sich die fraktionsübergreifenden Beschlüsse aus dem NSU-Untersuchungsausschuss im Koalitionsvertrag und im praktischen Regierungshandeln wieder spiegeln. Immerhin heißt es im Koalitionsvertrag: „Die Umsetzung der einmütig beschlossenen Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses ist ein wichtiger Eckpfeiler unserer Bemühungen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland.“ (S. 154) Statt dieser weichen Formulierung wäre ein klares Bekenntnis dazu, die 47 gemeinsamen Schlussfolgerungen des Untersuchungsausschusses im Bereich der Sicherheitsarchitektur und der Prävention umzusetzen allerdings mutiger gewesen. Bedenklicher als das Fehlen dieser Schlussfolgerungen ist der folgende Absatz: „Die Extremismusprävention der Bundesregierung bündeln und optimieren wir. Antisemitismus bekämpfen wir, Radikalisierung treten wir entgegen.“ (S 144). In dieser Formulierung werden alle Extremismen zusammen geschmissen. Eine gemeinsame Bekämpfung ist aber nicht möglich, denn den verschiedenen Formen des Extremismus liegen unterschiedliche Ursachen zugrunde. Diese müssen analysiert werden und können dann mit gezielten Maßnahmen bekämpft werden. Darüber hinaus erwähnen die Koalitionspartner auch nicht, dass sie die Extremismusklausel streichen wollen. Die Klausel stellt Menschen und Organisationen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren unter Generalverdacht und erschwert ihren Einsatz. Daher ist eine Streichung dingend notwendig.

1.3 Engagementpolitische Aspekte aus Koalitionsvertrag und -verhandlungenDr. Karamba Diaby, MdB

Dieser Kurzbeitrag greift einige, in Bezug auf das bürgerschaftliche Engagement wichtige Aspekte aus dem Koalitionsvertrag sowie den Koalitionsverhandlungen auf und erläutert sie aus der Perspektive eines SPD-Abgeordneten. Zudem geht der Beitrag auf einige Argumente von Frau Pau ein.

Die Formulierung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus im Koalitionsvertrag ist ein Kompromiss. Er geht auf die ideologischen Unterschiede zwischen CDU/CSU und SPD bei der Frage zurück, wie Extremismus definiert wird. Dabei ging es der SPD in den Koalitionsverhandlungen vor allem darum, die Programme zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zu verstetigen und den Trägern mehr Sicherheit zu geben. Für die Sozialdemokraten ist klar, dass sie keine Organisation aufgrund der Extremismusklausel an den Pranger stellen und sie als nicht förderfähig deklarieren wird.

Der von Frau Pau kritisierte Hauptausschuss hat das Ziel, die Arbeitsfähigkeit des Bundestages bis zur Bildung der neuen Regierung sicherzustellen. Dass die Regierungsbildung mehr Zeit in Anspruch nimmt, liegt auch daran, dass die SPD in einem historisch einmaligen Prozess ihre Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen lässt. Das ist auch eine Form der Bürgerbeteiligung, die Anerkennung verdient.

Die Regierung will die Erfahrungen und Ideen aus dem bürgerschaftlichen Engagement verstärkt aufnehmen. Zudem sollen die Voraussetzungen für das Engagement verbessert werden. Beide Aussagen sind eine gute Botschaft für die

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Bürgergesellschaft und ein klares Bekenntnis. Nun müssen sie auch umgesetzt werden.

Die Gründung von unternehmerischen Initiativen aus dem bürgerschaftlichen Engagement soll unterstützt werden. Hierunter fallen bspw. Dorfläden, Kitas, Energiegenossenschaften und auch Schülerfirmen. Für sie gilt es, bürokratische Hürden abzubauen und unkomplizierte Fördermöglichkeiten zu schaffen.

Ähnlich wie die Integration ist das bürgerschaftliche Engagement eine Querschnittsaufgabe, die in unterschiedlichen Feldern wie Bildung, Arbeitsmarkt und Demokratie eine Rolle spielt. Dieses Verständnis ermöglicht einen besseren Zugang zu Fördermöglichkeiten. Gleichzeitig bezieht sich der Querschnittscharakter auch auf die verschiedenen föderalen Ebenen. Hier ist eine bessere Vernetzung zwischen Bund, Ländern und Kommunen notwendig. Insbesondere das Engagement vor Ort muss die Politik dabei berücksichtigen. Ausgehend von Organisationsformen wie Freiwilligenagenturen können Politiker überlegen, wie sie Engagement weiter unterstützen können.

Weiterhin gilt es, generationenübergreifende Engagementbündnisse verstärkt zu berücksichtigen. Hier werden insbesondere die Potenziale bei Senioren mit Migrationshintergrund noch zu wenig genutzt.

Weitere, im Hinblick auf die Bürgergesellschaft wichtige Aspekte sind folgende: Die soziale Integration von Menschen sollte stärker mit dem Engagement verknüpft werden. Zudem können die Ergebnisse aus der aktuellen Evaluation des Bundesfreiwilligendienstes (BFD) zu neuen Impulsen und zu einer Verbesserung der Bildungsangebote für die Freiwilligen führen. Darüber hinaus ist auch die Unterzeichung des Memorandums zur Kooperation zwischen Stiftungen und dem Bundesfamilienministerium zur Förderung von Engagement ein wichtiger Schritt.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich in Bezug auf das bürgerschaftliche Engagement einige gute Ansatzpunkte im Koalitionsvertrag finden; das gilt insbesondere für die Bereiche Demokratieförderung und Rechtsextremismusbekämpfung. Nun gilt es für die SPD, in diesem Thema am Ball zu bleiben. Der Arbeitskreis kann das Regierungshandeln begleiten und wichtige Impulse für eine gute Engagementpolitik geben.

1.4 Aus der Diskussion

Zum Engagementverständnis im Koalitionsvertrag

Wenn man über die Lösung der von Frau Pau angesprochenen politischen Probleme vom NSA-Skandal, über die Euro-Krise und den Demokratieverlust auf der internationalen Ebene bis hin zum Rechtsextremismus nachdenkt, dann ist offensichtlich, dass der Staat und die verfasste Politik diese nicht alleine lösen kann. Hier sind Impulse und Beispiele guter Praxis aus einer aktiven Bürgergesellschaft notwendig. In diesem Sinne ist der Satz im Koalitionsvertrag, dass eine künftige schwarz-rote Regierung die Erfahrungen aus der Bürgergesellschaft ernst nehmen will ermutigend. Bislang fehlte es hierfür auf bundespolitischer Ebene allerdings an Offenheit gegenüber der Bürgergesellschaft.

Der Koalitionsvertrag spiegelt wider, dass ein umfassendes Verständnis von Engagement, das auch die Dimensionen Demokratie und Partizipation umfasst, zu vielen Politikern noch nicht vorgedrungen ist. So taucht Engagement versprenkelt in sehr vielen unterschiedlichen Bereichen wie Integration, Kultur,

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soziale Stadt und Demographie auf. Gerade angesichts der Übermacht der großen Koalition wäre eine Öffnung in die Gesellschaft hinein gemäß dem Motto von Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“ sinnvoll gewesen. Nachdem das leider ausgeblieben ist, gilt es, die einzelnen Aspekte zu Engagement durch Arbeitsprogramme mit Leben zu füllen.

Im Koalitionsvertrag steht so wenig über bürgerschaftliches Engagement, dass es unter der politischen Wahrnehmungsschwelle liegt. Die Erfahrung aus der letzten Legislaturperiode hat gezeigt, dass das verantwortliche Bundesfamilienministerium diese geringe Wahrnehmung und die Schwache Leitung durch die Ministerin missbraucht, indem die zuständigen Mitarbeiter die Rahmenbedingungen nach ihren Vorstellungen gestalten. Beispielhaft hierfür mag der Erste Engagementbericht stehen, in dem versucht wurde, Engagement als Bürgerpflicht neu zu definieren. Dahinter stehen klare gesellschaftliche Gestaltungsvorstellungen. Dennoch hatte das Parlament den Bericht kaum diskutiert. In dieser Legislatur steht ein zweiter Engagementbericht an, der sich mit „Caring Communities“ beschäftigen soll. Diese thematische Festlegung hat das Familienministerium mit dem Argument der Zeitknappheit noch in der alten Legislaturperiode getroffen, ohne den Bundestag einzubeziehen. Damit handelt es sich nicht um einen unabhängigen Bericht des Parlaments, sondern um einen der Verwaltung. Insofern geht der dringende Appell an alle Abgeordneten, die Deutungshoheit und die Gestaltung der Engagementpolitik nicht einer Fachabteilung im Bundesfamilienministerium zu überlassen, sondern diese im Parlament zu halten.

Die im Koalitionsvertrag erwähnten „Caring Communities“ oder „Sorgenden Gemeinschaften“ richten sich nicht per se gegen Partizipation im Engagement. Natürlich kann Engagement dafür instrumentalisiert werden, öffentliche Aufgaben zu erfüllen. Das bedeutet aber nicht, dass ein lebensnahes Konzept der „Sorgenden Gemeinschaften“, das sich bspw. im Pflegebereich realisiert, zwingend unpolitisch ist. Gleichzeitig droht die Gefahr, den Partizipationsgedanke zu überfordern. Dies ist der Fall, wenn zahlreiche Funktionäre des Engagements sich in Gremien beteiligen, damit aber die Bevölkerung nicht erreichen. Insofern sollte nicht so paradigmatisch zwischen Engagement- und Beteiligungsformaten unterschieden werden, sondern eher gestaltungsorientiert überlegt werden, wie Partizipation auch in Formaten wie den „Sorgenden Gemeinschaften“ ermöglicht werden kann.

In den letzen Jahren gab es in der Engagementpolitik eine Rollback-Strategie, die darauf abzielte, immer weniger Organisationen und Infrastrukturen und immer mehr einzelne Personen zu fördern. So kommen bspw. Freiwilligenagenturen im Koalitionsvertrag überhaupt nicht vor. Dieser Versuch, den Bürger individuell in die Pflicht zu nehmen, ist sehr deutlich. Genau in diese Richtung geht auch das Konzept der „Caring Communities“: Hier werden alle Unterstützungsleistungen daraufhin zugeschnitten, dass Familien, Angehörige und Freiwillige als Teil eines finanzierbaren Pflegekonzepts agieren können. Das Thema Partizipation mit einer politischen Konnotation kommt dabei nicht vor.

Verankerung der Engagementpolitik in Parlament und Regierung

Für die Engagementpolitik bedeutsam ist die Frage, ob es einen ordentlichen Ausschuss zu bürgerschaftlichen Engagement geben wird. Dies scheint nach zwölf Jahren Arbeit in der Enquete Kommission bzw. dem Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement angebracht. So gab es Überlegungen, dass ein solcher Ausschuss entstehen könnte, wenn man die Politiken in den Bereichen

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Engagement, Demokratie, Partizipation, Extremismusbekämpfung, partizipationsorientierten Netzpolitik sowie politische Bildung zu einer starken Agenda zusammenführen würde. Ein solcher ordentlicher Ausschuss wäre auch vor dem Hintergrund der Beobachtung aus der letzten Legislaturperiode sinnvoll, dass die Debatte um Engagement und die Demokratie immer stärker aneinander vorbeigehen.

Ein ordentlicher Ausschuss kann die verschiedenen Fäden des Querschnittsthemas Engagement zusammenführen und müsste bei allen Gesetzen, die das Engagement betreffen, gehört werden. Dabei zählt das Argument, dass es für das Thema kein Ministerium gebe wenig, da bspw. auch ein Menschenrechts- und ein Petitionsausschuss ohne spiegelbildliche Ministerien existieren. Zudem gibt es auch aus der CDU Abgeordnete, die sich für einen Hauptausschuss Bürgerschaftliches Engagement stark machen. Hierzu zählt der ehemalige Vorsitzende des Unterausschusses Markus Grübel.

Auch die Einrichtung einer Enquete Kommission zu Demokratie wäre mit Blick auf das Thema bürgerschaftliches Engagement sinnvoll. Hier kann man eine Grundlage für die Verständigung über das Thema schaffen und Impulse gegen. Zudem sind Enquete-Kommissionen gerade für die Abgeordneten der Regierungsfraktionen spannende Betätigungsfelder im Sinne einer zusätzlichen Aufgabe, da die meisten Gesetzesvorlagen ohnehin aus den Ministerien kommen. Den Vorschlag, eine solche Enquete-Kommission Demokratie einzurichten, unterstützt ach die Faktion Die Linke.

Alles deutet darauf hin, dass das Bundesfamilienministerium weiterhin federführend für die Engagementpolitik zuständig bleibt, obwohl es eine ruinöse Politik betrieben hat. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie das Ministerium die Engagementpolitik gestalten wird. Die Überlegung, alle Freiwilligendienste im Familienministerium zu bündeln, stimmt dabei bedenklich. Bereits jetzt sind ca. 350 Mio. € im Ministerium für die Freiwilligendienst veranschlagt; darunter der größte Betrag für den Bundesfreiwilligendienst. Wenn nun auch die anderen Freiwilligendienste wie „weltwärts“ und „kulturweit“ hinzukämen, dann haben die Freiwilligendienste ein Volumen von 700 – 800 Mio. €. Das bedeutet: Während einerseits die Förderung der Rahmenbedingungen für das Engagement von 23 Millionen Menschen stagniert, werden andererseits ca. 140.000 Freiwillige mit hunderten Millionen gefördert werden. Hier besteht ein enormes Ungleichgewicht.

Die Freiwilligendienste scheinen sich zu einem zentralen Element der Engagementpolitik des Bundes zu entwickeln. Ein Hinweis darauf ist die eben angesprochene Bestrebung, die Freiwilligendienste im Familienministerium zusammen zu legen. Das Format ist aus Sicht der Bundespolitik vor allem deshalb so attraktiv, weil es ein Dach bildet, unter welchem sich Engagementpolitik unkompliziert und kontrolliert bündeln lässt. Zudem ermöglichen Freiwilligendienste es, Arbeitskräfte an bestimmten Brennpunkten einzusetzen und andere Akteure wie die kommunalen Spitzenverbände mit ins Boot zu holen. Denn auch für die Kommunen sind die Bundesfreiwilligen willkommene und günstige Helfer.

Die neue Bundesregierung muss das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft neu ausloten. Hier gab es mit dem „Nationale Forum für Engagement und Partizipation“ von 2008 bis 2010 einen vielversprechenden Versuch. Diesen hat die schwarz-gelbe Bundesregierung allerdings zu Beginn der letzten Legislatur nach nur

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zwei Jahren einfach abgebrochen. Die Ergebnisse sind in einer Blackbox verschwunden.

Weitere Aspekte zur Engagementförderung im Koalitionsvertrag

Ein sinnvoller Ansatzpunkt zur Stärkung von Engagement läge darin, die Gewerkschaften stärker in die Debatte um Engagement und Partizipation einzubeziehen. Einige von ihnen öffnen sich gerade dem Thema, indem sie intern stärker auf Beteiligung setzen – sei es bei Wahlen oder in Form von Umfragen. Insbesondere bei den Freiwilligendiensten geht es – ähnlich wie bei den Linken – allerdings meist nur um deren Arbeitsplatz gefährdenden Charakter. Hier kann auch der Arbeitskreis Kontakte zu Ver.di oder der Hans-Böckler-Stiftung knüpfen und die Debatte vorantreiben. Im BBE gibt es zu dem Thema Freiwilligendienste mittlerweile einen Arbeitskreis zwischen deren Trägern und Vertretern von Gewerkschaften.

Die Engagementförderung ist für die Kommunen eine freiwillige Aufgabe. Wenn diese dafür keine Mittel mehr haben, wird die Förderung der Engagementinfrastruktur wegfallen. Hier würde die Aufhebung des Kooperationsverbotes neue Möglichkeiten schaffen, indem der Bund klamme Kommunen bei der Engagementförderung unterstützen könnte. Mit Blick auf das Kooperationsverbot haben allerdings die CDU/CSU als auch viele Ländervertreter deutlich gemacht, dass dieses nicht zur Debatte steht.

Im Rahmen der Vorstellung des Berichts „Zivilgesellschaft in Zahlen“ wurde u. a. deutlich, dass die kommunalen Zuschüsse die Hauptquelle dafür sind, die Vereinsarbeit zu unterstützen. Daher ist es beunruhigend, dass es in dem Koalitionsvertrag keinen Satz dazu gibt, wie die Kommunen in der Engagementförderung gestärkt werden. Engagement wird nur auf der symbolischen Ebene verhandelt, die lokale Ebene taucht nicht auf.

Der Passus zu den Mehrgenerationenhäusern (S. 104), die auch mancherorts eine wichtige Anlaufstelle für Engagement bilden, ist kursiv gedruckt, weil die Weiterfinanzierung über Bundesmittel noch nicht gesichert ist.

Der Absatz im Koalitionsvertrag zu Bürgerbeteiligung ist sehr oberflächlich. Hier drängt sich der Eindruck auf, dass die digitalen Beteiligungsplattformen ein leichteres Engagement ermöglichen. Das ist ein großes Missverständnis, denn die Plattformen sind vor allem als Ergänzung zu realem Engagement und Beteiligung wichtig.

2. Engagementpolitik in der EU, den Bundesländern und Kommunen

2.1 Engagementpolitik auf europäischer Ebene – Instrumente und ForderungenDr. Frank Heuberger, Europa-Beauftragter des BBE

Zu Beginn dieses Beitrags stehen drei kritische Stimmen zur Rolle der Bürgergesellschaft in der Europäischen Union. Im April diesen Jahres veröffentlichten Ulrich Beck und Daniel Cohn-Bendit ein von ihnen initiierte Manifest zur Neugründung Europas von unten mit dem Titel „Wir sind Europa“. Dort heißt es: „Ein Freiwilliges Jahr für alle – für Taxifahrer und Theologen, für Angestellte, Arbeiter und Arbeitslose, für Musiker und Manager, für Lehrer und Lehrlinge, Künstler und Köche, Richter und Rentner, für Frauen und Männer – als eine Antwort auf die Euro-Krise! (...) Es wächst die Wut über eine Politik, die mit riesigen Summen Banken rettet, aber die Zukunft der Jugend verspielt. Doch welche Hoffnung bleibt dann für ein Europa, das immer älter wird? (...) Wir, die

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Erstunterzeichnenden, möchten der europäischen Bürgergesellschaft eine Stimme geben. Wir fordern deshalb die Europäische Kommission und die nationalen Regierungen, das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente dazu auf, ein Europa der tätigen Bürger zu schaffen und sowohl die finanziellen wie auch rechtlichen Voraussetzungen für ein Freiwilliges Europäisches Jahr für alle bereitzustellen – als Gegenmodell zum Europa von oben.“ In dem Manifest geht es darum, die nationalen Demokratien zu europäisieren, zu demokratisieren und so ein Europa der Bürger zu schaffen. So gut dieser Ansatz ist, scheint es so, dass er weitgehend ungehört verhallt ist und ein europäisches freiwilliges Jahr für alle zumindest in naher Zukunft keine Realität wird.Die zweite kritische Stimme kommt von dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse, der in diesem Jahr den Heinrich-Mann-Preis für sein Buch „Der europäische Landbote“ erhalten hat. Menasse schreibt: „Die Idee einer europäischen Republik, in der die Regionen ohne ihre Eigenart zu verlieren in einem freien Zusammenschluss aufgehen, das wäre die Vision. Es gibt keine nationalen Interessen. Es gibt nur menschliche Interessen und diese sind im Alentejo keine anderen als in Hessen.“ Die Idee einer europäischen res publica impliziert eine Kritik an dem aktuellen nationalstaatlichen Modell. Aber auch die Vision von Menasse wird wohl in den kommenden zehn Jahren nicht zur Realität. Das wohl prononcierteste Plädoyer für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger erschien Mitte 2012 in der FAZ. Unter dem Titel „Einspruch gegen die Fassadendemokratie“ forderten Peter Bofinger, Jürgen Habermas und Julian Nieda-Rümelin einen radikalen Kurswechsel der Bundesregierung in der Europapolitik. Dabei ist ihre Kernaussage, dass die Nationalstaaten ihre Souveränität perspektivisch an die europäische Ebene abtreten müssten. Diese Forderung ist verbunden mit der Kritik, dass sich das Gewicht in Folge einer neoliberalen Selbstentmächtigung der Politik zunehmend von dieser in Richtung Markt verschiebe. „Während sich die Politik den Martkimperativen unterwirft und die Zunahme sozialer Ungleichheit in Kauf nimmt, entziehen sich die systemischen Mechanismen des Marktes zunehmend der intentionalen Einwirkung demokratisch gesetzten Rechts.“ Wenn man diese Überlegungen weiterführt, wir deutlich, dass das Demokratiedefizit der EU bisher wesentlich auf zwei Ebenen liegt: Erstens mangelt es den EU-Institutionen an demokratischer Legitimation. Zweitens fehlt eine europäische Öffentlichkeit. Mit Blick auf diese beiden Defizite können der Lissabon-Vertrag und die Europäische Bürgerinitiative zu Verbesserungen beitragen. Dabei stellt sich allerdings die grundsätzliche Frage, ob eine deliberative Politik auf der europäischen Ebene überhaupt eine Chance hat oder ob die nationalstaatlichen Interessen hierfür zu stark sind.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss – unzureichend genutzt als Sprachrohr für die ZivilgesellschaftDas wichtigste Organ in der EU für zivilgesellschaftliche Akteure ist der „Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss“ (EWSA). Dieser besteht aus 353 Mitgliedern aus allen 28 EU-Ländern und begreift sich als der Alleinvertreter der Interessen der Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene. Die Kommission greift vier von fünf der Vorschläge des EWSA auf. Die Mitglieder des EWSA setzen sich aus Arbeitgebern, Arbeitsnehmern und Vertretern der Zivilgesellschaft zusammen. Mit Blick auf die dritte Gruppe kann allerdings kaum von einer Vertretung der Zivilgesellschaft die Rede sein, da hier neben einigen NGOs aus den Bereichen Umwelt und Soziales auch Vertreter der Landwirtschaft, des Handwerkers sowie kleiner- und mittlerer Unternehmen sitzen. Darüber hinaus ist die intransparente Auswahl der Mitglieder für den EWSA in Deutschland zu kritisieren. Während in vielen anderen Ländern die Mitglieder für den EWSA gewählt oder in einem offenen Prozess benannt werden, entscheiden

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die Ministerien hierzulande in einem undurchsichtigen Verfahren, wen sie in den Ausschuss entsenden. Angesichts der Bedeutung des EWSA für die Zivilgesellschaft ist das ein bedenklicher Zustand. In der Konsequenz und im Unterschied zu Großbritannien oder Schweden kennen viele Akteure in der deutschen Zivilgesellschaft die Vertreter im EWSA nicht einmal. Hier ist die Bundesregierung aufgefordert, mehr Transparenz in die Berufung der Mitglieder zu bringen.

Die in Brüssel vertretenen zivilgesellschaftlichen Organisationen haben auf die mangelnde Vertretung zivilgesellschaftlicher Interessen im EWSA reagiert, indem sie sich anlässlich der Europäischen Jahre zu Allianzen zusammengeschlossen haben. Diese bestehen aus 40 bis 80 zivilgesellschaftlichen Organisationen und Netzwerken, die die Europäischen Jahre begleiten. Auf diese Weise wollen sie ein Gegengewicht zu dem EWSA bilden und die Arbeit der Europäischen Kommission stärker beeinflussen. Derzeit gibt es Überlegungen, diese Allianzen zu institutionalisieren und die Europäische Kommission dauerhaft zu beraten. Alternativ könnte der EWSA um eine vierte Säule ergänzt werden, die tatsächlich die Zivilgesellschaft repräsentiert.

Europäische Jahre – ungenutztes Potential in DeutschlandSeit 1983 ruft die EU Europäische Jahre aus. Sie sollen die Aufmerksamkeit in den Mitgliedsstaaten auf bestimmte sozio-kulturelle Themen lenken. Dafür gibt es Fördergelder der Kommission, während die Ministerien in den Mitgliedsstaaten die jeweiligen Jahre umsetzen. Das Europäische Jahr 2011 sollte den Titel „Europäisches Jahr der Freiwilligentätigkeit zur Förderung der aktiven Bürgerschaft“ tragen; der Teil und damit auch die Thematik „zur Förderung der aktiven Bürgerschaft“ wurde allerdings gestrichen. Als Reaktion auf diese Beschränkung hat die „EVY 2011 Alliance“ ein Papier mit dem Titel „Policy Agenda on Volunteering in Europe“ erstellt. Während die Bundesregierung auf dieses Papier nicht reagierte ist auf der europäischen Ebene daraus das „European Volunteer Measurement Project“ hervorgegangen. Zweck des Projekts ist es, über die statistischen Ämter Informationen zum bürgerschaftlichen Engagement in den EU-Ländern zu sammeln. Die Verantwortung für das diesjährige „Jahr der europäischen Bürgerinnen und Bürger“ lag im Auswärtigen Amts. Ähnlich wie das BMFSFJ in den vorhergehenden Jahren hat sich das Ministerium aber nicht besonders für die Umsetzung des Jahres eingesetzt. 2014 trägt das Jahr den Titel „Europäisches Jahr der Vereinbarkeit von Beruf und Familie“. Obwohl die Jahre sinnvoll sind, werden sie in Deutschland zu wenig gefördert. Die zuständigen Ministerien schenken ihnen meist nur geringe Beachtung und beziehen mögliche Beteiligte zu wenig ein. Insofern sollte die Engagementpolitik der neuen Bundesregierung den Europäischen Jahren eine höhere Bedeutung zumessen.

Die europäischen FörderprogrammeDie Förderprogramme der EU sind der wichtigste Hebel zur Förderung von Engagement und Partizipation auf europäischer Ebene. Zu Ihnen zählen das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“, die Lernprogramme „Grundtvig“, „Leonardo“ und „Erasmus“ sowie „Jugend für Europa“. Sie sollen auch in der neuen Förderperiode 2014-2020 weiter bestehen. Obwohl die Programme erfolgreich und stark nachgefragt sind, gibt es vor allem in zwei Bereichen Verbesserungsbedarf: Erstens sollten bei der Gestaltung stärker repräsentative Organisationen einbezogen werden. Zweitens gilt es, die Evaluation zu verbessern. Bei dieser geht es bisher meist nur um die ordnungsgemäße Mittelverwendung und die Anzahl der erreichten Personen. Sinnvoll wäre hier eine social impact Evaluation, welche die Wirkung der geförderten Projekte auf Engagement und Partizipation überprüft.

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Die europäische Engagementpolitik der BundesregierungIn der Nationalen Engagementstrategie der Bundesregierung aus dem Jahr 2010 heißt es: „Bürgerschaftliches Engagement ist ein Kernthema der Zukunft Europas. Einigung und Stärkung einer europäischen Bürgergesellschaft sind Grundlagen des europäischen Integrationsprozesses. Der Vertrag von Lissabon stellt die Bedeutung von Beteiligung und Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger am europäischen Projekt deutlich heraus und unterstreicht die Förderung einer partizipativen Demokratie, in der ein offener, transparenter und dauerhafter Dialog mit der Bürgergesellschaft geführt wird. (...) Obgleich Engagementpolitik eine nationale Aufgabe ist, ist dennoch gerade in diesem Themenfeld der europäische Austausch zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern von hoher Bedeutung.“ (S. 48) „Die Bundesregierung wird die Bundesbürger in der Nutzung europäischer Beteiligungsprozesse unterstützen.“ (S. 7) Dabei handelt es sich um einen vielversprechenden und guten Text. Die hier gemachten Versprechen hat die Bundesregierung allerdings bislang leider noch nicht umgesetzt.

Forderungen für eine bessere europäische EngagementpolitikVor dem Hintergrund dieser Beschreibung lassen sich zusammenfassend folgende Forderungen festhalten, die zu einer besseren Engagementpolitik auf der europäischen Ebene beitragen können:

1. Die Mitglieder des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses – das gilt vor allem für Deutschland – müssen in einem transparenten Verfahren ausgewählt werden.

2. Es sollte eine Charta zur zivilen Partizipation zwischen Zivilgesellschaft und Regierung nach schwedischem Vorbild eingeführt werden.

3. Im Bundeskanzleramt sollte die Stelle eines Staatsbeauftragten oder -ministers für Engagement und Partizipation geschaffen werden. Dieser stünde nicht nur als Ansprechpartner für zivilgesellschaftliche Akteure zu Verfügung, sondern würde das Thema auch im Kabinett vertreten.

4. Die Evaluationsverfahren für die europäischen Förderprogramme müssen angepasst und mehr in Richtung Wirkungsanalyse ausgerichtet werden.

5. Die „Alliance 2013“ – ein Zusammenschluss aus zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen in der EU – sollte sich als unabhängiges Beratungsgremium für die Kommission institutionalisieren.

2.2 Partizipative Demokratie in EuropaDr. Jeannette Behringer, Sprecherin der BBE-AG „Engagement und Partizipation in Europa“

Die hier vorgestellten Überlegungen zur partizipativen Demokratie in Europa basieren auf der Arbeit der Arbeitsgruppe „Engagement und Partizipation in Europa“ des BBE. Sie beziehen sich auf den Artikel 11, der den partizipativen Kern des 2009 in Kraft getretenen Lissabon-Vertrages bildet. Bei den Ausführungen steht die Frage im Mittelpunkt, wie der Artikel zu verstehen und mit Blick auf eine bessere Partizipation in der EU umzusetzen ist.

Mehr Dialog – mehr Demokratie?Im ersten Absatz des Artikels 11 heißt es: „Die Organe geben den Bürgerinnen und Bürgern und den repräsentativen Verbänden die Möglichkeit, ihre Ansichten in allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen.“Unter die Organe der EU fallen nicht nur die in der Praxis häufig genannte Europäische

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Kommission und das Parlament, sondern alle Organe. Hierzu gehören zusätzlich der Europäische Rat, der Rat, der Europäische Gerichtshof, die Europäische Zentralbank und der Rechnungshof. Insofern verlangt der Lissabon-Vertrag von allen Organen mehr Offenheit gegenüber Bürgern und Verbänden. Betrachtet man den gesamten ersten Absatz, so wir deutlich, dass er weniger eine deliberative, als vielmehr eine schwache partizipative Qualität hat. Positiv ist hervorzuheben, dass die Organe aktiv werden müssen. Allerdings hängt die Wirksamkeit des Artikels stark von der Umsetzungspraxis ab, die sich derzeit entwickelt.

In Absatz 2 heißt es: „Die Organe pflegen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft.“Die Zivilgesellschaft umfasst sowohl die nicht organisierte Zivilgesellschaft (Initiativen, Zusammenschlüsse und Protestbewegungen) als auch die organisierte Zivilgesellschaft in Gestalt der repräsentativen Verbände. Dabei wird die Frage danach, wer zu den repräsentativen Verbänden gehört, unterschiedlich beantwortet. Während die Europäische Bewegung Deutschland die Orientierung am europäischen Gemeinwohl als Kriterium für die Repräsentativität heranzieht, nennt das Bundesverfassungsgericht die gesellschaftliche Relevanz des Verbandes. Aus Sicht der Arbeitsgruppe des BBE ist zudem entscheidend, inwieweit die Verbände selbst eine innerverbandliche Demokratie leben und transparent handeln.

Die Adjektive offen, transparent und regelmäßig bilden Qualitätskriterien für den Dialog. Sie sind folgendermaßen zu verstehen: Offen bedeutet, die Dialoge sollten inhaltsoffen (alle Beteiligten müssen eine Agenda definieren können), ergebnisoffen und zugangsoffen sein. Der letzte Aspekt verlangt, dass die Bürger zunächst erfahren müssen, dass es diese Dialoge gibt. Sie dürfen sich nicht nur in Brüssel abspielen, sondern auch in den europäischen Städten und Gemeinden. Bisher gibt es allerdings noch keine Strategie, wie eine solche dezentrale Zugangsoffenheit umgesetzt werden kann. Transparenz sollte herrschen in Bezug auf die beteiligten Interessen, die Motivationen, an dem Dialog mitzuwirken, die Finanzierung, die Reichweite des Verfahrens und darüber, wie die Ergebnisse verwendet werden. Im Hinblick auf das Adjektiv regelmäßig geht es darum, neue Gewohnheitsstrukturen aufzubauen. D. h. die Bürger sollten häufiger als alle zwei Jahre an Dialogen teilnehmen können. Diese Regelmäßigkeit sollte allerdings genauer definiert werden, um Erwartungshaltungen zu verstetigen, Kompetenzen ausbilden zu können und so eine Professionalisierung der Dialoge zu ermöglichen. Über diese drei Qualitätskriterien für den Dialog zwischen Organen und der Zivilgesellschaft hinaus könnten weitere Aspekte Fairness, Effizienz und Effektivität lauten. Diese fehlen allerdings in dem Absatz.

In Absatz 3 heißt es: „Um die Kohärenz und die Transparenz des Handelns der Union zu gewährleisten, führt die Europäische Kommission umfangreiche Anhörungen der Betroffenen durch.“ In diesem Kontext sei kritisch angemerkt, dass Anhörungen ein Verfahren mit einer niedrigen Verbindlichkeit sind. Zudem ist unklar, wer definiert, was eine Anhörung ist und wer die Betroffenen sind.

Beate Kohler-Koch, emeritierte Professorin für Internationale Beziehungen und Europäische Integration der Universität Mannheim, bewertet die drei Absätze im Hinblick auf ein Mehr an Beteiligung kritisch. Sie führten lediglich zu einer Erweiterung des Konsultationsregimes der Kommission, aber nicht zu einer höheren partizipativen Qualität. Die AG des BEE kritisiert, dass die drei Absätze zwar viele, noch zu

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definierende Aspekte enthalten. Gleichzeitig hat aber die Zivilgesellschaft die Chance, sich an der Umsetzung des Artikels 11 und dessen genauer Definition zu beteiligen. Um dies zu ermöglichen, sollten die europäischen zivilgesellschaftlichen Verbände klären, wie ein formeller Rahmen für eine solche Ausgestaltung des Artikels aussehen kann.

Mehr direkte Beteiligung? Die Europäische BürgerinitiativeAbsatz 4 des Artikels 11 hat die Europäische Bürgerinitiative (EBI) zum Gegenstand: „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedsstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts bedarf, um die Verträge umzusetzen (...).“

Die EBI ist seit April 2012 in Kraft. Von den acht bisher angestoßenen Bürgerinitiativen waren drei erfolgreich, da die Initiatoren in mehr als sieben Ländern über eine Million Unterschriften gesammelt hatten. Im Anschluss an die erfolgreiche Unterschriftensammlung prüft zunächst die Europäische Kommission die Initiative und entscheidet innerhalb von drei Monaten über das Vorgehen. Anschließend treffen sich die Organisatoren der EBI mit Vertretern der Kommission. Zudem nehmen die Organisatoren an einem Hearing des Europäischen Parlaments teil. Am Ende gibt die Kommission eine Mitteilung über ihre Entscheidung heraus.Obwohl der Wortlaut vermuten lässt, es handle sich bei der EBI um ein Instrument der direkten Demokratie, ist in der Literatur meist von einem Instrument des „Agenda-Settings“ die Rede. Im Hinblick auf die Umsetzung wird kritisiert, dass die Kompetenzen weitgehend bei der Kommission liegen und solche Bürgerinitiativen nicht zugelassen werden, die missbräuchlich, unseriös oder schikanös sind; wobei offen bleibt, was hierunter zu verstehen ist. Trotz dieser Kritikpunkte kann die EBI helfen, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen, indem sie länderübergreifend Menschen und Initiativen veranlasst, sich zusammenzufinden und sich zu Themen auszutauschen, die eine europäische Relevanz haben.

Starkes Parlament? Das EU-Parlament und die partizipative DemokratieNeben partizipativen Elementen wurde auch das Europäische Parlament durch den Vertrag von Lissabon gestärkt. Das Wissen hierüber ist in der Bevölkerung aber recht gering. Einige Experten vertreten die These, die EBI sei ein Angriff auf das Europäische Parlament, da sie seine Rolle als Interessenvertretung der Bürger schmälere. Vor diesem Hintergrund plädiert die AG des BBE dafür, die EBI als Brücke zwischen Bürgern und den EU-Institutionen zu verstehen. So können Parlamentarier und Bürger gemeinsam beratschlagen und Themen identifizieren, indem sie bestehende Ansätze im parlamentarischen Raum wie die Agora stärker nutzen und ausbauen.

2.3 Die Engagementpolitik der LänderManfred Bauer, Koordinierungsstelle für bürgerschaftliches Engagement in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg

Abstimmung der Engagementpolitik zwischen Bund und LändernDer Bund und die Ländern tauschen sich zweimal jährlich über die Engagementpolitik aus. Während diese Treffen vor einigen Jahren vor allem dazu dienten, gemeinsam Projekte und Strategien zur Stärkung des Engagements zu entwickeln, glichen die

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gemeinsamen Runden in letzter Zeit eher einem persönlichen Informationssystem des Bundes gegenüber den Ländern. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sind die Länder in der Engagementpolitik enger zusammen gerückt. Das mag anhand zweier Beispiele deutlich werden: 1) Der Bund hatte sich dazu entschieden, die Vertreter des Landesnetzwerks Bayern, die die Engagementpolitik für den Freistaat verantworten, nicht mehr zu der gemeinsamen Runde zur Engagementpolitik einzuladen, weil diese nicht Teil des öffentlichen Dienstes sind. Daraufhin beschlossen die Länder im Anschluss an den halbtägigen Bund-Länder-Austausch, selbständig die Vertreter des Landeswerks und andere Experten einzuladen. 2) Nach der kurzfristigen Kürzung der Förderung des Bundes für das BBE stellten sich die Ländern hinter das Netzwerk und erhöhten geschlossen ihre Jahresbeiträge. Angesichts der Zusammensetzung der Länderrunde aus CDU/CSU, SPD- und Grün geführten Bundesländern ist das durchaus beachtlich.

Inhaltlich beschließt der Bund teilweise Projekte zur Engagementförderung, welche die Länder betreffen, aber nicht mit diesen abgestimmt sind. So platzierte der Bund bspw. Mehrgenerationenhäuser in Orten in Brandenburg, in den es bereits ein starkes bürgerschaftliches Engagement gab. Das schaffte in manchen Orten eine Konkurrenzsituation für bestehende, vom Land oder den Kommunen geförderte Bürgerhäuser. In einer Kommune musste daraufhin ein Bürgerhaus geschlossen werden. An einigen Stellen und bei neueren Programmen zur Engagementförderung gibt es hier allerdings Verbesserungen. So bezieht der Bund die Ländervertreter beispielsweise besser in die Konzeption von Engagementprogrammen ein; insbesondere wenn es darum geht, deren Weiterförderung nach Ende des Bundesprogramms festzulegen.

Zahl der Engagierten in den BundesländernBetrachtet man die Engagementquote in den verschiedenen Bundesländern, so ist diese in den südlichen Bundesländern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein mit 41 – 35% vergleichsweise hoch. Sachsen, Thüringen und Brandenburg liegen mit 33 – 31% im Mittelfeld und Mecklenburg-Vorpommern (29%) sowie Sachsen-Anhalt (26%) am Ende. Dieser geringe Wert ist in Bezug auf Sachsen-Anhalt auch darauf zurückzuführen, dass das informelle Engagement bspw. in der Nachbarschaftshilfe bei dem Survey nicht berücksichtigt wird. Dieses informelle Engagement und auch die bereits angesprochenen „sorgenden Gemeinschaften“ werden in Zukunft eine zunehmend wichtige Rolle in den Ländern spielen.

Aktivitäten der Länder zur EngagementförderungDie Länder habe eine gemeinsame engagementpolitische Initiative im Zusammenhang mit dem Freiwilligensurvey gestartet. Er ist das offizielle Erhebungsorgan für die Engagementpolitik und untersucht u. a., was Fördermechanismen in der Zivilgesellschaft bewirken. 2014 wird er erstmals vom Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) durchgeführt. Die Länder wollen das DZA damit beauftragen, in Anschluss an den Gesamtbericht im Auftrag der Bundesregierung einen gemeinsamen Länderbericht anzufertigen. Dieser soll einen Vergleich der Engagementförderpolitik der Länder und deren Effekte ermöglichen.

Im Hinblick auf Partizipation gibt es in den Bundesländern unterschiedliche Standards. Baden-Württemberg treibt das Thema stark voran und sucht Partner auf Seiten der anderen Länder. Insgesamt muss die Verwaltung hier stärker eine Moderatorentätigkeit übernehmen. Hierfür ist eine entsprechende Qualifikation notwendig.

Insgesamt ist die engagementpolitische Agenda der Länder stark darauf ausgerichtet, lokale Akteure zu unterstützen. Neue Programme und Aktivitäten von privaten Förderern, welche die lokalen Akteure fördern sind daher sehr willkommen. Hierzu zählt

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bspw. ein Programm der Robert Bosch Stiftung zur Qualifizierung von Vereinsvorständen.

2.4 Beteiligung in den Kommunen stärkenFranz-Reinhard Habbel, Deutscher Städte- und Gemeindebund

Die Kommunen sind mit dem Koalitionsvertrag zufrieden, da viele ihre Anliegen berücksichtigt wurden. Die Bürgerbeteiligung kommt auf den 181 Seiten allerdings zu kurz. Anhand von je vier Thesen will dieser Beitrag verdeutlichen, weshalb Kommunen an Bedeutung gewinnen und wie diese Bürgerbeteiligung erfolgreich umsetzen können.

1. These: Die Bürgerbeteiligung gewinnt in den Kommunen an Fahrt. Das ist zum einen auf eine steigende Nachfrage zurückzuführen: Rund 80% der Bürger in Deutschland wollen stärker an politischen Vorhaben und Entscheidungen beteiligt werden. Zum anderen verändert sich auch die Kommunalpolitik: 2014 stehen in elf Bundesländern Kommunalwahlen an – so viele wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik. Damit werden etwa 100.000 Kommunalpolitiker neu oder wieder gewählt. Dieser Generationswechsel in vielen Bereichen birgt die Chance, die Bürgerbeteiligung und die lokale Demokratie zu stärken.

2. These: Das Lokale wird in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen, da der Zentralstaat überfordert ist. Zu dieser Überzeugung gelangt der amerikanische Politikwissenschaftler und Professor für Zivilgesellschaft an der University of Maryland Benjamin Baber. In seinem aktuellen Buch „If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities“ argumentiert er, dass die Nationen den großen Herausforderungen wie dem Klimawandel, der demographischen Entwicklung, der Digitalisierung aller Lebensbereiche, dem Wandel hin zur Wissens- und Innovationsgesellschaft sowie der Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit nicht mehr gewachsen seien. Hier würden die lokale und die regionale Ebene entscheidend.

3. These: Die kommunale Intelligenz wird wichtiger. Hier entsteht soziales Kapital und Wissen, das genutzt werden muss. Dem Zentralstaat fehlt diese kommunale Intelligenz.

4. These: Die Kommunen sind innovationsfähig. Dies gilt für den Staat nicht im gleichen Maße, da er für alles deutliche Mehrheiten braucht. Hannah Arendt sagte in diesem Zusammenhang: „Es ist die Freiheit notwendig, anfangen zu können und Neues zu beginnen.“ Das können insbesondere Städte und Kommunen leisten, daher werden sie auch als Laboratorien der Zukunft bezeichnet.

Wie in der ersten These angedeutet, ist die Bürgerbeteiligung ein zentrales Thema für die lokale Politik. Der Weg hin zur Bürgergesellschaft ist hier ohne Alternative. Die Städte und Gemeinden müssen sie gestalten. Dabei geht es um Aspekte wie Kultur, Zusammenleben und Politik auf Augenhöhe, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung. In diesem Zusammenhang ist in den Kommunen eine Innovationsoffensive in Höhe von rund 128 Mrd. Euro notwendig. Allerdings werden 81 Infrastrukturprojekte mit einem Volumen von 51 Mrd. Euro von Bürgern durch Proteste blockiert. An dieser Stelle ist eine Verfahrensbeschleunigung mit mehr Bürgerbeteiligung notwendig.

Mit Blick auf die Bürgerbeteiligung in Kommunen lassen sich wiederum vier Thesen formulieren:

1. These: Gegen den Widerstand der Bevölkerung wird es in Deutschland keine großen Infrastrukturprojekte mehr geben.

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2. These: Kommunikation ist genauso wichtig wie die Statik eines Gebäudes. Wenn die Statik nicht stimmt, fällt ein Gebäude zusammen – gleiches gilt für die Kommunikation. Daher müssen die Kommunen ein größeres Augenmerk auf die Kommunikation richten. Konkret bedeutet das für Kommunen, weg von der Gesetzessprache hin zum für die Bürger verständlichen Erzählen von Geschichten zu kommen. Sitzungen des Stadt- oder Gemeinderats können per Streaming ins Internet übertragen werden. Die Verwaltung muss transparenter agieren, indem sie auf open data und open governance setzt. Darüber hinaus gilt es, alle gesellschaftlichen Gruppen – also bspw. auch Jugendliche und Migranten – in die Kommunikation einzubinden. All diese Aufgaben können in einem Dezernat für Kommunikation gebündelt werden, das auch für die Bürgerbeteiligung verantwortlich ist.

3. These: Von der Idee bis zur Umsetzung eines größeren Projekts dürfen nicht mehr als sieben Jahre vergehen. Eine solche Verkürzung ist gerade auch mit mehr Bürgerbeteiligung zu errechen.

4. These: In jedem Bauprojekt müssen 5% des Budgets für Kommunikation eingeplant werden. Gerade zu Beginn eines Projekts ist es wichtig, die Bürger zu informieren, denn hier wird meist über die Akzeptanz entschieden. Darüber hinaus wird das Design von Infrastrukturen, d. h. ihr Aussehen, immer wichtiger für die Akzeptanz. Ein Beispiel für eine gute Kommunikation vor Projektbeginn bietet Zürich: Vor dem Beginn von Reparaturen an Straßenbahnschienen gibt es hier oftmals Feste, um die Bürger zu informieren, dass die Schienen erneuert werden.

Insgesamt muss in den Kommunen eine Beteiligungskultur entstehen. Diese kann sich entwickeln, wenn Bund und Länder den Kommunen Freiräume geben und den Bereich nicht zu starke verrechtlichen. Die Kommunen selbst sollten verstärkt beteiligungsorientierte Instrumente wie Open Space, Word Café oder Zukunftswerkstätten einsetzen. Sie helfen, die Potentiale und Ideen der Leute aufzugreifen und machen den Bürgern deutlich, dass sie nicht Störer, sondern Partner sind. In diesem Prozess werden die Verwaltung und der Bürgermeister zum Prozessbegleiter und Moderator. Das verlangt von den Kommunen, ihre Mitarbeiter durch Fortbildungen und Seminare für diese Aufgaben zu qualifizieren. Darüber hinaus müssen sie einen Etat für ein Beteiligungsmanagement bereitstellen. Mit Blick auf eine gelingende Beteiligung hat die Stiftung Zukunft Berlin fünf Leitsätze aufgestellt, die gerade für Kommunen hilfreich sind: 1) Bürgerschaftliche Mitverantwortung muss man ernsthaft wollen. 2) Es muss klar sein, worum es geht. 3) Die Auswahl der Mitwirkenden muss begründet sein. 4) Das Verfahren muss angemessen und transparent sowie seine Steuerung neutral sein. 5) Die Bürger müssen nach Abschluss des Vorhabens beteiligt sein.

Um diesen gesellschaftlichen Wandel weg vom „Vater Saat“ hin zu einem „Bürgerstaat“ zu ermöglichen, müssen die EU, der Bund und die Ländern eine Politik der Freiräume schaffen. Dann kann mehr und eine bessere Bürgerbeteiligung in den Kommunen gelingen.

2.5 Aus der Diskussion

Zu Problemen bei der kommunalen Engagementförderung

In das Gesamtbild der Kommunen gehören neben den von Herrn Habbel beschriebenen innovativen auch viele abgehängte Kommunen und Regionen. Sie entdecken Bürgerbeteiligung und Engagement aus anderen Motiven. So lautet die

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Logik in vielen Kommunen Sachsen-Anhalts eher: Wir können uns viele Aktivitäten der Grundversorgung nicht mehr leisten, deshalb müssen wir mehr auf Bürgerengagement setzen. Die Menschen werden sich aber nur engagieren, wenn wir sie mitbestimmen lassen. Hier wird die Engagement- und Beteiligungskultur aus der Not heraus zusammen gedacht.

Die Disparitäten auf der kommunalen Ebene sind gigantisch. Die Kassenkredite der Kommunen liegen insgesamt bei 48 Mrd. Euro. Dabei entfallen alleine auf Nordrhein-Westfalen 25 Mrd. Euro. So hat eine Stadt wie Essen mehr Kassenkredite als alle Gemeinden in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zusammen. Eine entscheidende Frage ist, wie diese großen Disparitäten ausgeglichen werden können, ohne die Bürger und deren Engagement als Notnagel zu missbrauchen.

Es stellt sich die Frage, wie der Diskurs um den Bundesfreiwilligendienst in den kommunalen Spitzenverbänden abläuft. Denn einige Kommunen sehen diesen als reinen Ersatz des Ersatzdienstes. Das führt dann bspw. dazu, dass der Winterräumdienst im Rahmen eines BFD organisiert wird. Hier kommt es zu einem instrumentellen Zugriff auf eine Ressource, ohne dass partizipative Elemente eine Rolle spielen.

Beteiligung in der Kommunen – Balance zwischen Gerechtigkeit und Bürgerwillen

Beteiligung per se ist kein Garant dafür, dass sich eine Kommune positiv und sozial entwickelt. Wenn man sich vor Augen hält, dass 80% der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Stuttgart einen Migrationshintergrund haben und damit eine Gruppe bilden, die sich deutlich geringer beteiligt, so wird deutlich, dass Beteiligung auch zu einer Spaltung der Gesellschaft beitragen kann: Neben den Bürgern, die sich als solche verstehen und einmischen, stehen diejenigen, die nicht mitreden können. Wenn es nicht gelingt, Menschen zu Beteiligung zu befähigen, setzen sich auch weiterhin die gut Gebildeten, Reichen und Wortgewaltigen durch. Insofern braucht eine Beteiligungskultur, die den sozialen Zusammenhalt fördert, nicht nur einen Kommunikationsdezernenten, sondern auch Personen, die sich hauptamtlich darum kümmern, Benachteiligte zu Partizipation zu befähigen.

E-Democracy und virtuelle Beteiligungsinstrumente können dann Partizipation fördern, wenn man sie in ihrer Funktionalität sinnvoll kombiniert. So können Bürger aus dem Internet Informationen gewinnen oder sich über große Distanzen austauschen. Eine Schwäche dieser Instrumente liegt aber darin, Meinungsbildung und Deliberation zu gewährleisten. Denn der Besitz eines Computers führt noch lange nicht dazu, dass man sich beteiligt. Auch hier gibt es eine Mittelschichtsorientierung. Insofern stellt sich die Frage, wie wir diejenigen erreichen, die sich nicht beteiligen.

Die Politik in den Kommunen muss neu austariert werden. Es geht um eine Balance zwischen einer dominanten Politik, die alles besser weiß, und einer Politik, die sich nur noch nach dem Bürgerwillen richtet, denn dabei fallen die weniger Einflussreichen schnell hinten runter. Wie Beteiligung nicht funktionieren sollte, zeigt ein Fall aus Trier: Anlässlich der Entscheidung darüber, ob eine Tankstelle abgerissen werden sollte, führte die Stadt ein Bürgerbeteiligungsverfahren durch. Die Bürger votierten für den Abriss. Als sich dann in einer späteren Aktion allerdings rund 5.000 Personen auf Facebook für den

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Erhalt der Tankstelle aussprachen, nahm der Rat der Stadt die Entscheidung der Bürger zurück und die Tankstelle blieb erhalten.

Engagement auf der europäischen Ebene und Perspektive für den Arbeitskreis

Reiner Hoffmann wird voraussichtlich im kommenden Jahr Nachfolger von Michael Sommer als Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Als ehemaliger Assistent beim EWSA sowie Experte für europäische Themen wäre er ein guter Ansprechpartner für den Arbeitskreis. Er kann auch einen genaueren Einblick darin geben, wie die Mitglieder für den EWSA ausgewählt werden.

Um eine gute Engagementpolitik voranzutreiben sollten die Mitglieder des Arbeitskreises auf verschiedenen Ebenen von Europa, über den Bund und die Länder bis hin zu den Kommunen agieren. Dafür sollte sich der Arbeitskreis bei künftigen Sitzungen weniger auf die Bundesebene fokussieren, sondern die Ländern sowie Kommunen stärker in den Blick nehmen.

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