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Yoder, John Howard - Die Politik Jesu. Der Weg Des Kreuzes (Agape, 1981, 236pp)

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Ist das Leben und die Lehre Jesu auch im politischen und gesell­schaftlichen Bereich für die Christen maßgeblich? Hat nicht schon Paulus die radikale Ethik Jesu eingeschränkt und den irdischen Reali­täten angepaßt?

Yoders Antworten scheinen überraschend einfach und sind doch oft schwer zu akzeptieren, weil sie vom Leser in die Praxis seines Le­bens in Gemeinde und Welt umgese~zt werden wollen. Aus der lek­türe des Lukasevangeliums entwickelt er das ,Programm Jesu. Er ver­folgt seine Anwendung in den fruhen Gemeinden und seine Ausfor­mulierung durch den Apostel Paulus. Yoder entwirft das überzeugen­de Bild eines biblisch begründeten Pazifismus und eines christologisch orientierten radikalen gesellschaftlichen Engagements. Die Mensch­werdung Gottes hat Folgen für das Leben und Zeugnis der gläubigen Jünger - heute wie zur Zeit des Neuen Testamentes.

Mit John Yoders Buch über die "Politik Jesu" gewinnen wir ei­nen neuen Zugang zum irdischen Jesus, zum Weg JeSu und zu einer Christopraxis, ohne die der auferstandene Herr und die Christologie nicht verstanden werden können .... John Yoder fordert uns mit die­sem Buch auf, in der Nachfolge Jesu zu handeln und im Horizont des anbrechenden Reiches Gottes zu urteilen. Auf diesem Wege erschließt sich . die "Politik Jesu". Die Nachfolge Jesu kann nur mit ganzer See­le, ganzem Herzen und allen Kräften angetreten werden. Sie ist unge­teilt und unteilbar.

Aus dem Vorwort von Jürgen Moltmann

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John H. Yoder

DIE POLITIKJESU-

-DER WEG DES KREUZES

Agape Verlag Maxdorf

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CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Yoder, John Howard: Die Politik Jesu - der Weg des Kreuzes/John Howard Yoder. (Aus d. Amerik. übers. von Wolfgang Krauss). - Maxdorf: Agape-Verlag, 1981.

Einheitssacht.: The politics of Jesus (dt.) ISBN 3-88744-000-5

Originaltitel: The Politics of J esus c 1972 by William B. Eerdmans Publishing Company

c 1981 Agape Verlag Maxdorf Umschlag: Frieder Boller Satz: Rundschau, Heidelberg Druck: Esprint, Heidelberg

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INHALT

Abkürzungen 5

Vorwort von Jürgen Moltmann 7

1. Die Möglichkeit einer messianischen Ethik 11

2. Das Königreich kommt 25

3. Die Bedeutung des Jubeljahres 59

4. Gott kämpft für uns 70

5. Ist gewaltfreier Widerstand möglich? 81

6. Zwischenbilanz 85

7. Der Jünger Jesu und der Weg Christi 113

8. Christus und die Macht 122

9. Revolutionäre Unterordnung 146

10. Jedermann sei untertan: Römer 13 und die Autorität des Staates 172

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4 INHALT

11. Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben 189

12. Der Krieg des Lammes 205

Nachwort des Autors 221

Namen- und Sachregister 223

Autorenregister 225

Bibelstellenregister 229

Der Autor 234

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· Vorwort

Mit der längst fälligen deutschen Übersetzung dieses Buches von John Yoder kommt endlich die mennonitische, "täuferische" und friedenskirchliche Stimme in unseren gegenwärtigen, theologischen und politischen Diskussionen zu Gehör. Das ist in mehrfacher Hin­sicht von großer Bedeutung:

1. Es ist höchste Zeit, daß die evangelische Theologie und die evangelischen Landeskirchen in Deutschland ihre vierhundert Jahre alten Vorurteile gegenüber dem "linken Flügel" der Reformation re­vidieren und die Verurteilung der angeblichen "Schwärmer" und "Rottengeister" aufueben. Auch diese radikalen Gruppen der Refor­mation gehören zur Reformation und sind Zeugen des Evangeliums Christi. Wie mächtig jedoch uralte Vorurteile sind und wie schwer es ist, sie aufzuheben, zeigte sich 1980 bei der 450. Jahrfeier der Con­fessio Augustana in Augsburg: ökumenisch war nur das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche im Blick, die "Täufer" wurden so­wohl historisch wie gegenwärtig vergessen. Es war den Veranstaltern viel daran gelegen, die römische Verurteilung der Reformationskir­chen aufzuheben. Sie dachten aber nicht daran, die in ihrem eigenen Bekenntnis ausgesprochenen Verdammungen der "Täufer" aufzuhe­ben oder auch nur zur Diskussion zu stellen. Verdammen kann man nur, wenn man seines Urteils ganz gewiß ist. In der Frage der Kinder­taufe (Confessio Augustana Art. IX), der Bewahrung bis ans Ende (Art. XII), der Todesstrafe und des gerechten Krieges (Art. XVI) so­wie der Allversöhnung und des Chiliasmus (Art. XVII) ist die Dis­kussion sowohl exegetisch wie systematisch weiter gegangen. Die Verdammungsurteile der Confessio Augustana lassen sich nicht mehr aufrecht erhalten. Die Schwerfälligkeit der Landeskirchen, sich für das Zeugnis der täuferischen Gemeinden zu öffnen, ist auch in histo­rischer Schuld begründet, wurden diese doch in der Reformations­zeit von evangelischen und katholischen Kirchen und Obrigkeiten gemeinsam verfolgt, unterdrückt und ausgerottet!

In John Yoders Buch kommt das mennonitische Zeugnis des Evangeliums so klar zum Ausdruck, daß wir im Blick auf diese Ver­urteilungen und Verfolgungen beschämt und zugleich von dieser Last der Vergangenheit befreit werden.

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6 VORWORT

2. Evangelische Theologie versteht sich als Theologie, die allein und ganz dem Evangelium verpflichtet ist, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Der Stachel im Evangelium aber ist J esu Bergpre­digt. Wie kommt es, daß nach Kreuzigung und Auferstehung Jesu und nach der Verkündigung vom darin offenbaren Heil durch die Ur­gemeinde und durch Paulus die synoptischen Evangelien noch einmal auf den irdischen Jesus zurückkommen, sein Evangelium vom Reich für die Armen erzählen, seinen Weg in die Passion für die Glaubenden Und ihre Nachfolge verbindlich machen und also die Glaubenden in die Gemeinschaft mit dem Volk Jesu bringen? Die Bergpredigt ist mit ihrer bedingurigslosen Seligpreisung der Armen, Hungrigen und Weinenden und mit ihrem rücksichtslosen Anspruch auf Fein­desliebe und Gewaltlosigkeit immer ein Ärgernis in der Geschichte von Theologie und Kirche gewesen. Im Mittelalter h,alf man sich mit der Verteilung der Nachfolgeethik für die Orden und einer allgemei­nen Naturrechtsethik für die WeltchristenheiLDie reformatorische Theologie verinnerlichte die Seligpreisungen und verdrängte die For­derungen auf das private Leben im Rahmen der jeweiligen politischen Ordnung. Auch die neue Begründung der christlichen Ethik auf die Herrschaft Christi über das ganze Leben (KarIBarth) lassen den ire dischen Jesus und die Nachfolge zurücktreten. Selbst Dietrich Bon­hoeffer wandte sich von der Nachfolgeethik, die er 1938 wiederent­deckt hatte, ab, als er in den aktiven Widerstand gegen die Hitlerdik­taturging.

Mit John Yoders Buch über die "Politik Jesu" gewinnen wir einen neuen Zugang zum irdischen Jesus, zum Weg Jesu un'd zu einer Chri­stopraxis, ohne die der auferstandene Hett und die Christologie nicht verStanden werden können. Yoder zählt sich selbst zur exegetischen Schule des "biblischen Rea:lismus" . Manche seiner neutestamentlichen Thesen mögen heute umstritten sein, wie z.B. die historische These vom Jubeljahr, das Jesus in Nazareth ausgerufen hat, oder die ."Theo­logie der Mächte", die Yoder bei Paulus ftndet. Aber unumstritten ist sein Gedanke von der "messianischen Ethik" Jesu und weiterfüh­rend ist seine Auslegung der Bergpredigt von der Praxis damals zur Praxis heute. Denn durch die Bergpredigt wird unsere Wirklichkeit nicht nur anders interpretiert, sondern viel mehi- verändert. Sie wird verändert, weil sie im Anbruch des Reiches Gottes erfahren wird.

3. Der Friedensdienst der Kirche Christi ist heute aktueller denn je. Nachdem die europäische Entspannungspolitik der Großmachtpo­litik der Supermächte zu weichen beginnt, werden die alten Fronten wieder aufgerichtet. Was dient dem Frieden: "ohne Rüstung leben';

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VORWORT 7

und also Abrüsten oder "den Frieden sichern" und also Nachrüsten zwecks Abschreckung potentieller Feinde? Unter den Bedingungen atomarer Weltvernichtung können die alten Traditionen des "gerech­ten Krieges" oder der optimistische Pazifismus nichts mehr sagen. Keiner kann sicher sein, daß seine Entscheidung dem Frieden und nicht dem Krieg dient. Die Risiken sind aufbeiden Seiten unüberseh­bar geworden. Darum wird von Theologen und Kirchen auch nicht eine bessere Kalkulation der Gefahren erwartet, als die Regierenden leisten können, sondern moralische Vollmacht und eine Hoffnung, die gewiß macht. Doch wo ist der Ansatzpunkt dafür?

John Yoder fordert uns mit diesem Buch auf, in der Nachfolge Jesu zu handeln und im Horizont des anbrechenden Reiches Gottes zu urteilen. Auf diesem Weg erschließt sich die "Politik Jesu". Die Nachfolge Jesu kann nur mit ganzer Seele, ganzem Herzen und allen Kräften angetreten werden. Sie ist ungeteilt und unteilbar. Die Nach­folge Jesu ist teure Gnade (Bonhoeffer): Sie schließt Verachtung, Verfolgung, Folter und Hinrichtung nicht aus, sondern ein. Wehrlo­sigkeit und Leidensbereitschaft gehören zusammen. Das haben die Täufer immer gewußt. Sie sind aber nur die Kehrseite des schöpferi­schen Lebens für den Frieden im Anbruch des Reiches Gottes. Das Nein zu Rüstung, Abschreckung und Kriegflihrung ist immer nur die Kehrseite eines größeren und umfassenderen Ja zum Leben. Christen aus allen kirchlichen, theologischen und politischen Lagern können von den Mennoniten lernen, was aktiver Friedensdienst in unserer Weltsituation heißt.

Tübingen, 7. März 1981 Jürgen Moltmann

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Abkürzungen

Asn BJRL BR CBQ CC CR EvT HTR HzNT JBL JES HS MQR NovT NTS RHPR SBT SJT ST ThEx ThSt TQ TT TZ USQR ZNW ZTK

Annual of the Swedish Theological Institute in J erusalem (Leiden) Bulletin of the J ohn Rylands Library (Manchester) Biblical Research (Amsterdam; Chicago) Catholic Biblical Quarterly (Washington) Christian Century (Chicago) Cahiers de la reconciliation (Paris) Evangelische Theologie (München) HlUVard Theological Review (Cambridge, Mass.) Handbuch zum Neuen Testament (Tübingen: Mohr) Journal of Biblical Literature (U.S.A.) Journal of Ecumenical Studies (Philadelphia) Journal of J ewish Studies (London) Mennonite Quarterly Review (Goshen, Ind.) Novum Testamentum (Leiden) New Testament Studies (Cambridge) Revue d'histoire et de philosopie religieuses (Strasbourg; Paris) Studies in Biblical Theology (London: SCM; Naperville: Allenson) Scottish Journal of Theology (Edinburgh) Studia theologica (Lund) Theologische Existenz heute (München) Theologische Studien, ed. K. Barth (Zürich) Theologische Quartalschrift (Tübingen; Ravensburg; Stuttgart) Theology Today (Princeton) Theologische Zeitschrift (Basel) Union Seminary Quarterly Review (New Y ork) Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft (Berlin) Zeitschrift für Theologie und Kirche (Tübingen)

Durchgehend wurde die Zürcher Bibelübersetzung benutzt. Wurden andere Übersetzungen verwendet, so wurde dies angemerkt.

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1. Die Möglichkeit einer messianischen Ethik

Das Problem

Unsere Zeit erhebt einerseits den Anspruch, das Christentum hin­ter sich gelassen zu haben. Man spricht von der nachchristlichen Ge­sellschaft. Andererseits scheint Jesus, je mehr die traditionelle, kirch­lich sanktionierte Auslegung seiner Worte und Werke verblaßt, aufvie­le und besonders auf junge, kritische Menschen, eine verstärkte Faszi­nation auszuüben. Vielleicht ist es nur ein Zufall, daß seit Ende der sechziger Jahre viele junge Männer dem Jesus der SonntagSschulpla­kate sehr ähnlich sehen. Auch die Rebellen der Studentenrevolte trugen Bart und langes Haar. Ihre Behauptung, Jesus sei ebenfalls ein Sozialkritiker, ein Agitator, ein sozialer Drop-Out und der Sprecher einer Gegenkultur gewesen, ist sicher nicht zufällig. Unter den Theo­logiestudenten der westlichen Welt fiel die "Theologie der Befreiung" auf fruchtbaren Boden, weil sie eben diese Behauptung aufstellt.

Kann die christliche Ethik diese These genauso schlagfertig (bzw. leichtfertig) zurückweisen, wie sie oft aufgestellt wird? Könnte der Vorwurf mangelnder Ehrfurcht oder der Vereinnahrnung für eigene Ziele nicht leicht auf sie zurückfallen? Oder steckt hinter dieser vielleicht übertriebenen Aussage eine biblische Wahrheit, die nun erst, da Revolution zum Schlagwort unserer Zeit geworden ist, in die allgemeine Wahrnehmung einbricht? Hat die ehrfurchtsvolle und "verantwortliche" christliche Ethik in dieser Beziehung versagt?

Das behauptet diese Arbeit. Sie behauptet nicht nur, daß Jesus dem biblischen Zeugnis nach ein Modell radikalen politischen Han­delns darstellt, sondern daß dieser Sachverhalt jetzt in der neutesta­mentlichen Forschung allgemein sichtbar wird, auch wenn die Neu­testamentler ihn bisher nicht so entschieden vertreten haben, daß die

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12 DIE MöGLICHKEIT EINER MESSllANTSCHEN ETHIK

Ethiker am anderen Wegrand ihn zur Kenntnis nehmen mußten'! Eben dies zu tun,ist alles, was die vorliegende Arbeit leisten will;

die Geschichte von Jesus so sprechen zu lassen, daß jeder, der sich mit Sozialethik befaßt, zuhören kann, statt wie bisher mit einer Rei­he von Standardausflüchten anzunehmen, Jesus sei nicht oder zumin­dest nicht in erster Linie relevant für gesellschaftliche Angelegenhei­ten.

Ein solcher Versuch der interdisziplinären "übersetzung" hat sei­ne spezifischen, emstzunehmenden Risiken. Er muß beiden Parteien, die er gegenseitig in Hörweite bringen will, übervereinfachend erschei­nen, da er dami t beginnt, die Grenzen und Axiome der jeweiligen Dis­ziplin nicht zu respektieren; zudem ist der "übersetzer" oder Brük­kenbauer immer irgendwie ein Fremder, in gewisser Weise ein Laie, der außerhalb seines Fachgebietes herumpfuscht. Wir können zur Entschuldigung nur geltend machen: hätten die Experten die drin­gend benötigte Brücke gebaut, so hätte der Laie dazu nicht antreten müssen.

Unsere Arbeit sucht also die Beziehung zu beschreiben, die das Studium des Neuen Testamentes2 mit der zeitgenössischen Sozial­ethik verbinden könnte, besonders da die zweite Disziplin sich zur

1 "Trotz einer größeren Bereitschaft die Probleme nun offen anzugehen, die sich l111vermeidlich daraus ergeben, daß eine historische Person als die Inkar­nation Gottes betrachtet wird, besteht immer noch eine me~kwiirdige Abnei­gung, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, Jesus könnte politische Ansich­ten gehabt haben." S.G.F. Brandon, Jesus and the Zealots (Manchester U.P., 1967), p. 24. Unter den Neutestamentlern ist Brandon.ein Außenseiter. Eine noch treffendere Be­schreibung der zeitgenössischen neutestamentlichen Forschung hätte sich wohl ergeben, wenn er gesagt hätte, in einzelnen Texten seien die Fachleute sehr wohl bereit, die politische Dimension des Wirkens Jesu anzuerkennen aber es bestehe eine Abneigung,. die Beobachtungen zu verbinden. Vgl. unte~. p.60. Anm. 52, den Kommentar von EtienneTrocme.

2 In nuce.wurde dieses Material schon vorgetragen auf der zweiten "Puidoux" Konferenz über Kirche und Frieden in Iserlohn.im Juli 1957, und. etwas .aus­führlicher in Nachfo~e Christi. als Gestalt politischer Verantwortung (Basel: Agape Verlag, 1964) pp.37ff. Seine jetzige Gestalt verdankt es einer streng neu­testamentlichen Studie, die am 27. April 1968 vor der Chicago Society for Biblical Research vorgetragen wurde. Es wurde in. dieser erweiterten Form von den Herausgebern von Biblical Re. search .zur Vetöffentlichung freigegeben. Die Vorbereitung wurde durch zahl­reiche Vorschläge von Wi1liam Klassen undJohn E. Toews befördert.

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DIE MÖGLICHKEIT EINER MESSIANISCHEN ETHIK l3

Zeit vordringlich mit den Problemen der Gewaltausübung und Revo­lution beschäftigt.3

Die Theologen haben lange die Frage nach der Beziehung zwi­schen Jerusalern und Athen erörtert; hier wird behauptet, daß Beth­lehem etwas über Rom - oder Massada - zu sagen hat.

Mit welchem Recht aber darf es einer wagen, ein Seil über den tiefen Graben werfen zu wollen, der gemeinhin die Disziplinen neu­testamentlicher Exegese und zeitgenössischer Sozialethik trennt? Normalerweise müßte jedes Bindeglied zwischen diesen beiden Berei­chen des Diskurses extrem lang und indirekt sein.

Als erstes ist da die enorme Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überwinden, und zwar mit Hilfe der Hermeneutik von der Exegese zur zeitgenössischen Theologie; sodann muß ein weiterer großer Schritt von der Theologie zur Ethik getan werden, über die So­ziologie und Ernst Troeltsch. Aus der Perspektive des Theologiege­schichtlers, der normalerweise auf einer Insel zwischen beiden Abgrün­den sitzt und daher ein Amateur auf beiden Ufern ist, kann ich es nur aus zwei Gründen rechtfertigen, mich auf so amateurhafte Weise in das Problem zu stürzen. Zum einen scheint es, daß die Experten, die auf die lange Reise gehen, nie am Ziel ankommen. Die Exegeten entwickeln in ihren hermeneutischen Meditationen ausgedehnte Sy­steme der Kryptosystematik und das Feld der Ethik bleibt wie es war; oder falls dort etwas Neues geschieht, wird es meistens aus anderen Quellen gespeist.

Der zweite Grund für meine Verwegenheit - er könnte selbst Ge­genstand einer Debatte in der Exegetengilde sein - ist das radikale protestantische Axiom, das in jüngster Zeit unter dem Namen "bibli­scher Realismus" wieder mit Leben gefüllt wurde. Danach ist es siche­rer für das Leben der Kirche, das ganze Volk Gottes liest die ganze

3 Allgemein sichtbar war das Problem, das in diesem Buch behandelt wird, spä­testens seit den Schriften der Brüder Nie buhr in den Dreißiger Jahren; doch ein neuer Höhepunkt intensiven Interesses zeigt sich im Zuge des ökomenischen Nachdenkens über politische Ethik,.besonders stark in Lateinamerika, was star­ken Ausdruck fand auf der Genfer Konferenz über Kirche und Gesellschaft im Juli 1966. Hier wird "Revolution" zum Schlüsselbegriff (z.B. Richard Shaul, "Die revolutionäre Herausforderung an Kirche und Theologie", in Appell an die Kirchen der WeIt, Dokumente der Weltkonferenz für Kirche und Gesell­schaft (Stuttgart: Kreuz, 1967), pp.91ff.) In diesem Kontext wird Jesus oft als revolutionäre und politische Figur dargestellt; doch geschieht dies eher for­mal, schlagwortartig. Es geht nicht einher mit einem inhaltlichen Interesse an der Art von Politik, die Jesus verkörperte. Es ist daher gerade durch die Abwe­senheit der Belange gekennzeichnet, denen sich dieses Buch widmet.

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14 DIE MÖGLICHKEIT EINER MESSIANISCHEN ETHIK

Breite des biblischen Kanons, als daß es seine Erleuchtung den jewei­ligen Filterungsprozessen anvertraut, durch die die Gelehrten der je­weiligen Zeit alle Wahrheit hindurchschicken möchten.4

Ich gehe daher im vorliegenden Buch das Risiko der Synthese weder blind noch unverantwortlich ein, indem ich vorschlage, den Je­sus der kanonischen Evangelien mit der Gegenwart zu konfrontieren. Dieses gefährliche Wagnis bedeutet keine Respektlosigkeit gegenüber den vielfältigen, durchaus angemessenen historischen Fragen zur Ver­bindung zwischen dem Jesus der kanonischen Evangelien und den anderen Jesus-Figuren, die die Wissenschaft entwerfen kann.

Die herrschende Ethik: Jesus ist nicht die Nonn

Der klassische naive Ansatz sah einst eine direkte Verbindung zwischen dem Werk oder den Worten Jesu und dem, was es heute bedeuten könnte, gläubig "in seinen Fußstapfen zu wandeln".5 Da-

4 Die fortdauernde Legitimität theologischen Rückbezugs auf den ganzen Text des Ev.angelil,lms in sehler überlieferten Form wurde von Floyd Filson in seinem Artikel "Thinking with the Biblical Writer", BR, 11 (1-966) überzeugend ver­treten; und ähnlich von Theodor Wedel, The Gospel in a Strange, New World (Philadelphia: Westminster, 1963), pp.17ff. Hans Conzelmann argumentiert in Die Mitte der Zeit, Studien zur Theologie des Lukas (Tübingen: Mohr, 1954), pp.4ff. ebenso: obwohl es Teil der Arbeit des Wissenschaftlers sei, die Doku­mente zu werten und die Ereignisse dahinter zu rekonstruieren, müsse das In­teresse jeglicher Textlektüre darin liegen, die Intention des Autors zu erfassen. Indem er das von Lukas sagt, zitiert Conzelmann ein ähnliches Argument von Dibe1ius über die Apostelgeschichte. Wir konzentrieren uns für den gegenwär­tigen Zweck auf den Text, wie er uns vorliegt; das konzediert jedoch in keiner Weise, daß die tiefer schürfende Forschung nach den Ereignissen hinter dem Text unsere Ergebnisse schwächen würde; vgl. pp.22; 46, Anm.35; 56, Anm. 52; 93. 5D~r Klassiker des populären Protestantismus de~ Jahrhundertwende, den Charles Sheldon unter diesem Titel ("In his Steps") veröffentlichte, ist kein ernstzunehmendes Muster der Vision von Jüngerschaft, wie wir sie hier be­schreiben. Die Werte an die der Held des Buches, der gläubige Jünger Henry Max­well, gebunden ist, haben keinen materiellen Bezug zu Jesus. "Tu, was Jesus tun würde", heißt für Sheldon einfach "tu, was recht ist; koste es, was es wolle". D.ochwas recht ist, kann man nachSheldon auch ohne Jesus wissen. Sheldon ist eher ein Befürworter der hier beschriebenen herrschenden Be­trac:htungswejse, die die wesentlichen Normen der Ethik woanders als in den Evangelien findet. Um Modelle zu .finden, die erns4nachen mit Jesu Vorbild­haftigkeit .für die Sozialethik, müssen wir zl,lIückgehen zu ~en Franziskanern, den .Böhmis.chen Brüdern .oder den Täufern. Anfänge einer modernen Neufor­mulierung dieses Anspruchs finden sich in G.H.C. Mac Gregor, Friede aufEr­den, Biblische Grundlagen der Arbeit am Frieden (München: Kadser, 1955); dasamerikanische Original erschien 1936: The New Testament Basis of Pazi· fislJ'l (New York: FellO\vship of Rt;conciliation). Vgl. auch C.H. Dodd, unten, p.S7, Anm.3

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DIE MÖGLICHKEIT EINER MESSIANISCHEN EmIK 15

-rauf gibt es in jeder Epoche christlichen Nachdenkens über Gesell­schaft eine ebenso klassische nicht naive Antwort. Wenn wir diese Antwort der herrschenden Richtung formulieren, haben wir den Schauplatz fur unsere Erörterung hergestellt. Die erste und schwer­wiegendste Feststellung dieser klassischen Verteidigung gegen eine Imitationsethik gründet sich auf die Beobachtung, daß Jesus einfach nicht maßgeblich sei - zumindest nicht direkt - in sozialethischen Fragen. Die große Vielfalt der Versuche, diese negative Feststellung zu belegen, läßt sich vielleicht nicht unfair in drei Thesen zusammen­fassen, deren erste die sechsfache Behauptung von Jesu Irrelevanz ist.

1. Jesu Ethik ist eine Ethik für ein "Interim", das sich Jesus sehr kurz vorstellte. Der apokalyptische Bergprediger braucht sich nicht um das überleben fester Gesellschaftsstrukturen zu kümmern, da er meint, die Welt nähere sich dem Ende. Seine ethische Lehre kümmert sich daher logischerweise nicht um das überlebensbedürfnis der Ge­sellschaft und die geduldige Konstruktion dauerhafter Institutionen. Die Ablehnung der Gewalt, der Selbstverteidigung, der Anhäufung von Reichtum zum Zwecke der Sicherheit, sowie auch die Unbehaust­heit des Propheten, der das Königreich Gottes verkündet, sind keine dauerhaften und verallgemeinerbaren Einstellungen gegenüber sozia­len Werten; sie haben nur Sinn, wenn man annehmen kann, daß das Ende dieser Werte unmittelbar bevorsteht. Deshalb kann Jesus über­all dort keine Hilfe sein, wo die Sozialethik sich mit Problemen der Dauer befassen muß. Wenn die Nichtdauerhaftigkeit der sozialen Ordnung eine Voraussetzung der Ethik Jesu ist, dann hat ganz offen­sichtlich das jahrhundertelange überleben seiner Bewegung schon die­se Voraussetzung ungültig gemacht. So gewinnt das überleben der Gesellschaft als Wert an sich, ein Gewicht, das Jesus ihm nicht gege­ben hat.6

2. Jesus war, wie seine franziskanischen und tolstoianischen Nach­ahmer gesagt haben, eine einfache ländliche Gestalt. Er sprach über die Spatzen und die Lilien zu Fischern und Bauern, Aussätzigen und Ausgestoßenen. Seine radikale Personalisierung aller ethischen Pro­bleme ist nur in einer Dorf-Gesellschaft möglich, wo die kulturellen Voraussetzungen gegeben sind, daß jeder jeden kennt und als Person behandelt. Das schlichte "von-Angesicht-zu-Angesicht-Modell" der

6 Die klassische amerikanische Formulierung der Abhängigkeit der Ethik Jesu von seiner Erwartung eines baldigen Endes der Geschichte ist Reinhold Nie­buhrs Interpretation of Christian Ethics (New York: Harper, 1935); ihr folgen Paul Ramsey und viele andere (unten pp. 16ff.)

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16 DIE MÖGLICHKEIT EINER MESSIANISCHEN ETHIK

sozialen Beziehung ist das einzige, das ihn beschäftigte. Es gibt also in der Ethik Jesu keine Intention, Wesentliches zu den Problemen komplexer Organisation, zu Institutionen und Ämtern, über Cliquen, Macht und Massen zu sagen.

3. Jesus und seine ersten Nachfolger lebten in einer Welt, auf die sie keinen Einfluß hatten. Es ist daher ganz einleuchtend, daß sie sich keine andere Art sozialer Verantwortung vorstellen konnten, als die, einfach eine gläubige, bezeugende Minderheit zu sein. Nun hat jedoch die Christenheit in der Geschichte große Fortschritte gemacht, was sich symbolisch in der Bekehrung Konstantins und praktisch in den "jüdisch-christlichen" Voraussetzungen manifestiert hat, die unserer

,ganzen westlichen Kultur zugrunde liegen. Daher ist der Christ ver­pflichtet, Fragen zu beantworten, die sich Jesus seinerzeit nicht ge­stellt hat. Der einzelne Christ, oder' alle Christen gemeinsam, müs­sen Verantwortlichkeiten akzeptieren, die in Jesu Situation unvor­stellbar waren}

4. Das Wesen der Botschaft Jesu ist ahistorisch per Defmition. Sie handelt von geistlichen, nicht von sozialen Angelegenheiten, von Existentiellem, nicht von Konkretem. Er verkündete keinen sozialen Wandel, sondern ein neues Selbstverständnis, nicht Gehorsam, son­dern Buße. Was immer er auch von sozialer und ethischer Bedeutung sagte oder tat, darf nicht für sich selbst betrachtet werden, es muß vielmehr als die symbolische oder mythische Einkleidung seiner geist-

7 "Jesus behandelt nur die einfachste moralische Situation ... den Fall einer Person in Beziehung zu nur einer andern. Er unternimmt es nicht, zu erklären, wie Menschen, die (fiir sich selbst) keinerlei Widerstand leisten sollen ... , wenn sie allein die Schläge erhalten, in komplizierteren Fällen handeln sollen." Paul Ramsey, Basic Christian Ethics (New York, Scribner, 1950), pp. 167 ff. Ein Vertreter der Tendenz, die Lehre Jesu zu enthistorisieren, gerade in der Ab­sicht, sie ernst zu nehmen, ist Ernest C. Colwell, Jesus and the Gospel (New York:.Oxford, 1963). Obwohl Colwell's Buch dahin zielt, die grundsätzliche historische Zuverlässigkeit der Evangelienberichte neu zu bestätigen, meint er, dies dürfe nicht dahingehend ve.rstanden werden, daß damit soziale Konkret­heit eingeschlossen sei. Die Versuchungslegende (p. 47) ist ein dramatisches Gleichnis der Demut, keine Versuchung. Die Häufigkeit wirtschaftlicher Mo­tive in Gleichnissen und ethischer Lehre sollte nicht als Anzeichen einer be­stimmten Einstellung .zu Reichtum und Arbeit angesehen werden - (p. 60). Habsucht ist falsch, nicht weil sie dem Bruder das Brot wegnimmt, sondern weil sie in geistlicher Hinsicht verderblich ist.

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lichen Botschaft verstanden werden.3 Wenn auch die Texte der Evan­gelien in diesem Punkt nicht klar genug sind, so erhalten wir doch de­fmitive Aufklärung in den späteren apostolischen Briefen. Besonders Paulus entfernt uns von der letzten Spur eines allzu sozialen Mißver­stehens Jesu und bringt uns die Innerlichkeit des Glaubens nahe.

S. Oder, um es ein wenig anders zu sagen: Jesus war ein radikaler Monotheist. Er führte die Menschen weg von den irdischen und zeit­lichen Werten, denen sie ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatten und verkündete die Herrschaft des Einzigen, der würdig war, angebetet zu werden. Die Wucht dieserradikalen Diskontinuität zwischen Gott und Mensch, zwischen der Welt Gottes und menschlichen Wertvorstellun­gen, soll alle menschlichen Wertvorstellungen relativieren. Der Wille Gottes kann nicht mit einer bestimmten ethischen Antwort oder ei­ner gegebenen menschlichen Wertvorstellung in gedankliche Überein­stimmung gebracht werden, da diese alle endlich sind. Praktisch be­deutet diese Relativierung für das Wesen der Ethik jedoch, daß diese Werte sich verselbständigt haben. Denn das Einzige, was nun über ihnen steht, ist das Unendliche.9

8 Eine Standardformulierung dieser Auffassung findet sich bei Roger Mehl, "The. Basis of Christian Social Ethics" in. John C. Bennet, ed., Christian Social Ethics in an Changing World CNew York: Association, 1966), pp. 44 f[ Nach Mehl war J esu Anliegen ausschließlich auf das Individuum bezogen. Er verhielt sich indifferent gegenüber sozialen oder politischen Angelegenheiten, und er stand dem Anliegen der Zeloten. fern. Es ist daher eine Neuerung (nach Mehl eine heilsame), daß die christliche Ethik erst in moderner Zeit und als Antwort auf die Herausforderung des Sozialismus sich mit Fragen der Sozial­struktur beschäftigt Es könnte ausführlicher gezeigt werden, wie dieses Denk: muster sich durchhält, sogar unter dem Deckmantel einer Sprache, die anschei­nend ziemlich genau das Gegenteil meint Wenn z.B. von J esus als demjenigen gesprochen wird, der "wahre Menschlichkeit enthüllt" oder wenn von der Menschwerdung als Offenbarung gesprochen wird, so könnte das durchaus heißen, wir könnten oder sollten zu dem Menschen Jesus in all seiner mögli­chen Menschlichkeit gehen, um zu sehen, wie Gott den Menschen will. Doch in der tatsächlichen Praxis der zeitgenössischen "Inkarnationstheologie" dient diese Sprache im Normalfall als Präambel oder als Bekräftigung einer Deimi­tion wesentlicher oder allgemeiner Menschlichkeit, die aus ganz anderen Quel­len abgeleitet wird.

9 Dies ist das zentrale Anliegen H. Richard Niebuhrs schon in Christ and Cul­ture (New York: Harper, 1951), bes. pp. 234 f[, und weiter in Radical Mono­theism and Western Culture (Harper, 1960) und in The Responsible SeI! (Harper, 1963).

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6. Oder der Grund ist im Ton "dogmatischer". Jesus kam doch wohl, sein Leben für die Sünden der Menschen zu geben. Das Werk der Versöhnung oder das Geschenk der Rechtfertigung, wodurch Gott den Menschen befähigt, wieder Gemeinschaft mit ihm zu haben, ist ein gerichtlicher Akt, eine Gnadengabe. Römische Katholiken mö­gen diesen Rechtfertigungsakt im Zusammenhang mit den Sakramen­ten sehen und Protestanten im Zusammenhang mit ihrem Selbstver­ständnis, in der Antwort auf das verkündigte Wort; doch nie wird er mit der Ethik in Verbindung gebracht. Genauso wie Schuld nicht heißt, sündige Handlungen begangen zu haben, so hat auch Rechtfer­tigung nichts mit richtigem Verhalten zu tun. Wie der Tod Jesu unse­re Rechtfertigung bewirkt, ist eill göttliches Wunder und Geheimnis; wie Jesus starb, oder wie sein Leben aussah, das zu diesem Tod führte, ist daher für die Ethik nicht von Belang.

Aus dieser Ansicht des Denkens und der Lehre Jesu folgt, daß es nicht seine Absicht gewesen sein kann - oder wir können zumindest sagen, daß er das nicht geleistet hat - präzise Richtlinien auf ethi­schem Ge biet bereitzustellen. Seine apokalyptische Tendenz und sein Monotheismus können uns lehren, bescheiden zu sein; sein Persona­lismus kann uns lehren, die Werte der persönlichen Beziehung zu schätzen; aber wenn es darum geht, wie wir Entscheidungen treffen sollen, müssen wir uns anderswo nach Hilfe umsehen.

Gibt es eine andere Norm?

Die zweite grundsätzliche Behauptung des vorherrschenden ethischen Konsensus folgt aus der ersten. Wie wir gesehen haben, ist Jesus selb.st (sowohl seine Lehre als auch sein Verhalten) letztlich nicht ethisch norma tiv. Es muß also so etwas wie eine Brücke oder ei­nen übergang· in eine andere Denkweise oder Gedankenwelt geben, sobald wir anfangen, über Ethik nachzudenken. Und zwar nicht nur eine Brücke vom ersten Jahrhundert in die Gegenwart, sondern auch von der Theologie zur Ethik oder vom Existentiellen zum Institutio­nellen. Eine gewisse, recht bescheidene Fracht läßt sich über diese Brücke befördern: vielleicht ein Konzept der absoluten Liebe und De­mut, Glaube oder Freiheit. Aber die Fundamente der Ethik müssen auf unserer Seite der Brücke rekonstruiert werden.

Drittens: die Rekonstruktion einer Sozialethik auf dieser Seite des übergangs wird darum ihre Richtung vom gesunden Menschen­verstand und der Natur der Dinge erhalten. Wir wägen ab, was "pas­send" und "adäquat" ist; was "relevant" und "effektiv". Wir sind

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"realistisch" und ''verantwortlich''. Alle diese Leitsätze verweisen auf eine Erkenntnistheorie mit dem klassischen Etikett natürliche Theo­logie: die Natur der Dinge meint man in ihrer bloßen Gegebenheit an­gemessen zu erfassen; recht ist, was das wesentlich Gegebene respek­tiert oder seine Verwirklichung fördert. Ob man dieser Ethik in der reformatorischen Form begegnet, wo sie als Ethik der "Berufung" oder des "Standes" bezeichnet wird, oderin der augenblicklich popu­lären Form der "Situationsethik" , oder in den älteren katholischen Formen, wo "Natur" in anderer Weise auftaucht - immer ist es der Struktur nach das gleiche Argument: durch die Beobachtung der Re­alitäten um uns herum, nicht durch das Hören einer Verkündigung Gottes, erkennen wir, was recht ist.! 0

Hat man diese Annahmen über die Quellen relevanter Sozialethik und über die geistliche Natur von Jesu Botschaft einmal akzeptiert, so kann man eine negative Rückkopplung bezüglich der Interpreta­tion des Neuen Testaments selbst beobachten. Wir kennen nun die Behauptung, Jesu habe keine relevante Sozialethik praktizieren oder lehren können. Dann müssen die Juden, die dachten, daß er gerade das täte, und ihn dafür verurteilten, ihn sehr schlimm mißverstanden haben. Das ist ein Beweis der Verhärtung ihrer Herzen. Auch Mat­thäus, der die Lehren Jesu so anordne~e und interpretierte, als wolle er daraus einen einfachen ethischen Katechismus machen, hat Jesus mißverstanden: aus seinem Mißverständnis entwickelte sich das. be­dauerliche Phänomen, das protestantische Historiker "Frühkatholizis~ mus" nennen.

Glücklicherweise, so fährt die Erklärung fort, wurden die Dinge bald durch den Apostel Paulus richtiggestellt. Er korrigierte die Ten­denz zum Neo-Judaismus oder zum Frühkatholizismus durch die Be­tonung der Priorität der Gnade und der sekundären Bedeutung der Werke, so daß ethische Belange nicht mehr zu ernst genommen wer­den konnten.

10 Daß diese Quelle der Ethik "eine andere als Jesus" ist, braucht natürlich nicht zu bedeuten, daß sie keinen Bezug hat zur Offenbarung. Man kann sehr gut von ihr als der Ordnung, die Gott .der Vater geschaffen hat, sprechen, oder als einem Imperativ, der in der jeweiligen Situation durch das Wirken des heiligen Geistes erkannt wird, oder als dem "kosmischen Christus" oder "Gottes wir­ken in der Geschichte". All diese populären Ausdrücke, wie sie gegenwärtig in der ethischen Diskussion gebraucht werden, führen uns weg von der Konkret­heit Jesu zu einer anderen Quelle von Normen. Weitere Beispiele des Stand­punktes, der Jesus im Namen der "Offenbarung" relativiert, sind unten ange­führt, pp.122ff.

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Künftighin sollen ... auch die, welche Frauen haben, so leben, . als hätten sie keine,

die Weinenden so, a11; weinten sie nicht, die sich freuen,. so,a11; freuten sie sich nicht, die etwas erwerben, so, a11; behielten sie es nicht zu eigen, die sich der Welt bedienen, so, ,,11; nutzten sie sie 'nicht aus.

I Kor.7: 29ff (Jerusalerner Bibel)

Die zweite paulinische Korrektur klärte die soziale Radikalität von Jesus selbst (nicht nur die judaisierende Fehlinterpretation Jesu) und rückte sie zurecht.11 Positive Achtung vor den Institutionen der Gesellschaft, sogar vor der Unterordnung der Frauen und vor der Skla­verei; Anerkennung der göttlich sanktionierten Legitimation der rö­mischen Regierung; Anleihen bei stoischen Konzeptionen der Natur­ethik - das sind einige Elemente der paulinischen Richtigstellung; so daß die Kirche nun in der Lage war, eine Ethik zu konstruieren, zu welcher Person und Charakter Jesu - und besonders sein Lebensweg--:­keinen besonderen oder entscheidenden Beitrag mehr darstellten.

Angesichts dieses hastig skizzierten Musters der vorherrschenden Strukturen ethischen Denkens, wird die systematische und die histo­rische Theologie einige sorgfaltige Fragen stellen müssen. Da ist die Frage nach der Autorität dieser hermeneutischen Annahmen.1 2

Wenn die Bedeutung Jesu so vom Verständnis seiner Jünger und sei­ner Feinde in Palästina abweicht, und wenn diese einfachen Verständ­nisse erst durch einen hermeneutischen Filter gepreßt und durch eine Ethik sozialen überlebens und der Verantwortlichkeit ersetzt werden müssen, was ist dann aus dem Konzept der Offenbarung geworden? Gibt es überhaupt so etwas wie eine christliche Ethik? Wenn es keine christliche Ethik gibt, sondern nur natürliche menschliche Ethiken, denen Christen wie andere anhängen, bezieht sich dann diese extreme Preisgabe spezifischer Substanz nur auf ethische Wahrheit? Warum nicht auch auf jede andere Wahrheit?

Eine zweite Frage müssen wir stellen: Was wird aus der Behaup­tung der Menschwerdung, wenn.Jesus nicht als Mensch normative Be-

11 Vgl. die eingehendere Beschreibung dieser Ansicht pp. 146ff.

12 Graydon F.Snyder, The Continuity 01 Early Christianity, in seiner unver­öffentlichten Ph.D.Dissertation, Princeton Theological Seminary, 1961 pp. l8ff, verdeutlicht, daß die Analyse in vielem von 'der schon feststehenden hegelianischen Ausrichtung der Tübinger Schule diktiert wurde. .

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deutung hat? Wenn er Mensch ist, aber nicht Vorbild, ist das nicht die alte ebonitische Häresie? Wenn er irgendwie Autorität ist, aber nicht in seiner Menschlichkeit, ist das nicht ein neuer Gnostizismus?

Auch die innere Schlüssigkeit ist problematisch. Warum sollten Christen innerhalb der MachtstruktUren soziale Verantwortung aus­üben, wenn ihr Handeln dort von denselben Maßstäben geleitetist, wie das der Nichtchristen?

Wollten wir diese· Fragen vom systematischen oder historischen Ende aufrollen, so hätte das mit. biblischer Forschung nichts zu tun. Wir könnten aber, da wir nun einmal durch diese Fragen sensibilisiert sind,wiederum am Anfang beginnen und zwar so, daß wir versuchen, einen Teil des Neuen Testaments ohne die üblichen negativen Vorur­teile über seine Verbindlichkeit zu lesen. Oder schärfer gesagt: ich schlage vor, die Evangeliumserzählung mit der dauerndgegenwärtigen Frage zu lesen, "gibt es hier eine Sozialethik?". Mit anderen Worten, wir testen, die den vorherrschenden Annahmen entgegenlaufende Hypothese, daß nämlich Dienst und Anspruch Jesu am besten so ver­standen werden, daß Jesus den Menschen nicht die Vermeidung poli­tischer Stellungnahmen empfiehlt, sondern gerade eine bestimmte so­ziale - politische - ethische Stellungnahme nahelegt.

Diese Studie geht also zwei recht verschiedene Aufgaben an. Die beiden unterscheiden sich in Inhalt und Vorgehensweise. Sie verlan­gen also auch nach verschie denen Methoden und Veranschaulichungen.

1. Ich will versuchen, ein Verständnis von Jesus und seinem Dienst zu skizzieren, aus dem die direkte Bedeutung Jesu für die So­zialethik ersichtlich wird. Das fallt in das Gebiet neutestamentlicher Forschung innerhalb der exegetischen Wissenschaft.

2. Ich werde außerdem zeigen, daß Jesus, so verstanden, nicht nur relevant, sondern auch normativ ist für eine zeitgenössische christ­liche Sozialethik. Wir sollten uns voll darüber im Klaren sein, daß das Unternehmen nur dann von Bedeutung ist, wenn beide Antworten bejaht werden können. Wenn aus allgemeinen Gründen der systema­tischen oder philosopischen Theologie, wie sie lange Zeit die theolo­gische Ethik weitgehend beherrschten, Jesus, wer immer er war, kein Modell fiir die Ethik ist, dann wird es im Detail bedeutungslos, wer er war, und was er tat.

Wenn andererseits Jesus nicht wie andere Menschen doch ein po­litisches Wesen war, oder wenn er weder Originalität noch Interesse gezeigt hätte, auf die Fragen einzugehen, die seine soziopolitische Umgebung ihm stellte, so wäre es witzlos nach der Bedeutung seiner Haltung für uns heute zu fragen.

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Um die Frage zu vereinfachen und bearbeitbar zu machen, schla­ge ich vor, daß wir uns hauptsächlich auf ein Dokument konzentrie­ren: auf den kanonischen Text des Evangeliums nach Lukas. Lukas' erzählerische Linie bietet uns eine einfache Skizze, und seine redak­tionelle Haltung wurde oft als Versuch angesehen, eine Bedrohung der mediterranen Gesellschaft oder der römischen Herrschaft durch die christliche Bewegung zu bestreiten. Daß wir unsere verstreuten Sondierungen auf Lukas konzentrieren, soll die Lektüre nicht lenken; jeder andere Evangelientext hätte ebensogut benutzt werden können, und gelegentlich werden wir die Parallelen und Unterschiede in den anderen Evangelien heranziehen.

Auch soll unser einfacher Anfang mit dem kanonischen Text kei­nen fehlenden· Respekt fur die Wichtigkeit der kritischen und histo­rischen Probleme, die hinter dem Text liegen, bedeuten. Aber die Distanz zwischen dem kanonischen Text und dem "historischen Je­sus" wie er "wirklich war" ist nicht der Gegenstand der gegenwärtigen Studie. Die Brücke vom Kanon nach heute ist schon lang genug) 3

13 Die Vereinfachung der gegenwärtigen Aufgabe im Nichteingehen auf die textkritischen Fragen geschieht nicht, um widersprechendes Material auszu­schalten. Textkritische Studien bestätigen im allgemeinen unsere These; vgl. unten, p.46, Anm. 35. Es sollte nicht angenommen werden, daß diese Studie in ihrer Entscheidung, historisch-kritischen Problemen nicht ausführlich nachzugehen, irgendwelche neo-fundamentalistische Vermutungen über die Komposition des Evangelien­textes anstellt, oder über die Verschiedenheiten in der Entwicklung der frühen Kirchen und während der Herausbildung der kanonischen Texte. Es werden auch nicht irgendwe1che besonderen Vorstellungen entwickelt, wie man hinter den Evangelientexten in ihrer überlieferten Form zu einem Verständnis des "historischen Jesus" kommt. Weitere Diskussion oder die Konstruktion von Hypothesen über dieses Thema werden hier zurückgestellt, nicht weil sie als unwichtig angesehen werden, oder weil der Verfasser sich darüber im Klaren wäre, was sie erbringen sollten, sondern nur deshalb, weil eine sorgfaltige Lek­türe des kanonischen Textes für unsere gegenwärtige These genügt. Es wäre allerdings ein Argument gegen unsere Lesart der Jesus-Geschichte, wenn die historisch-kritischen Forscher solide Beweise auftischten, daß der von ihnen gefundene "wirkliche Jesus" ziemlich unvereinbar mit demjenigen sei, den wir im kanonischen Bericht finden. Wir werden dieser Herausforderung begegnen müssen, wenn sie auftauchen sollte. Aber bisher hat noch kein Forschungsan­satz solche Ergebnisse erbracht Im Gegenteil, je skeptischer die Forscher hin­ter den Dokumenten nach dem suchen, was sie als "harte Fakten" anerkennen (in der Annahme, den Evangelienschreibern sei es weniger um solche Daten ge­gangen) und je selbstsicherer sie ihr neues Konzept, wie es tatsächlich war, ent­werfen, desto unwahrscheinlicher wird es, daß Interpretationen erstehen könn­ten, die das traditionelle dogmatische Bild des apolitischen Jesus unterstützen,

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Das, was ich zu tun unternehme, hat nicht einmal so sehr mit dem neutestammtlichen Text als solchem zu tun, als mit den modemen Ethikern, die behauptet haben, die einzige Möglichkeit, von der Ge­schichte der Evangelien zur Ethik zu kommen, von Bethlehem nach Rom oder nach Washington oder Saigon, sei, diese Geschichte hinter sich zu lassen. Ich werde mehr die Ereignisse als die Lehre betrachten, mehr die Abfolge als die Substanz. Die nächsten Seiten werden eher Sondierungen als ein eingehendes Gutachten bringen.

Es ist auch nicht das Ziel dieser Arbeit, exegetisch originell zu sein. An keinem Punkt beabsichtige ich, nie gehörte Texterklärungen zu riskieren. Alles was ich hinzufüge, ist der Brennpunkteffekt einer durchgängigen, hartnäckigen Frage. Weil Ich in diesem Punkt keinen Anspruch auf Originalität erhebe, kann ich auf einiges an pedanti­schem Zubehör verzichten, das hilfreich oder notwendig wäre, würde ich ganz neue Behauptungen verfechten.

und desto wahrscheinlicher wird die Bekräftigung der Glaubwürdigkeit jener Elemente des Bildes, mit denen wir uns hier beschäftigen. Die traditionelle dogmatische Zurückweisung der Relevanz des sozialen Bei­spiels Jesu für die Ethik war nicht auf eine alternative kritische Rekonstruk­tion des "wirklich Geschehenen" gegIÜndet, und daher braucht eine Heraus­forderung dieser Tradition nicht neue anerkannte kritische Resultate abzuwar­ten. Doch nachdem ich nun meine ernsthafte Offenheit gegenüber der textkritischen Aufgabe dargelegt habe, sei es mir erlaubt auch einen gewissen Skeptizismus zu bezeugen und zwar über das Ausmaß an Klarheit, das die in diesem Forschungs­feld geläufigen Techniken versprechen. Jeder, der den vorliegenden Versuch, ehrlich mit dem kanonischen Text umzugehen, mit den sehr kühnen und kreati­ven Rekonstruktionen Carmichaels und Schonfields, Brandons oder Hamiltons vergleicht, wird wohl kaum zu dem Schluß kommen, die letzteren zögerten selbstkritisch vor dem Risiko fragwürdiger Hypothesen.

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2. Das Königreich kommt

Die Ankündigung: Lukas 1:46ff, 68ff; vgl. 3:7ff

Wir sind nicht gewohnt, die Jungfrau Maria als Makkabäerin an­zusehen. Doch wäre das Magnijicat in der Geschichte durch seine li­turgische Verwendung nicht zur leeren Wiederholung verkommen, so wären wir alle beeindruckt, daß sich Maria hier wie eine Makkabäerin anhört.

Er hat Macht geübt mit seinem Arm, er hat zerstreut, die hochmiitig sind in ihres Herzens Sinne; er hat Gewaltige von den Thronen gestoßen, und Nieprige erhöht. Hungrige hat er mit Gütern erftillt und die Reichen leer hin weggeschickt.

Für unsere Absicht hier ist es nicht wichtig zu wissen, aus wel­cher literarischen Quelle Lukas geschöpft hat oder aus welcher litur­gischen Quelle Maria hätte schöpfen können. 1

1 Es macht auch keinen großen Unterschied, wenn, wie einige Exegeten vor­schlagen, die früheren Quellen Elisabeth diese Worte in den Mund legen; vgl. Paul Winter, "Magnificat and Benedictus - Maccabean Psalrns?" BJRL, 37 1954-55),328ff. Der jüdische Zeitgenosse hörte wahrscheinlich in diesem Lied das Echo des Lobgesangs der Hanna (1. SamueI2), dessen Bilder nicht nur revolutionär sind ("Satte müssen sich um Brot verdingen, doch Hungrige können feiern."), son-

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Das vorliegende Zeugnis des Evangeliums sagt uns, daß der, des­sen Geburt angekündigt wird, ein Urheber radikalen sozialen Wandels sein wird. Die Hoffnungenderer, die die "Tröstung Israels" erwarten, sind nicht kultischer oder domatischer Art, und so sind sie keine im engen Sinn "religiösen" Erwartungen; er kommt, die Knecht­schaft seines Volkes zu zerbrechen.

Einige Verse darauf tut Zacharias, sobald seine lippen gelöst sind, die Bedeutung der Geburt des Johannes kund:

Um uns Rettung zu schaffen vor unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen . ... daß wir, erlöst aus der Hand unserer Feinde, ohne Furcht ihm dienen.

Lk 1:71 u.74 (Jerusalemer Bibel)

Diese Erwartung wird noch klarer, wenn Johannes selbst sie aus-spricht:

Schon ist aber die Axt an die Wunel der Bäume gelegt; jeder Baum nun, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen ... Er hat die Wurfschaufel in seiner Hand, um seine Tenne zu fegen und den Weizen in seine Scheune zu sammeln. Die Spreu aber wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen.

Lk 3:9 u.l7 (Jerusalemer Bibel)

Das ist die Sprache, in der Johannes "die gute Nachricht dem Volk predigte." Zu voreilig haben wir bisher immer alle Worte der Ankündigung durch die Annahme gefiltert, das alles sei natürlich

dem auch einen militärischen Aspekt: "der Bogen der Helden wird zerbrochen ..• des Herrn Widersacher werden zerschlagen." Winter behauptet, dies sei ein makkabäisches Kriegslied aus einem Dokument, das unter den Jüngern Johan­nes des Täufers zirkulierte, und das Lukas daraus übernommen hat Wenn tat­sächlich eine solche Entlehnung vorliegt, würde uns Lukas' Vorstellung von ei­ner politischen Bedeutung im Text des Makkabäerliedes nur noch mehr ein­leuchten.

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"geistlich" zu verstehen.2 Auf jeden Fall behielt Johannes nicht recht mit seinen Erwar­

tungen - oder etwa doch? Wir werden später sehen, inwieweit die von Jesus gebrachte Er­

ftillung sich von den Erwartungen des Johannes unterscheidet; aber auf jeden Fall besteht der Unterschied nicht darin, daß Johannes so­ziale und politische Erwartungen hatte, die Jesus dann "geistlich" er­füllte. Wäre das der Unterschied, so hätte Lukas seine Geschichte an­ders anfangen müssen. Die ersten drei Kapitel müßten einen warnen­den Hinweis auf die Unangemessenheit der Hoffnungen Marias, Za­charias' und auch Johannes' enthalten. Da ein solches Warnsignal fehlt, können wir nur schließen, daß sogar zu dem späten Zeitpunkt, da Lukas seine Geschichte für Theophil zusammenstellte (vermutlich . mit dem apologetischen Interesse, die Christen nicht als Aufwiegler erscheinen zu lassen), er jedoch nicht darum herum kam, zu berich­ten, daß die frommen Hoffnungen, die Jesus entgegengebracht wur­den, das Leiden Israels in seiner ganzen sozialen und politischen Wirk­lichkeit umfaßten und daß das Wirken des Erwartetem von derselben Art sein würde.

Um der Kürze willen überspringen wir die Geburtgeschichte, mit der Betonung der kaiserlichen Volkszählung und ihrer ganzen Trag­weite für ein unterworfenes Volk: Registrierung, Besteuerung, Iden­titätskontrolle. Wir brauchen uns nicht ausftihrlichmit der offensicht­lich politischen Bedeutung der Identifizierung Bethlehems als Stadt Davids zu beschäftigen; auch nicht mit der Verkündung der Engel: "Friede auf Erden", oder den Erwartungen Simeons und Hannas oder mit Matthäus' Bericht über die Angst des Herodes und den Kinder­mord; es muß genügen, die Fäden dort wieder aufzunehmen, wo die Sache öffentlich wird.

Wir hätten auch die offensichtlich politische Bedeutung der Be­ziehung zwischen Jesus und Johannes dem Täufer eingehender ver­folgen können. Johannes' Wirken hatte einen ausgesprochen politi­schen Charakter und in gewissem Sinne war Jesus sein Nachfolger

2 Das gängige Epitheton für diese Art der enthistorisierenden Interpretation, besonders in den Schriften derer, die die Soziallehren des Rates der Kirchen in­terpretieren, ist "pietistisch". Wir verzichten auf den Gebrauch dieses zu einfa­chen Etiketts, weil es der unter diesem Namen bekannten historischen Bewe­gung Unrecht tut; sie war kreativ und kritisch auf sozialethischem Gebiet. Vgl. mein Kapitel über "The Bogey of Pietism" ("Das Gespenst des Pietismus") in Christian Witness to the State (Newton: Faith and Life, 1964)p;84; und Dale Browns gleichnamigen Artikel in Covenant Quarterly, 25 (Febr. 1967), 12ff.

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(siehe die zeitliche Beziehung in Matth. 3:12). Die Lehre des Johan­nes rief nach einer sofortigen Gütergemeinschaft in den Dingen des täglichen Bedarfs (Lk. 3:11); die einzigen Zuhörerkategorien,'die Lu­kas aus den "Massen" benennt (Matthäus erwähnt Pharisäer und Sad­duzäer) sind die sozial und politisch mißachteten Zöllner (3: 12) und Soldaten (3:14). Nach dem Bericht des jüdischen Geschichtsschrei­bers Josephus hatte die Gefangennahine des Johannes mit der Angst des Herodes Antipas zu tun, Johannes könne einen Aufstand entfa­chen.3 Lukas' Bericht über das Vergehen des Johannes spricht nicht nur von "Herodias, der Frau seines Bruders", sondern auch von "allem Bösen, das Herodes getan hatte"; darin ist möglicherweise substantiell politische Kritik enthalten. Daß Herodes seine erste Frau verstieß und an ihrer Stelle Herodias nahm, war-an sich schon eine öffentliche, po­litische Angelegenheit, da dadurcp. ein Krieg mit dem Vater der er­sten Frau, Aretas IV. von Nabatea, ausgelöst wurde. Selbst wenn das Urteil des Johannes über die Wiederverheiratung in erster linie durch seine Ablehnung von Scheidung und Ehebruch motiviert war, so hatte seine Gefangensetzung eine symbolische politische Bedeutung, wie vielleicht auch die Wahl von Machaerus, der Festung an dermlbate­ischen Grenze, als Ort seiner Gefangenschaft und Hinrichtung. Jesu Antwort an die Boten des Johannes erinnert direkt an seine erste Pre­digt in Nazareth (4: 18). Der Bericht über sein Wirken veraniaßt Hero­des, in ihm einen möglichen Nachfolger für J ohannes zu sehen (9: 7 ff). Jesus stellt sein Schicksal neben das von Johannes (16: 16par).

Schon aus dieSer knappen Zusammenfassung wird deutlich, daß eine nähere Untersuchung der Nebenlinien gleich welcher Rlchtung nur unsere Ergebnisse im Gesamtverlauf der Geschichte bestätigen würde.

Berufung und Versuchung: Lukas 3 :21 - 4: 14

Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.

Lk 3:22

Es ist müßig darüber zu spekulieren, wie explizit diese Worte vom Himmel von Jesus - bzw. von Johannes oder Lukas - als An-

3 Jüdische Altertümer, Übers. Heinrich Clementz, XViü. 5.2., Vgl. earl H. Kraeling, John the Baptist (New York: Scribner, 1951) pp.85ff.

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spiehing auf Psalm 2:7 oder auf Jesaja 42: 1 b verstanden worden sind. Ist die doppelte Anspielung klar intendiert, so bedeutet sie eine expli­zite Verschmelzung des Inthronisationsthemas (Ps.2) mit dem des lei­denden Gottesknechtes (Jes. 42). Wie auch immer, mit oder ohne ausdrücklich messianische Anspielung haben wir es hier mit der Über­tragung eines Auftrages in der Geschichte zu tun. "Du bist mein Sohn" ist keine Definition oder Bestätigung eitles metaphysisch defi­nierten Status der Sohnschaft; es ist die Berufung zu einer Aufgabe. Jesus ist beauftragt, in der Geschichte, in Palästina, der messianische Sohn und Diener zu sein, der Träger des guten Willens und der Ver­heißung Gottes. Dieser Auftrag wird in der Versuchung, in die Jesus unmittelbar darauf hineingerät, näher defmiert.

Der hypothetische Syllogismus des Versuchers "Wenn du der Sohn Gottes bist, dann ... " argumentiert nicht aus einem Konzept metaphysischer Sohnschaft heraus, sondern vom Königtum her. Mit "Sohn Gottes" kann im Aramäischen kaum die ontologische We­sensgleichheit des Sohns mit dem Vater gemeint gewesen sein, so daß es fUr den Versucher, wie fUr das erste calcedonische Konzil, ange­bracht gewesen wäre, zu überlegelI, wie Jesus, obwohl er doch die göttlichen Attribute teilt und per Definition allmächtig ist, trotzdem

- der Versuchung uriterworfen sein kann, seine Allmacht zu gebrau­chen.Der Sohn Gottes in Psalm 2:7 ist der König; alle Möglichkei­ten, die der Versucher Jesus anbietet, sind Wege zum Königtum.4

-4 Rudolf Schnackenburg, "Der Sinn der Versuchung Jesu bei den Synopti­kern", TQ 132 (1952), 297ff, ist ebenfalls der Ansicht, der Titel sei messia­nisch, nicht metaphysisch gemeint. (p.317, Anm.37). Dasselbe gilt rur andere Stellen bei den Synoptikern: z.B. Lukas 22:76-23:3 (inhaltlich dasselbe in den Parallelstellen) stellt "Messias" und "Sohn Gottes" (im jüdischen Kontext gleich mit "König der Juden" (vor Pilatus). Alle drei Titel bezogen sich im normalen Gebrauch nicht auf eine inkarnierte Gottheit, sondern auf einen göttlich beauftragten königlichen Menschen; vgl. R. H. Strachan, in The Interpreter's Bible, VII,15; and W.J.Foxell, The Temptation o[ Jesus (London: S.P.C.K., 1920), p.SL Nach Anregungen von Dupont und Grant stellt R.W. Stegner sowohl eine zelt­genössische kulturelle Verwurzelung des Berichts von der "Versuchung in der Wüste" in der Qumran Tradition fest, als auch ein Schriftmodell in der Ge­schichte von der Prüfung Israels in der Wüste. ("Wilderness and Testing in the ScrollsandinMatt. 4:1-11" BR, 12 (1967), 1Sff). Keine dieser zusätzlichen Di­mensionen steht der Entdeckung der Dimension einer politischen Alternative entgegen; es sei denn, man behauptet, die Versuchungserzählungen seien aus den Schrift- und Kulturrnodellen zusammengeschustert worden. Erich Fascher liefert einen Forschungsbericht über die Auffassungen der histo­risch-kritischen Wissenschaft: Jesus und der Satan: Eine Studie zur Auslegung der Versuchungsgeschichte (Halle, 1949). Er stellt zaltlreiche Themen dar:

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Der Versuchungsbericht des Lukas stellt die ökonomische Al­ternative an den Anfang. Der geistliche· Filter, durch den wir heute zu lesen gewohnt sind, behandelt die Attraktion dieser Versuchung als eine rein persönliche, fleischliche. Jesus war hungrig: würde er sich selbstsüchtig seiner Allmacht bedienen, um sich zu speisen? Aber ein vierzigtägiges Fasten bricht man nicht mit krustigem Brot, und schon gar nicht mit einem ganzen Feld felsbrockengroßer Laiber. Weil Jesus selbst für die Qualen des Hungers neu sensibilisiert worden war, konnte daraus die Alternativfrage für ihn erwachsen (oder doch verstärkt werden), ob seine Messianität sich darin ausdrücken würde, daß er ein Festmahl für seine Jünger ausrichtete. Daß das keine unbe­gründete Einbildung war, zeigt die Fortsetzung der Geschichte: Spei­se die Massen, und du wirst König sein.5

Der zweiten Versuchung in der Reihenfolge von Lukas wird all­gemein sozio-politischer Charakter zugestanden.6 Die Stimme vom

geht die Geschichte auf Jesus selbst zurück oder wurde sie von späteren Predi­gern zusammengestellt? Wird sie als Vision, als poetische Meditation berichtet oder buchstäblicher (und daher weniger glaubhaft) aufgefaßt als physische Ent­rückung Jesu von der Wüste zum Tempel und zum Berggipfel durch den Ver­sucher? Woher stammt das Konzept der Autorität des Satans? Doch es kommt Fascher nicht in den Sinn, nach einer realen sozialen Bedeutung des Berichtes zu fragen. Jesu Zusammenstoß mit diabolischen Kräften (Fascher verfolgt das Thema über die Versuchungsberichte hinaus) ist rur ihn in Jesu innerlicher spi­ritueller Erfahrung lokalisiert. Birger Gerhardson, The Testing of God's Son, Conjectanea Biblica (Lund, 1966), illuminiert die Versuchung durch ein Übermaß an Parallelen zur Prü­fung Israels in der Wüste, aber vermeidet jede soziale Konkretheit in Jesu eige­ner Situation.

5 Vgl. unten die "Erflillung" in Lukas 9 (p.39), " ... sicherlich dachte Jesus nicht nur an seinen eigenen Hunger in jenen Wüstentagen. Es war der Hunger der großen Massen der Armen in der Welt .... Es war die Frage nach der Wahl der richtigen Methode flir seine ganze öffentliche Karriere .•.. Erst das irdische Paradies, dann das himmlische Paradies, - war das nicht die richtige Reihenfol­ge?" James Stuart Stewart, The Life and Teaching of Jesus Christ (London: SeM, 1933), pp.39ff. Schnackenburg op.cit, p.315 ist einer der Kommentatoren, die die Parallele zu Deut. 8:3 akzentuieren.

6 "Ganz gewiß bedeutet die Geschichte dies, säkulare Macht darf nicht um den Preis der Anbetung Satans erworben werden; aber begreifen wir die volle Bedeutung der Geschichte, wenn wir meinen, das einzig Falsche an diesem An­gebot war, daß es von Satan kam ... ? Das Angebot wird nicht deswegen abge­lehnt, weil Satan unfähig ist, sein Versprechen zu halten; es wird abgelehnt, weil säkulare Macht flir Jesu Antrag gänzlich ungeeignet, ja der Gebrauch säku­larer Macht seinem Auftrag sogar entgegengesetzt ist." John L. Mackenzie, S.J., Authority in the Church (New York: Sheed and Ward, 1966), pp.28.f.

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Himmel (3:22) hatte Psalm 2:7 zitiert, der Versucher geht einfach weiter zur Verheißung von 2:8. Hier gibt es keinen Zweifel über die politische Natur des versprochenen Lohnes, "alle Reiche des Erd­kreises ... alle diese Macht und ihre Herrlichkeit"; gefragt werden müßte hier allerdings, was es hätte bedeuten können, "ihm zu huldi­gen"? Sollen wir uns eine Art Satanskult vorstellen? Oder bietet sich nicht eine viel konkretere Bedeutung, wenn wir Jesus als den verste­hen, der mittels solcher Begriffe den götzenhaften Charakter politi­schen Machthungers und des Nationalismus aufdeckt?

Schließlich wird Jesus auf die Zinne des Tempels geführt. Niels HyldahI7 kombiniert sehr geschickt die Mischnavorschriften über die Ausführung der Todesstrafe mit einigen alten Berichten über das

. Martyrium des Jakobus:der Sturz von einem Turm in der Tempel­mauer (der gut als pterygion bezeichnet werden kann, was norma­lerweise mit "Zinne" übersetzt wird) in das Kidrontal, falls notwen­dig mit anschließender Steinigung, war die vorgeschriebene To­desstrafe für Blasphemie. Die Versuchung bestünde dann darin: Jesus sieht sich selbst, wie er die Strafe für seinen Anspruch auf göttliche Autorität auf sich nimmt, doch auf wunderbare Weise vor den Kon­sequenzen gerettet wird.8 Hyldahl trifft keine Entscheidung, wo der Akzent liegen soll: darauf, daß Jesus über die Strafe nachdenkt und damit rechnet zu entkommen, oder darauf, daß er sich als eine Art Gottesurteil aus eigener Initiative hinunterstürzt. In jedem Falle ist es der quasi-blasphemische Anspruch auf göttliches Königtum, der der Prüfung ausgesetzt wird.

Wenn wir, statt auf Hyldahls Vorschlag eines Sturzes außerhalb

Robert Morgenthaler folgert aus einem sorgfaltigen Vergleich der Unterschiede zwischen Matthäus und Lukas, die Reihenfolge und das Vokabular des Versu­chungsberichtes bei Lukas seien darauf angelegt, gerade die politische Natur der Versuchung in ihrer Relevanz für seine Zeitgenossen aufzuzeigen. "Roma - Sedes Satanae, " TZ, 12 (May, 1956), 289ff.

7 ST, 15 (1961), 113ff. H.A. Kelly, "The Devil in the Desert", CBQ 26 (1964) 213 schlägt eine andere Leseart der Zinnensymbolik vor; sie trägt ebenso messianisch-politischen Charakter.

8 Hyldahl sieht hier ein wiederkehrendes Motiv: "Flieh vor den Konsequen­zen deines Anspruchs", das er auch in den anderen Aufforderungen an Jesus sieht, das sich abzeichnende Leiden zu umgehen: - Petrus' Vorhaltungen, die Jesus explizit Satan zuschreibt (Markus 8: 31ff.); - die mögliche Rettung in Gethsemane durch Engel (Matt. 26: 53); - die höhnische Aufforderung vom Kreuz herunterzukommen, (Lukas 23:35 und Parallelstellen).

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der Tempelmauer einzugehen, bei dem traditionelleren Bild einer plötzlichen Erscheinung von oben und zwar innerhalb des Tempel­hofes bleiben, so müssen wir Hyldahl auf jeden Fall zustimmen, daß es nicht um ein rein akrobatisches Kunststück zur Beglaubigung von Jesu Ruf als Wundermann ging_ Das wäre ein Zeichen der Art gewe­sen, die Jesus den Neugierigen und Zweifelnden standhaft verwei­gerte. Wenn wir überhaupt zu rekonstruieren versuchen, was als die konkrete menschliche Möglichkeit in Jesu Versuchung über die Bedeutung seiner Mission hätte angesehen werden können - wäre nicht eine unerwartete Erscheinung von oben der beweiskräftigste Weg fUr den Botschafter der Verheißung, um, in den Worten Male­achis (3:1-3), " ... plötzlich in seinen Tempel zu kommen und ... die Söhne Levis zu reinigen?" Weiter (sogar noch deutlicher in Matthäus Bericht, wo diese Versuchung nicht den Höhepunkt darstellt, son­dern zum Angebot der Weltherrschaft führt) sehen wir Jesus über die Rolle als religiöser Reformer, himmlischer Botschafter nachdenken, der unangekündigt von oben erscheint, um die Dinge ins Lot zu bringen.

Soll nicht dieses Herabschweben von einem so bedeutungsvollen Ort den Auf­takt bilden zu einem religiös-politischen Freiheitskampf, der Jesus schließlich zum Triumphator macht, so wie es jene falschen Messiasprätendenten anstreb­ten, von denen das NT und Fl. J osephus gerade fUr die damalige Zeit genug Bei­spiele bieten?9

Das öffentliche Wirken: Lukas 4:14ff

Lukas beginnt nicht mit einer Zusammenfassung dessen, was Je­sus "zu predigen begann". Anders Matthäus und Markus. Beide be­richten, daß Jesus in seiner ersten Botschaft dieselben Worte ge­braucht wie vorher Johannes der Täufer (und später die Jünger): "Das Reich Gottes ist nahe; tut Buße und glaubt an die gute Nachricht." Die Sprache, "Königreich", "Evangelium" kommt aus dem politi­schen Bereich. Diese eigentümliche Wortwahl wäre äußerst unange­messen, hätte sich Jesus, entgegen den Erwartungen des Johannes, nicht für diesen Bereich interessiert. Daß "Königreich" ein politi­scher Begriff ist, braucht kaum hervorgehoben zu werden; daß aber "Evangelium" nicht irgendeine alte willkommene Botschaft ist, son­dern eine öffentlich bedeutsame Bekanntmachung, die es wert ist, durch Eilboten weiterbefördert und durch ein Fest empfangen zu

9 Schnackenburg, p.316f.

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werden, ist dem normalen Bibelleser weniger bewußt. Auch Lukas spricht von der Verkündigung "des Evangeliums

vom Königreich" (4:43), doch er gebraucht diese Begriffe nicht gleich am Anfang von Jesu Wirken; rur Theophil hätten sie nicht dIeselbe Dichte des terminus technicus, wie fur die Leser des Markus. Lukas entfaltet stattdessen denselben Anspruch in einem ausführlicheren Bericht aus der Synagoge zu Nazareth.

Der Abschnitt aus Jesaja 61, den Jesus hier auf sich anwendet 10 ,

10 Wir können die Frage, ob Jesu den Text selber auswählte oder ob er einem festen Lesungszyklus folgte, nicht beantworten. Die Existenz oder Nichtexi­stenz einer festen Lesungstradition zur Zeit Jesu ist aus Gründen, die unserem Anliegen recht fernliegen, zum Gegenstand intensiver und komplexer wissen­schaftlicher Debatte geworden. Eine exegetisch-kritische Schule, die recht un­abhängig vom Großteil der Kommentatoren arbeitet, behauptet, die Komposi­tion der Evangelien sei von den Lesungsschemata der Synagoge diktiert wor­den und zwar in einem solchen Ausmaß, daß der zeitgenössische Leser eine Un­menge von Anspielungen auf Verbindungen zwischen den Lesungen aus dem Alten Testament und einer gegebenen Episode aus dem Leben Jesu hätte er­kennen können (A. Guilding für Johannes, P.P. Levertoff für Matthäus, R.G. Finch für fast das ganze Neue Testament). Zwar spricht diese Hypothese den f"mdigen Gelehrten an, doch sie wird schwer mit befriedigender Sicherheit nach­zuweisen sein. Vgl. Leon Morris, The New Testament and the Jewish Lectio· naries (London: Tyndale, 1964). Die Frucht dieser Debatte für unser Anliegen scheint zu sein: es ist unwahrscheinlich, daß die Wahl von Jesaja 61 durch ein Lesungsschema diktiert wurde. Nach Paul Billerbeck (ZNW, 55 (1964), 143ff.) gab es zur damaligen Zeit keine regelmäßig vorgeschriebenen Lesungen aus den Propheten. Daß dieser Abschnitt nicht in den (bekannten aber späteren) Lese­listen enthalten ist, zeigt wohl eher an, daß Jesus ihn für seine eigenen Absich­ten auswählte, als daß er nur die Gelegenheit ergriffen hätte, einen für ihn aus­gewählten Text zu zitieren. Das verweist auf eine sehr selbstbewußte Vorberei­tung auf den Anspruch, mit dem er die Lesung krönte. Ein großer Tell der Anstrengungen, Jesu Lesung in der Synagoge mit der Exi­stenz einer feststehenden Lesungstradition zu verbinden, wurden vom Verlan­gen der Wissenschaftler beherrscht, nachzuweisen, daß eine solche Lesungstra­dition im Synagogenjudentum der damaligen Zeit existierte. Andere streiten für die Hypothese, daß die Abhängigkeit vom jüdischen Leseschema die Form der Evangelienredaktion bestimmte und daher einen Schlüssel zur Interpreta­tion des Evangeliums darstellt Die beiden Thesen bedingen also einander. Kei­ne ist so weit gediehen, daß wir schließen könnten, der Abschnitt sei für Jesus ausgesucht worden oder die Wahl des Abschnitts erlaube die Datierung der Be­gebenheit in Nazareth. Zum Verständnis des Anspruches Jesu ist die Unter­scheidung unwesentlich, obwohl natürlich der dramatische Effekt und der so­fortigeAnschein eschatologischer Erfüllung größer gewesen wäre, wäre der Text für ihn ausgewählt gewesen. Vgl. L. Crockett, "Luke iv, 16-30 and the Jewish Lectionary Cycle: A Word of Caution," in JJS, 17/lf (1966), 13ff.

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ist nicht nur eindeutig messianisch: er formuliert die messianische Er­wartung auch in ausdrücklich sozialen Begriffen.

Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung zu verkündigen und den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen zu befreien und zu entlassen, ein angenehmes Jahr des Herrn zu verkündigen. II

Lk4:18-19

Es ist gut möglich, daß das "angenehme Jahr des Herrn" im Buch des Propheten sich auf ein besonderes Ereignis am Ende seines Zeitalters oder in der unmittelbaren Zukunft der Gefangenen in Ba­bylon (oder auf beides) bezog; aber für das rabbinische Judentum und somit für die Zuhörer Jesu bedeutete es sehr wahrscheinlich keins von beiden, sondern vielmehr das Jubeljahr, die Zeit, in der die Un­gleichheiten, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, au~ge­löscht werden und das ganze Volk Gottes am gleichen Punkt wieder anfangt. Erwartet wird also nicht, daß Jesus Palästina aus dem Zeit­verlauf am Ende herausnimmt, sondern vielmehr, daß der gleichma­chende Einfluß des Sabbatjahres nach Palästina kommt. .

In seinem genialen Buch12 hat Andre Trocme das Beweismaterial gesammelt, daß Jesu Konzept des herannahenden Reiches weitgehend aus dem prophetischen Verständnis des Jubeljahres entlehnt ist. Die-

11 Das Zitat bricht in dieser Form mitten im Vers ab; 61:2b " ... einen Tag der Rache unseres Gottes" wird weggelassen. Man könnte vermuten, daß mit dem Text vertraute Zuhörer über diese Auslassung erstaunt waren. Joachim Jeremias, Jesu Verheissung fiir die Völker, (Franz Delitzsch Vorle­sungen, 1953), (Stuttgart: KohThammer, 1953) pp.37ff. baut auf diese Mut­maßung die Vermutung, daß die Auslassung, indem sie die jüdischen Rachevor­stellungen zurückweist und den Bund für die Völker öffnet, die Hauptaussage der ganzen Erzählung ist. Somit ginge es im abrupten Ende des Zitats um die­selbe Frage, die später im selben Kapitel angesprochen wird, nämlich Jesu offe­ne Haltung gegenüber den Heiden. Aber der talmudische Brauch, ein Kapitel mit den ersten Sätzen einzuführen und es dem Leser zu überlassen, den Rest des Kapitels auszufüllen, verbietet es wahrscheinlich, soviel Bedeutung in das Fehlen eines Satzes zu legen. Die Offenheit gegenüber den Heiden bleibt jedoch als eigenständige Anstößigkeit in der nächsten Episode. (Möglicherweise be­ginnt mit Vers 22 oder 23 eine neue Erzählung oder es gibt zumindest eine Auslassung zwischen 21 und 22 oder 22 und 23. Das angenehme Erstaunen von Vers 22 ist nicht ganz dasselbe wie der Unglaube von Vers 23.)

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se Hypothese wirft licht auf viele Anspielungen und einige der schwierigen Gleichnisse. In der Ausschließlichkeit, mit der Trocme seine Hypothese als Schlüssel benutzt, mag man ihn zu origniell und phantasievoll fmden. Aber es ist nicht, wie aus dem Schweigen, wo­mit kontinentale Neutestamentler au~Trocme's Buch reagierten, ge­schlossen werden könnte, ein gänzlich neuer oder undenkbarer Ge­danke.

Schon Standardkommentare wie La Grange und Plummer liefer­ten dieselbe Interpretation dieser Passage.13 Der Unterschied liegt eher im Grad der Bereitschaft, das Licht, das dieser Abschnitt auf das übrige Wirken Jesu und auf sein Selbstverständnis werfen könnte, ernstzunehmen.

Es geht uns hier nicht darum, die Ursprünge des Sabbatjahres und des Jubeljahres zu diskutieren, die vermutlich aus einer Art Bankrott­und Verpfändungsregelung im alten Israel herrühren.14

Noch brauchen wir zu diskutieren, ob und in welchem Ausmaß die Vorschriften in l.eviticus 25 jemals buchstäblich eingehalten wurden 15 , sei es in Form eines Ftinfzig-.Jahre-Rhytmus fUr bestimm-12 lews-Christ et /a revolution non-vio/ente (Genf: Labor et Fides, 1961). Ein Abschnitt aus Trocmewird weiter unten angeführt (Kap.3). Ein früheres Buch über dasselbe Thema: E. Stanley Jones, Christ's Alternative to Communism (New York: Abingdon, 1953), ist eine predii1;hafte Ausarbeitung von Themen aus Jesu Rede in Nazareth, geschrieben nach Jones' Aufenthalt in der So\\jet­union.

13 Rabbi Stephen Schwarz schild deutet (im persönlichen Briefwechsel) an, daß nach (vielleicht späteren) talmudischen Leselisten besondere prophetische Lesungen und Torahtexte aufeinander bezogen wurden, und auf solche Weise Jesaja 61. indirekt mit Lev.25 (den Jubeljahrvorschriften) verbunden sein könnte. Hugh Anderson beschäftigte sich in einem Forschungsbericht über die­sen Abschnitt ("Broadening Horizons: the Rejection at Nazareth Pericope of Luke 4:16-30 in Light of Recent Critical Trends, " Interpretation, 18 (1964), 259ff.) mit der Spannung zwischen Anerkennung und Ablehnung durch die Zu­hörer und mit zugrunde liegenden Fragen über den vorlukanischen Hinter­grund der Erzählung und der redaktionellen Intention von Lukas; er analysiert jedoch nicht, ob das, was als Worte Jesu berichtet wird, eine soziale Bedeutung hatte. David Hill, "The Rejection of Jesus at Nazareth", NovT, 13 (July 1971), 161ff. geht Andersons Fragen nach. Er behauptet, die Verbindung der beiden Segmente sei eine von Lukas' missionarischer Theologie diktierte Konstruktion.

14 Robert North, S.J., Sociology of the Biblical Jubilee (Rome: Pontifical Biblical Institut, 1954).

15 "Auch heute noch gibt es keinen Hebräer, der nicht seine Gesetze befolgte, selbst wenn er sich unbeobachtet wüßte, gleich als sei Moses selbst noch gegen­wärtig, um die Ungehorsamen zu strafen." (Josephus, Altertümer, ili15.3). North, der diese Behauptung von Josephus zitiert, ist sich nicht sicher, ob die Prozedur je ausgeführt wurde; auf jeden Fall wurde sie kaum regelmäßig ange­wandt. Beachtenswert scheint jedoch Zedekiahs Rückgriff darauf im Notfall.

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te Verpflichtungen oder als umwälzende wirtschaftliche Reorganisa­tion, die alles Eigentum sofort umverteilte. Wir konzentrieren uns auf den prophetischen Gebrauch der Jubeljahrsvision. Mit Leviticus 25 blieb die Vision einer Zeit lebendig, in der das wirtschaftliche le­ben von Grund auf neu beginnen sollte; und das Zeugnis in Jesaja 61 zeigt die Fruchtbarkeit dieses Text~s als Vision der kommenden Er­neuerung.

Mindestens einmal wurde diese Vision des Jubeljahres in Israel als konkrete Erfahrung lebendig. Jerernia (Kap.34) berichtet von ei­ner Erneuerung des Bundes im belagerten Jerusalem; König Zedekia setzte das alte Gesetz wieder in Kraft und verkündete die Freiheit aller hebräischen Sklaven. Die Sklavenhalter jedoch fackelten nicht lange, namnen die freigelassenen Sklaven wieder gefangen und unter­warfen sie erneut.16

Eine direkte Antwort darauf sind die prophetischen Worte, mit denen Jerernia im Namen Jahwes, des Gottes Israels, an die Bedeu­tung der Freilassung im Sinaibund erinnert; ausdrücklich wird festge­stellt, daß Jerusalem wegen der Nichteinhaltung des erneuerten Bun­des in die Hände Nebukadnezars fallt. "Ihr habt nicht auf mich ge­hört, daß ihr, ein jeder fUr seinen Bruder und ein jeder fUr seinen Nächsten, Freilassung ausgerufen hättet. So rufelchdenn um Freüas~ sung fUr euch aus, (d.h. ich liefere euch aus), spricht der Herr, daß ihr dem Schwert, der Pest und dem Hunger verfallen sollt. (Jer. 34:17)." Bei der prophetischen Vision geht es also um die Erneuerung des Gottesvolkes. Als solche meint sie beides: die konkrete Erneuerung, die gelegentlich in der Vergangenheit geschehen und jetzt noch mög­lich ist, und auch die Erneuerung nach dem Ende der Zeiten - bei· des vollzieht sich in Form des Jubeljahres. Dieselbe Vision fmdet sich in Jesaja 58:6-12. Jesus macht also keinen willkürlichen Ge­brauch von Jesaja.1 7

16 Der Text sagt nicht, ob wir uns diese Rückkehr in die Sklaverei als Ergebnis von Gewalt oder ökonomischer Schwierigkeiten denken sollen. War die öffent­liche Proklamation der Befreiung unmißverständlich, so ist es kaum vorstell­bar, daß die früheren Sklavenbesitzer einfach hingingen und ihre früheren Skla­ven mit physischer Gewalt wiedereinfingen. Es war wohl eher so, daß die Skla­ven, da sie keine Mittel hatten, ihren eigenen ökonomischen Weg zu gehen, bald erneut in Schulden gerieten. Die Besitzer werden also nicht nur gerügt, weil sie ihre Sklaven nicht freigelassen hatten, sondern auch, weil sie sie nicht mit dem Notwendigsten ausgestattet hatten, um wirtschaftlich unabhängig zu existieren.

17 Die fortdauernde Fruchtbarkeit dieser Vorstellung zeigt sich auch in schöp­ferischer Theologie des 20. Jahrhunderts: "Das Jubeljahr ist Exodus ausbuch­stabiert im Alphabet sozialer Erlösung .... "J ohannes Hoekendijk, "Mission -ACelebration ofFreedom" USQR, 21 (Jan. 1966),141.

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Wir müssen folgern, daß Jesus dem buchstäblichen Sinn seiner Worte nach, ebenso wie Maria und Johannes, den bevorstehenden An­bruch einer neuen Herrschaft ankündigte, die man daran erkennen sollte: die Reichen geben den Armen, die Gefangenen werden befreit, und die Menschen erhalten ein neues Bewußtsein (metanoia), wenn sie diese Botschaft glauben.

Wir wissen nicht genau, was Jesus mit der Feststellung meinte, daß "dieses Wort erflillt ist". Wie ist Jesu Anspruch zu verstehen, in seiner Person beginne gerade jetzt etwas zu geschehen? Geschah über­haupt etwas? Kündigte er ein Ereignis an, dessen Verwirklichung vom Glauben seiner Zuhörer abhängig war, so daß es schließlich dann doch nicht geschehen konnte wegen ihres Unglaubens? Oder kündigte er etwas an, das dann wirklich geschah, aber für eine Weile wenig sichtbar war?

Das ist eine ernstzunehmende Frage. Doch handelt es sich um eine Frage der systematischen Hermeneutik, die von Lesern in den Lukastext hineingelesen wird, die nicht dabei waren. Diese Frage hat damit zu tun, inwieweit die von Jesus versprochene Erflillung histori­sche Realität war. Sie hat nichts mit der klaren Tatsache zu tun, daß es im Text um ein soziales Anliegen geht. Wir mögen große Schwierig­keitenhaben, herauszubekommen, wie dieses Erei~nis stattfand oder hätte stattfmden können; doch was stattfinden sollte, ist klar: eine sichtbare sozio-politische, ökonomische Neuordnung der Beziehun­gen im Volke Gottes, und das durch sein Eingreifen in der Person Je­su als des Gesalbten und mit dem Geist des Begabten.

Mit dem Zusammenstoß in der Synagoge erregt Jesus erstmals direktes Ärgernis bei seinen Hörern, unter Berufung auf die Prophe­ten verkündet er, daß das neue Zeitalter auch für die Heiden offen­stehe. Die~e zweite Stoßrichtung scheint nicht aus der Jubeljahrsver­kündigung zu stammen; sie erwächst vielmehr aus Jesu Antwort auf den Unglauben seiner Zuhörer. Zwischen beiden Themen besteht ein eher negativer Zusammenhang: das zweite Anliegen, das sich gegen den rassischen Egoismus Israels richtete, verhinderte, daß das erste im nationalistischen Sinne mißverstanden wurde. Der Hinweis des Pro­pheten auf die Gefangenen und Unterdrückten bleibt also nicht auf Israel oder das Judentum im Ganzen als kollektiv Unterdrückte be­schränkt; dafür ist die Befreiung zu umfassend. Die neue Zeit ist für alle Menschen da, und das Zögern der Einwohner von Nazareth wird die weitere Verkündigung nur beschleunigen.

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Eine neue Stufe der öffentlichkeit: Lukas 6:12ff

Ab Kapernaum (4:31) berichtet Lukas von einem wachsenden Echo unter der Menge, den Kranken und Steuereintreibern. Bald be­ginnt die Reaktion des religiösen Establishments mit Einwänden ge­gen Jesu Autorität, Sünden zu vergeben (5:21) und gegen seinen schlechten Umgang (5:30). Beinahe von Beginn an sucht die Opposi­tion ihr Heil im verärgerten Ränkeschmieden (6:11). Lukas betont, daß Jesus "in diesen Tagen" nach einer langen Nachtwache zwölf Männer aussuchte - die Erstlinge eines erneuerten Israel. Seine Ant­wort auf die organisierte Opposition ist die ausdrückliche Gründung einer neuen sozialen Wirklichkeit. Neue Lehren sind keine Bedro­hung, solange der Lehrer alleine steht; eine Bewegung dagegen, die seine Persönlichkeit in Zeit und Raum verlängert und eine Alternati­ve zu den vorgegebenen Strukturen bietet, fordert das System heraus, wie bloße Worte es nie könnten)8

Zwar mag das Funktionieren dieses inneren Kreises dem Zusam­menleben anderer Rabbis mit ihren Lieblingsjüngern verwandt sein, doch bei seiner Gründung geht es um mehr. Ihre Zahl, die Nacht im Gebet,19 die darauffolgende zeremonielle Verkündigung von Weheru­fen und Seligpreisungen - all das dient der Dramatisierung einer neu­en Stufe der öffentlichkeit. Die Öffnung über das Judentum hinaus, die in der Synagoge zu Nazareth vorausgesagt wurde, beginnt nun; die "Küste von Tyros und Sidon" ist auf dieser weiten Ebene vertre­ten. Trotz der vielen Parallelen zur Bergpredigt, liegt der Schwer­punkt bei Lukas woanders. Im Kontrast zu den Seligpreisungen stehen Weherufe nach Art der Bundeszeremonien im alten Israel. Die Seligpreisung gilt den Armen, nicht nur den Armen im Geiste; den Hungrigen, nicht nur denen, die nach Gerechtigkeit hungern. Die Beispiele aus dem sexuellen Bereich (Mt. 5:27-32) fehlen; nur persönliche und wirtschaftliche Konflikte dienen als Hinweis auf den neuen Weg, auf dem genommenes Gut nicht zurückgefordert und die Schuld vergeben wird. Wie beim Jubeljahr und im Vaterunser werden Schulden als das paradigmatische soziale übel angesehen. Kurz gesagt:

18 In Verbindung mit der Aussendung der Siebzig sieht Jesus "Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen" (10:18). Die Sendung der Kirche in der Welt ist die Zerstörung von Satans Reich, wie das Eingehen auf die Abkürzung des Versu­chers ein Triumph gewesen wäre.

19 Lukas 6: 12. Verweise auf J esu Ge bete deuten bei Lukas Höhepunkte seiner Geschichte an; vgl. 3:21; 5:16; 9:18.

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die Ankündigung in der Synagoge wird wiederholt und in Einzelheiten geschildert, diesmal auf einer strukturierten sozialen Basis (zu der so­wohl die gläubige Menge als auch der harte Kern gehören)20 und im Angesicht der Masse (''vor den Ohren des Volkes" 7:1). Eine Ethik, die sich leiten läßt durch die beiden Kernpunkte der Nachahmung, des Nach~ollzugs von Gottes grenzenloser liebe zu seinen re bellischen Kindern (6:3Sf) und der auffalligen Verschiedenheit zum normalen '~Naturrechts" -Verhalten anderer ("welchen Dank habt ihr da? Auch die Sünder ... ", 6:32-34 Jerusalemer Bibel) ist nur zu begreifen, wenn das neue Zeitalter bereits begonnen .hat und wenn die Neuartigkeit dieser Zeit ökonomisch realisierbar ist .

. Das Brot in der Wüste: Lukas 9: 1-22

Die Verbindung zwischen der Aussendung der Zwölf (9:1-10), der Speisung der Menge (9:11-17) und dem ersten Bekenntnis des Petrus (9: 18-22) wird in Johannes 6 sehr viel deutlicher herausgear­beitet. Maurice Goguel hat zu Recht angenommen, daß dieses Kapitel historisch ernstzunehmen ist. Diese nach Tausenden zählende Menge war nicht der harte Kern geprüfter Jünger, sondern eine erste Welle Fragender, die sehen wollten, was es mit dem von den Zwölfen ange­sagten Königreich auf sich hätte. Wie der Teufel gesagt hatte, brachte die Verteilung von Brot die Menge dazu, Jesus als den neuen Moses auszurufen, den Ernährer, den erwarteten Wohlfahrtskönig. Sein Aus­weichen vor ihrer Akklamation ist (in allen Evangelien) die Gelegen­heit der ersten Ankündigung, daß sein Wirken von Leiden geprägt sein würde und daß seine Jünger bereit sein müßten, dieses Kreuz mit ihm zu tragen. Zu diesem Zeitpunkt fordert er Petrus zu seinem Bekennt­nis heraus und heißt ihn dann schweigen. Unmittelbar darauf folgt das erste Anzeichen, daß Petrus den Christus nicht als leidend be­greifen will. Zu diesem Zeitpunkt ziehen sich andere Jünger wegen

20 "Die physische Bewegung - des Predigers hin zum Volk, des Jüngers, der dem Lehrer folgt - bedeutet eine soziale und berufliche Entwurzelung .... So drückt sich die Entscheidung für das Evangelium, die die Predigt verlangt, kon­kret vor allem in emem sofortigen Entschluß aus, alles zu verlassen und der Lehre zu folgen." Michel Philibert, Christ's Preaching - and Durs (Richmond: John Knox, 1963-64), die Thesen 3 und 7. Der Realismus der Verkündigung Jesu schließt die Kraft ein, sich ihre eigene soziologische Basis zu schaffen; ohne diese wäre sie keine Herausforderung gewesen. Das Bewußtsein hiervon ist der gültige Kern an Einsicht in dem ansonsten überzogenen Aufsatz The Power Tactics o[ Jesus Christ, im gleichnamigen Buch von Jay Haley (New York: Grossman, 1969), pp.17ff.

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seiner "harten Worte" zurück (Joh. 6:60-66). Und genau dann "rich­tet er sein Angesicht nach Jerusalern". Wie gering auch die Chance sein mag, aus den Evangelienberichten eine fortlaufend erzählende Biographie zu konstruieren, diese Geschichte vom Brot in der Wüste ist sicher eine der Gelenkstellen allen Geschehens.21 Sie markiert den Höhepunkt des massenwirksam~ri Auftretens in Galiläa und den übergang zu einem mehr auf die Jünger bezogenen Wirken wie auch zum Gang nach Jerusalem. "Reise nach Jerusalern" (9:51) heißt die überschrift des zweiten Drittels des Lukasevangeliums.

Dieser erste Hinweis auf das Kreuz wird schon in seinem auf die Krone bezogenen Kontext sehr deutlich .. Kreuz und Krone sind Alter­nativen, und dies nicht nur da, wo Jesus es seinen Jüngern sagt, gleichsam als Element moralischer Unterweisung (vgl. unten p. 43), sondern auch in der eigenen Sicht seines Wirkens undinseiner Antwort auf .die -fordernde Akklamation des Volkes. Er beginnt, sich nicht nur von den Führern der Juden, sondern auch von der Menge zu ent­fremden, denn seine Messianität ist nicht nach ihrem Geschmack. Doch was er vorschlägt, ist nicht Rückzug in die Wüste oder in einen Mystizismus; es ist ein erneuerter messianischer Anspruch, ein Gipfel­gespräch mit Mose und Elia, und der Maßch nach Jerusalem. Das Kreuz beginnt sich abzuzeichnen, nicht als rituell vorgeschriebenes Instrument der Versöhnung, sondern als die politische Alternative zu Rebellion und Quietismus.

Der Preis der Nachfolge: Lukas 12:49-13:9; 14:25-36

Der Schatten weicht nicht von der Gruppe auf dem Weg nach Jerusalem. Das Feuer, das Jesus anzünden will, flammt bereits auf; 21 Goguel beurteilte die Chance, eine Biographie Jesu zu schreiben, sicher nicht zu optimistisch. Trotzdem behandelt er die, von ihm sogenannte, "gali­läische Krise" als den entscheidenden Wendepunkt in Jesu Wirken außerhalb J erusalems. Auf eine etwas andere Weise macht auch William Manson das Mahl in der Wild­nis zum Drehgelenk zwischen dem Auftreten in Galiläa und dem später weni­ger öffentlichen Wirken. Er ruhrt weiter an, die Versammlung in der Wüste sei ausgelöst worden durch die öffentliche Wirkung der ersten Aussendung der Zwölf und durch Herodes' zunehmende Besorgtheit über J esus (Datierungsver­mutung: Annahme derselben Zeit rur Lukas 13:31-33 wie für Kapitel 9, das heißt gleichzeitig mit der Verkündigung an Galiläa). Manson baut auf die histo­rische Verlässlichkeit des Markusberichtes (8:29ff.), daß Jesus von nun an nicht mehr zum Gebrauch messianischen Vokabulars ermutigt, sondern ausdrücklich über die Leiden des Menschensohnes und das Kreuz der Jünger zu iehren be-ginnt. W. Manson, The Way olthe Cross (Richmond: John Knox, 1958), 54ff.

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seine Botschaft hat Trennung gesät, selbst in der Familie (v. 51·53). Eine Greueltat, das Massaker einer Gruppe Galiläer durch PHatus, ist genau die Provokation, die man einer politischen Persönlichkeit am Vorabend einer heiligen Revolution zutragen würde.22 Das fa:11ende Mauerwerk des Turms von Siloah13 mag wohl von Belang gewesen sein, denn das dortige Aquaedukt war aus Geldern fmanziert, die Pi­latus aus dem Tempelschatz genommenhatte.24 Die Verwerfung Je­rusalems ist im Gleichnis vom Feigenbaum vorgezeichnet (13 :6-9)25 und kurz darauf wörtlich vorhergesagt (v. 33-35). Die Furchtlosigkeit Jesu - und er kennt die Drohung des Herodes! -liegt darin begrün­det, daß sich sein Schicksal in Jerusa1em (nicht in Galiläa) erfüllen wird. Nur im Hinblick auf ein Wirken in Jerusalem, das analogverlau­fen wird zu der massenwirksamen, ordnungsbedrohenden Tätigkeit, die Herodes so beunruhigt hatte, ist solch eine Verknüpfung sinnvoll. Herodes kann Jesus nicht wegen Ketzerei oder Prophetie töten lassen: Aufruhr ist der einzig mögliche Anklagepunkt.

22 "Pilatus mischte das Blut der Galiläer mit dem ihrer Opfer" (13:1) ergibt den oberflächlichen Eindruck eines Massakers im Tempel; doch Oscar CuJlmann meint, die Bedeutung sei wohl eher "mit dem iluer Opfer (in der Schlacht)" und beschreibe einen Zelotenaufstand. Der Staat im Neuen Testament (Tübin­pn: Mohr, 1956) S.9. JOsejlh Blinzler. "Die Niedermetzelung von Galiläem durch Pilatus,"Nov.T.,2 (1958), 24ff, weist Cullmanns Interpretation von "ihrer Opfer" als den Men­schen, die den Zeloten zum Opfer fielen mit linguistischen Argumenten zurück; doch er stimmt ihm darin bei und belegtes mit noch mehr Details, daß diege­töteten' Galiläer politische Eiferer geweseh seien, in denen Pilatus die Gefahr einer Rebellion sah. Ebenso Ethelbert Stauffer, Jesus, Gestalt und Geschichte (Bern: Franke, 1957), p.68. Ferner glaubt Blinzler, das Massaker müsse am Passahfest stattgefunden haben, genau ein Jahr vor J esu Passion.

23 Diese Vermutung Ewalds hat in den Kommentaren großes Echo ausgelöst; doch sie bleibt bloße Vermutung. Nichtsdestoweniger sucht sie nach Bedeutung in der richtigen Richtung; bei der Frage, die man Jesus in diesem Kontext stell­te ("zu eben dieser Zeit", 13:1), ging es nicht um die Geheimnisse der Vorse­hung, die es zuläßt, daß einige Unschuldige getötet werden, sondern um die Glaubenshaltung im Angesicht der Entzweiung, die Jesus gerade vorausgesagt hatte (12:51-53). .

24 Ein Massaker an Juden, die dagegen protestierten, daß Pilatus den Tempel­schatz zum Bau eines Aquaedukts beschlagnahmt hatte, wird bei J osephus be­richtet (Altertümer XViii.3.2); vgl. unten, p.82.

25 Nach Zahn und Grundmann ist der unfruchtbare Feigenbaum Jerusalem; der Eigentümer, der ihn ungeduldig abhauen will, Johannes (vgL 3:9), und der Weingärtner, der um eine weitere Chance bittet, ist Jesus.

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Aber die Kreuzigungsperspektive bleibt nicht länger auf Jesus selbst beschränkt. Die kurze Warnung "nicht Frieden sondern ein Schwert" wird sofort zu einem langen Abschnitt erweitert (14: 25ft).26 Gerade als "eine große Volksmenge" ihn begleitete, spricht Jesus sein erstes ernstes öffentliches Wort der Warnung:

Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine Brüder und seine Schwestern und dazu auch seinLeben haßt, kann er nicht mein Jünger sein.

Die modeme psychologisierende Interpretation Jesu hat sich in­tensiv damit herumgeschlagen, ob das Wort "hassen" hier ernstgenom­men werden sollte oder nicht. Das geht sicher am Kern des Abschnitts vorbei. Der springende Punkt ist vielmehr, daß Jesus in einer durch sehr stabile, religiös untermauerte Familienbeziehungen gekennzeich­neten Gesellschaft zur Bildung einer Gemeinschaft freiwilliger Ver­pflichtung aufruft, die bereit ist, um ihrer Berufung willen die Feind­schaft der bestehenden Gesellschaft auf sich zu nehmen. Der Ernst der Alternative, vor die der künftige Jünger gestellt wird, wird unter­strichen durch die Gleichnisse vom Bauherrn und vom König, die sich zu unbedacht Unternehmungen zuwandten, für deren Kosten sie nicht gerüstet waren.27 Wieder könnten wir den Text aktualisieren; wir wären dann überrascht und könnten vielleicht etwas Nützliches durch die Tatsache lernen, daß Jesus sich hier von der Menge zurück­zieht, wogegen modeme Kirchenleitungen die Mitgliedschaft für die

26 Dieser Abschnitt hat Parallelstellen in allen Evangelien. Bei Markus verbun­den mit "Du bist der Christus", bei Matthäus mit der Aussendung der Zwölf.

27 Die Standardkommentare unterstützen die Vermutung, daß Jesu Zuhörer deutlich die Anspielung auf Herodes heraushörten, der kurz zuvor durch Bei­spiele überstürzter Kriegsführung und ehrgeiziger unvollendeter Baupläne aufge­fallen war. So auf die Narrheit des Königs anzuspielen, heißt schon politisch predigen. Jeder Zuhörer hätte den Spott der Anspielung herausgehört. Neben solchen Abschnitten, wo allein das Aussprechen der Gleichnisse schon ein poli­tisches Urteil beinhaltet, gibt es auch andere Gleichnisse aus dem politischen Bereich. Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu (Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht7/1965), S.56, meint, das Gleichnis des Edelmanns, der auf die Rei­se geht, ein Königreich zu erlangen, sei eine Anspielung auf Archelaus, der nach Rom ging, seine Akkreditierung zu erhalten (Josephus, JÜd. Krieg ü.80j Altertümer XVii, 9).

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große Masse attraktiv machen wollen. Doch wieder geht es nicht um die taktische Frage, ob Jesus viele oder wenige Jünger wollte. Wichtig ist die Qualität des Lebens, zu dem der Jünger berufen ist. Die Ant­wort lautet: Jünger sein, heißt, den Lebensstil zu teilen, dessen Höhe­punkt das Kreuz ist.28

Dieselbe Warnung wird noch deutlicher im Verweis an die Jünger wegen ihres Strebens nach Privilegien im Reiche Gottes, den Lukas in seinen Bericht über das letzte Abendmahl einbaut.

Die Könige der Völker üben die Herrschaft über sie aus, ihr dagegen nicht so! Ich aber bin mitten unter euch wie der Dienende.

22:25ff29

In keinem der Berichte, die dieses Wort wiedergeben, tadelt Je­sus seine Jünger, weil sie von ihm die Errichtung einer neuen sozialen Ordnung erwarten, wie er sie aber hätte tadeln müssen, wäre die These des allein geistlichen Königreiches maßgebend. Er tadelt sie vielmehr deswegen, weil sie diese neue soziale Ordnung, die er aufrichten will, mißverstehen. Das Neue daran ist nicht, daß sie nicht sozial oder nicht sichtbar wäre, sondern daß sie gekennzeichnet ist durch eine Alternative zu den gängigen Herrschaftsstrukturen. Die Alternative dazu, wie die Könige die Völker regieren, ist nicht"Spiritualität" son­dernDienen.

Die Jüngergemeinschaft zeigt also die typischen soziologischen

28 Wenn wir den Text lesen, in der Annahme das Wort "Kreuz" könne seine . Bedeutung nur vom späteren Tod Jesu erhalten, dann muß sein Auftauchen in diesem Text wie ein Anachronismus wirken, der nach der Kreuzigung in die Ge­schichte hineingelesen wird. Dieser Schluß wird überflüssig, wenn (Hengel, op. cit. p.266; Brandon, Jesus and the Zealots, p.S7, nach A. Schlatter) das Kreuz als die Standardstrafe für Aufruhr oder für die Weigerung, die Herrschaft Cäsars anzuerkennen, im Bewußtsein der Hörer bereits klar defmiert war. "Nimm das Kreuz auf dich" mag sogar ein gängiges zelotisches Wort zur An­werbung von Rekruten gewesen sein. Das Kreuz des Jüngers ist keine Metapher der Selbsterniedrigung oder noch allgemeiner des unschuldigen Leidens; "wenn ihr mir nachfolgt, wird euer Schicksal wie meines sein, das Schicksal eines Re­volutionärs. Ihr könnt mir nicht nachfolgen, ohne dieses Schicksal auf euch zu nehmen."

29 Lukas stellt Jesu Hinweis auf sich selbst in den Zusammenhang des Abend­mahls; dadurch wird das "ich aber bin mitten unter euch wie der Dienende" zu einer Parallele der Fußwaschung in Johannes 13. Matthäus bringt diesse~ben Worte in Zusammenhang damit, daß Jesus nach Jerusalern ging, um dort ge­kreuzigt zu werden (20: 17ff.).

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Merkmale von Gruppen, die die Gesellschaft verändern wollen: eine sichtbar strukturierte Gemeinschaft; ein nücJlte_l!l~r Entschluß~_d~l" garantiert, daß die Kosten des Einsatzes für die Gemeinschaft bewußt akzeptiert werden; und ein klar defmierter Lebensstil, der sich von dem der Masse unterscheidet. Dieser Lebensstil ist anders, dies jedoch nicht auf Grund willkürlicher Regeln, die das Verhalten des Gläubi­gen von demjenigen "normaler Leute" trennen, sondern auf Grund der außergewöhnlich normalen Qualität des Menschseins, für das sich die Gruppe einsetzt. Der Unterschied liegt nicht in einer kultischen oder rituellen Trennung, vielmehr in einer unangepaßten Qualität "sä­kularer" Verwicklung in das Leben der Welt. So bildet er eine unaus­weichliche Herausforderung an die bestehenden Mächte und den An­fang eines neuen Angebots sozialer Alternativen.

Die politische Bedeutung der Bildung einer Jüngergruppe erhöht sich, wenn wir Oscar Cullmanns Vorschlag ernstnehmen, möglicher­weise die Hälfte der Zwölf sei aus den Reihen der Zeloten rekrutiert worden.30 Die Bildung eines inneren Zirkels, dem sowohl frühere Ze­loten als auch ehemalige Zöllner angehörten, und das frühe Wirken der Zwölf, von dem berichtet wird, daß es bei Herodes die erste Be­stürzung über Jesus verursacht hat, unterstützen die These von der sozialen Relevanz dieser Minderheit.

Die Erscheinung im Tempel: Lukas 19:36-46

Das Mittelstück des Lukasevangeliums, beginnend mit 9:51: "da richtete er sein Angesicht nach Jerusalem", erreicht einen ersten Hö­hepunkt mit dem Ereignis, daß wir an Palmsonntag feiern. "Gepriesen sei, der da kommt, der König im Namen des Herrn!" Hier wird zum ersten Mal bei Lukas messianische Sprache öffentlichgebraucht. Auch ohne zusätzliche Anspielung im! SachaIja (wie in Matthäus 21 :5) ist· der politische Inhalt des Lukasberichtes deutlich genug. Diese Sprache wird im Zusammenhang des Berichtes, daß die Menge der Jünger frohlockte und anfing "Gott mit lauter Stimme zu loben, wegen all

30 O. Cu1hnann, op.cit., pp.8ff. Martin Hengel, op.cit., bietet durchgängig eine Unzahl von Analogien zum Wirken Jesu. S.G.F. Brandon, op.cit., ist, obwohl er manche Punkte erhellt, zu sehr von Vermutungen abhängig und zu sehr am Beweis seiner These interessiert, um zu überzeugen. Dank Hengels nüchterner Objektivität, er berührt J esus nur ganz am Rande, ist die Ähnlichkeit von An­liegen und Strukturen (Rückzug in die Wüste, Reinigung des Tempels, Steuern für den Kaiser, etc.) um so auffallender. Besonders die Gestalten, die Hengel Propheten nennt, gleichen J esus in einigen Verhaltensweisen. .

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der machtvollen Taten, die sie gesehen hatten"31 noch auffälliger. Worin bestanden diese "machtvollen Taten"? Der Ausdruck scheint angesichts der vorhergehenden Kapitel nicht angemessen; die Jünger müssen an größeres - den bevorstehenden Sieg - denken. 32

Das Matthäusevangelium geht unmittelbar darauf weiter zur Rei­nigung des Tempels.33 Hier haben wir eine Erftillung der Prophezei­ung Maleachis; die plötzliche Erscheinung des "Herrn, den ihr sucht" im Tempel, "zu reinigen die Söhne Levis". Es greift zu kurz, hier nur prophetische Empörung über die ökonomische Ausbeutung der Tem­pelbesucher zu sehen. So wie sie im nächsten Satz mit Jesu EinfUh­rung einer täglichen Lehrpräsenz verbunden ist, bedeutet die Tempel­reinigung eine symbolische übernahme des Tempelbezirks durch den,

31 Nachdem die Revolte 70 n.C. vom Tempelofilzier Eleazer, Sohn des Ana­nias, schon begonnen worden war, betrat der Zelotenfiihrer Menahem die Stadt in einer Prozession "wie ein König" und übernahm die Kontrolle der Rebellion (Hengel, op.cit., p.369). William Klassen (Jesus and the Zealot Option, unver­öffentlichter Vortrag) und W.R. Farmer, Maccabees, Zealots, and Josephus, (New York: CQlumbia U.P., 1956) pp.viffund 198ff, sehen in der triumphalen Prozession ein wiederkehrendes Muster zelotischer politischer Aktivität. Ethelbert Stauffer schlägt eine andere Gegenüberstellung vor: "eben erst ist Pi­latus an der Spitze seiner Römer1ruppen in Jerusalern eingezogen und Jesus an der Spitze der Tempelpilger!" Christus und die Caesaren, (Hamburg: Wittig, 1948), p.129 A.T. Olmstead, Jesus in the Light of History (New York: Scribner, 1942), pp.21Off., porträtiert Jesus, als sei es ihm hauptsächlich darum gegangen, kei­nen ungeordneten Eindruck zu erwecken; die messianische Sprar-he der Menge sei ein von Johannes dem Täufer ausgehendes Mißverständnis.

32 Die darauffolgenden Ereignisse, der "triumphale Einzug" und die "Tempel­reinigung", haben die Phantasie vieler zeitgenössischer Verfechter "gewaltloser direkter Aktion" gefangengenommen. Die Parallele hat Teilgültigkeit. Einige der Unterschiede werden sichtbar, wenn man sich fragt; inwieweit Jesu "De­monstration" ein "Erfolg" war.

33 Die phantasiereichste Interpretation der Tempelreinigung liefert Ernest F. Scott, The Crisis in the Life of Jesus(New York: Scribner, 1952). Wie andere Exegeten seiner Generation übertreibt er das Auseinanderklaffen der religiösen und sozialen Aspekte in Jesu Wirken. Indem wir Matthäus und. Lukas folgen, unterstreicht unsere Beschreibung hier die Einheit von Prozession und Tempelreinigung. Scott, op.cit. pp. 2lf, spricht dem Bericht des Markus größere Authentizität zu, wonach es zur Zeit, da der Zug den Tempel erreicht hatte, schon spät war, so daß Jesus einfach "nach dem Rechten sah" und sich nach Bethanien zurückzog. Während sie die dramatische Unmittelbarkeit der Tempelbesetzung mindert, akzentuiert eine solche Interpretation die Wohlüberlegtheit der Tat.

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der die Gerichtsbarkeit dort beansprucht.34 Daß "die Hohenpriester aber und die Schriftgelehrten und die Vornehmsten des Volkes ihn ins Verderben zu bringen suchten" erklärt sich auch aus dem messia­nischen Anspruch, den Jesus in der gewaltlosen Übernahme des heili­gen Ortes erhebt, und nicht einfach aus dem Verstoß gegen die Ord­nung, der darin hätte liegen können, daß er die Ochs~n hinaus getrie­benhatte.35 Wäre die Tempelreinigungaufirgendeine Weise ordnungs­widrig oder illegal gewesen, hätte sie als klarer juristischer Vorwand

34 "Es ist der Herr, der in sein Eigentum kommt und durch den Augenschein von ihm Besitz nimmt. Bei seinem Eintritt in den Tempel ... weiht er ihn gleich­sam neu, indem er Blinde sehend und Lahme gehend macht - das untrügliche Zeichen anbrechender eschatologischer Vollendung ... " Ernst Lohmeyer, Kul­tus und Evangelium (Göttingen: Vandenhoeck, 1942), p. 43. Scott, op. clt:-betontdie letzten Worte aus Jesu Jesajazitat (die Matthäus und Lukas weglassen) ... "für alle Völker". Wogegen in Matthäus und Lukas "mein Haus soll ein Bethaus sein" gegen die Profanierung des Tempels gerich­tet ist, geht es nach Markus gegen den Ausschluß der Heiden, den die Umwand­lung des "Vorhofes .(jer Heiden" in einen Marktplatz beinhaltet, statt ihn als Teil des Heiligtums zu betrachten. Wie in Lukas 4 (oben, p. 34, Anm. 11) ist es auch hier riskant, viel in das Auslassen von Versen hineinzuinterpretieren.

35 Alle vier Evangelien verbinden die Tempelreinigung mit einer Debatte über 'das Wesen der Autorität Jesu. A,usgehend von der etwas seltsamen Wert schätz­und der sensationalistischen Rekonstruktion Joel Carmichael's, The Death 01 Jesus (New York: Macmillan, 1962), meint Etienne Trocme, es gäbe echte An­satzpunkte, der Tempelepisode größere und entscheidendere Bedeutung (und vielleicht eine frühere. Datierung) innerhalb der Entfaltung von J esu Wirken bei­zumessen, als der überlieferte Text deutlich macht. RH PR (1964), pp. 245 ff. Dieses Beispiel mag als weitere Bestätigung der generellen Beobachtung dienen, daß bei dem Bestreben, hinter den kanonischen Evangelien den "wirklich his­torischen Jesus zu erreichen" - was unsere Studie nicht bezweckt - die sozio­politische Dimension von J esu Wirken wohl eher verstärkt als vermindert wür­den. Victor Eppstein versucht, die Tempelreinigungsepisode dadurch zu erhel­len, daß er sie in den Kontext eines Kampfes zwischen Priester und Rabbi, Tempel und Sanhedrin stellt. "The Historicity of the Gospel Account of the Qeansing of the Temple" ZNW, 55 Oct.1964),44. Die Priesterschaft hatte den Sanhedrin gerade vom Tempelgrurid vertrieben; dei ließ sich darautbinjenseits des Kidron bei Hanuth nieder, wo die Opferverkäufer saßen. Die Verkäufer im Tempelhof waren keine alte Einrichtung, sondern eine von Kaiphas eingeführte Neuerung, um mit dem Hanuth-Kaufleuten zu konkurrieren und dadurch indi­rekt den Sanhedrin zu unterlaufen. J esusstellte sich auf die Seite des Sanhedrin, d.h. auf die Seite der rabbinischen Klasse, gegen die Priesterklasse. Eppsteins Vermutungen mögen zu gewagt sein, um zu überzeugen; doch zu­mindest versuchen sie, die Geschichte mit sozial-historischem Realismus zu lesen. Die ökonomische Seite des Geschehens wird besonders durch Neill Q. Harnil­ton betont, "Temple Cleansing andTemple Bank" JBL. 83 (Dec.1964), 365ff.

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eines Verfahrens gegen ihn dienen können, doch es wird uns berichtet, daß seine Gegenspieler einen solchen Vorwand nicht fmden konn­ten.36

Schon seit frühchristlicher. Zeit wurde die Peitsche im Tempel als die eine Handlung im Leben Jesu angesehen, auf die man sich als Präzedenzfall für den Gebrauch von Gewalt durch Christen berufen konnte. Die älteren übersetzungen ermöglichten das Verständnis, die Peitsche sei gegen die Händler gebraucht worden: ''und er ... trieb sie alle zum Tempel hinaus samt den Schafen und Ochsen ... " (Rev. Luther 1964, doch ebenso Jerusalemer). "Sie alle" bezieht sich durch Hinzufiigung von "samt" eindeutig auf Geldwechsler und Viehhänd­ler. Doch schon seit den ersten Jahrhunderten37 schloß eine sorgfäl-

36s.G.F. Brandon (op.cU.) knüpft die ganze Argumentation seines Buches an die Wahrscheinlichkeit, der Bericht von der Tempelreinigung sei eines derwe­nigen erhalten gebliebenen Indizien der ursprünglichen (historisch authen­tischen) Erinnerung an einen gewalttätigen Jesus; dies sei dann von allen Evangelisten abgeändert worden. Wir stimmen Brandon zu, daß alle histo­rischen Rekonstruktionen einen J esus ergeben müssen, der wegen Aufruhrs hin­gerichtet wurde und der sozial den Zeloten nahestand. Wir könnten auch zu­stimmen,- daß die Entpolitisierung der Erinnerung an Jesus im frühen Christen­tum (obwohl sich davon weit weniger, als er annimmt, innerhalb des neu­testamentlichen Kanons zugetragen haben kann) apologetisch motiviert war. Doch daraus folgt keinesfalls, daß die revolutionäre Initiative, deretwegen Jesus hingerichtet wurde, gewalttätiger Natur war. In genau diesem Punkt (be­sonders pp. 311ff) haben Brandons Vermutungen keinen kritischen Boden unter den Füßen. An Brandon muß nicht bemängelt werden, daß er Jesus als politisch relevant interpretiert, sondern daß für ihn Gewalt das einzige Modell solcher Relevanz ist. In Jesus and the Politics of Violence (New York: Harper, 1972), hat George E.Edwards die überwältigende wissenschaftliche Anklageschrift gegen Bran­don auf historischem und literarkritischem Gebiet zusammengetragen. Ed­wards (Brandon auf dem Gebiet der Wortwahl entgegenkommend) zieht es vor, das Wort "politisch" im modernen, laienhaften Verständnis, das nationalistische Gewalt mit einbezieht, zu gebrauchen und deswegen beschreibt er den fried­lichen J esus als apolitisch. Ich ziehe es vor, um die Bedeutung- des Begriffes zu streiten, und darauf zu bestehen, daß Gewaltlosigkeit und Nichtnationlismus relevant sind für die polis, d.h. für die Strukturierung menschlicher Gruppenbeziehungen, und daß sie daher aus sich selbst heraus politisch sind. Der Unterschied zwischen mir und Edwards liegt in der semantischen Strategie, nicht im Inhaltlichen. 37 Die folgende Anekdote ist von Cosmas Indicopleustes (um.530) über Theo­doreos von Mopsuestia (gest. 428) überliefert: "Rabbula war früher dem be­rühmten Übersetzer (Theodoros) sehr freundlich gesinnt und studierte seine Werke. Doch auf dem ökumenischen Konzil (381), an dem er in Konstanti­nopel teilnahm, wurde er angeklagt, weil er Priester geschlagen habe. Er ant­wortete, unser Herr habe auch geschlagen, als er in den Tempel einzog. Da

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tige Analyse des Textes diese Interpretation aus und unterstützte den Trend der neueren übersetzungen: "und er ... trieb alle aus dem Tem­pel hinaus, die Schafe wie die Ochsen ... " (Zürcher, 1942/67; NT 68; Gute Nachricht). Normalerweise leitet die Konjunktion te kai eine Aufzählung ein und setzt nicht eine Reihe fort, die mit "sie alle" be­ginnt. 38 Das "sie alle" kann sich mit gleicher grammatischer Kor­rektheit auf die vorangestellten "Händler und Wechsler" oder auf die nachgestellten "Schafe und Rinder" beziehen.39 "Hinaustreiben" (exebalen) beinhaltet keine Gewalt; an anderer Stelle im Neuen Testa­ment bedeutet es einfach "wegschicken". 40

Jesus hat nun den weiteren Verlauf der Ereignisse in seiner Hand. Es bräuchte nur einen Schritt mehr, 4iese Macht zu festigen, sich auf dem Gipfel der Massenbegeisterung tragen zu lassen, die Verwirrung auszunutzen, die dadurch entstanden ist, daß das befreite Vieh aus dem Hof stürmt und die Händler sich auf dem Pflaster über ihr Geld stürzen. Der Staatsstreich ist zu zwei Dritteln gewonnen; es bliebe nur noch, das römische Fort nebenan zu stürmen. Doch es gehört zum Wesen der neuen Ordnung, daß sie, obwohl sie die alte verdammt und ablöst, dies nicht mit deren Waffen tut. Jesus verpaßt die günstige Gelegenheit und zieht sich nach Bethanien zurück. Doch die Stadt wird nicht mehr dieselbe sein. Nun ist entschieden, daß er getötet werden muß (19:47; 20:19, 22:2).

Zwischen den triumphalen Einzug und die Tempelreinigung schaltet Lukas (als einziger der Evangelisten) eine ergreifende Sze­ne.41 In einer Art prophetischen Klage weint Jesus am Tor der Stadt,

erhob SIch der Übersetzer und ermahnte ihn: "Das hat unser Herr nicht ge­tan; er redete die Menschen nur an: 'nehmt das hinweg' und warf die Tische um Doch die Ochsen und Schafe trieb er mit Peitschenschlägen hinaus." Wenda Wolska, La Topographica de Cosmas Indicopleustes ( Paris: Presses Universitaires Francaises, 1962), p.91 zitiert in Lasserre (Anm. 38 unten), p.7.

38 Jean Lasserre, "Un Contresens tenace, " CR Oct. 1967), pp 7ff, zählt alle neutestamentlichen Stellen auf, an denen te kai vorkommt. In 86 Fällen ist eine Wiedergabe, vergleichbar mit "samt den Schafen und Ochsen", unmöglich. In fünf wäre es möglich, wird aber von den Übersetzern nicht so wiedergege­ben. Joh. 2:15 ist die einzige Stelle, wo der Partikel so übersetzt wird. 39 Ibid., pp. 13ff. . 40 Markus 5:40; Matth. 9:38. 41 Scott, op.cit. p. 24 und passim betont die strategische Bedeutung dieses Ereignisses rur die Evangelienerzählung. Es ist das Gelenk zwischen lehrhaftem Wirken und Passion; es ist der Augenblick des Einbruchs des messianischen Geheimnisses, die erste offene Herausforderung an die Priesterklasse und der

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weil sie "die Zeit ihrer Heimsuchung nicht erkannt hat". Damit ist in die Ankunft des Königs eine illustration der schon sicheren Ableh­nung eingebaut. Im Moment der überschwenglichSten Begrüßung durch die Stadt will Lukas den Leser nicht vergessen lassen, daß Jesu Verwerfung schon besiegelt ist. Ungeachtet der begeisterten Massen beginnt der Mann auf dem Esel seinen Leidensweg.

Jede Perikope im Abschnitt 19:47-22:2reflektiertaufirgendeine Weise die Konfrontation zweier sozialer Systeme und Jesu Ableh­nung des Status quo. Die Fangfrage über die Steuer ist äußerlich die politischste, unterscheidet sich aber von den anderen nur dadurch, daß diese Bedeutung durchsichtiger ist.42 Die Herausforderung von Jesu Autorität (20: 1-8), das Gleichnis von den ungetreuen Weingärt­nern, die vom Besitzer hinausgeworfen werden (20:9-18 mit der An­spielung auf Psalm 118, auch im Einzugsbericht zitiert), die David­sohnschaft des Messias (Vers 41-44, mit Bezug auf J;>salm 110), Schriftgelehrte, die die Häuser der Witwen verzehren (Vers 45-47), reiche Schriftgelehrte und arme Witwen (20:45-21:4), Prüfung und Triumph (21 :5-36); alles trägt die Stimmung des bevorstehenden Zu­sammenstoßes der beiden Herrschaftssysteme.

Es ist schwer einzusehen, wie die Steuerfrage von denen, die sie stellten, als echte Frage hätte gedacht sein können, wenn sie nicht Jesu Ablehnung der römischen Besatzung als selbstverständlich vor­ausgesetzt hätten, so daß man von ihm eine Antwort erwarten konnte, die es ermöglichte, ihn zu denunzieren. Wiederum wird das "ver­geistllchte" Bild eines Jesus, dessen einziges politisches Anliegen darin besteht, klarzustellen, daß er mit Politik nichts zu tun hat, durch die . schiere Tatsache zurückgewiesen, daß sich diese Frage stellen konnte. Im Kontext seiner Antwort bedeutet "das, was Gottes ist" offensicht­lich nichts "Geistliches"; die Zuordnung "dem Kaiser, was des Kai­sers ist, und Gott, was Gottes ist", verweist vielmehr aufForderungen

Zündsatz tiir die Antagonismen, die sich gegen ihn aufgebaut hatten. Jesus wählt selbst die Zeit und die Form des schließlichen Zusammenstoßes und iührt ihn herbei: "Dadurch entschied er, wie seine Feinde gegen ihn vorzugehen hätten. Er det"mierte das Problem selbst, das sie mit ihm ausmachen mußten und zwang sie, es zu akzeptieren" (p 124).

42 Vgl. J.Spencer Kennard, Jr., Render to God: A Study 0/ the Tribute Pas­sage (New York: Oxford, 1950); und E. Stauffer, op.cit. p. 121. Besonders tiefgehend ist die Analyse der Steuerfrage bei Stauffer "DIe Ge­schichte vom Zinsgroschen" Kap. 8 in Christus und die Caesaren, pp. 118 ff; und bei Donald D. Kaufman, What Belongs to Caesar? (Scottdale: Herald, 1969), pp. 35 ff.

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oder Vorrechte, die sich überschneiden oder miteinander konkurrie­ren, so daß die Notwendigkeit besteht, sie voneinander zu trennen. Die Bereiche Caesars und Gottes liegen nicht auf verschiedenen Ebe­nen, so daß es nie zu einem Zusammenstoß kommen könnte; beide befmden sich in derselben Arena.43 .

Der letzte Verzicht: Lukas 22:24-53

Diese dreißig Verse vereinigen in bemerkenswerter Dichte vier Episoden. Nach der Einsetzung des Abendmahls folgt zunächst der Streit, wer der Größte sei; Jesus antwortet darauf, indem er seine Jünger auffordert, Diener zu. sein, nicht Herren. Parallelstellen gibt es in Markus 10 und Matthäus 20 vor dem Einzug in Jerusalern, als Antwort auf eine Anfrage der Frau des Zebedäus oder ihrer Söhne. Dann folgt die Ankündigung vom Verrat des Petrus (Matth. und Mar­kus sagen den Abfall aller Zwölf voraus). Dann der Bericht (nur bei Lukas) über die Umkehrung der früheren Reisebefehle an die Jünger; sie werden nun angewiesen, einen Beutel, eine Tasche und ein Schwert mitzunehmen, damit die prophetische Schrift erfüllt würde: "Er ist unter die übeltäter gezählt worden.,,44 Darauf folgt das Gebet, den

43 Das paulinisehe Echo auf das Kriterium" jedem was ihm zusteht" (Römer 13:7), ist gleichfalls nicht eine Unterscheidung zwischen zwei Reichen, noch eine Aufzählung, was Cäsar zusteht, sondern ein Leitfaden, konkurrierende Loyalitätsansprüche voneinanderzuhalten. (vgl. unten, p.185). 44 Die traditionelle biblisch geflihrte Debatte pro und contra Pazifismus hat dem Abschnitt über die "zwei Schwerter" immer großes Gewicht gegeben. Hätte Jesus seinen Jüngern das Töten generell verboten, warum wies er sie nun an, sich zu bewaffnen? Bereitet er sie damit nicht auf Notwehrsituationen während ihrer nachpfingstlichen Missionsreisen vor? Doch Jesus sagt, er be­reite sie vor auf seine Gefangennahme, auf die Erflillung der Prophezeiung, daß er in kompromittierender Gesellschaft gefunden würde. Auf ihre Antwort "Hier sind zwei Schwerter" erwidert er "genug"; das kann nicht heißen, zwei Schwerter reichten aus, die Notwehr von zwölf Missionaren zu sichern. Er bricht (in direkter Parallele zu Deut. 3:26, wo Jahwe Moses anweist das The­ma zu wechseln, LXX hikanon estin) die Unterhaltung ab, weil sie sowieso nicht verstehen. Nach Hans Werner Bartseh, Jesus:Prophet und Messias aus Galiäa, (Frankfurt: Stimme-Verlag, 1970,p.56, kann die Anspielung auf Jesaja 53:12 nicht von Lukas eingesetzt sein, da sie nicht der Septuaginta entspricht. Auf jeden Fall hat die Erfüllung einer Prophetie für Lukas nicht die wiederkehrende Funktion, die sie für Matthäus hat. Es überrascht daher um so mehr;daß gerade hier, wie in Lukas 24:26 (dort geht es ebenfalls um das Leiden des Messias), die Er­füllung so betont wird. Im Bericht des Matthäus über das Schwert im Garten (26:54) geschieht der Hinweis auf die Erflillung durch Jesu eigene Worte

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Kelch vorübergehen zu lassen (ohne die bei Markus und Matthäus be­tonte dreifache Wiederholung und ohne den eindringlichen Hinweis auf die Schläfrigkeit der Jünger); danach sogleich der Verrat und die Gefangennahme_

Daß Lukas in eine von ihm geschaffene Texteinheit zwei Elemente einbringt, die bei Markus nicht vorkommen, stellt die Frage, die die meisten traditionellen Interpretationen vermeiden, um so deutlicher. Wie hätte eine Erflillung der Bitte "Laß diesen Kelch an mir vorüber­gehen" aussehen können? Was hätte anderes geschehen können?

Sowohl erbauliche als auch wissenschaftliche Kommentare ha­ben diese wichtige Alternative auschließlich im Lichte des spä­teren Geschehens gesehen. Vor lauter Verehrung, mit der die christ­liche Interpretation die Geschichte von Gethsemane umgibt, haben Leser und sogar professionelle Kommentatoren selten die historische Neugier aufgebracht, danach zu fragen, was es hätte bedeuten können, "diesen Kelch vorübergehen zu lassen". Auf welche Weise hätte man, in der Situation, in die Jesus durch sein anstößiges Verhalten im Tem­pel geraten war, den letzten Zusammenstoß und den Untergang ver­meiden können? Was war die andere Möglichkeit, mit der er rang? Sollte er still nach Qumran entschlüpfen, bis der Sturm sich gelegt hatte? Oder sollte er sich durch den Widerruf einiger seiner extreme­ren Behauptungen mit den Autoritäten versöhnen? Sollte er eine De­eskalation ankündigen, seine Kandidatur für die Königschaft aufgeben und zum Lehrer werden?

Die einzige vorstellbare tatsächliche Alternative, was historische Glaubwürdigkeit angeht, und die einzige mit einer wenigstens mini­malen Textbasis, ist die Hypothese, daß Jesus sogar in diesem letzten Augenblick der Versuchung wieder hingezogen wurde zur messiani­schen Gewalt, die ihn von Anfang an versucht hatte. Nun endlich ist die Zeit des heiligen Krieges angebrochen. Alle vier Evangelien be­richten, wie Petrus in Notwehr das Schwert gebraucht. Alle außer Markus legen die Interpretation nahe, die Episode sei Symbol eines tieferen Konfliktes. Nach J ohannes weist Jesus Petrus mit den Worten seines Gebetes zurück: "Soll ich den Kelch, den mir der Vater gege­ben hat, nicht trinken?"

Die Matthäusinterpretation der Schwertepisode erörtert ausflihr­licher, was Jesus hätte tun können. "Oder meinst du, daß ich nicht

(statt wie sonst in Worten des Evangelisten Matthäus), und das Schwert steht ebenfalls im Mittelpunkt Das Thema "Erfüllung der Prophetie" ist also in beiden Evangelien besonders mit der Gefangennahme im Garten Gethsemane verbunden.

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meinen Vater bitten könnte, und er würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel zur Seite stellen? Wie sollen dann die Schriften erfüllt werden, daß es so kommen muß?" (Matth. 26:53f). Die Anru­fung des Vaters und die Vorstellung von der Erfüllung der Verheißung stellen die Schwertepisode wiederum in den Kontext der Gebetsworte. Wir können uns kaum vorstellen, wie zwölf Legionen Engel - eine römische Legion soll 6000 Soldaten gehabt haben- - sich in diesem Garten ausgenommen hätten_ Doch es geht wohl nicht darum, was wir uns vorstellen können. Der Matthäusbericht ist klar und deutlich, und Matthäus konnte sich vorstellen, daß gerade bei diesem letzten Zusammentreffen mit Judas und der jüdischen und vielleicht auch römischen Polizei der Augenblick gekommen war, in dem Gott den apokalyptischen Heiligen Krieg entfesseln würde, wo dann die wun­derbare Macht der himmlischen Herrscharen, die Jünger Jesu als Stoß­truppen und die Jerusalerner Massen mit ihrem lange brodelnden Un­mut aufstünden, um in einer mächtigen Woge heiliger Gewalt endlich die Heiden aus dem Land zu vertreiben und Gottes Volk (wie von Sacharja vorausgesagt) die Möglichkeit zurückzugeben, Jahwe in Frei­heit und ohne Furcht zu dienen.45

Lukas kommentiert das Schwert des Petrus nicht nach dem Er­eignis, sondern vorher, in der kryptischen Anweisung an die Jünger, Waffen zu tragen, um die Schrift zu erfüllen, nach der der Leidende Gottesknecht unter die Missetäter gezählt würde, Matthäus projeziert die Vision einer apokalyptischen Schlacht; Lukas verzeichnet nüch­tern die formale Schuld des versuchten bewaffuetenAufruhrs, die Jesus durch das AuffInden der Waffen und die VerteidigungPetri angelastet wurde.

Dies ist die dritte Chance. Wie der Versucher vorgeschlagen hatte, hätte Jesus nach der Speisung der Menge die Königschaft per Akklamation erhalten können. Die zweite Chance fUr einen Staats­streich hatte er beim Einzug in den Tempel, die jubelnde Menge im Rücken, die Tempelwache durch den Lärm verwirrt und die römische Garde durch die moralische Autorität Jesu verunsichert. Beide Male

45 Die Hilfestellung durch Kriegerengel war ein normaler Bestandteil zelo­tischer Hoffnung; Hengel, op.cit., pp. 284 ff, und 311 Anm. 2. Die Hypo­these ist nicht neu, daß es nicht die Absicht des Judas war, Jesus den Autori­täten auszuliefern; sondern daß er Jesus durch seinen Verrat zwingen wollte, zu seiner Verteidigung in letzter Minute den heiligen Krieg auszurufen, von dem sich Judas der sikarios (Zelot) den Durchbruch zur Vollendung des Rei­ches Gottes erhoffte. Auch Markus 13:26 fund Matth. 24:30f sehen Krieger­engel in der Begleitung des Menschensohnes. Vgl. auch W.R. Farmer, op.cit. pp. 180, 194.

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hat Jesus der Herausforderung, die Macht an sich zu reißen, wider­standen.

Das ist nun die letzte Möglichkeit. Wie Satan in der Wüste drei­mal erschienen war, so erscheint die reale Möglichkeit zelotischer Königschaft nun zum dritten Mal im öffentlichen Wirken. Nicht ohne theologische und literarische Berechtigung hat man auf Paral­lelen zwischen der Versuchung in der Wüste und der Prüfung in Geth­semane hingewiesen.46 Wiederum, nun zum letzten Mal winkt die Möglichkeit des Kreuzzuges. Wiederum sieht Jesus diese Möglichkeit als reale Versuchung.47 Wiederum weist er sie zurück.

Hinrichtung und Erhöhung: Lukas 23-24

Wie Lukas den Abschnitt vom Abendmahl bis zu Gethsemane durch Anspielungen auf das Dienen und das Schwert unterstrichen hatte, so interpretiert er nun den Weg vom Hof des Pilatus nach Gol­gatha in einer Sprache, die an den triumphalen Einzug erinnert. Eine große klagende Menge folgt Jesus; er warnt sie vor dem noch ausste­henden Unheil. 48

Während Markus nur den Namen Barabbas und Matthäus einfach

46 Wir überlassen der Formkritik die Entscheidung, ob die Reihenfolge der drei Versuchungen in der Wüste bei Matthäus oder Lukas von der Parallele zu den drei politischen Krisen im späteren Wirken Jesu beeinflußt ist. Diese An­spielung eröffnet eine weitergehende Fragestellung, die sich vielleicht für eben diese Kritiker lohnen würde. Wenn es denkbar ist, daß Matthäus oder Lu­kas die Reihenfolge der Versuchungen wegen der Parallele zwischen diesen Versuchungen und den drei Hauptpunkten des späteren Wirkens veränderten, dann müssen wir auch die Folgehypothese anerkennen, daß die Struktur der späteren Erzählung vom Evangelisten als die Entfaltung der bereits in der Wüste skizzierten Prüfung gesehen werden konnte. Somit wird aus der Versuchung der Prolog zum gesamten öffentlichen Wirken, das als Entfaltung des dort be­reits Angelegten gesehen wird. Dazu würde dann gut die Abschlußbemerkung bei Lukas passen, daß der Teufel Jesus verließ "bis zu gelegener Zeit" (4:13).

47 Bob W. Brown verfehlt in einem sehr lebendigen erbaulichen Artikel zur Fastenzeit, "He could have saved hirnse)f", Eternity (Apr. 1968), pp. 13ff, um Haaresbreite die Entdeckung einer echten Dimension sozialstrategischer Mter­native in Jesu Annahme des Kreuzes. Viele Bereiche der historischen Konkret­heit von Jesu Karriere werden hier realistisch erkannt. Jedoch, der geschlos­sene Zirkel von Vorurteilen über das Wesen der Versöhnung endet mit dem Eindruck, daß das Vermeiden des Kreuzes zwar eine konkrete menschliche Wahl gewesen wäre, bedeutungsvoll in der Skala sozialer Alternativen, nicht aber die Annahme.

48 VgL O. Cullmann, op.cit., p.33.

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"einen berüchtigten Gefangenen" erwähnt, sagt uns Lukas zweimal, daß er wegen Aufruhrs gefangengehalten wurde, und betont die tra­gische Ironie des Handels: "Er ließ aber den wegen Aufruhrs und Tot­schlags ins Gefangnis Gesetzten frei, den sie begehrten; Jesus dagegen gab er ihrem Willen preis.,,49 Die Geschichte endet mit der Inschrift am Kreuz und der Lästerung der Soldaten. Sie zielen auf sein König­tum und darauf, daß er sich nicht selbst rettet. Jesus wurde somit gegen einen Zelotenführer eingetauscht und als "König der Juden" zu Tode gebracht.

Das ist wiederum einer der Punkte, wo die spiritualistisch-apolo­getische Exegese immer betont hat, die Juden oder die Römer oder die zelotisch gesinnten Bürger hätten Jesus alle falsch verstanden; in Wahrheit habe er die etablierte Ordnung nie behelligen wollen. Des­halb muß die Illegalität des Vorgehens gegen ihn und die Unrichtig­keit der Beschuldigung demonstriert werden. Selbst dann aber müßte erklärt werden, warum ein Jesus, dessen Hauptanliegen es war, apo­litisch zu sein, gerade in dieser Weise mißverstanden worden ist, statt auf irgendeine andere Weise, und warum er nicht jedermann vor einer so radikalen Fehlauffassung seiner Absichten bewahrt hat. Auch wenn man zugesteht: die Verhandlungen, wie sie berichtet werden, waren nicht den Regeln entsprechend, und ein normaler Prozeß nach jüdischem oder römischen Recht, hätte Jesus mangels bewaffneter aufrührischer Aktionen freigesprochen, so waren doch die Ereignisse im Tempelhof und die von Jesus gebrauchte Sprache nicht darauf be­rechnet,jeden Anschein umstürzlerischer Pläne zu vermeiden. Jüdische und römische Autoritäten verteidigten sich gegen tatsächliche Bedro­hungen. Daß die Bedrohung nicht von bewaffneter, gewalttätiger Re­volte ausging und daß sie die Machthaber nichtsdestoweniger so in Verlegenheit brachte, daß sie zu illegalen Vorgehensweisen Zuflucht nehmen mußten, ist ein Beweis der politischen Relevanz gewaltfreier Taktik und kein Beweis, daß Pilatus und Kaiphas besonders dumme oder ehrlose Männer waren.

Es bringt in diesem Zusammenhang keinen Nutzen, uns mit den

49 Die Exegeten sind sich nicht einig, ob es wie dieser Bericht unterstellt, wirk­lich einen eingeführten Brauch gab, in der Passahzeit einen Verurteilten freizu­lassen, und ob Pilatus' Berufung darauf als ernsthafter Versuch angesehen wer­den sollte, einen Unschuldigen zu retten, oder eher als Versuch, die Freilassung des gefährlichen Barrabas zu verhindern. Paul Winter·, On the Trial 0/ Jesus (Berlin: De Gruyter, 1961), pp. 91ff. behauptet am entschiedensten, daß eine solche Gewohnheit des Pilatus (Markus 15:6ff; Mat. 27:39) oder ein solcher jüdischer Brauch (Joh. 18:39) nie existierte.

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alten, doch stets wiederkehrenden Diskussionen über die Rechtmäßig­keit der Verurteilung und Hinrichtung Jesu durch die Römer oder die Juden zu beschäftigen.50 Noch brauchen wir die unablässigen Anstrengungen zu katalogisieren, durch die Kombination literar-, redaktions- und überlieferungskritischer Techniken ein ganz neues Bild der "tatsächlichen Ereignisse" zu rekonstruieren, das viel voll­ständiger, sicherer und den Juden, den Römern, Jesus (oder den Evan­gelisten) gegenüber weniger schmeichelhaft ist als die kanonischen Berichte.51 Es ist vielleicht bezeichnend - aber selbst der Versuch, soviel nachzuweisen, würde uns ablenken - daß jeder Versuch hypo­thetischer Rekonstruktion dahin tendiert, die ökonomisch-politische Bedrohung der Römer durch Jesus ernster zu nehmen, als es die tra­ditionelle kirchliche Interpretation tut. 52 Für unser Anliegen genügt die Kreuzesinschrift als Beweis. Ob die juristische Prozedur in Ord­nung war oder nicht, ob die jüdischen Institutionen Teilverantwor­tung trugen, unsere These braucht zur Bekräftigung nur, daß Jesu öf­fentliche Karriere die Vermutung rechtfertigt, er habe ftir das römi­sche Reich eine so offensichtliche und ernsthafte Bedrohung darge­stellt, daß dies seine Hinrichtung rechtfertigte.53

50 Die sorgiältigste Analyse in Buchform gibtPaul Winter (op.cit.) Ein anderer Sepr gründlicher Versuch: Haim H. Cohn, Richter am höchsten israelischen Ge­richt, "Reflections on the Trial and Death of Jesus", Israel Law Review, 2 (1967), 332ff, zum Buch erweitert in Hebräisch,Jesu alim (1968). 51 Joel Carmichael (Anrn. 35 oben) auch Hugh Schonfield fanden einen wei­ten Leserkreis. S. G. F. Brandon (op.cit.) ist ungleich sorgfältiger, aber auch er traut seiner Fähigkeit, hinter die Quellen zu raten, zuviel zu. Außerdem nimmt er an, nur ein gewalttätiger Jesus hätte eine politische Bedrohung darstellen können. 52 " .... Die Frage nach der politischen Dimension von Jesu Wirken .... , ist, ob­wohl sie Objekt lebhafter Debatte bleibt, seit gut 40 Jahren allgemeines Eigen­tum und wird in wissenschaftlichen Werken über das Leben Jesu nur selten ig­noriert." Etienne Troeme, loc.cit. 53 "Es gibt immer mehr Indizien dafur, daß Pilatus wesentlich größeren Anteil an der Hinrichtung Jesu hatte, als die Tradition und sogar die Evangelien uns glauben machen. Die genaue Rolle der jüdischen Führer können wir nicht ein­schätzen. Die Beschaffenheit der Quellen macht es unwahrscheinlich, daß wir es je können werden. Die Kreuzigung - eine römische Hinrichtungsart - spricht eine klare Sprache; Jesus muß nicht"nur im rein geistlichen Sinne messianisch genug erschienen sein, um nach rÖnllschen Maßstäben eine Bedrohung der po­litischen Ordnung darzustellen." Krister Stendahl, "Judaism and Christianity - Then and Now, " New Theology No.2, p. 158 (Harvard Divinity Bulletin, Oct 1963). Nach Nils A. Dahl, Der Gekreuzigte Messias, in H. Ristow und K. Mattiae, Hrsg., Der historische Jesus und der kerygmatische Christus (Ber­!in: Evangelische Verlagsanstalt, 1962), pp. 149 ff, war vielleicht sogar die

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"Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen sollte," (24:21) ist nicht nur ein weiteres Zeugnis der mißlungenen Versuche der Jünger, Jesus zu verstehen; es ist auch ein Augenzeugenbericht, wie Jesus ge­hört wurde. Jesus tadelte das "blinde" Paar auf dem Weg nach Em­maus nicht deswegen, weil sie auf der Suche nach einem Königreich gewesen waren. Du Fehler war, daß sie genau wie Petrus in Caesarea Philippi nicht begriffen, daß das Leiden des Messias die Einsetzung des Königreiches ist. "Mußte nicht der Christus dies leiden und (dann) in seine Herrlichkeit eingehen?" "Herrlichkeit" kann hier nicht Him­melfahrt bedeuten, sie ist noch nicht berichtet, und eigentlich wird sie im Lukasevangelium auch nicht deutlich beschrieben. Könnte das dann nicht (wie das Konzept der "exaltation" (Erhöhung) im Johan­nesevangelium) bedeuten, daß das Kreuz selbst als Erfiillung der Kö­nigreichverheißung gesehen wird? Hier am Kreuz ist der Mann, der seine Feinde liebte, der Mann, dessen Gerechtigkeit größer war als die der Pharisäer, der reich war und arm wurde, der seinen Rock denen gab, die seinen Mantel nahmen, der betet fur die, die ihn ver­spotten. Das Kreuz ist nicht ein Umweg oder eine Hürde auf dem Weg zum Königreich, noch ist es der Weg zum Königreich; es ist das Kommen des Königreiches.

Unsere Darstellung hat größere Lücken; durchgehende Gründ­lichkeit hätte hier nur den bereits entstandenen Eindruck verstärkt. Wir haben die Verkündigung kommentiert, sind aber schnell über die Geburtserzählungen hinweggegangen (die Bedeutsamkeit der kaiser­lichen Volkszählung, Bethlehem als Stadt des Königs, der Ruf der Engel:"Frieden auf Erden"; vgl. bei Matthäus die Weisen und den Kindermord). Wir haben d~ lied des Zacharias zur Geburt des Jo­hannes und die Predigt des Johannes betrachtet, aber nur einen Ab­schnitt seiner Laufbahn und seinem Schicksal gewidmet. Wir haben spezifisch ethische Passagen wie Kapitel 6 nicht eingehend interpre­tiert. Wir haben dem Komplex wahrscheinlich politisch ausgerichte-

Kreuzesinschrift ausschlaggebend dafür, daß J esus später in der vollen "könig­lichen" Bedeutung des Titels Messias genannt wurde. Diese ,Interpretation wird unterstützt von J.B.Sou~k, "Zum Prozess Jesu';, Communio Viatorum.6/2 (1963), 201. Nach Ferdinand Hahn, The Tit1es of

, Jesus in Christology, (New York: World, 1969) pp.160f besonders 173ff, entstand das ausgesprochene Bekenntnis zu Jesu als dem Messias/Christus! König aus dem Nachdenken der Kirche über die Kreuzesinschrift. Allerdings müssen spekulative Rekonstruktionen des Gebrauchs in der frühesten Kirche. sehr skeptisch betrachtet werden; doch auf jeden Fall unterstreicht Hahtis Hypothese die klare Bedeutung der Inschrift und daher der Kreuzigung als öffentliches Ereignis.

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ter Erzählungen in Kapitel 13 nicht nachgespürt (das Massaker des Pilatus an den Galiläern, der Turm von Siloah, der unfruchtbare Fei­genbaum); noch haben wir die ausgedehnte Diskussion um das Steu­ergeld verfolgt (Kap. 20). Wir haben die Fälle, in denen Jesus ange­gangen wurde, die Richterrolle zu übernehmen (Lukas 13:13f; Joh. 8: lff)54 nicht untersucht.

Auch ohne die Unterstützung, die eine sorgfältige Analyse dieses Materials erbracht hätte ,können wir unsere zu Anfang gestellte Frage bereits deutlich beantworten. 55 Jesus war nicht einfach ein Moralist, dessen Lehren zufällig auch einige politische Implikationen enthielten; er war nicht in erster Linie ein Lehrer von Spiritualität, dessen öffent­liches Wirken unglücklicherweise in einem politischen Licht gesehen wurde; er war nicht nur ein Opferlamm, das sich auf seine Opferung vorbereitete, oder ein Gottmensch, dessen göttlicher Status uns ver-

54 In Johannes 8 wird Jesus zu einer Stellungnahme hinsichtlich der Verurtei­lung einer Ehebrecherin herausgefordert. Oft wird dies als eine Probe seiner kasuistischen Fertigkeit als Rabbi verstanden, wie Markus 12:13-34 oder Lu­kas 10:25ff (vgl. 11:53f). Joachirn Jeremias ("Zur Geschichtlichkeit des Ver­hörs Jesu ..• ", ZNW, 43 (1950/51), 148 sieht darin eine Herausforderung, am Gerichtgprozeß teilzunehmen (oder sich dabei einzumischen), wie es sich ein "Demagoge aus Galiläa" vielleicht gewünscht hätte. 55 Im Rückblick könnte man wohl fragen: wenn die Präsenz und Anziehungs­kraft des zelotischen Weges so deutlich ist, wie diese Analyse glauben macht, warum wird die zelotische "Partei" dann in den Texten nicht sichtbarer? Wenn, wie wir behaupten, die Tatsache, daß Jesus die zelotische Alternative sah, er durch sie wie durch keine andere versucht wurde und sie nichtsdestotrotz zu­rückwies, von fundamentaler Bedeutung ist für unser Verständnis seines Wir­kens, warum sagen das die Evangelien nicht in vielen Worten? Die Evangelien berichten häufig, daß "die Pharisäer" oder "die Juden" auf identiflzierbare Weise zu Jesus kommen: Warum nicht "die Zeloten? Es gibt gute Gründe: a) der zelotische Weg ist in den Reihen der Jünger stärker vertreten. In Petri Ablehnung des Leidens (Matth. 16:22) und in der Spekulation der Jünger, wer im Königreich die meiste Macht haben würde, tritt es in Erscheinung (Lukas 22:24 par). b) Wegen ihrer Natur als Guerillabewegung ist nicht zu erwarten, daß die zelo­tische Gruppe in der Öffentlichkeit als solche identifizierbar auftritt. c) Nach dem Kreuz war die Grenze zwischen Christen und Zeloten klar gezo­gen, wogegen der Pharisäismus weiterhin ein Faktor christlich/jüdischer Gesprä­che blieb, selbst innerhalb der Kirche (Apg. 15:5). Selbst nach dem Fall Jeru­salems gab es Pharisäer im Diaspora-Judentum, mit dem die Kirche für einige Generationen im Gespräch blieb. Soweit also die Verbalisierung der Evange­lientradition während der Zeit der mündlichen überlieferung durch die Rele­vanz aktueller Anliegen beeinflußt wurde, wäre zu erwarten, daß Verweise auf Pharisäer als noch relevant erhalten und verstärkt wurqen, wohingegen Anspie­lungen auf Zeloten nach und nach verschleiert worden sind.

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anlaßt, sein Menschsein außer Betracht zu lassen. Jesus war, in seiner von Gott beauftragten (d.h. verheißenen, angekündigfen, messiani­schen) Prophetenschaft, Priesterschaft und Königschaft, der Träger einer neuen Möglichkeit menschlicher, sozialer und daher politischer Beziehungen. Seine Taufe ist die Einsetzung und sein Kreuz der Höhe­punkt dieses neuen Regimes; die Jünger sind aufgerufen, daran teil­zunehmen. Die Menschen mögen dieses Königreich als irreal, irrele­vant, unmöglich oder nicht einladend abschreiben, doch zu dieser Einschätzung können wir nicht länger im Namen der systematischen Theologie oder ehrlicher Hermeneutik kommen. An diesem einen Punkt gibt es keinen Unterschied zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus der Geschichte, zwischen Jesus Gott und Jesus Mensch, zwischen der Religion Jesu und der Religionüber Jesus (oder zwischen dem kanonischen Jesus und dem historischen Jesus). Keine derartige Zerstückelung kann seinen Ruf zu einer Ethik, die durch das Kreuz gekennzeichnet ist, verhindern; ein Kreuz, in dem die Bestrafung eines Mannes erkannt wird, der die Gesellschaft durch die Gründung einer neuen Gemeinschaft radikal neuen Lebens bedroht.

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3. Die Bedeutung des Jubeljahres

Die Predigt in Nazarethreicht als einzelner Beleg nicht aus, um nachzuweisen, daß Jesus tatsächlich den Anbruch des Jubeljahres ver­kündigte. Nur eine eingehendere Untersuchung der Evangelientexte könnte diese These stützen oder widerlegen. Dabei würden folgende linien weiterverfolgt.l

Das Jubel- oder Sabbatjahr beinhaltet vier Vorschriften: (1) der Boden liegt brach, (2) Schulden werden erlassen, (3) Sklaven werden befreit und (4) der Familienbesitz wird an jeden einzelnen zurücker­stattet. In diesem Kapitel geht es darum, zu untersuchen, ob die Evan­gelien weitere Anspielungen auf diese vier Jubeljahrshandlungen ent­halten.

Die Brache

Jesus spricht nicht direkt von der Brache. Sein Schweigen über­rascht jedoch nicht im geringsten, denn von allen Vorschriften des Sabbatjahres wurde nur diese allgemein befolgt. Es wäre daher witz­los gewesen, zu ihrer Anwendung zu ermahnen. Aber ähnlich wie

1 Dieses Kapitel ist eine freie Wiedergabe des dritten Kapitels von Andre Trocme, Jesus Christ et la revolution non-violente, pp. 43ff, mit Erlaubnis des Autors. Die Anmerkungen stammen von mir. Eine Inhaltsangabe des Buches von Trocme in deutscher Sprache imdet sich In Church and Peace, Quartals­berichte, 1980,1, S.13ff. Dieselbe Veröffentlichung enthält eine Bibelarbeit von Juan DriVer, "Die mosaische Gesetzgebung des 'Jobeljahres' und die ge­schichtlich politische Situation Jesu". S.26ff.

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beim Fastenmonat Ramadan, den zwar alle Moslems halten, wenn auch unter Klagen und Mogeln, erforderte es großen Mut von den Ju­den, alle sieben Jahre die Felder in dem Vertrauen brachliegen zu las­sen, sie würden von Gott alles Lebensnotwendige empfangen: Viele machten sich Sorgen. In Leviticus (25:20-21)wird im Blick auf solche Sorgen erklärt: "Und wenn ihr denkt: Was sollen wir im siebenten Jahre essen? Wir dürfen ja nicht säen und unseren Ertrag nicht ein­sammeln -, so will ich euch im sechsten Jahre meinen Segen zuwen­den, daß es den Ertrag für drei Jahre liefern soll."

Jesus gebraucht fast dieselben Worte gegenüber seinen Jüngern. Die Ausrufung des Jubeljahres für das Jahr 26 mag ihnen durchaus Sorgen verursacht haben. Sie hatten ihre Felder unbestellt gelassen. Sie hatten ihre Boote am Seeufer zurückgelassen, um Jesus nachzufolgen:

... fraget nicht, was ihr e$sen und was ihr trinken sollt, und seid nicht in Unruhe! Denn nach all diesen Dingen trachten die Völ­ker der Welt; euer Vater aber weiß, daß ihr diese Dinge bedürft. Vielmehr suchet sein Reich, dann wird euch dies hinzugefügt werden. 2

Oft wird diese Ermahnung als Ermutigung zur Faulheit mißver­standen. Sie wird jedoch ohne Schwierigkeiten verständlich, wenn wir sie in den Rahmen der Reich-Gottes-Erwartung stellen; denn das Jubeljahr ist ein Vorbote des Gottesreiches. Wir könnten den Text also folgendermaßen lesen:

Wenn ihr sechs Tage (bzw. Jahre) mit ganzer Kraft arbeitet, könnt ihr auf Gott zählen, daß er für euch und die euren sorgt. Laßt deswegen unbesorgt euer Feld unbestellt. Wie für die Vögel des Himmels, die nicht säen, ernten oder Kornspeicher anlegen, wird Gott für eure Bedürfnisse sorgen. Die Heiden kümmern sich nicht um den Sabbat und sind nicht reicher als ihr.

Schuldenerlaß und Sklavenbefreiung

Im Kontrast zur marginalen Bedeutung der ersten Jubeljahrsvor­schrift nehmen die zweite und dritte Vorschrift in Jesu Lehre eine zentrale Stellung ein. Ja, sie stehen im Mittelpunkt seiner Theologie.

Das Vaterunser, das Jesu Auffassung vom Gebet zusammenfaßt,

2 Luk.12:29-31

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enthält folgende Bitte: "Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern" (für "vergeben" wird das Verb aphlemi gebraucht). Im Griechischen bezeichnet opheilema fman­zielle Schuld im materiellsten Sinne de~ Wortes. hn Vaterunser empfiehlt uns Jesus also nicht einfach vage, denen zu vergeben, die uns geärgert oder Leid zugefügt haben, sondern er sagt uns ein­fach und klar, daß wir denen, die bei uns in der Kreide stehen, ihre Schuld erlassen sollen; anders ausgedrückt: wir sollen das Jubeljahr praktizieren. 3

Bemerkenswert ist, daß Jesus das Verb aphiemi gebraucht; es be­deutet "erlassen, fortschicken, freilassen, eine Schuld vergeben" und tritt regelmäßig in Verbindung mit dem Jubeljahr auf.4

Die materielle Bedeutung des Wortes "Schulden" im Vaterunser war so eindeutig,daß der Evangelist Matthäus (oder war es Jesus selbst ?) eine Erklärung beifügte, daß mit "Schulden" auch Übertre­ungen im allgemeinen gemeint sind: "Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt (hier wird das-Griechische paraptoma, Ver­fehlung / Übertretung gebraucht) wird euer hlmmlischer Vater euch auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater eure Verfehlungen (paraptoma) auch nicht vergeben."(Matt. 6: 14f).5

Das Vaterunser ist also ein echtes Jubeljahrgebet. Es bedeutet, "die Zeit ist gekommen, daß die Gläubigen alle Schulden, die die Armen Israels bedrücken, abschaffen; denn auch eure Schulden bei Gott sind ausgewischt(denn das ist das Evangelium, die gute Nach­richt)." So verstanden auch Jesu Zuhörer sein Gebet. Jesus stellte eine strikte Gleichung auf zwischen der Praktizierung des Jubeljahres und der Gnade Gottes. Er, der in keiner anderen Frage gesetzlich dachte und der ohne Zögern bereit war, Prostituierten und ähnlich verrufe­nen Leuten Verzeihung zu gewähren, war in diesem einen Punkt äußerst strikt: "Nur der, der Gnade praktiziert, erfährt Gnade. Die aphesis Gottes gegen euch wird zunichte, wenn ihr nicht aphesis gegen eure Brüder übt." .

Zwei Gleichnisse sollen uns helfen, Jesu Denken in diesem Punkt

3 Unabhängig von Trocme unterstützt F .Charles F ensham, "The Legal Back­ground of Mt.vi: 16," NovT,4 (1960), 1 Trocmes Interpretation der Bitte "Vergib uns unsere Schuld". 4 Aphesis, das Substantiv zu diesem Verb, wird in der Septuaginta in der Re­gel für das Jubeljahr gebraucht; Lev.2S:28,S4; Deut.1S:1ff. Jes.61:2; Jer.3S:8. 5 Allerdings spricht der Text des Vaterunsers bei Lukas von "Sünden" (Lukll:4).

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zu verstehen. Am eindrucksvollsten illustriert wohl das Gleichnis vom "unbannherzigen Knecht" die ganze Schärfe der Gleichung des Vaterunser: "Keine Gnade für den, der nicht gnädig ist."6

Unglücklicherweise wurde dieses Gleichnis, isoliert von seinem sozialhistorischen Hintergrund, nur zu oft als ein< eher blasses Bild der Sündenvergebung betrachtet, die Gott denen gewährt, die ihren Brü­dern vergeben.

In Wahrheit ist der traurige Held des Gleichnisses eine real existie­rende Person, ein galiläischer Pächter, den die Jünger vielleicht mit Namen kannten. Wie alle, denen Jesus sich zuwandte, profitierte er von der Verkündigung des Jubeljahres; ihm war der vorgesehene Gna­denakt zuteilgeworden. Alle seine Schulden waren gelöscht worden: enorme Schulden, zehntausend Talente. Diese Summe ist nicht pure übertreibung, sondern soll die totale Zahlungsunfähigkeit des Schuld­ners gegenüber dem König veranschaulichen.

Die galiläischen Pächter waren früher freie Bauern und Grundbe­sitzer gewesen. Im Gefolge fortschreitender Verschuldung wurden sie praktisch auf den Status von Sklaven herabgedrückt. Verantwortlich für diese Lage war Herodes der Große. Er hatte das Volk mit hohen Steuern belastet und enteignete diejenigen, die nicht zahlten.

Um solcher Enteignung zu entkommen, liehen die Bauern Geld bei den Wucherern, die oft mit den Vertretern des Königs oder den Steuereintreibern unter einer Decke steckten. Als Sicherheit gaben sie ihr Eigentum Bald fiel es in die Hand des Wucherers, und die Bauern wurden seine Pächter oder Knechte. Aberihr Problem war damit noch nicht gelöst. Die unbezahlten Schulden häuften sich weiter zu astro­nomischen Summen auf. Zur Deckung seiner Schuld befahl der Gläu­biger, den Pächter samt Frau und Kindern und allem Besitz in die Schuldknechtschaft zu verkaufen.?

In genau diese Situation ist der "unbarmherzige Knecht" des Gleichnisses geraten. Jesus beschreibt die Beziehung zwischen der steigenden Verschuldung des armen Bauern, dem Verlust des Besitzes und dem unmittelbar daraus folgenden Verlust der Freiheit.

Nach der Verkündung des Jubeljahres erscheint der Knecht vor dem König; der vergibt seine Schuld. Der König, so sagt der Text, läßt ihn frei und "erläßt" (wieder das Verb aphiemi) die Schuld. Wäre un­sere Geschichte hier zu Ende, so wäre sie ermutigend. Aber Jesus er-

6 Matt.18:23-35. 7 Salo Wittmayer Baron, A Sodal and Religious History 0/ the Jews (New Yotk: Columbia U.P., 21952), I, 262ff. .

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zählt sie zu einer Zeit, als die Mehrheit seiner Mitbürger, auch ihm sehr ergebene, ihm schon das Jubeljahr verweigert hatten. Das Ende der Geschichte spiegelt seine bittere Enttäuschung angesichts dieser Weigerung wider. Der vom Jubeljahr befreite Sklave, trifft einen sei­ner Mitsklaven, der ihm die geringe Summe von hundert Denaren schuldet. Er verweigert ihm die Jubeljahrsvergebung, von der er sel­ber profitiert hatte. Stattdessen ergreift er ihn und sagt: "Bezahl, was du mir schuldig bist."

Von seinen Mitsklaven denunziert wird er nun gefangengesetzt und vor den König gebracht. Auf diesen Mann ohne Mitleid und Dank­barkeit ist das Jubeljahr nicht länger anwendbar. Auf königlichen Be­fehl wird er samt Frau und Kindern in die Schuldknechtschaft ver­kauft. Es gibt kein göttliches Jubeljahr für die, die sich weigern, es auf Erden anzuwenden.

Der zyklische Schuldenerlaß hatte eine ernste Folge; er führte zu einem Einfrieren des Kreditwesens, wie schon in Deuteronomium 13:7-11 angedeutet wird. Aus diesem Grunde zögerten selbst die or­thodoxesten Rabbis, wie Hillel und Shammai, sonst Vorkämpfer der strikten Anwendung des Gesetzes, eine strikte Durchführung des Ju­beljahres zu verlangen. Je näher das Sabbatjahr rückte, deso mehr zö­gerten die Wohlhabenden, den Armen Kredit zu geben, aus Angst ihr Kapital zu verlieren. Dadurch wurde das wirtschaftliche Leben des Landes gelähmt. Die Rabbis fanden eine Lösung für das Problem. Als geschickte Ausleger des Gesetzes wußten sie das Gegenteil dessen he­rauszulesen, was es befahl.

Es war der dem Denken Jesu sonst am ehesten nahestehende Pharisäer, der berühmte Hillel, den er selbst manchmal zitierte, der Großvater Gamaliels (. der seinerseits Lehrer des Paulus wurde), der eine saubere Lösung des Problems fand.

Diese Lösung erhielt den Namen prosboul. Das Wort läßt sich aus dem Griechischen pros boule ableiten: "eine gerichtlich bestätigte Handlung". Wie im Mischnatraktat Gittin berichtet wird, bevollmäch­tigte Hillel auf diese Weise den Gläubiger, dem Gerichtshof das Recht abzutreten, die ansonsten vom Sabbatjahr annullierte Schuld in sei­nem Namen einzuziehen_

Die bloße Existenz des prosboul beweist, daß, entgegen den Be­hauptungen mancher Autoren, zur Zeit Jesu starke Kräfte die strikte Anwendung der Jubeljahrsvorschriften über den periodischen Schul­denerlaß forderten. Die Einrichtung der prosboul-Prozedur wäre sonst unnötig gewesen. über diesen Schleichweg wurde die Kreditvergabe gegen Zinsen wieder möglich; das mosaische Gesetz hatte sie verbo-

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ten (Ex. 22:25); die Wiederkehr des Sabbatjahres hatte sie immer zeit­lich eingegrenzt. Die Reichen, wie die Pharisäer, die Jesus anklagte, "die Häuser der Witwen zu verzehren", verpaßten ihre Chance nicht. Der Text eines prosboul-Formulars ist in der Mischna erhalten:

Ich . . . . . . . . . . . . . . . . übertrage an Euch. . .... -. . . . . . . . . . . ,Richter am ...... meinen Ausspruch, denmir zustehenden Betrag unabhängig vom Zeitpunkt meines Verlangens von .......... zurückzufordern.

Diese Erklärung wurde von den Richtern und Zeugen unterzeichnet. Jesus muß ein entschiedener Gegner des prosboul gewesen sem.

Mir scheint hier folgende Beobachtung wichtig. Normalerweise zeigt sich Jesus als Gegner der Sabbatgesetze, während in diese~ Fall das Gegenteil zutrifft. Sobald es darum ging, die humanen Vorschrif­ten des Gesetzes zu betonen, wurde Jesus radikaler als die Pharisäer. Seine ständigen Streitigkeiten mit ihnen verlören jede Bedeutung, ginge es darin nur um die äußere Form religiöser Praktiken. In Wirk­lichkeit ging der Konflikt wesentlich tiefer: das Wesen der Ethik stand zur Debatte. "Was ist gut?" fragten die Pharisäer8 , und ihre Antwort bestand in der detaillierten Anwendung der Vorschriften; das Wesent­liche ging ihnen dabei verloren. "Was ist gut?" fragte Jesus, er ver­nachlässigte die Details und kam direkt aufs Wesentliche, das er bei Moses ohne Umweg über die Tradition der Schriftgelehrten fand.

Dieser Radikalismus Jesu hatte nichts mit Freidenkerei zu tun. Mit "Gott hat den Sabbat für den Menschen gemacht" meinte er: "Gott hat die Juden befreit, er hat sie aus Ägyptenland geführt. Das Sabbatjahr, wie der Sabbattag müssen praktiziert werden. Beide sind dazu da, den Menschen zu befreien und nicht zu versklaven." Daher mußte der prosboul wie alle anderen menschlichen Traditionen, die dem Gesetz hinzugefügt worden waren, um seinen revolutionären und befreienden Charakter abzuschwächen, Jesu Unmut hervorrufen.

Aber wie kann das Einfrieren des Kredites verhindert werden, wenn man den Profitanreiz ablehnt? In der Feldrede gibt Jesus die Antwort. Der Reiche soll freigiebig sein und sich nicht um die Rück­zahlung ängstigen, denn Gott wird für ihn sorgen.

8 Wo in den Evangelien "Pharisäer" steht, sollten wir diese Bezeichnung nicht im Sinne des späteren christlichen Antijudaismus mißverstehen. Es handell: sich hier um einen polemischen Wortgebrauch, der nicht automatisch alle Pha­risäer abqualiilziert.

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DIE BEDEUTUNG DES JUBEUAHRES 65

"Wenn ihr denenleiht,von denen ihr zurückzuerhalten hofft, was für einen Dank habt ihr? Auch die Sünder leihen den Sün­dern, damit sie das gleiche zurückerhalten. Vielmehr ... leiht, ohne etwas zurückzuerwarten. Dann wird euer Lohn groß sein; und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gut gegen die Undankbaren und Bösen. ... Sprechet frei, so werdet ihr frei­geprochen werden! Gebet,. so wird euch gegeben werden! Ein gutes, voll gedrücktes, gerütteltes, überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben. "9

Die Ehrlichkeit des Schuldners sollte der Großzügigkeit des Gläubigers entsprechen. Der Schuldner soll sich nicht hinter dem Schutz des Sabbatgesetzes verstecken, um seine Verpflichtungen nicht halten zu müssen. In der Bergpredigt fallen zwei Abschnitte ins Auge, in' denen Jesus andeutet, wie die Probleme, über die Hillel und die Pharisäer gestolpert waren, gelöst werden könnten.

Hillel sagte zum besorgten Gläubiger:"Vberweise deinen Kredit an den Gerichtshof, der wird ihn für dich eintreiben." Jesus sagt dem nachlässigen Schuldner: "Warte mit der Rückerstattung der Schuld nicht, bis du in die Hände des Gerichts fällst. Wenn Dein Gläubiger dich mit Hilfe des prosboul vor Gericht bringen will, um dir dein Hemd wegZunehmen (als Sicherheit für die Schuld, die du hast nicht bezahlen können), laß ihn (wieder das Verb aphiemi) auch deinen Mantel nehmen." 10 Und vorher: "Willfahre schnell deinem Gegner, während ,du noch mit ihm unterwegs bist, damit dich nicht der Geg~ ner (unter Anwendung des prosboul) dem Richter und der Richter dem Gerichtsdiener übergibt und du ins Gefängnis gesetzt wirst. Wahr­lich ich sage dir: Du Wirst von dort nicht herauskommen, bis du den letzten Rappen bezahlt hast." 11

Lukas legt Jesus im Paralleltext einen recht interessanten Gedan­ken in den Mund: "Warum aber urteilt ihr nicht auch von euch selbst aus darüber, was recht ist?" 12 Seine Jünger sollen sich also von Rechtstreitigkeiten femhalten. Sie haben kein Gericht nötig, um zu wissen, ob man Schulden zUIÜckbezahlen soll.

Wir kommen zu einem weiteren Gleichnis, das eine Aussage über

9 Luk.6:34ff 10 Matt.5:40ff 11 Matt.5:25ff 12 Luk.12:57.

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das Jubeljahr enthält: das Gleichnis vom ungerechten Haushalter.B Wie das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht geht es von der Situa­tion der Pächter zur Zeit Jesu aus.

Zur Erinnerung: als Ergebnis der Forderungen des Königs Hero­des, seiner Söhne und der römischen Besatzungsmacht hatten die meisten der früher grundbesitzenden Bauern ihre Unabhängigkeit ein­gebüßt. Um die Abgaben zahlen zu können, waren sie darauf angewie­sen, ihre Güter zu verpfanden. So wurden sie auf den Status von Halbsklaven herabgedrückt. Die Abgabeverpflichtungen in Natura­litln - Öl und Weizen - beliefen sich oft auf die Hälfte der Ernte oder mehr.

Ein weiterer Mißstand verschlimmerte noch die Situation der .Bauern in Israel: die dauernde Abwesenheit der Grundbesitzer. Eine Hierarchie dazwischengeschalteter Funktionäre war für die Einzie­hung der Schulden angestellt. Sie preßten aus den Pächtern willkür­liche Summen heraus; die die tatsächlich fallige Pacht, Schuld und Steuer weit überschritten. Doch die Armen bekamen kein Recht. Sie konnten sich an niemanden wenden, denn die Eintreiber präsentier­ten ihren Herren gefalschte Aufstellungen. So konnten sie in wenigen -Jähren das erwerben, was Jesus "ungerechten Reichtum" nennt. Durch ihr ununterbrochenes Jagen nach solchem Reichtum verloren die Eintreiber den wahren Reichtum, die Freundschaft und den Res­spekt ihrer Mitbürger.

Unser Gleichnis erzählt, wie ein Grundbesitzer eines Tages die Unehrlichkeit seines Verwalters entdeckt. Nicht zufrieden damit, sei­ne Pächter zu schädigen, bestiehlt dieser Verwalter auch seinen Ar­beitgeber, indem er ihm gefalschte Aufzeichnungen vorlegt. Nach der Entdeckung des Betruges meldet sich sein Gewissen. Er weiß, daß er seinem Arbeitgeber nie die ganze Höhe der Unterschlagung zurückbe­zahlen kann. Doch er beschließt, von den Pächtern zumindest nicht

. die Riesensuinmen zu verlangen, um die er ihre Verpflichtungen er-höht hatte. Deshalb erstattet er seinen Schuldnern die ungerechte Mehrforderung, die sie ihm angeblich schuldeten. Jesus porträtiert ihn, wie er seine Schuldner zusammenruft und mit einem Federstrich ihre Schulden auf die richtige Höhe bringt: fünfzig Maß Öl statt hun­dert, achtZig Maß Weizen statt hundert, etc.

Sicher verschärft eine solche Entscheidung nur die Zahlungsun­fahigkeit des Verwalters. Sie macht ihn selbst arm. Aber indem er so handelt, erwirbt er sich wahren Reichtum, nämlich die Dankbarkeit

13 Luk.16:lff.

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DIE BEDEUTUNG DES JUBELJAHRES 67

und Freundschaft seiner früheren Opfer. Nun als Armer unter Armen, Mensch unter Menschen werden sie ihn als Bruder in ihrem Haus empfangen, und diese Gastfreundschaft wird in die Ewigkeit reichen. Das ist es, was Jesus die Freude des Gottesreiches nennt. "Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon,"14 verkündete er zusam· menfassend. "Praktiziert das Jubeljahr, das ich verkünde. Befreit an­dere von dem, was sie euch schulden, und befreit euch so selbst von den Banden, die euch daran hindern, für das Reich Gottes bereit zu sein."

Das Bemerkenswerteste an diesem Gleichnis ist das Lob, das Je­sus dem Arbeitgeber als dem Vertreter Gottes in den Mund legt: "Ein kluger Mensch", sagt Gott, ,"weit klüger als der Durchschnitt derer, die meine Jünger sein wollen."

Im Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht war es Gott, der die Initiative ergriffen hatte. Gott hatte als erster dem Menschen die Schuld vergeben und erwartete von ihm dasselbe. Im Gleichnis vom unehrlichen Verwalter ergreift der Mensch die Initiative. Im Gehor­sam gegen den messianischen Anruf praktiziert er als erster das Ju­beljahr: er erläßt die Schulden derer, die gleichzeitig seine und Got­tes Schuldner sind. Folglich lobt Gott diesen klugen Mann, der, be­vor er noch von der Gnade berührt wurde, die Wiedererstattung des Reichtums praktiziert. Dieser Mann konnte die Zeichen des Gottes­reiches lesen und verstehen: die Herrschaft des ungerechten Mam­mons ist vergangen.

Die beiden Gleichnisse bestätigen also, was die Predigt von Na­zareth, das Gebet des Herrn und die Bergpredigt uns schon gezeigt haben. Jesus proklamierte im Jahre 26 tatsächlich ein Jubeljahr nach den mosaischen Sabbatvorschriften: ein Jubeljahr, das in der Lage war, die sozialen Probleme Israels durch Schuldenerlaß und durch die Befreiung von Schuldnern, deren Zahlungsunfähigkeit sie zur Sklaverei erniedrigt hatte, hätte lösen .können. Jesus praktizierte das Jubeljahr nicht aus eigener Lust und Laune. Es zählte zu den Vorzei­chen des Gottesreiches. Wer sich weigert, diesen Weg zu gehen, kann nicht ins Reich Gottes eintreten.

Die vierte Vorschrift des Jubeljahres: die Rückerstattung des Kapitals

Vor der Erfindung der Maschine bestand der Wohlstand eines Volkes ausschließlich aus seinem Land und seinen Herden. Diese Stel-

14 Luk.16:9

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le nimmt heute das Kapital ein. Ohne Zweifel nahm Jesus um des Gottesreiches willen freiwillige Armut an, und er befahl seinen Jün­gern, ihr Kapital im Sinne des Jubeljahres zu verteilen: "Denn nach all diesen Dingen trachten die Völker der Welt; euer Vater aber 'weiß, daß ihr diese Dinge bedürft. Vielmehr suchet sein Reich, dann wird euch dies hinzugefügt werden! Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es hat eurem Vater gefallen, euch das Reich zu geben. Verkau­fet euren Besitz und gebet ihn als Almosen" (Lukas 12:30-33). Nie­mand bezweifelt, daß er das gesagt hat. Man hat nur darüber debat­tiert, inwieweit Jesus diese Neuverteilung des Kapitals allen Christen zu allen Zeiten befohlen hat oder ob es sich nur um einen "Rat zur Vollkommenheit" für die Heiligen handelt.

Traditionell hat sich die Kirche für die zweite, die einfache Lö­sung entschieden. Nur der, sagt die Kirche, der eine besondere Beru­fung hat, z.B. der Mönch, ist auch dazu gerufen all sein Eigentum auf­zugeben. Der normale Gläubige gibt sich mit dem "Allmosengeben" zufrieden, er braucht also nur einen Teil seines Einkommen als milde Gabe zu verteilen.

Diese Auffassung wäre wohl zu vertreten, hätte Jesus nicht ge­rade denen gegenüber solche Strenge gezeigt, die es zu seiner Zeit für ausreichend hielten, Almosen zu geben, nämlich den Pharisäern ge­genüber. Sie gaben den Zehnten ihres Einkommens, und das war nicht wenig. Wie wenig Leute geben heute so viel!

Doch Jesus hielt den Zehnten fUr nicht ausreichend: "Aber we­he euch Pharisäern, daß ihr die Minze und die Raute und jegliches Gartengewächs (d.h. die Produkte des Bodens) verzehntet und das Recht und die liebe zu Gott außer acht laßt! Vielmehr sollte man diese Dinge tun und jene nicht unterlassen." 15

Dieses Wort unte'rstreicht unsere Auffassung von Jesu Radikalis­mus. Er wollte den Zehnten nicht abschaffen. Er wollte nur die Ebene der leichten Erflillbarkeit und der bequemen moralischen Selbstbe­friedigung überwinden und die Menschen dazu aufrufen, die Stufe von "Gerechtigkeit, Güte und Glauben" zu erreichen.

Aber was bedeuten diese drei Begriffe? Wir können annehmen, daß sie sich auf den freiwilligen Verzicht des Jüngers beziehen, der sein eigenes Wohlergehen sichern will, indem er das, was er eigentlich für sich selbst bräuchte, sein Kapital nämlich, weggibt: wenn deine Gerechtigkeit nicht größer ist, als die der Pharisäer und Schriftgelehr­ten, wirst du nicht in das Reich Gottes kommen.

lS Luk.ll:42.

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Jesus vergleicht einmal die Großzügigkeit der Wohlhabenden, die auf augenfällige Weise große Gaben in den Tempelschatz legen, mit der einer armen Witwe: "Diese arme Witwe hat mehr eingelegt als al­le. Denn jene haben aus ihrem überfluß zu den Gaben eingelegt; die­se hat aus ihrem Mangel heraus all ihr Gut eingelegt, das sie hatte."

In unsere heutige Sprache übersetzt: "Es ist nicht so wichtig, wieviel Geld man gibt. Es kommt darauf an, was man gibt. Ist es nur ein Teil des Einkommens, dann hat es nichts mit Gerechtigkeit, Güte oder Glauben zu tun. Erst Wenn man sein Kapital gibt, ist alles in Ordnung."

Wir glauben jedoch nicht, daß Jesus einen christlichen Kommu­nismus verordnete. Hätte er das getan, so hätte er seinen Jüngern ent­weder Ordensregeln hinterlassen, vergleichbar mit denen der Essener, oder eine Art Verfassung für einen kollektivistischen Staat. Das hat er nicht getan. Kollektivismus widerspricht dem Geist Mosis.

Als Jesus das berühmte Gebot "Verkauft euren Besitz und gebt ihn als Almosen" (bessere übersetzung:- "Verkauft was ihr habt, und praktiziert Barmherzigkeit.") formulierte, war das also weder ein "Rat zur Vollkommenheit", noch war es ein Verfassungsgrundsatz zur Gründung eines utopischen Staates Israe1. Es war ein Jubeljahrs­gebot, das hier und jetzt: einmal im Jahr 26 in die Praxis umgesetzt werden sollte; eine erfrischende Erneuerung im Vorgriff auf die "Wie­derherstellung aller Dinge".

Eine solche Neuverteilung des Kapitals, alle ftinfzig Jahre im Ver­trauen auf den gerechten Willen Gottes und in Erwartung seines Rei­ches vorgenommen, wäre auch heute nichts Utopisches. Viele blutige Revolutionen wären vermieden worden, hätte die Kirche die Jubel­jahrvorschriften aus dem Gesetz des Mose besser beherzigt als Israel.

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4. Gott kämpft für uns

Heutige Christen nähern sich dem Alten Testament in der Fra­ge des Krieges mit einer gesetzlichen Haltung, und sie stellen verall­gemeinernde Fragen: "Kann ein Christ, der jeden Krieg ablehnt, sei­ne Haltung mit den Berichten des Alten Testaments versöhnen?" Stellt man die Verallgemeinerung "Krieg ist immer gegen den Wil­len Gottes" neben diejenigen Kriege im Alten Testament, von de­nen berichtet wird, daß sie nach Gottes Willen waren, so stimmt diese Verallgemeinerung nicht mehr.

Dieser Ansatz hindert uns daran, zu verstehen, daß der gläubige Jude die Schrift nicht unter dieser Fragestellung las. Er las sie nicht unter der modernen Fragestellung, inwieweit sie bestimmte morali­sche Verallgemeinerungen bekräftigte oder nicht. Er las sie vielmehr als seine Geschichte, als Bericht seiner eigenen Vergangenheit. Eine Geschichtserzählung kann moralische Aspekte einschließen oder mo­ralische Urteile voraussetzen, aber sie beginnt nicht notwendigerwei­se damit.

Ein Kennzeichen der im Alten Testament erzählten Geschichte, manchmal in Verbindung mit blutigen Schlachten, manchmal aber auch bemerkenswert gewaltfrei, ist die Identifikation Jahwes als des Gottes, der sein Volk rettet, ohne daß es selbst handeln muß. Wenn wir an dieser Geschichte eine modeme moralische Behauptung prü­fen wollen, stutzen wir bei den Teilen der Geschichte, die nicht in unser modemes Muster passen; aber ein Jude, der die Geschichte las, staunte wohl eher darüber, daß Israel durch die großen Taten Gottes gerettet wurde.

Wir können hier noch nicht einmal eine gedrängte übersicht ge-

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GOTT KÄMPFT FÜR UNS 71

ben über die Stränge hebräischer Geschichte, die in die Geschichte Jesu aufgenommen und in sie hineinverwoben wurden. Unser Rück­blick auf die Geschichte des alten Israel - der Leser wird sich erin­nern - ist nicht Selbstzweck, und er geschieht auch nicht nur aus wissenschaftlicher Neugier, sondern wir wollen damit die Methoden moderner ethischer Hermeneutik aJ,lf die Probe stellen. Wir fragen, wie Jesus und seine Zuhörer das Handeln Gottes vor dem Hintergrund der Geschichtsschreibung ihres Volkes verstanden haben könnten.

Der Exodus

Fürchtet euch nicht! Haltet stand, so werdet ihr sehen, wie der Herr euch heute helfen wird; denn so, wie ihr die .ifgypter heute seht, werdet ihr sie niemals wieder sehen. Der Herr wird für euch streiten, seid ihr nur stille.

Exodus 14: 13 Jeder Abschnitt des Auszugsberichtes, so schwierig er in anderer

Hinsicht zu interpretieren ist, berichtet unmißverständlich, daß die Is­raelitennichtszum Untergang der Ägypter beigetragen haben. Sie wa­ren nur aufgefordert, zu glauben und zu gehorchen. Wenn sie das ta­ten, verschwand die scheinbar unausweichliche Drohung, die über ih­nenhing.

Der Erzähler von Kapitel 17 , in welchem über die Schlacht gegen die Amalekiter berichtet wird, hebt diese Betonung der Exodusge­schichte nicht auf. Im Vergleich zum Rest der Erzählung dieses Exo­dusabschnittes fällt jedoch auf, daß die Entscheidung Moses' und Jo­suas zum Krieg gegen die Amalekiter nicht als von Jahwe befohlen berichtet wird, obwohl solche Befehle an anderer Stelle recht häufig sind. Die J~nttällschung des Mose über die Bitterkeit des Volkes und sein Verlangen nacheiiiem Beweis für die Anwesenheit des Herrn steht hier auf ihrem Höhepunkt. Diesmal antworten Mose und Josua auf den Angriff der Amalekiter auf ihre Weise; sie kämpfen ihre eigene Schlacht. Doch die Schlacht wendet sich gegen sie, sobald Moses' er­müdende Arme den symbolischen "Stab Gottes" sinken lassen. Sie gewinnen nur die Oberhand, wenn Moses den Stab wieder hebt. Selbst wenn Isr~el also das Schwert auffürchterliche und zerstörerische Wei­se gebraucht, wird der Sieg nicht der Tapferkeit der Kämpfer, sondern

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der Hilfe Jahwes zugeschrieben.! Auch durch die Bücher Josua und Richter bleibt das der Hauptakzent der Berichte.2

Eine grundlegende Regel korrekter Textinterpretation besagt, ein Text solle im Hinblick auf die Aussageabsicht des Autors gelesen werden und ebenso daraufhin, wie ihn seine ersten Leser oder Hörer verstanden. Ob die Vemichtungmenschlichen Lebens moralisch unter allen Umständen erlaubt oder verboten ist, war zur Zeit Abrahams oder Josuas im damaligen kulturellen Zusammenhang keine denkbare Frage. Es ist daher nicht legitim, die Geschichte von der beabsichtig­ten Opferung Isaaks 3 oder von denKriegen JosuasalsDokumente zum Problem der moralischen Rechtfertigung des Tötens zu lesen.

Die Schilderung der Eroberung Kanaans ist voll von Blutvergies­sen4 ; aber was den frommen Leser späterer Jahrhunderte am meisten in Erstaunen versetzt haben mag, ist das generelle Versprechen, wo-

1 Der Name, der von der Wissenschaft seit kurzem als "Jahwe" wiedergegeben wird, ist der Eigen-name des Gottes Israels im Unterschied zu den Gattungsbe­griffen "Gott" oder "Herr", die auch auf andere Gottheiten Anwendung fan­den. Diese Vokalisierung ist eine modeme nicht jüdische Vermutung. Einer sei­nerfrühesten Titel ist "JHWH der Heerscharen" d.h. "der Armeen" ein weiterer Hinweis auf den Stellenwert dieser Errettungen in Israels frühem Gottesver­ständnis.

2 Die Institution des "heiligen Krieges" ist nur ein Ausdruck dieses göttlichen Schutzes. Seine Bedeutung als die vielleicht grundlegendste soziale Einrichtung des frühen Israel wurde von G.von Rad, Der heilige Krieg im alten Israel (Göt­tingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1951) hervorgehoben. Die nichtkriegerischen Rettungsaktionen, die für die Israeliten Teil desselben Bildes waren, haben we­niger wissenschaftliche Beachtung gefunden. Vgl. Millard Lind, Jahweh is a Warrior (Scottdale: Herald, 1980). 3 Der Befehl an Abraham, seinen Sohn zu opfern, ist von der modemen prote­stantischen ethischen Theorie zum Testfall kasuistischer Ethik gemacht worden, weil er für den modemen Leser so offensichtlich das Spektakel zu zeigen scheint, wie Gott einem Menschen befiehlt, Gottes Gebote zu brechen. Diese Lesart ignoriert jedoch den kulturellen. Zusammenhang. Zur Zeit Abrahams oder selbst noch als der Bericht in Genesis 22 geschrieben wurde, war die Op­ferung des Erstgeborenen weit verbreiteter kultischer Brauch. Sie war ethisch nicht skandalöser oder unappetitlicher, als das Umbringen eines Bösewichts in einem Western den· meisten Zuschauern heute erscheint. Da sie ein ritueller Akt war, sah man sie nicht im Zusammenhang mit dem Verbot des Mordes. Die Prüfung für Abrahams Glauben lag nicht im Befehl, jemand zu opfern, den er innig liebte, noch im Befehl, das Moralgesetz zu brechen, sondern eher darin, daß der Befehl die Verheißung Gottes, Abrahams Nachkommenschaft sollte zahlreich sein, in Frage stellte. Selbst als später die Propheten Menschenopfer verdammten, verurteilten sie damit zunächst mehr den Götzendienst als den Mord.

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nach die ursprünglichen Bewohner des Landes einer nach dem andern "allmählich" (Ex.23: 290 durch den Engel (23 :23) oder den Schrecken (27) oder durch Gottes Hornissen (28) vertrieben werden würden -sofern Israel nur glaubte und gehorchte. 5

Erstaunlich auch die in höchstem Grade wunderbaren Siege über lericho (los. 6), oder GidMns Sieg über die Midianiter (Richter 6) nachdem die meisten Freiwilligen nach Hause geschickt und die weni· gen übriggebliebenen mit Fackeln bewaffnet worden waren (7:2), da· mit Israel nicht denken sollte, militärische Stärke oder überlegenheit hätten den Sieg gebracht: "Glauben" hieß spezifisch und konkret im kulturellen Kontext der Geburt Israels als Nation, Gott im über· lebenskampf als Volk zu vertrauen. Dieses Thema findet dann Ein·

4 Auch dieses Blutvergießen muß in seinem kulturellen, d.h, kultischen Zusam­menhang verstanden werden. Vor der Schlacht wurde die feindliche Armee oder die Stadt des Feindes" dem Herrn geweiht"; d.h. sie wurde alsherem oder quadosch erklärt: abgesondert, heilig, tabu; sie gehörte fortan J ahwe wie das Tier auf dem Altar. Deswegen .wurde keine Beute gemacht - weder Sklaven, noch Vieh, noch Gold. Das Töten war kein Instrument, es sollte nicht auf praktische Weise zu einem politischen Ziel beitragen; es war eine sakrale Ange-legenheit. .

Es geht hier nur um die Klärung des Hintergrunds für ein Verständnis des­sen, was das Erbe des heiligen Krieges zur Zeit Jesu bedeutete und was es nicht bedeutete. Die Bedeutung für die cliristliche Ethik heute zu klären, erforderte eine weitere Untersuchung. Weitergeführt werden diese Bemerkungen in mei­nem Buch The Original Revolution (Scottdale: Herald, 1972), pp.91 ff.

5 Einige Exegeten sind der Meinung: wäre Israel nur fest geblieben im Glauben, die anderen Völker in Kanaan hätten sich in Übereinstimmung mit dieser Ver­heißung ohne Gewalt zUlückgezogen. G. von Rad zieht aus seiner textkritischen Rekonstruktion der Geschichte den Schluß, das ursprüngliche Muster des. "heili­gen Krieges" sei rein defensiv gewesen. In dieser frühesten Form verteidigte sich ein israelitischer Stamm, der schon unter die anderen kanaanitischen Völker eingesickert war, wenn erangepiffen wurde, nach dem Muster des heiligen Krieges. Erst später hätten die liistoriker dieses Muster über die Josuaerzäh­lungen ausgebreitet, als 0 b das ganze Ge biet in einer einzigen Angriffskampagne genommen worden wäre. Wir sind nicht qualif"lZiert, eine solche kritische Sich­tung und hypothetische historische Rekonstruktion zu werten; nichtsdesto­weniger scheint es bedeutsam, daß ein solcher Versuch nicht den Eindruck ver­stärkt, die "heiligen Kriege" seien "in Wahrheit" aggressiver, imperialistischer und selbstgerechter gewesen, als die Texte anzeigen.

Es ist auf jeden Fall gesichert, daß nicht alle kanaanitischen Zentren zur Zeit J osuas zerstört wurden; sie existierten noch Generationen weiter. Doch unsere Untersuchung ist nicht auf Rekonstruktionen wie die G.von Rads ange­wiesen.

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gang in die theologisch orientierte Sicht der Geschichte, die am deut­lichsten in den Büchern der Chronik artikuliert wird.

Die Königreiche

o Herr, außer dir ist keiner, der helfen könnte im Streite zwischen einem Starken und einem Kraftlosen. So hilf uns, Herr, unser Go tt; denn auf dich stützen wir uns, und in deinem Namen sind wir gegen diesen großen Haufen ausgezogen.

2. Chronik 14:11

Mit diesem Gebet auf den Lippen zog Asa, der Sohn des Abia, ei­ner ägyptischen Armee entgegen, die viermal so stark war wie seine eigene. "Da hieß der Herr die Kuschiten im Kampfe mit Asa und den Judäern unterliegen, so daß die Kuschiten flohen."

Ihre Flucht wurde nicht einfach durch ein Wunder ausgelöst, und die Verfolgung durch die Armee Judas war verheerend. Doch die Er­innerung Judas bewahrte nicht einen Bericht besonderer Tapferkeit in der Schlacht oder brutaler Säuberungen, sondern einen Sieg, den der Herr selbst gewirkt hatte. Das wird auch in dernächsten Geschich­te deutlich.

2.Chronik 16 berichtet die Bildung einer Allianz zwischen Asa von Juda und Benhadad von Damaskus gegen das nördliche König­reich. Ob es das Bündnis selber ist oder der Angriff gegen das Schwe­sterkönigreich, was die Verurteilung des Propheten Hanani hervor­ruft, läßt sich nicht sicher feststellen. Wie auch immer, die Worte des Propheten verdammen besonders Israels Vertrauen auf politisch mili­tärische Hilfe:

Weil du dich auf den König von Syrien gestützt hast, statt dich auf den Herrn, deinen Gott, zu stützen, damm ist das Heer des Königs von Syrien deiner Hand entronnen. Waren nicht die Kuschiten und Libyer ein gewaltiges Heer mit sehr vielen Wagen und Reitern? Weil du dich aber auf den Herrn stütztest, gab er sie in deine Hand Denn des Herrn Augen schweifen über die ganze Erde, damit er sich stark erweise für die,

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GOTT KÄMPFT FÜR UNS

deren Herz ihm ungeteilt gehört. Hierin hast du töricht gehandelt; denn von nun an gib t es für dich nichts als Krieg.

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2.Chronik 16:7-9

Diese Vision ist eines der Leitmotive dieses Teils der Chronik. König Asa beeilte sich, den Propheten zu bestrafen. Kriege sind die Auswirkungen der mangelnden Bereitschaft Israels, vor allem seiner Könige, Jahwe zu vertrauen.

Nicht euch liegt es ob, in dieser Sache zu kämpfen. Stellet euch nur auf und bleibet stehen und sehet, wie der He" euch Rettung schafft, Juda und Jerusalem Fürchtet euch nicht und erschrecket nicht! Morgen sollt ihr ihnen entgegenziehen,. und der He" wird mit euch sein.

2-. Chronik 20: 17

Krönendes Beispiel dieses Themas der Chronik ist Kapitel 20, wo die Antwort Josaphats auf einen massiven Angriff benachbarter Stämme aus dem Süden berichtet wird. Die ganze Bevölkerung Judas, geführt vom Propheten Jahasiel, marschiert dem Feind entgegen, samt den Tempelsängern, den Kahathiten und den Korahiten (Grup­pen levitischer Musiker), die das ganze Volk anführen im Lobgesang.6

Beim Vorrücken entdeckt die singende Prozession, daß die Fein­de aneinander geraten sind. Sie vernichten sich gegenseitig, bevor sie überhaupt nach Juda kommen.

Der Schrecken Gottes aber fiel auf alle Königreiche der (umliegenden) Länder, als siehörten, daß der He" mit den Feinden Israels gekämpft hatte. (20:29)

Ein zweites sehr erstaunliches Beispiel solcher Bewahrung fmdet sich in Kapitel 32; hier wird von der Rettung Hiskias und seines Vol­kes vor Sanherib berichtet.

6 Die kultische Fonn des Ereignisses ist wichtig. Die zeremonielle Prozession ist ein Akt kollektiven Gottesdienstes,genau wie das sakrale Töten des Opfers im heiligen Krieg.

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Fürchtet euch nicht und erschrecket nicht vor dem König von Assur und vor der ganzen Menge, die bei ihm ist! Denn mit uns ist ein stärker(!r als mit ihm. Mit ihm ist nur ein Arm aus Fleisch Mit uns aber ist Jahwe, unser. Gott, um uns zu helfen und un.sere Kriege zu fUhren. (v.7f)

(Jerusalerner Bibel)

In 2. Könige 18f. wird dieselbe Geschichte sehr ausführlich er­zählt. Die feindliche Armee wird, nachdem sie beeindruckende Drohungen ausgesprochen hat, vom "Engel des Herrn" in einer Nacht dezimiert.

In einigen dieser Fälle kann sich die moderne Vorstellungskraft gar nicht ausmalen, was da geschehen sein könnte. In anderen Fällen sind das jüdische Militär7 ·oder der Mann Gottes aktiv verwickelt, ohne daß die Ereignisse dadurch weniger wunderbar wÜIden.8 Auch ist Israels Beteiligung, wenn sie aktiv ist, nicht immer mit Gewalt ver­bunden. Das zeigt sich auffalligsten in der Geschichte von Elisas ge­waltfreier Irreführung der Syrer (2. Könige 6: 11ff). Die mit prophe­tischer Sicht begabten sahen, daß "der Berg rings um Elisa· voll feuriger Rosse und Wagen" war; doch der Prophet überließ die Pro­blemlösung,nicht den Rossen und Wagen; er führte die feindlichen Armeen zusammen und befahl ein Versöhnungsessen.

Im nächsten Kapitel benutzt Elisa eine entgegengesetzte Strate­gie; der Prophet muß sich vor dem eigenen König schützen; doch die feindliche Armee hört ein Getöse, das sie in die Flucht schlägt.

7 Wir haben bereits festgestellt, daß der heilige Krieg mehr einem Wunder als einem kalkulierbaren politischen Instrument gleicht. Ein weiteres Chrakteristi­kum, das den Vergleich mit dem modernen Krieg unmöglich macht, ist das Fehlen professioneller Soldaten. Die Kämpfer waren keine Berufssoldaten, die bezahlt und aus Gründen militärischer Effektivität gedrillt worden wären, son­dern eine Freiwilligenmiliz, durch einen Trompetenstoß von ihrer Tagesarbeit zusammengerufen. Nachdem Saul und David den Übergang zu einem organi­sierten Staat mit stehender Armee bewerkstelligt hatten, gab es keine heiligen Kriege vom Typ "J osua" mehr.

S "Wunderbar" ist hier im Sinne seiner Wurzelbedeutung gebraucht; es besteht Grund zum Wundern. Es geht uns hier nicht um philosophische Meditationen über Naturgesetze oder die Bedeutung der Wundergeschichten, wenn sie nicht auf die berichtete Weise geschehen sein können.

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GOlT KÄMPFT FÜR UNS 77

Nach dem Exil

Die Auswirkung dieser Geschichte, wie sie fortwährend Frucht trug in den Herzen frommer Israeliten, wird in der Geschichte Es­ras, dei von BabyIon rilit der Erlaubnis des Ataxerxes nach Jerusa­lern zurückkehrte, beispielhaft berichtet.

Dqnn hieß ich daselbst am Ahawaflusse ein Fasten ausrufen, damit wir uns vor unserm Gott demütigen, um von ihm eine glückliche Reise ... zu erbitten. Denn ich hatte mich geschämt, den König um bewaffnete Leutl! und Reiter zu ersuchen, die uns auf dem Wege vor Feinden schützen würden; wir hatten vielmehr zumXönig gesagt: Die Hand unsres Gottes ist über Qlkn, die ihn suchen, zu ihrem Besten, aber seine Macht und sein-Zorn kommt über alle, die ihn verlassen. Also fasteten wir und erflehten. uns die Hilfe unseres Gottes in dieser Sache, und er ließ sich erbitten.

Esra,8:2lff Die Geschichte des Volkes im lichte wunderbarer Bewahrung

zu betrachten, war also zum Bestandteil des üblichen gottesdienst­lichen Rituals geworden. Manchmal war die Rettung unter Mit­wirkung jüdischen Militärs zustandegekommen; in anderen Fällen wurden keine Waffen eingesetzt. In beiden Fällen ging es jedoch um dasselbe: Vertrauen auf Jahwe, als Alternative zum eigenmächtigen Gebrauch der militärischen Ressourcen Israels, in der Verteidigung seiner Existenz als Volk Gottes. .

Es geht uns bei deL Zusanimenfassung dieser Geschichte nicht um eine gen aue Rekon$truktion des Geschehenen, und darum wie es geschah, wenn Jahwe Israel rettete, oder ob im speziellen Fall einer der Juden nun Waffengewalt gebrauchte oder nicht. Es geht uns viel­mehr darum, was es für Jesus, für seine Zeitgenossen und seine Jün­ger bedeutete, eine solche Geschichte in ihrer Bibel zu lesen.

Wir folgern, der Glaube des frommen Juden wurde, wie es der Kulturanthropologe ausdrücken würde, von "Legenden" 9 genährt;

9 Der Terminus "Legende" bezeichnet einen kulturellen Gebrauch und ist kein Urteil über die Geschichtlichkeit. "Legende" ist das, was in einer gegebenen Ge-

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78 GOTT KÄMPFT FÜR UNS

ihre zentralen Themen besagten, daß Gott selbst für sein Volk: sorgen würde -

Der He" wird deine Feinde, die sich wider dich erheben, von dir schlagen lassen: auf einem Wege werden sie wider dich ausziehen und auf sieben Wegen vor dir fliehen. Deut. 28:7

- und daß daher das menschliche Beschäftigtsein mit der eigenen Macht als dem Instrument des überlebens oder der Vorherrschaft

. fehlgeleitet ist. Er wird behüten die Füße seiner Heiligen ... ; denn viel Macht hilft doch niemand

1 Sa.2:9 (rev.Luther)

Die Vernünftigkeit dieser Haltung wurde bestärkt durch die Erzählungen von Abraham, der das beste Land seinem habgierigen Neffen abtrat (Gen. 13:8ff), von 1saak, der seine Weiden und Brun­nen an Abimelech und Gerar abtrat (26: 16ff) und von Joseph und Daniel, die auf dem Weg über Exil und Gefängnis zu Ansehen kamen. Was die Geschichten am Beispiel erzählten, machten die Propheten zur Vorschrift.

"Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist spricht Jahwe Zebaot (der Heerscharen)" 10

(Jerusalemer Bibel)

mein schaft legendum ist, ein Bericht, der immer wieder erzählt wird, der durch die häufige Wiederholung die Identität, die Wertvorstellungenund das Selbst­bewußtsein der Gemeinschaft formt.

Diese Geschichten als Israels Legendarium zu bezeichnen, als den Erzäh­lungsschatz, der Israel daran erinnerte, was es hieß Israel zu sein, impliziert kein Urteil über ihre Geschichtlichkeit.

10 Sacharja 4:6. Millard Lind hat in mehreren Studien (vgl. oben Anm. 2)aus­führlieh die Bedeutungsschichten dargestellt, die dieser prophetischen Sicht des Rettungswerks J ahwes an Israel zugrundeliegen. Die Propheten schmolzen das Erbe des heiligen Krieges um, indem sie ihn dazu benutzten, Israel zum Vertrauen in Gott zurückzurufen. Uns geht es hier um einbegrenztes Anliegen. Wir fragen nicht nach der Theologie der Propheten,sondern nach der Frömmig­keit der Juden, nach ihrem Realitätsverständnis und dem Verständnis vom Ein­greifen Gottes unter den Zuhörern J esu. Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments (München; Christian Kaiser Verlag, 1966) Band I, S.360f., meint, die Geschichte der Chronik lasse theologische Geschlossenheit und Klarheit vermissen. Nun mag von Rad dieses Thema "Gott wird für sein Volk sorgen" ungenügend erscheinen, angesichts seiner Kriterien für Klarheit und Zusammen­hang; trotzdem ist es ein Hauptthema an der Texto berfläche und eines, das von Rad nicht explizit anspricht. Vgl. Millard Lind, "The Concept of Political Power in AncientIsrael, "ASTI, 7,1970, 4ff.

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GOTT KÄMPFT FÜR UNS 79

Was auch immer der "tatsächliche historische Umriß" der Er­eignisse war, die der Geschichte zu Grunde liegen, wir können sicher gehen, daß es in der Atmosphäre erhöhter apokalyptischer Sensibli­tät, in die Jesus hineinkam, zumindest möglich, wenn nicht normal war, daß diejenigen, die auf "die Tröstung Israels warteten", in den wunderbaren Rettungen des Alten Testaments ein Paradigma sahen, wie Gott sein Volk auch heute retten würde. Jesus muß daher seinen Zuhörern nicht deswegen als Träumer erschienen sein, weil er die Sprache der Befreiung und Revolution gebrauchte, die Wiederher­stellung einer "Königreichs"-gemeinschaft und eine neue Art zu leben ankündigte, ohne besondere, gewaltsame Methoden zur Er­reichung seiner guten Ziele anzukündigen oder zu autorisieren; er könnte durchaus als Erneuerer des Glaubens von Josaphat und His­kia verstanden worden sein; eines Glaubens, der ein gläubiges Volk trotz dessen Schwachheit rettet, unter der Bedingung, daß "sie ruhig sind und darauf warten, die Rettung Jahwes zu sehen."

Berücksichtigt man die Durchdringung frommer jüdischer Hoff­nungmit diesem nationalen Legendengut, so hat dies ernstzunehmen­de Auswirkungen auf die Interpretation solcher "Königreichsein­setzungs"-Reden, wie die von Nazareth oder die Feldrede.

a) Dem modemen Leser erscheinen rettende Ereignisse wie ein allgemeines Jubeljahr unwahrscheinlich, ja unmöglich. Da er an­nimmt, Jesus habe wohl kaum gemeint, was er sagte, gerät der Leser schließlich auf die Abwege paradoxer oder symbolischer Umdeu­tungen. Für Jesu Zuhörer jedoch, die gläubige Juden waren, durfte die Frage nach der Möglichkeit nicht dem Hören der Verheißung in die Quere kommen. Sie legten daher ihre Meinung, was geschehen könnte, nicht schon dadurch fest, daß sie im voraus wußten, was Jesus nicht meinen konnte.

b) Wir halten zwar einerseits "apokalyptische" Verheißungen für unmöglich, andererseits aber sind wir geneigt anzunehmen, sie führten hinaus aus der menschlichen Erfahrungswelt, hinaus aus dem Bereich der Zeit, indem sie das Ende der Geschichte anzeigen. Aber die Ret­tungen in Israels Vergangenheit werden als Teil der eigenen Geschichte berichtet, auf dem eigenen palästinensischen Territorium. Der ganze Wust hermeneutischer Vorurteile, verknüpf( mit den Konzept der "Interimsethik", als ob Jesus das Ende von Raum und Zeit prophe­zeite, führt uns an genau dieser Stelle ab von der richtigen Spur. 11

11 In einem früheren Abschnitt haben wir schon versucht nachzuweisen, daß die Hast, mit der neuere Forscher den Realismus der Zielvorstellungen Jesu ab­tun, das Ergebnis eines negativen philosophischen Vorurteils außerhalb des Textes ist (p.20 oben); wir beobachten nun, daß Jesu Publikum ihm dem­gegenüber mit einem positiven Vorurteil zugehört haben könnte, das ein wesentlicher Teil ihres Glaubens und ihrer Kultur war.

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80 GOTT KÄMPFT FÜR UNS

Jesu Verkündigung des Reiches Gottes war für die meisten seiner Zuhörer unanehmbar; und zwar nicht deswegen, weil sie dachten, sie könne nicht Wirklichkeit werden, sondern weil sie ge­rade das befurchteten, und weil sie im Zusammenhang damit' Angst hatten vor dem Gericht.

Wenn wir, mit kultureller Einftihlung als elementarem Requisit für ehrliches Verständnis jedes alten Dokuments, den Sinn der Jesus­Botschaft nicht daran messen, was uns möglich erscheint, sondern daran, was seine Hörer verstanden, dann ist es uns untersagt, seine Botschaft durch unsere moderne Realitätsauffassung, von der Un­wandelbarkeit der Natur und der Nichtfaßbarkeit des Außergewöhn­lichen zu fIltern. Wir dürfen die Annahme "es geschehen keine Wun­der" Jesus und seinen Zuhörern nicht von außen überstülpen.

Unsere moderne Auffassung und Erwartung dessen, was ver­nünftigerweise in unserem Zeitalter und unserer Welt geschehen kann, wird uns natürlich nicht vom Zwang befreien, mit dem determini­stischen Weltbild zu rechnen, das uns umgibt. Unsere Festlegung auf dieses Weltbild bringt uns vielleicht sogar dazu, es rückwärts zu projezieren in der Beurteilung dessen, was zur Zeit Hiskias oder Jesu in der Realität geschehen konnte. Es handelt sich um ein Problem des modernen theologischen Selbstverständnisses, das die gegen­wärtige Untersuchung weder lösen noch leichtfertig von sich weisen will. Unser Anliegen ist viel bescheidener und präziser. Wir unter­suchen, ob das von Jesus gemeinte angemessen bestimmt werden kann im Schatten der Annahme, daß er oder seine Zuhörer, die Evangelisten oder ihre Leser konkretes göttliches Eingreifen nicht als Möglichkeit gesehen hätten; wenn dies aber doch vorstellbar ge­wesen wäre, so hätte es das Ende der Zeit und des sozialhistorischen Prozesses bedeutet. Das Beweismaterial ist im überfluß vorhanden: ein solches Dilemma war nicht nur unwahrscheinlich, es war sogar undenkbar. Die großen Taten Gottes in Israels Geschichte waren weder das Ende der Geschichte, noch waren sie außerhalb des mensch­lichen Erlebnisraumes geschehen. Wir haben allen Grund, anzuneh­men, daß die Einsetzung des Jubeljahres von Jesu Zuhörern mit derselben Konkretheit verstanden wurde,die die Exodusgeschichte oder die Rettung Josaphats für sie hatte.

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5. Ist gewaltfreier Widerstand möglich?

Lange Zeit, so haben wir festgestellt, konnten sich die Leser des Evangeliums nicht vorstellen, daß Jesus mit seinem öffentlichen Auf" treten auch ein Angebot sozialer Veränderung macht. Dieser Mangel an Vorstellungskraft wird nicht nur durch die Faktoren, imt denen wir uns bisher beschäftigt haben 1 , verstärkt, sondern auch durch die Annahme, zur Zeit Jesu habe es offensichtlich nur die zelotische Möglichkeit des Widerstands gegen die Römer gegeben. Wir haben dem zelotischen Ansatz erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt, sind aber dabei das Risiko eingegangen, dieses Mißverständnis zu verstär­ken. Wir haben über die Fähigkeit des frommen Israeliten, an göttli­che Intervention2 zu glauben, gesprochen, ohne jedoch zu überlegen, wie sich ein gläubiger Jude solches Eingreifen konkret vorstellte.

Um diesen Anschein des Irrealen zu zerstreuen, sollten wir uns daran erinnern, daß wirkungsvoller gewaltfreier Widerstand der dama­ligen jüdischen Erfahrung3 nicht ganz unbekannt war: Unmittelbar bevor er Jesus kurz erwähnt, berichtet der Geschichtsschreiber Jo­sephus folgende Episode: 4

1 Die logischen Axiome,die zu der Behauptung führen, das Evangelium sei unpolitisch, sind oben, pp. I4ff., dargestellt und untersucht worden. 2 Oben, Kap. 4, pp. 70ff. 3 Die folgende Darstellung lehnt sich an einen Abschnitt aus Andre Trocmes Jesus-Christ et la revolution non-violen te , pp. I24ff., an und entwickelt ihn weiter. 4 Hier nach Josephus, Altertümer, XViü, 3 zitiert; ein kürzerer Paralleibe­richt fmdet sich auch in seiner Geschichte des jüdischen Krieges 11. 9. Darüber­hinaus erfahrt man aus der zweiten Quelle, daß das Sit-in 5 Tage und Nächte dauerte.

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82 IST GEWALTFREIER WIDERSTAND MÖGLICH?

Als der jüdische Landpfleger Pilatus sein Heer aus Caesarea nach Jerusalem in die Winterquartiere geführt hatte, ließ er, um seine Mißachtung gegen die jüdischen Gesetze an den Tag zu legen, das Bild des Caesars auf den Feldzeichen in die Stadt tragen, obwohl doch unser Gesetz alle Bilder verbietet. Aus diesem Grunde hatten die früheren Landpfleger stets die Feldzeichen ohne dergleichen Verzierungen5 beim Einzug der Truppen in die Stadt vorantragen lassen. Pilatus war der erste, der ohne Vorwissen des Volkes zur Nachtzeit jene Bildnisse nach Jerusalern bringen und dort aufstellen ließ. Sobald das Volk dies erfuhr, zog es in hellen Haufen nach Caesarea und bestürmte den Pilatus viele Tage lang mit Bitten, er möge die Bilder doch irgendwo anders hinbringen lassen. Das gab aber Pilatus nicht zu, weil darin eine Beleidigung des Caesars liege. Als indes das Volk nicht aufhörte, ihn zu drängen, bewaffnete er am siebenten Tage in aller Stille seine Soldaten und bestieg eine in der Rennbahn befindliche Tribü­ne, hinter welcher die Bewaffneten versteckt lagen. Da nun die Juden ihn abermals bestürmten, gab er den Soldaten ein Zeichen, dieselben zu um­zingeln, und drohte ihnen mit augenblicklicher Niedermetzelung, wenn sie sich nicht ruhig nach Hause begäben. Die Juden aber warfen sich zu Boden, entblößten ihren Hals und erklärten, sie wollten lieber sterben, als etwas geschehen zu lassen, was der weisen Vorschrift ihrer Gesetze zuwi­der laufe. Einer solchen Standhaftigkeit bei Beobachtung des Gesetzes konnte Pilatus seine Bewunderung nicht versagen und befahl daher, die Bil­der sogleich aus J erusalem nach Caesarea zurückzubringen.

Hier handelte es sich ganz offensichtlich nicht um eine geplante Kampagne, womit ein gesetztes Ziel erreicht werden sollte, sondern eher um eine spontane kollektive Antwort, die vielleicht deshalb so effektiv war, weil sie Pilatus völlig überraschte. Sie erbrachte jedoch kein wiederholbares Modell; denn die nächste Protesthandlung, die diesmal gegen die von Pilatus zum Bau eines Aquaeduktes bestimmte Einziehung des Tempelschatzes gerichtet war, wurde blutig nieder· geschlagen. Dieser zweite Fall war durchaus eine Parallelsituation: wieder versammelten sich die Juden unbewaffnet zum Protest; aber diesmal gab ihnen Pilatus nicht den Befehl, die Versammlung aufzu­lösen; dadurch vermied er es, ihnen ein Zeichen zu geben, sich seiner Gnade zu unterwerfen.6

5 Carl H. Kraeling, "The Episode of the Roman Standards at Jerusalem", HTR, 35 (1942), 263ff., versucht der tieferen Bedeutung dieser Ereignisse auf die Spur zu kommen. Welche Standarten erregten solchen Anstoß? Welche Ein­heit trug sie? Ereignete sich das Ganze imJithre 26, wie Kraeling und andere vermuten, dann vergingen 1290 Tage von da-bis zur Zeit von J esu öffentlichem Auftreten; diese Zeitspanne sollte nach Daniel 12: 11 "die Aufstellung des Greuels der Verwüstung vom Anfang des Endes" trennen. Kraeling nimmt an, apokalyptische Berechnungen dieser Art hätten zur besonders gespannten Er­wartung der Situation beigetragen, in die J ohannes und J esus hineinkamen. 6 Diese zweite Episode wird in beiden Josephus Quellen im unmittelbar fol-

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IST GEWALTFREIER WIDERSTAND MÖGLICH? 83

Etwas später rief eine weitere Bedrohung eine konzertierte Wi­derstandsaktion hervor, die diesmal alle Anzeichen einer ghandischen Kampagne trug.? Gaius Caligula, der erste Kaiser, der die formale Anbetung seiner Person verlangte, war erzürnt über die Gehorsamsver­weigerung der Juden und befahl Petronius, dem römischen Legaten von Syrien, eine Statue Caligulas im Jerusalemer Tempel aufzustellen. Das hätte eine Wiederholung des "Gieuels der Verwüstung" bedeutet. Der Tempel selbst wäre durch Götzendienst entweiht worden. Antio­chus Epiphanes hatte seinerzeit durch eine solche Tat die makkabäi­schen Kriege ausgelöst. Diesmal war die Antwort ein Generalstreik. ZUr Saatzeit blieben die Felder unbestellt; die Juden versammelten sich zu Zehntausenden und flehten Petronius in Ptolomais und später in Tiberias über einen Monat lang inständig an.8 Doch die Einheit des Volkes konnte nicht gebrochen werden; als die Führer privat zu Petronius vorgeladen wurden, nahmen sie denselben Standpunkt ein wie die Menge. Sogar das mit den Römern sympathisierende König­haus, König Agrippa in Rom und sein Bruder Aristobolus, unterstützte die Petition. Zwar entsagten die Juden jedem Verlangen nach Krieg gegen den Kaiser, doch konnten sie nicht von ihrem Gelöbnis abge­bracht werden, eher ihr Leben und das ihrer Frauen und Kinder zu op­fern, als das angedrohte Sakrileg zuzulassen. Petronius wurde schließ­lich dazu bewegt, seine eigene Position vor Caligula zu riskieren. Er machte sich selbst zum Anwalt der jüdischen Bedenken.9

genden Abschnitt berichtet. Diese Gegenüberstellung könnte mehr bedeuten als bloße zeitliche Folge; vielleicht handelte es sich auf Seiten der Juden um die bewußte Wiederholung derselben Strategie. Einige vermuten hinter dem Massaker im zweiten Fall das Ereignis in Lukas 13:lf. (oben, p.4!), wo ge­sagt wird, daß "Pilatus mit dem Blut ihrer Opfer" das bestimmter Galiläer ver­mischte. Doch weder der· Bezug auf Galiläa noch der auf Opfer scheint zu J 0-

sephus zu passen. 7 Altertümer, XViii; Krieg 11. 10. 8 Die Altertümer sprechen von vierzig, der Jüdische Krieg von fünfzig Tagen. Der wirtschaftliche Verlust durch Ernteausfall scheint Teil der bewußten Dro­hung gewesen zu sein; eine Drohung, unter der die Juden natürlich genauso zu leiden hatten wie die Römer. 9 J osephus gibt mit seinen Berichten deutlich zu verstehen, daß diese Ereig­nisse göttliches Eingreifen beinhalten. Kurz nach Petronius' Entscheidung kam ein später, ausgiebiger Regen, der eine späte Aussaat ohne Ernteverlust ermög­lichte. Caligula, der zunächst durch Agrippas Plädoyer bewegt worden war, die Drohung zurückzunehmen, ärgerte sich nichtsdestoweniger über Petronius' Par­teinahme für die Juden und befahl ihm den Selbstmord. Doch dann starb Cali­gula, und die Nachricht vom Tod des Kaisers erreichte Petronius noch vor den· Boten mit dem Suizidbefehl. (Die Vorsehung hatte sie durch schlechtes Wetter· auf dem Mittelmeer aufgehalten. Petronius wurde also für seine Sympathie ge­genüber den Juden mit dem Leben belohnt.)

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Kollektiver gewaltfreier Widerstand war also in der Auseinander­setzung zwischen den Juden Palästinas und den römischen Truppen innerhalb eines Jahrzehnts zweimal erfolgreich. Hervorgerufen durch eine ins Herz der religiösen Identität zielende Bedrohung finde't die Reaktion des Volkes darauf eigene F onnen der Führerschaft und Dis­ziplin, obwohl von vorheriger Planung und Einübung gar nicht die Rede sein konnte, ebensowenig von einem grundsätzlichen, ethisch begründeten Gewaltverzicht. Das reicht nicht aus, um die überzogene Hypothese zu stützen, daß auchJesus die Massen in solchenKampagnen angeführt hätte, hätten sie nur seine Botschaft angenommen. Es ge­nügt aber nichtsdestoweniger, die verallgemeinernde Annahme zu­rückzuweisen, als Alternative zu Jesu Absage an den zelotischen An­satz habe es nur das Ende der Welt oder den Rückzug in die Wüste gegeben; die Ablehnung des verantwortlich geführten Schwertes be­deute also Rückzug aus der Geschichte.

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6. Zwischenbilanz

Wenn der Leser uns einmal so weit gefolgt ist, so gesteht er wahrscheinlich zu, daß bei sorgfältiger Detail· und Kontextanalyse der Evangelien das Bild eines ethisch·sozialen Jesus zum Vorschein kommt,dessen Worte und Wirken, Leben und Tod eine außergewöhn­liche Form des Engagements in der Welt entwerfen und verwirk­lichen. Angenommen der Leser gesteht dies zu, und er stimmt auch der Hypothese zu, Jesus habe versucht, andere zur Teilnahme an der Realität dieses neuen Königreiches zu gewinnen; erreicht man mit diesem Argument dann die Gegenwart? Hat es überhaupt in den anderen Teilen des Neuen Testaments Gestalt angenommen? Hat es wenigstens die Übersetzung in die Kultur und Sprache der frühen nicht jüdischen Kirchen überlebt?

Eine ausftihrliche und systematische Untersuchung dieser Fragen müßte bald in Wiederholungen verfallen. Wir können unsere These je­doch auch in einem auswählenden Verfahren an einzelnen Beispielen untermauern. Wir müssen ftir unseren Zweck nicht luftdicht demon­strieren, daß jeder Teilbereich der Urgemeinde oder des Neuen Testa­ments die soziale Haltung Jesu voll und ganz vertritt; es genügt, zu zeigen, daß diese Haltung an verschiedenen Stellen, in unterschied­licher Sprache und Zusammenhang, auf mehr als einer Stilebene und in mehr als einer literarischen Gattung sichtbar wird. Die fragmenta­rischen Essays der folgenden Kapitel gehen auf den verschiedenarti­gen semantischen und kulturellen Hintergrund ein, in den Jesu le­bensweise hinein verpflanzt wurde. Unsere besondere Aufmerksam­keit gilt den Punkten, die angeblich am weitesten von Jesu Einfluß entfernt sind. Wie bisher werden auch hier keine eigenen Forschungs-

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ergebnisse ausgebreitet; wir fassen nur wissenschaftliche Ergebnisse zusammen, deren Bedeutung bzw. Einheitlichkeit dem sozialethi· sehen Denken bisher entgangen sind. Um die Untersuchung zu er­leichtern, widmen wir zunächst dieses Kapitel einer schematischen Zusammenfassung.

Von Lukas zu Paulus

Die früheste überlieferung entspricht wohl in etwa dem, was uns Lukas von Jesus erzählt. Wie steht es nun mit der nachpfingstlichen Ethik? Das Motiv vom Kreuz des Jüngers wird direkt von Lukas 14 in die Briefe übernommen. Die Briefe sehen in der Teilnahme am Lei­den Christi einen Schlüsselgedanken der Frömmigkeit und Ethik. Die jüngste Forschung hat sich damit ausführlich beschäftigt. 1. .

.Paulus betrachtet sein eigenes Wirken als Teilnahme an Tod und Auferstehung Jesu (am deutlichsten in 2.Kor.4:lOf, "allezeit tragen wir das Sterben Jesu am Leibe herum ... "; vgl. KoI. 1:24: .. .ich fülle an seiner Statt an meinem Fleische aus, was den Trübsalen Christi noch fehlte, zugunsten seines Leibes, der die Kirche ist.").

Oder er zieht eine Parallele zum Leiden aller Gläubigen (Phil. 1 :29: "Denn euch wurde verliehen nicht nur an Christus zu glauben, ... sondern auch für ihn zu leiden."). Christi Hingabe ist ein Paradig­ma für das Verhältnis des Mannes zu seiner Frau. (Eph. 5:25), oder für die Einstellung, die die Einheit der Kirche ermöglicht (Phil. 2:1-5) 2. Der erste Petrusbriefspricht vom Kreuz als einem Beispiel, das konkrete Nachahmung im Gehorsam des Sklaven gegenüber ei­nem grausamen Herrn findet; Hebräer 12 beschreibt Jesus als AnHin-

1 Das Thema der imitatio wird in Kapitel 7 ausführlich dargestellt. Wir skiz­zieren hier nur soviel, um eine Zusammenfassung der aus den Evangelien zu ziehenden Schlüsse geben zu können. Man könnte fragen, warum wir der wei­teren Erzählung des Lukas nicht in die Apostelgeschichte folgen. a) Die Briefe sind früher als Apostelgeschichte und Evangelien. Wir erhärten unsere These somit aus einer von Lukas unabhängigen Quelle. b) Wir interessieren uns hier nicht für den redaktionellen oder theologischen Eigenbeitrag des Lukas (dessen Fortsetzung wir denn in der Apostelgeschichte verfolgen müßten), sondern fur die gemeinsame, ursprüngliche Jesusgeschichte, die durch seine Erzählung trotz seines speziellen redaktionellen Anliegens hin­durchschimmert. 2 Indem wir uns nun den Briefen zuwenden, übergehen wir natürlich einige Fragen, die unsere Lukaslektüre an die Apostelgeschichte zu stellen hätte: Unterscheidet sich die Eschatologie der Apostelgeschichte von der der Evange­lien? Was ist nach Pfmgsten aus dem Nahe-Herbeigekommen-Sein des Reiches geworden?

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ger und Vollender des Glaubens, für den die Gläubigen sogar ihr Blut vergießen. Das dritte Kapitel des 1. Johannesbriefes stellt für die Be­deutung des Gehorsams typische Gegensatzpaare auf: Kain/Christus, Haß/liebe, töten/sein Leben hingeben.3

Bevor wir irgendwelche Schlüsse ziehen, wollen wir festhalten, daß die imatatio nirgends als allgemeine pastorale odeJ moralische Leitlinie gilt. Das Neue Testament kennt keine franziskanische Ver­herrlichung des Barfußwanderns. Sogar dort, wo Paulus für das Zöli­bat eintritt, kommt es ihm nicht in den Sinn, sich auf Jesu Vorbild zu berufen. Auch seine eigene Vorliebe für die Selbstversorgung begrün­det er nicht damit, daß Jesus jahrelang ein Dorfhandwerker war. Die Betonung seiner Lehrautorität gründet er nicht auf das rabbinische Amt Jesu. Jesus als Zimmermann, sein Umgang mit Fischern, seine Bilder und Gleichllisse aus dem bäuerlichen Leben haben in der Geschichte der Christenheit der romantischen Verherrlichung des Handwerks und des ländlichen Lebens Impulse gegeben; nicht so im Neuen Testa­ment. Das Neue Testament bezeugt durchgängig das Leben und die Mission einer Kirche, die bewußt in die Städte geht, im vollen Be­wußtsein der Konflikte, die sie dort erwartet. Das Konzept der Nach­ahmung wird im Neuen Testament gerade in den Punkten nicht ange­wandt, wo franzisk3.nische und romantische Frömmigkeit es am hin­gebungsvollsten zu praktizieren suchten. Dadurch wird umso deut­licher, wie grundlegend der Gedanke der Teilhabe am Leiden Christi ist: die neutestamentliche Kirche sieht ihn als Leitfaden und Er­klärung für ihre Stellung zu den Mächten dieser Welt. Nur in einem Punkt, nur bei einem Thema ist Jesus unser Vorbild: in seinem Kreuz.

So viel hätte man auch sagen können, ohne den Erkenntnissen, die wir dann aus Lukas Evangelium gewonnen haben, besondere Auf-

3 Auch die Wissenschaft hat das zentrale Thema der "Teilhabe am Leiden Christi" wiederentdeckt; ein Beispiel dafür ist Edvin Larssons, Christus als Vor­bild (Lund: Gleerup, 1964). "Was fehlt noch an den Leiden Christi?" darauf geht Henry Gustafson in BR, 8 (1963), 28ff. ein. Wir haben festgestellt, daß Paulus in sich selbst und in der Kirche die Leiden Christi fortgeführt und viel­leicht in seinem Fleische einige "Worte des Herrn" erfüllt sah. Das würde nur die anderen Dimensionen des gemeinsamen Leibes, der eschatologischen Lei­denspriifung, des aktiven Glaubenszeugnisses (das sind die Leitmotive Gustaf­sons) konkretisieren. C.H.Dodd vermutet, eines der Auswahlkriterien beim Ab­fassen der Evangelien könnte das Anliegen gewesen sein, Beispiele rur morali­sche Entscheidungen der Christen zu sammeln. "Vielleicht hat die imitatio Christi mehr Einfluß auf die Auswahl von Begebenheiten aus Jesu Leben rur das Evangelium als gemeinhin' angenommen wird ... (MofIat Commentary zu l.Joh. p.8?).

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merksamkeit zu widmen. Doch Nachahmung und Teilhabe, das gan­ze fromme und pastorale Nachsinnen über das Kreuz des Gläubigen erhalten eine neue Dimension, wenn wir den politischen Charakter von Jesu Kreuz als Maßstab nehmen.

Das Kreuz ist nicht länger alles und jedes Leiden, jede Krankheit oder Spannung, deren Tragen verlangt wird. Das Kreuz des Gläubigen muß wie das seines Herrn der Preis fur seine gesellschaftliche Unan­gepaßtheit sein. Es besteht nicht in unerklärlichem, unvorherseh­barem Erleiden, so wie man eine Krankheit oder Naturkatastrophe erleidet; es steht am Ende eines Weges, der, nach Abwägung der Kos­ten, frei gewählt wird. 4 Es ist nicht wie das Kreuz oder die Anfech­tung Luthers, Thomas Müntzers, Zinzendorfs oder Kierkegaards ein inneres Ringen der empfmdsamen Seele mit sich selbst und der Sün­de; es ist die gesellschaftliche Wirklichkeit der kommenden Ordnung, wie sie einer widerstrebenden Welt dargestellt wird.

"Ein Knecht ist nicht größer als sein He"' Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen."

Joh.15:20 Dieses Wort ist kein seelsorgerlicher Rat ftir die Widersprüchlich- .

keiten des Lebens; es ist eine verbindliche Aussage über die Beziehung unseres sozialen Gehorsams zu der Messianität Jesu. Sein Volk wird die Feindschaft der alten Ordnung auf ähnliche Weise wie er erfah­ren, wenn es, wie er es tat, das Anbrechen der göttlichen Ordnung und den freien Zugang zu ihr verkündet, wenn es so wie er den legi­timen Gebrauch der Gewalt und die Stützung der bestehenden Ge­walten ablehnt, wenn es der rituellen Reinheit der Nichteinmischung entsagt.

Als Mensch war Jesus wohl den Versuchungen von Stolz, Neid,Är­ger, Faulheit, Habsucht, Völlerei und Begierde auf die eine oder andere Weise ausgesetzt; doch niemals kommt es dem Evangelisten in den Sinn, uns darüber zu informieren. Die eine Versuchung aber, der der Mensch Jesus ausgesetzt war - und zwar immer wieder ausgesetzt war - stellte ein konstitutives Element seines öffentlichen Wirkens

4 JohnJ. Vincent, "Discipleshipand SynopticStudies", TZ, 16 (1960),456ff, bringt zwingende Argumente ftir den Wert des synoptischen Konzepts der Jün­gerschaft als Grundlegung zu einer· theologisch gültigen Neukonzeption der Ethik; was Vincent auf formalem Gebiet aufzeigt, versuchen wir hier in einer konkreten Anwendung durchzuarbeiten. Jedoch gibt Vincent der Königschaft und dem Kreuz nicht den zentralen Stellenwert, den sie in den synoptischen Aussagen über Jüngerschaft allem Anschein nach haben.

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dar: die Versuchung, soziale Verantwortung im Interesse einer ge­rechten Revolution mit den zur Verfügung stehenden gewaltsamen Mitteln auszuüben. Gesellschaftlicher Rückzug war für ihn keine Ver­suchung; diese Möglichkeit (die sehr viele Christen wählten) war für ihn von Anfang an ausgeschlossen. Jedes Bündriis mit dem saddu­zäischen Establishment und damit die Wahmehmung konservativer sozialer Verantwortung (die meisten anderen Christen finden sich hier wieder) war ebenso von Anfang an ausgeschlossen. Nur wenn wir uns in die drei Dinge einfühlen können, die er ablehnt, verstehen wir Jesus. Quietismus und Establishmentverantwortung werden of­fensichtlich axiomatisch und sehr heftig abgelehnt; ebenso die schwierige, immer wieder sich bietende und attraktive Alternative des Kreuzzugs.

Unsere Problemstellung stammt nicht aus dem Lukasevangelium sondern aus der heutigen Situation. Wenn Jesus für die politische Ethik nicht verbindlich sein soll, muß man sich seine Ethik offen, bewußt und ordentlich anderswo hernehmen: aus der "verantwort­lichen" Berechnung der Erfolgschancen, eingedenk der Pflicht, alles so gut als möglich ablaufen zu lassen. Statt Jesus wird damit die Na­tur oder die Geschichte zum Ort der Offenbarung. Als Rechtferti­gung dient die Behauptung, Jesus habe zu diesem Thema nichts zu sagen. Wie wir wissen, hatte er durchaus etwas dazu zu sagen. Ja er sagt wenig, was nichts mit diesem Thema zu tun hatte. Die Evan­gelienberichte weigern sich, den modernen Sozialethiker loszulassen. Man kann sich zwar durchaus weigern, Jesus als verbindlich anzuer­kennen; aber die neutestamentlichen Texte bieten dafür keine Rückendeckung.

Zurück zur Gegenwart

Das Ergebnis unseres skizzenhaften Überblicks kann nur einen Gesamteindruck vermitteln, allerdings einen in sich stimmigen. Da­rin bleibt kein Platz für die herrschende Tradition, die Jesu Ethik entweder deswegen als sozial irrelevant abschreibt, weil seine Inten­tionen Iluf einer anderen Ebene lagen, oder weil die Angelegenheiten, mit denen er sich beschäftigt, sich von den unseren radikal unter­scheiden. Nach den Texten, wie sie von Zeugen zusammengetragen wurden, die nie beschuldigt worden sind, sie hätten ihre Berichte in diese Richtung verfälscht, 5 verkündigt Jesus eine neue Haltung, die

5 Falls es irgendeinen kritischen Konsens über die lukanischen Komplikatons­und Editionskriterien gibt, dann besteht er darin, daß Lukas einen Eindruck

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bußfertige Menschen mitten in der Welt einnehmen sollen: seine Wortwahl und das Bild, das er von den Dingen, die da kommen müs­sen, zeichnete, sind wesentlich mehr "politisch" als "existenziell" oder kultisch. Daß er den wohlüberlegten Versuch des Petrus, ihn zu verteidigen, mißbilligt, darf nicht durch die Erklärung, er habe sich selbst opfern müssen, um die Erfordernisse einer metaphysisch motivierten Versöhnungslehre zu befriedigen, aus dem ethischen Be­reich herausgemogelt werden. Gott beansprucht für seinen Sohn in dieser Welt kein Notwehrrecht. Das wiederholte Ringen Jesu mit dem Versucher, von der Wüste am Anfang bis zum Garten am Ende, ist kein plump konstruiertes Moralstück, das uns zeigen soll, daß das Königtum für Jesus keine Versuchung gewesen sein kann; Gottes Sohn stellte sich in dieser Welt dem Anspruch, soziale Verantwortung sei eine Pflicht, die sich am besten mit den dafür schon immer zur Verfügung stehenden Mitteln erfüllen lassen. Er stellte sich diesem Anspruch und wies ihn zurück.

Ausgangspunkt unserer Studie waren die verschiedenen Argu­mente, mit denen die Exemplarität von Jesu Wirken und die Rele­vanz seiner Lehre oft beiseite geschoben werden. Man kann sagen, daß sie nach ebionitischer Auffassung seine Bedeutung auf den Sta­tus eines radikalen Rabbi begrenzen. Im Hauptteil unserer Studie haben wir herausgearbeitet, daß Jesus als radikaler Rabbi eine sehr habe vermitteln wollen, der dem von uns festgestellten ganz entgegengesetzt ist. Ellis E. Jensen "The First.Century Controversy over Jesus as a Revolutionary Figure", JBL, 60 (1941), 261ff. nimmt die kritische Konjektur wieder auf, alle Evangelisten hätten ihr Material so hingebogen, daß der gesellschaftsbedrohen­de Eindruck von Jesu Wirken abgeschwächt wurde. Ebenso S.G.F. Brandon, Jesus and the Zealots, und Neill Q. Hamilton, Jesus for a No-God World (Phila­delphia: Westminster, 1969) pp.43-120. In den letzten Jahren werden zunehmend auch journalistische Arbeiten über den "radikalen J esus" veröffentlicht. Sie versuchen, die Stimmung einer Zeit einzufangen, in der "Revolution" ein Schlüsselwort ist Vieles von dem hier Gesagten läßt sich fruchtbar mit Texten wie Stephen Rose "Agitation Jesus", Renewal (akt. 1967); oder Sebastian Moore,No Exit (Paramus, N.J.:Newman 1968) vergleichen. Doch die Unterschiede sind bedeutsam. Weil sie nicht auf die Herausforderung traditoneller Interpretationen eingehen, stehen solche Ausführungen in der Gefahr, sich als Sensationshascherei zu diskreditieren. Oft bleibt ihnen auch der eigentümliche Stellenwert, den die Versuchung und Ab­lehnung des Schwertes auf Jesu soziale Verkündigung und Wirkung strukturell und inhaltlich hat, verborgen (so in Willis E. Elliot, "No Alternative to Vio­lence", in Renewal (Oct.1968). Sie berufen sich auf Jesus, um ihre zeitgenössi­schen revolutionären Visionen zu rechtfertigen, statt den einzigartigen Charak­ter seiner Vision zu begreifen. Dabei ist das Risiko groß, gerade den Kern sei­ner Originalität zu verpassen, nämlich seine (wohltuende, aber dennoch klare) Ablehnung der zelotischen Alternative.

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viel politischere Figur war, als die ebionitische Sicht zugestehen will; und die frühe apostolische Kirche, so haben wir, wenn auch in aller Kürze festgestellt, machte diese politische Menschlichkeit für ihr Le­ben verbindlich. Wir könnten diese überlegungen weiter stützen, wür­den wir der weiteren Entwicklung der christlichen Dogmatik nach­gehen. Als die späteren, "theologischeren" neutestamentlichenSchrif­ten die Präexistenz und die kosmische Erstgeburt des göttlichen Soh­nes oder des Wortes fonnulierten (Joh. 1:1-4; Kql. 1:15ff; Hebr. 1 :2ff), war es nicht ihre Absicht, neben Jesus einen anderen Weg zur Erkenntnis des ewigen Wortes aufzuzeigen, etwa durch die Vernunft, die Geschichte oder die Natur;vielmehr wollten sie die Auschließlich­keit des Offenbarungsanspruchs, den sie für Jesus stellten, bekräfti­gen. Dasselbe gilt von der späteren Entwicklung der klassischen Vor­stellungen von Dreieinigkeit und Inkarnation. "Inkarnation" hieß ur­sprünglich nicht (wie heute in einigen Geschichtstheologien oder in einigen Spielarten anglikanischer Theologie), daß Gott die ganze menschliche Natur, so wie sie ist, mit seinem Gütesiegel versieht und damit die gefallene Natur als Offenbarung anerkennt. Das Gegenteil ist der Fall; Gott hat die menschlichen Defmitionen dessen, was menschlich ist, durchbrochen und in Jesus eine neue kreative Defini­tion gegeben. "Dreieinigkeit" meinte ursprünglich nicht drei Arten der Offenbarung: den Vater, der durch die Schöpfung. den Geist, der durch die Erfahrung spricht; und den Sohn, dessen Worte und Bei­spiel durch die beiden anderen relativiert werden. Es ging vielmehr darum, eine Sprache zu fmden und Definitionen zu schaffen, damit Christen, die nur an einen Gott glauben, bekräftigen können, daß er sich am angemessensten und verbindlichsten in Jesus erkennen läßt.

Wir haben zu Anfang unserer Studie nicht auf die gleiche Weise die andere Reihe von Alternativen deutlich gemacht, d.h. die doke­tische Möglichkeit, dem politischen Jesus auszuweichen. Diese An­sätze gestehen Jesus zwar einzigartige Autorität zu, aber sie trennen ihn von unserem Menschsein.

(a) Jede orthodoxe Versöhnungslehre betont, daß Jesus für die. Sünden der Menschen sterben mußte. So hatte es das Alte Testament prophezeit, und daher konnten Jesus und Paulus davon sprechen, daß sein Tod "nach der Schrift" geschah. Auch die Verlorenheit des Menschen und die Heiligkeit Gottes machten seinen Tod erforderlich. Jesus mußte sterben, als Lösegeld zum Loskauf des Menschen aus der Sklaverei, als Sühneopfer zur Reinigung vom Makel der Sünde, zur stellvertretenden Strafe für das gebrochene Ges~tz. Welche Bil­der auch gebraucht werden, Jesus wußte, daß er sterben mußte, und

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zwar aus Gründeri, die nichts mit seinem gesellschaftlichen Mensch­sein zu tun hatten. Deswegen ist dieses Menschseinin der Gesellschaft, und wie diese Notwendigkeit darin zum Tragen 'kam unwichtig. Er verweigerte das Königtum oder die Selbstverteidigung nicht deswe­gen, weil damit etwas nicht stimmte, sondern weil er das vorherbe­stimmte Kreuz auf diesem Weg nicht erreicht hätte.

(b) Innerhalb einer Generation, so wird behauptet, habe sich das Interesse der frühen Christen vom menschlichen Jesus der Evangelien zum kosmischen Jesus des Briefs an die Kolosser verlagert. Im Na­men dieses kosmischen Christus verkündete die Kirche die gene­relle Annahme der Natur und der Strukturen dieser Welt durch Gott. Die notwendige Folge war eine Ethik der Schöpfung und Welt­bestätigung. Der ganze Kosmos muß als letzte Offenbarung der menschlichen Dimensionen angesehen werden: der Jesus der Evan­gelien ist nur eine Brücke von der kulturellen Isolation des Juden­tums zur weltumfassenden Annahme der Gegebenheit der Geschich­te und des Menschen in der deuteropaulinischen Verkündigung.

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zog man aus diesem Kontrast den Schluß, den Jesus der Evangelien dem pauli­nischen Jesus vorzuziehen. Dann drehte sich der Wind, und die popu­lärsten Werke zur Sendung der Kirche - vor allem Harvey Cox' Inter­pretation von "Kirche und Gesellschaft" (1967)6 und Joseph Sitt­lers lyrische Predigt in Neu Dehli (1961)1 - machten majestätische, orthodox klingende Aussagen über die kosmische Bedeutung Christi. Doch diese Sprache bewirkte das Gegenteil dessen, was bei Paulus steht: man entfernte sich immer mehr vom Anspruch des Jesus aus Palästina. Das verborgene Wirken eines kosmischen Christus im Ge­webe der gegenwärtigen Geschichte wird er uns besser leiten als ein vergangener Jesus.

(c) Ein anderer, häufig begangener Weg, der fast zur selben Fest­stellung führt, ist die Berufung auf die Trinitätslehre. Besonders gründlich und strukturbetont ist dabei H. Richard Niebuhr vorge­gangen. 8 Eine Ethik des Sohnes, die sich an der Lehre oder dem Bei­spiel Jesu von Nazareth orientiert, muß sich aus zwei anderen Quel­len vervollständigen oder sogar korrigieren lassen. Zuvörderst benöti-

6 Harvey Cox, "The Biblical Basis of the Geneva Conference", CC (Apr.5, 1967), p.435. 7 JosephSittler, "Called to Unity",EcumenicalReview, 14/2 Jan.1962),177ff. 8 Er skizziert seine Analyse erstmals in Christ and Culture (New York: Harper, 1951), pp. 80ff, 114, 131 und erweitert sie in "The Doctrine of the Unity of the Church", TT, 3/3 (Okt. 1946), 371ff.

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gen wir eine Ethik des Vaters, in dessen Namen die Strukuren der ge­schaffenen Welt bestätigt werden müssen. Die traditionelle Ethik der Schöpfungsordnung ist daher im Willen des Vaters begründet. Man wird sich auch auf ihn berufen als die Autorität, die hinter der Morallehre des Alten Testaments steht.

Die Ergänzung oder Korrektur aus der Perspektive des Heiligen Geistes ist für Niebuhrs Intentionen vielleicht noch wichtiger. Dabei geht es nicht - zumindest nicht in erster Linie und nicht bei Niebuhr selber - um irgendeine ekstatische oder prophetische Einsicht, sei sie nun mystisch oder pfmgstlerisch, sondern um den ganzen corpus der Beschlüsse und PräzedenzHille, Arrangements und Anpassungen, dIe in der Geschichte der Christenheit zwischen Christus und dei-Kultur getroffen wurden. Diese Entscheidungen sind von der Kirche getrof­fen worden und können als Werk des heiligen Geistes angesehen wer­den. Sie haben nach und nach von der Ethik des Sohnes weggeftihrt. Wie wesentlich neu und verbindlich die Ethik Jesu auch gewesen sein mag, zwischen den Mühlsteinen der Universalität und Validität der Schöpfungsordnung auf der einen Seite und der historischen Konti­nuität und gegenwärtigen Bedeutung der ganzen christlichen Tradi­tion auf der anderen Seite ist sie zerrieben worden. Zwar steht sie symbolisch noch im Mittelpunkt, doch die Perle wirkt angesichts der Größe der Fassung recht verloren.

(d) Wir kommen nicht umhin, eine weitere Haarspalterei zu er­wähnen. Hat man uns nicht während des letzten dreiviertel Jahr­hunderts beigebracht, mit Sorgfalt zwischen Historie und Geschichte zu unterscheiden? Wo bleibt der Unterschied zwischen dem histo­rischen Jesus und dem Jesus der Historie? Dürfen wir die literarischen und philosophischen Fragestellungen einfach übergehen, mit denen uns die Kollegen seit dem Einzug der Erkenntnis, daß die Quellen der Evangelien nicht neutrale Chroniken, sondern Glaubenszeugnisse sind, unterhalten haben?

Im Gegensatz zu anderen Fragen können wir diese nicht einfach durch Quellenstudium lösen, da sie ja gerade das Urteil des modemen Lesers über Charakter und Autorität dieser Quellen reflektiert. Auch eine Lösung aus traditioneller Perspektive ist nicht möglich, da dem autarken Selbstverständnis des modemen Denkens dogmatische Stu­dien irrelevant erscheinen. Zu unserem Glück brauchen wir diese Frage jedoch nicht generell und methodologisch zu beantworten. Der Zufall will (ist es tatsächlich nur Zufall?), daß über die TextsteI­len, die wir betrachtet haben, allgemeine übereinstimmung herrscht: in diesen Texten fallen Historie und Geschichte nahezu zusammen.

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Nirgends sonst ist die Differenz zwischen dem Bericht des gläubigen Zeugen und der Rekonstruktion des kritischen Wisssenschaftlers so gering.9 Es gibt eine breite Debatte darüber, inwiefern die Aufer­stehungsberichte "historisch" zu nennen sind, oder welche Ent­wicklung die Worte und Gleichnisse schon hinter sich haben, so wie wir sie in ihrem synoptischen Rahmen fmden. Weniger intensive Zwei­fel richten sich an das erzählerische Skelett der Evangelien, wonach reicht nicht aus, mit der puritanischen Tradition zu behaupten, daß kündigte und unter der Anklage des Aufruhrs hingerichtet wurde.

Wollten wir auf die vielen Möglichkeiten, seien es nun ebioni­tische oder doketische, eingehen, Jesu Verbindlichkeit zu umge­hen, so wäre eine weitere Studie erforderlich. Solche Fragen ha­ben dogmatischen, nicht exegetischen Charakter und sollten daher auf jener Ebene angegangen werden. Aus der Sicht unserer Lukas­lektüre und unserem kurzen Blick auf die Briefe läßt sich nur sagen, daß die Texte selbst solche Redefmitionen nicht erfordern oder be­nötigen. Wollten wir jene andere, die traditionelle Lehrdebatte, fort­führen, so versuchten wir einfach zu zeigen, daß die hier vorgeschla­gene Sicht Jesu radikaler an Nicäa oder Chalcedon anschließt als an­dere Auffassungen. Wir vertreten hier keine modeme sensationelle Jesusinterpretation. Wir verlangen nur, daß die schon immer gelten­den Aussagen der Kirche über Jesus als Wort des Vaters, als wahrer Gott und Mensch, ernster genDmmen werden, und zwar besonders in ihrenAuswirkungen auf gesellschaftliche Fragestellungen.

Aber dann muß Relevanz neu defmiert werden. Es reicht nicht aus, mit der reformatorischen und pietistischen Tradition zu sagen, Jesus reinige unseren Willen, dämpfe unseren Stolz und schicke uns dann zurück, um den Anforderungen unseres "Amtes" oder "Stan­des" mit mehr Bescheidenheit und Gründlichkeit zu genügen; es reicht nicht aus, mit der puritanischen Tradition zu behaupten, daß wir von Josmb. und Theodosius die Vision des heiligen Reiches her­leiten, das sich in ständiger Reformation immer mehr dem theokra­tischen Ideal nähert; es reicht nicht aus, via "Naturrecht" Orien­tierung in der gefallenen Welt zu fmden; es reicht nicht aus, in der quietistischen und Sekten tradition andere für die Welt da draußen

9 Rudolf Bultmanns grundlegende Aussage über Das Verhältnis der urchrist­lichen Christusbotscha/tzum historischen Jesus (Heidelberg: earl Winter,31962), betrachtet als ganz sicher nur, daß J esus den Tod eines politischen Kriminellen starb (p.12) und als wahrscheinlich, daß er Dämonen austrieb, das Sabbatge­setz brach, sich den sozial Ausgestoßenen zuwandte und einen kleinen Kreis von Jüngern um sich sammelte (p.ll).

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sorgen zu lassen. Aber wie sieht dann die neuformulierte soziale Ver­antwortung aus, die durch das Bekenntnis, daß Jesus Messias und Herr ist, bestimmt wird? Wo sind wir als Ethiktreibende zu Buf~ autge­rufen, d.h. zu einer Neuformulierung der Denkstrukturen, die dem moralischen Urteil unterliegen? Ich meine, diese Umformulierung muß in fünf Richtungen geschehen:

1. Die systematische Tradition der letzten Zeit stellt uns vor die Wahl zwischen dem historischen und dem dogmatischen Jesus.

Wenn Jesus das fleischgewordene .göttliche Wort ist, dann sind wir vor allem an den metaphysischen Transaktionen interessiert, mit deren Hilfe er die Menschheit rettete, indem er ein Teil von ihr wurde. Wie das Glaubenbekenntnis springen wir dann von der Geburt Jesu di­rekt zum Kreuz. Seine Lehre und sein soziales und politisches Engage­ment interssieren uns dann wenig. Sie haben unverbindlichen Cha­rakter.

Versuchen wir andererseits, den "historischen Jesus" in seinem menschlichen Kontext zu verstehen, so wie ihn die historischen Wis­senschaften rekonstruieren, so finden wir einen Menschen wie jeden anderen; einen Reformrabbi, der ganz innerhalb der Grenzen unserer menschlichen Erklärungsmöglichkeiten bleibt; der manchmal nicht recht behält, besonders was die Zukunft angeht; und dessen Autori­tät über uns davon abhängt, inwieweit wir selbst seiner Lehre zustim­men.

Das neunzehnte Jahrhundert wählte den historischen Jesus, bis Albert Schweitzer uns zeigte, daß Jesus "wie er wirklich war", sich selbst tatsächlich als apokalyptische Figur verstand und sein Zeit­alter für das der Neuen Zeit vorausgehende hielt. Darauf schwenkte die systematische Tradition zurück zur Metaphysik. Mit Hilfe der kritischen Methoden zeigte man, wie die Evangelien das existenzielle Selbstbewußtsein der jungen Kirche auf Jesus projezieren - ein Be­wußtsein, das eng an den Namen Jesu gebunden war, aber nicht an seine historische Realität. Wäre er also nicht wirklich der gewesen, der er war, so stellte das nichts von seiner "Bedeutung für uns" in Frage.

Wenn wir Jesus als den Messias bekennen, müssen wir diese Lesart ablehnen.

Der historische Jesus ist der Christus des Glaubens. Im Hören auf den revolutionären Rabbi verstehen wir die existenzielle Frei­heit, die von der Kirche verlangt ist. Sehen wir uns den von Albert Schweitzer wiederentdeckten Jesus in seinem ganzen eschatolo­gischen Realismus näher an, so finden wir eine äußerst präzise und

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praktikable ethische Unterweisung. Praktikabel deswegen, weil in ihm das Königreich tatsächlich in Reichweite kam. In ihm wurde die Herrschaft Jahwes zur menschlichen Geschichte.

2. Die systematische Tradition stellt uns vor die Wahl zwischen dem Propheten und der Institution. .

Der Prophet verurteilt und zerschmettert uns mit seinem Voll­kommenheitsanspruch. Damit überzeugt er uns zu Recht von unserer SÜlldhaftigkeit und weist uns auf das Ideal hin, das unser Ziel bleiben muß, auch wenn es letzten Endes unerreichbar bleibt. Aber zur ge­sellschaftlichen Ordnung, deren Verwaltung uns heute und morgen obliegt, hat sein Anspruch keine unmittelbare Beziehung. Liebe, Selbstaufopferung und Gewaltlosigkeit sind keine Basis, in dieser Welt Verantwortung zu übernehmen. Wer nur von der Gnade Gottes ab­hängig ist, kann nicht geschichtlich handeln. Die Verantwortlichen für das überleben und die Verwaltung von Institutionen werden da­her die Gewalt akzeptieren, um sie - eines Tages - einzuschränken oder abzuschaffen. Sie akzeptieren Ungleichheit und Ausbeutung mit dem Ziel, sie nach und nach abzuschaffen. Das ist eine ehrbare Aufgabe, und man macht sich dabei die Hände schmutzig. Aber sie ist unentbehrlich, wenn Schlimmeres verhütet werden soll. Wir re­spektieren den Propheten und entscheiden uns für die Institution.

Die neue Herrschaft, die Jesus, der Messias, eingesetzt hat, ver­bietet uns diese Entscheidung.

Jesus verkündet das Jubeljahr nicht als Zeitenende, als reines Ereignis ohne Dauer, ohne Verbindung zu heute oder morgen. Gerade das Jubeljahr ist eine Institution, dessen Anwendung in der Geschich­te eine präzise, praktikable und eingegrenzte Wirkung hat. Es ist kein immerwährendes soziales Erdbeben, das jegliche Kontinuität zeit­licher Anstrengung unmöglich macht, sondern eine periodische Re­vision, die Neuanfänge erlaubt.

3. Die systematische Tradition stellt uns vor die Wahl zwischen der Katastrophe des Königreiches und dem inneren Reich. . - Jesus kündigte das unmittelbar bevorstehende sichere Ende der Geschichte an. Morgen oder spätestens bald nach seinem Tod war es zu erwarten. Die Apostel hielten die gespannte Erwartung noch einige Jahrzehnte aufrecht, aber schließlich mußte man zugeben, daß man sich im Datum geirrt hatte oder vielleicht auch im Ziel der unmittel­baren Erwartung.

Oder man nimmt an, Jesus könne sich nicht geirrt haben. Dann folgert man, daß seine Verkündigung des anbrechenden Gottesreiches ein inneres, spirituelles, existentielles Reich meinte, von dem er in

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der mythischen Sprache seiner Zeit redete. Die Realität dieses Rei­ches muß den Augen der Ungläubigen und Historiker immer verbor­gen bleiben.

Auch diese Lesart müssen wir zurückweisen, wenn Jesus der Christus ist.

Das Reich Gottes ist eine soziale Ordnung, die nicht imVer­borgenen blüht. Es ist keine vom menschlichen Willen unabhängige universale Katastrophe. Es ist jener konkrete Jubeljahrsgehorsam, der in Vergebung und Buße heute schon beginnt, der den Zugang zu einer neuen Ordnung eröffnet, die Gnade und Gerechtigkeit verbin­det. Die Menschen brauchen sie nur zu akzeptieren. Dieser Gehorsam hat nicht zur Vorausssetzung, daß morgen die Zeit aufhört; er macht deutlich, welchen Sinn der Fortgang der Geschichte noch hat.

Jesus hatte auch vorhergesagt, daß Menschen dieses Angebot und diese Verheißung ablehnen und das nahe Reich Gottes beiseite schie­ben würden, das ihnen (zu) nahe gekommen war. Auch darin hat er sich nicht geirrt. 10

10 Andre Trocmes Buch (op. eit.) enthält ein Kapitel "Hat sich Jesus im D~­turn geirrt?" das einen völlig neuen, spezifisch biblischen Ansatz andeutet, Wie Gegenwart und Zukunft im moralischen Denken aufeinander bezogen sind. Diese aufiihrliche Fußnote kann nur andeutungsweise einen Argumentations­verlauf wiederg~ben, der der ausführlicheren Darstellung wert wäre. A. Strobel, Untersuchungen zum eschatolotischen Verzögerungsproblem (Leiden: Brill, 1961) liefert eine sorgfältige Studie dieses "Problems" aus der Perspektive der jüdischen Interpretation von Hab.2. Beides, das Ausbleiben und das Eintreffen der Herrschaft Gottes, war im Glauben jeder biblischen Epoche gegenwärtig. Das Konzept eines rein zukünftigen Kommens, so genau datiert, daß ab einer bestimmten Zeit das Ausbleiben des Reiches zu einer kla­ren Enttäuschung führt, ist dem biblischen Verständnis fremd. Ebenso undenk­bar ist ein Konzept, das die Besonderheit der Ethik J esu im Selbstverständnis Jesu von einem rein zukünftigen Ende der menschlichen Geschichte abhängig macht Auch diese Studie bestätigt, daß das Problem der Parusieverzögerung von den Gelehrten selbst in das Neue Testament hineingetragen wurde. Auf keinen Fall verursachte es der Urgemeinde besonderes Kopfzerbrechen, und es lieferte auch keine Motive zur theologischen Revision im folgenden Jahrhun­dert (wie vor allem die Schule Martin Wemers behauptet: The Formation of Christian Dogma (New York: Harper, 1957). Ähnliche Überlegungen stellt Ethelbert Stauffer, Jesus, Gestalt und Geschichte, p.117ff. an, und mit mehr exegetischem Tiefgang Hans Wemer Bartsch, "Zum Problem der Parusieverzö­gerung bei den Synoptikern", EvT, 19 (1959), 116ff. "Das Problem der Paru­sieverzögerung ist nur insoweit ein Problem, als die Urgemeinde die apokalyp­tische Form mißverstanden oder buchstabengetreu interpretiert hat." Graydon F. Snyder, "The Literalization of the Apocalyptic Form in the New Testament Church", BR, 14 (1969), 7. Das Reich Gottes läßt auf sich warten, und in diesem Zustand hat man sich einzurichten. Diese Aussage beinhaltet jedoch unhaltbare Hypothesen zur Ent-

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4. Die systematische Tradition stellt uns vor die Wahl zwischen Politik und Sektierertum.

Die westliche theologische Ethik hält in der Nachfolge· Ernst Troeltschs die Alternativen für logisch, geografisch und zeitlich fi­xiert: Konstantin und seine Erben haben das Antwortmuster festge­legt. Entweder man akzeptiert politische Verantwortung uneinge­schränkt, inc1usive freie Wahl der Mittel, oder man entscheidet sich für eine apolitische Position des Rückzuges individuell klösterlicher stehungsgeschichte des neutestamentlichen Kanons. Lesen wir das Neue Testa­ment von vorne nach hinten, so finden wir am Anfang den menschlich-sozialen Jesus, der Menschen in seine Nachfolge beruft, und zwar in eine reale Gemein­schaft im realen Palästina; darauf folgt der kosmische Christus des Paulus, des­sen auferstandene Glorie das Kreuz tranzendiert und seine irdische Karriere hinter sich läßt. DieS,.e Bewegung erforderte einen Enthistorisierungsprozeß; für die Ausbreitung der Kirche von Palästina in die hellenistische Welt war dieser Prozeß unentbehrlich. Aber damit vergißt man, daß Paulus seine Briefe vor den Evangelisten verfaßte und nicht nach ihnen. Am Anfang steht die reine Aufer­stehungsbotschaft; darauf folgt die Verkündigung: Christus ist der Herr; und erst dann wird diese Verkündigung mit Erinnerungen an Worte und Wirken Je­su von Nazareth ausgefüllt. Die Entwicklung des neutestamentlichen Kanons führt hin zum Ausmalen des Bildes vom menschlichen Jesus und nicht davon weg. Zu diesem Punkt ist die Arbeit von Eric Lane Titus sehr hilfreich: "The Fourth Gospel and the Historica1 Jesus", in F.F.Trotter, ed., Jesus and the Historian (Philadelphia: Westminster, 1968), pp.98ff. Seine Überlegungen ha­ken bei der Frage ein, um die es uns hier geht. Die Autoren oder Herausgeber der Quellen, die den sozial-apokalyptischen Anspruch Jesu am deutlichsten hervorheben, hatten die meiste Zeit, zu wissen, daß das Ende der Geschichte noch nicht gekommen war. Sehr treffend streicht Titus die Fußwaschung in Johannes 13 als Ausdruck der Konkretisierung einer Verherrlichungschristol0-gie in der menschlichen Geschichte heraus. Unter den renommierten amerikanischen Neutestamentlern der älteren Gene­ration ist es vielleicht Amos Wilder, der unserem Anliegen am aufgeschlossen­sten entgegenkommt. In Eschatology and Ethics in the Teaching of Jesus (New York: Harper, 21950) seziert er kompetent das Schweitzersche Argu­ent, die Radikalität Jesu lasse sich nur unter Annahme eines sehr kurzen "inte­rims" vor der Parusie verstehen. Wilder führt jedoch seinen Entwurf einerzusam­menhängenden Alternative nicht zu Ende. Er unterscheidet weiterhin in Jesu Lehre Aussagen von genereller Gültigkeit und solche, die er als "außergewöhn­lich", "drastisch", ''verzweifelt'' und "hastig", d.h. beschränkt auf kairos oder Krise oder die "Notlage seines Wirkens" charakterisiert. Manchmal scheint die­se Unterscheidung schließlich doch eine "Schwachstrom jüngerschaft" für Tret­mühlengläubige in nicht-eschatologischen Zeiten zu legitimieren. Würde dieser Gedankengang durchgehalten, so hätten wir einmal mehr, was Schweitzer mit seinem Konzept der "Interimsethik" meinte: für die "normale" christliche Ethik in unserer nicht-eschatologischen Zeit haben nicht-heroische und nicht­christologische Maßstäbe Vorrang. John Knox behandelt das Interimsthema unter dem passenden Titel "Ways of Escape", in The Ethics Qf Jesus in the Teachings ofthe Church (Nashville: Abingdon, 1961), bes. pp.45ff.

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oder sektiererischer Berufung. 11 Entscheidet man sich für die ganze Pflicht und Schuld des Regierens, so trägt man Verantwortung und ist politisch relevant; entscheidet man sich dagegen, so tut man das in der Überzeugung, Politik sei unwichtig oder schmutzig, und weil man mehr mit anderen Dingen beschäftigt ist, etwa mit der eigenen Er­lösung. Dabei hat man zwar Jesus auf seiner Seite 12, aber das ist nicht genug; denn es gibt Dinge, zu denen Jesus sich nicht äußert. (Hier überlappt sich dieser Standpunkt mit den drei bereits skizzierten und nimmt Bezug auf sie.) Wir müssen daher Jesu Lehre im "po­litischen" Bereich aus anderen Quellen ergänzen und korrigieren_13

Wenn wir Jesus als den Messias bekennen, dann ist diese Ent­koppelung nicht zu rechtfertigen. Indem man eine Position "apoli­tisch" nennt, leugnet man, welche machtvolle (bisweilen konser­vative, bisweilen revolutionäre) Wirkung die Gründung einer alter­nativen sozialen Gruppe auf die Gesellschaft hat. Man überschätzt die Macht und die Handhabbarkeit jener Strukturen, die gemein­hin politisch genannt werden. Wer meint, politisch tätig zu sein, sei selber eine unzweideutige Sache, und wer "ja" dazu sage, wisse, "wohin die Reise geht", überschätzt die Fähigkeit der Politik, ihre

11 Reinhold und H.Richard Niebuhr haben Troeltsch im amerikanischen Gei­stesleben einen großen Anhang verschafft; die protestantische amerikanische Ethik kann sich nur sehr schwer vorstellen, daß man die Fragen auch anders stellen kann. H;Richard Niebuhrs Klassiker Christ and Culture setzt dieses Vor­verständnis voraus, verstärkt es mit trinitarischen Begriffen und propagiert es auf breiter Front. Paul Ramseys Basic Christian Ethics benutzt diese Formulie­rung der Problemstellung für seine Gliederung. Hätten wir Zeit für einen län­geren Spaziergang über die Seitenpfade hermeneutischer Theologie, so könnten wir vielleicht eine Linie von dieser Dichotomie zu jener anderen ziehen, die so oft Geschichte von ihrem Sinn, die Historie von der Geschichte, den Lauf der WeltereignissevomAnliegen der Religion, "Offenbarung" von den ''Tatsachen'' oder "Glaube" von der "Wissenschaft" getrennt hat 12 Das ausdrücklichste Zugeständnis, daß Jesus sich tatsächlich auf einer ande­ren Seite befindet als man selbst, fmdet sich in den Schriften Reinhold Nie­buhrs, angefangen mit seiner Interpretation o[ Christian Ethics, die hauptsäch­lich das Problem des Schwertes behandelt. Niebuhr geht in diesem Buch weder auf Arbeit, noch auf Sexualität, noch auf Wahrhaftigkeit, noch auf Erziehung ein; die zentrale ethische Fragestellung ist für ihn (wie für Jesus) das Problem des Glaubensgehorsams und der Kompromißbereitschaft überall da, wo wir es mit Macht in Politik und Wirtschaft zu tun haben, wie es in unserem Umgang mit der Bergpredigt anschaulich wird. Auch Paul Ramsey macht dieses Zuge­ständnis (op. cit., bes. pp. 35ff: "In What Way, Then, Are the Teachings of Je­sus Valid?").

13 Siehe oben, pp.18ff und 90ff, wo es um die "anderen Quellen" geht. Vgl. ebenso mein Original Revolution, pp.132ff "andere Lichtquellen".

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eigene Richtung zu bestimmen. Weil der besondere Weg Jesu, Ablehnung des Schwertes und Ver­

urteilung derer, die es führen! politisch relevant war, mußten ihm so­wohl der Sanhedrin wie der Procurator das Lebensrecht verweigern, im Namen ihrer jeweiligen politischen Verantwortung. Seine Alterna­tive war so relevant, so bedrohlich, daß Pilatus es sich leisten konnte, im Austausch für Jesus den normalen Freiheitskämpfer vom Typ Gue­vara freizulassen. Der Weg Jesu hat nicht weniger, sondern mehr Be­deutung für die Frage, wie die Gesellschaft sich entwickelt, als der Kampf um die Besetzung der Kommandozentralen; dafür legen Kai­phas und Pilatus mit ihrem Urteil über Jesus Zeugnis ab.14

Man kann mit denen sympathisieren, die meinen, inhaltliche Pro­bleme könnten durch semantische Konventionen hinweggefegt wer­den. Es gibt die Meinung, der Unterschied zü dem, wasdie Welt als politisch relevant ansieht, sei so groß, daß wir als "politisch" am hesten das definieren, was Jesus ablehnt. Dann wäre Jesus schließlich doch apolitisch, da er sich selbst und seine Jünger ins Abseits stellte. Nachdem wir uns über die Defmition geeinigt hätten, könnten wir weitergehen zur moralischen Rechtfertigung und eventuell zur po­litischen Bedeutsamkeit der apolitischen Haltung auf einer anderen Ebene; 15wenigstens stolperten wir dann nicht über Definitionsun­terschiede. Doch Jesus entschied sich, nicht nur über Definitionsun­terschiede zu stolpern, sondern sich sogar dafür kreuzigen zu lassen. Er verweigerte den Machthabern das Zugeständnis, sie verkörperten eine ideale, logisch stimmige oder wenigstens empirisch akzeptable Defmition des Politischen. Jesus sagt nicht (wie manche sektiereri­schen Pazifisten oder Pietisten), "Macht eure Politik alleine; ich ma­che etwas Anderes, Wichtigeres"; er sagt "Eure Definition von polis,

14 "Die Leugnung der existentiellen Notwendigkeit des Gebrauchs von Gewalt war kein Rückzug aus dem politischen Bereich ..•. Jahwes Herrschaft über die Geschichte hat mit politischer Ordnung zu tun, mit den inneren und äußeren Beziehungen der Gemeinschaft." Millard Lind, ASTI, VII, 4ff. 15 Reinhold Niebuhr selbst widmet ein halbes Kapitel aus Interpretation o[ Christian Ethics der "Relevanz eines unmöglichen Ideals". Diese Relevanz be­steht einmal in der unparteiischen Kritik, die alle menschlichen Anstrengungen als unzureichend verdammt, uns die ethische Wahlfreiheit nimmt und den Men­schen zur Buße treibt; des weiteren liegt seine Bedeuturig in der parteiischen Kritik, mit der das an sich unmögliche Ideal uns die Entscheidung erleichtert, weIche der realen Möglichkeiten als kleineres Übel vorzuziehen ist. Schließlich ist da noch die prophetische Relevanz der Minderheit, deren Berufung darin besteht, diese doppelte Kritik im Rückzug aus dem politischen Bereich Z!l re­präsentieren. Doch all dies gewinnt erst dann seine Bedeutung, wenn wir Jesu Weg für das Hier und Jetzt für irrelevant halten.

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von Gesellschaft, von der Ganzheit des Menschen in seiner Bezogen­heit auf die Gemeinschaft ist pervertiert."

5. Die Tradition stellt uns vor die Wahl zwischen Individium und Gesellschaft.

Die "Ethik der Bergpredigt" ist für persönliche Begegnungen von Angesicht zu Angesicht; die sozialen Strukturen erfordern eine Ethik der "säkularen Berufung". Der Glaube heilt die Seele des Einzelnen, und Jesu starke Worte über Nächstenliebe helfen dabei; doch wie der so gesundete Mensch dann handeln soll, wird nach anderen Kriterien entschieden; Jesu radikaler Personalismus hat dazu nichts zu sagen. Dummerweise ist "radikaler Personalismus" fUr Jesus ein Fremdwort. Zwar verkündet er die Ganzheit der Person als heilenden; vergeben­den Ruf an alle, aber das neue Individium ist eingebunden in die soziale Erneuerung der heilenden Gemeinschaft.16 Aus dem Text des Lukasevangeliums wird das ganz deutlich; könnten wir die Ge­schichte Jesu unter stärkerer Betonung des jüdischen Kontextes und mit dem Propheten Amos in den Ohren, lesen, so würde dies noch deutlicher. Je mehr wir über Jesu Bindung an die jÜdische Tradition erfahren (aus Archäologie und neuen Textfunden, aus dem wachsen­den Respekt christlicher Theologen vor rabbinischen Studien, desto evidenter wird es, daß er von seinen Zeitgenossen nicht anders ver­standen worden sein konnte, als wir ihn hier gezeichnet haben. Um

16 George S. Hendry geht einige Schritte in unsere Richtung, The Gospel of the Incarnation (Philadelphia: Westminster, 1958). Henry sucht über die älte" ren Polarisationen der Christologie hinauszukommen - Bethlehem, das Kreuz, Ostern und Pfingsten - indem er ihr Zentrum und die Wurzel einer erneuerten Zwei-Naturen-Lehre im Bild des Christus aus Galiläa findet. Wenn der Mensch unserer Zeit Realität als persongebundene Beziehung erfaßt, dann müssen wir unseren Blick nach der göttlichen Originalität J esu in diese Richtung wenden. Jesus ist der anders-zentrierte Mensch par excellence, Diener der Menschen und Gottes. Der Kern dieser doppelten Anderszentriertheit ist Jesu Verge­bungshandeln, und zwar weniger in der Schaffung der metaphysischen Voraus­setzungen fiir Vergebung als darin, daß er Menschen seiner Zeit, jetzt, persön­lich und überzeugend die Befreiung zusagt. Hätte Hendry seine Frage "Wenn wir das menschliche Leben Christi als Ganzes betrachten, was zeigt sich dann als Hauptcharakteristikum?" mit mehr kultu­rellem Realismus gestellt, dann wäre das daraus resultierende Bild Jesu nicht auf Vergebungsbeziehungen unter vier Augen beschränkt geblieben, sondern hätte auch den gesellschaftlich-institutionellen gemeinschaftstiftenden Aspekt von J esu Wirken umfasst.Die Sündenvergebung ist fUr J esus kein bloßes Lin­dern persönlicher Schuldhaftigkeit oder zwischenmenschlicher Entfremdung; sie ist Zeichen der neuen Zeit und Voraussetzung fiir die Möglichkeit der neu­en Gemeinschaft.

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ganz ehrlich zu sein, müssen wir die Sache umdrehen: das Bild eines individualistischen Jesus, eines Lehrers des radikalen Personalismus, konnte nur in dem (protestantischen, nach-pietistischen, rationalis­tischen) Kontext entstehen, in dem es auch tatsächlich entstanden ist; in einem Kontext der, wenn nicht bewußt antisemitisch, so doch total a~emitisch, dem jüdischen Jesus fremd, war.

Wir könnten die Liste tradioneller Antinomien noch verlängern, von denen wir uns bekehren müssen, wenn wir verstehen wollen. Die Tradition stellt uns vor die Wahl zwischen der Achtung der Person und der Teilnahme am geschichtlichen Prozess; Jesus weigert sich zu wählen; die Bewegung der Geschichte ist persönlich. Die Aufersteh­ung verbietet uns zwischen absoluter agape, die sich kreuzigen läßt und zweckgerichteter Effizienz (die angeblich immer gewaltsam sein muß) zu wählen; denn im Lichte der Auferstehung ist die gekreuzigte agape nicht Torheit (wie sie unter dem Einfluß hellenistischer Zivi­lisation erscheint) oder Schwäche (wie sie die Brille jüdischer Kultur sehen läßt) sondern die Weisheit und die Kraft Gottes (l.Kor.l: 22-25).

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7. Der Jünger Jesu und der Weg Christi

Wir waren von der Frage ausgegangen, ob Jesu Lehre oder Beipiel die Grundlinien einer Sozialethik: abgeben könne. Nach den Berichten der Evangelien und gegen die Vorurteile vieler moderner Exegeten kamen wir zu dem Schluß: sein Handeln hat durchgängig und bewußt gesellschaftlich-politischen Charakter und Richtung, und seine Worte sind davon nicht zu trennen.

Der Knoten ist damit jedoch noch nicht gelöst. Man kann die traditionellen Axiomeurnformulieren und den Graben, der vorher zwischen Jesus und der Sozialethik klaffte, nun zwischen Jesus und der frühen Kirche aufreißen: Jesus mag sein Wirken wohl als gesellschaftlich relevante Messianität aufgefaßt haben; und die Evangelien sind ehrlich genug, diesen Tatbestand nicht ganz zu leugnen. Jedoch, so wird argumentiert, das Urchristentum war nur noch ein entferntes Echo des Königreiches, das er angekün­digt hatte. Der Graben muß irgendwo zwischen dem Königreich in Jerusalem, das der Mensch Jesus verkündigt hatte, und der Anbetung des himmlischen Christus in den heidenchristlichen Gemeinden Griechenlands und Kleinasiens liegen.

Die zweite Phase unserer Studie widmet sich deshalb einigen Schichten der ethischen Überlieferung der Apostel. Wir werden die gerade dargestellte These nicht in detaillierter Debatte aus ihrem eigenen Zusammenhang heraus beantworten (sie wird von den Neutestamentlern auch nicht mehr so simpel vertreten), sondern durch unabhängige induktive Beweisführung aus den Texten. Zu­nächst wollen wir verschiedene Themen apostolischer Ethik: iso­liert betrachten und dann fragen, wie sie sich zu dem Jesus verhalten,

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den wir in den Evangelien bezeugt gesehen haben. Ein solches beherrschendes Thema, vielleicht das durch­

gängigste, ist dasjenige, das wir hier am besten "Teilhabe" oder "Entsprechung" nennen: das Verhalten oder die Haltung des Gläu­bigen, von dem es heißt, es "entspreche", reflektiere, "habe Teil an" Qualität und Wesen seines Herrn. Eine sorgfältigere Analyse, als wir hier unternehmen können 1, würde auch innerhalb dieses einen Themas große Unterschiede in Bedeutung und Inhalt entdecken, ohne jedoch wesentliche Widersprüche aufzuwerfen.

Außer zahlreichen Ausdrücken, die das Konzept der Entspre­chung oder Teilhabe ohne feststehenden Fachbegriff benennen, lassen sich in der Tradition zwei feste Bildbereiche oder verbale Traditionen unterscheiden. Die eine, wir könnten sie "Jüngerschaft" nennen, kreist um das Substantiv "Jünger" und um das Verb "nachfolgen" oder "lernen". Es wird ein räumliches Bild entworfen: die Israeliten, die der Wolkensäule "nachfolgen", ein Prophet oder Rabbi oder Jesus, dem seine Schüler durch Palästina nachfolgen.2

Die andere Tradition könnte man als "Nachahmung" (imitatio) bezeichnen. Ihre Symbolik ist mehr struktureller oder mystischer Natur; die Bilder bekräftigen eine innere oder fonnale Parallelität in Charakter oder Intention hinter dem ähnlichen Verhalten. Ein solches Konzept findet sich in vielen Religionen - auch im alten Testament, trotz seiner Warnungen, Gott als den Menschen ver­gleichbar aufzufassen. Der nicht spezifisch christliche Gedanke, daß der Mensch irgendwie dem Wesen Gottes entspricht oder es widerspiegelt, oder daß er danach streben sollte, war dem Alten Testament recht geläufig. 3

1 Am eingehendsten wird dieses Thema untersucht bei Hans Dieter Betz, Nachfolge und Nachahmung Christi im Neuen Testament (Tübingen: Mohr, 1967) und Anselm Schulz, Nachfolgen und Nachahmen (München: Loesel, 1967). Sowohl Schulz als auch Betz geben einen Überblick und eine Analyse einer großen Zahl von Detailuntersuchungen. Eduard Schweizers, Erniedrigung und Erhöhung beiJesus und seinen Nachfolgern (Zürich: Zwingli Verlag, 1955) ist eine frühere Darstellung der Kernideen. Eine systematische Ausarbeitung gibt E.J. Tinsley in The Imitation of God in Christ (Philadelphia: Westminster, 1960).

2 We~ Dietrich Bonhoeffer von "Jüngerschaft" bzw. "Nachfolge" spricht, hat der Begriff eine andere Bedeutungsschattierung. Der Akzent liegt weniger auf der Teilnahme am Weg oder der Art des Meisters als auf der unbedingten Bereitschaft zum Gehorsam.

3 Walther Eichrodt charakterisiert in seiner Theologie des Alten Testaments (Stuttgart: Klotz5, (1964),I1.pp.78ff.) das Grundthema des Heiligkeitskode-

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DER JÜNGER JESU UND DER WEG CHRISTI 105

Wie auch immer wir die Feststellung, daß der Mensch "nach dem Bilde Gottes" geschaffen wurde, verstehen, sie sagt auf jeden Fall so viel: der Mensch entspricht in dem, was er ist und in dem, was er tun oder werden sollte, irgendwie Gottes eigenem Sein. Dieser Status der "Gottesebenbildlichkeit" wird nicht angezweifelt. Das Alte Testament predigt ihn nicht, noch lehrt es ihn, es setzt ihn einfach allgemein voraus.4 Die Anordnung des Sabbatgesetzes in Erinnerung an das Ruhen Gottes nach der Schöpfung (Exodus 20) oder in Bezug auf die "Humanität" Gottes bei der Befreiung Israels aus der Sklaverei hat nur Sinn, wenn wir eine Beziehung zwischen Gott und Mensch voraussetzen. "Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig." ( Lev. 19:2) mag anfangs mehr auf das Ritual als auf moralische Heiligkeit gerichtet gewesen sein; nichtsdesto­weniger beginnt mit diesem Text eine Tradition" Gott zu folgen", die sich über die Propheten und den Judaismus bis zu Martin Buber erstreckt.5 Was im Alten Testament allgemein vorausgesetzter Grundsatz ist, wird im Neuen Testament durch die Gabe des Heiligen Geistes zur neuen Realität. Die beiden Muster "Jüngerschaft" und "Nachahmung" überlappen sich inhaltlich so weit, daß wir sie hier gemeinsam behandeln können.6

xes dahingehend, daß die menschliche Natur nach dem Muster der göttlichen geformt werde. Edmond Jacob bezeichnet in seiner Theology o[ the Old Te· stament (New York: Harper, 1958) die Nachahmung Gottes als "das Prinzip des moralischen und geistlichen Lebens" (pp.173fi).Wir können hier nicht auf die zahlreichen ähnlichen Konzepte in nichtbiblischen Glaubenszusammen­hii;ngen und ihre Unterschiede zum biblischen Konzept eingehen.

4 Johann Jakob Stamm, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen im Alten Testament, ThSt, 54 (1959). .

5 Martin Bu ber, "Nachahmung Gottes" in Der Morgen, I (1925), 368ff; vgl. S. Schechter, Aspects o[ Rabbinic Theology (London, 1909; New York: Schocken, 1961), Kap. 14, pp. 199ff.

6 Sowohl Betz als auch Schulz kommen, nachdem sie die beiden Gedanken­stränge sorgfaltig getrennt und unabhängig voneinander analysiert haben, zu dem Schluß, daß ihre Bedeutung im wesentlichen parallel ist. Edwin Larson, Christus als Vorbild, verfolgt das Thema in einer sehr eingehenden Studie der paulinischen Texte, die die Taufe und das Wort eikon (Bild) behandeln. Er flihlt sich veranlaßt, die deutliche Unterscheidung zwischen "Nachfolge" und "Nach­ahmung", die in der lutherischen Theologie lange vorherrschend war, in Frage zu stellen.

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I. Der Jünger und die Liebe Gottes

A. Teilhaben an der göttlichen . Natur als Defmition christlicher Existenz

Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis ... Wenn wir aber im Lichte wandeln, wie er im Lichte ist, haben wir Gemeinschaft miteinander ... (1. Joh. 1:5-7) Sehet was für eine Liebe uns der Vater geschenkt hat, daß wir Kinder Gottes heißen sollen; und wir sind es . ... Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes, und noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen, daß wir, wenn es offenbar geworden ist, ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehe~ wie er ist. Und jeder, der diese Hoffnung auf ihn hat, reinigt sich, wie er' rein ist. (1. Joh. 3:1-3) ... wie der, welcher euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig werden im ganzen WandeL Denn es steht geschrieben: "Seid heilig, denn ich bin heilig." (1. Petr. 1:15f, Zitat aus Lev. 19:2) ... denn wie jener ist, sind in dieser Welt auch wir. (1. Joh. 4:17) Lüget nicht gegeneinander, nachdem ihr doch den alten Menschen mit seinen Taten ausgezogen und den neuen angezogen habt, der nach dem Bilde seines Schöpfers zur Erkenntnis erneuert wird ... (KoI. 3:9f, vgI. Eph. 4:24)8 .

B. Vergebt, wieGott euch vergeben hat

Seid vielmehr gegeneinander gütig, barmherzig, und vergebet einander, wie auch Gott durch Christus euch vergeben hat! (Eph. 4:32) Kommt miteinander aus. Tragt es keinem nach, wenn er euch unrecht getan hat, sondern verzeiht linander, wie der He" euch verziehen hat. (KoI. 3: 13, Gute Nachricht)

7 Der Kontext (vgl. 2:23f) legt hier nahe, daß "er" sich nicht nur auf den Vater, sondern auch auf den Sohn bezieht. Die Gute Nachricht, überträgt: "Jeder, der im Vertrauen auf Christus darauf hofft, hält sich von Unrecht fern, so wie Christus es getan hat."

8 Das Konzept der Verwandlung (metamorphosis) ist eine der Bedeutungs­schattierungen, die weiterverfolgt werden könnten: 2. Kor. 3:18;Röm. 12:2: 8:24; Phil. 3: 21; 1. Kor. 15:49. Weitere Ausdrücke für dasselbe Konzept sind "Ebenbild" (2. Kor. 4:4;Kol. 1:15) und "Erstgeborener" (Kol. 1:15, 18).

9 Die Anspielung auf "den Herrn" könnte sich nach vorherrschendem pauli­nischen Gebrauch speziell auf Jesus beziehen, als demjenigen, der vergeben hat. Der Genauigkeit halber hätte man diesen Gebrauch also auch weiter unten unter 11 eintragen können.

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Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldnern. (Matt. 6:12;vgL Luk. 11:4) Denn wenn' ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird euer himmlischer Vater euch auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben. (Matt. 6: 14f)

C. Liebt unterschiedslos, wie Gott

Und wenn ihr die liebt, die euch lieben, was für einen Dank habt ihr? .. Vielmehr liebet eure Feinde und tut Gutes und leihet, ohne etwas zurück­zuerwarten; ... und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. (Luk.6:32-36) Liebet eure Feinde und bittet für die, welche euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters in den Himmeln seid! Denn er läßt seine Sonne auf­gehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerech­te. . .. Ihr sollt nun vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater voll­kommen ist. (Matt. 5:43-48)10.

Die herkönnnliche Wiedergabe von Vers 48: "Ihr sollt nun vollkom­men sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist." (ähnlich in allen deutschen Übersetzungen) wurde lange zum Schlüssel der ganzen Bergpredigt gemacht. Perfektionistische Prediger sahen darin das Versprechen erreichbarer Sündlosigkeit; etablierte Ethiker ver­drehten sie zum Beweis der Behauptung, es sei nicht die Intention der Bergpredigt, daß ihr gehorcht werde, sondern sie wolle die Men­schen für die Gnade vorbereiten, indem sie sie unter den Anforderun­gen unerreichbarer Gottgleichheit zerbreche.u

Heide Extreme sind falsch, denn sie importieren ein modernes Konzept von Vollkommenheit, wo es nicht am Platz ist. Auch die Übertragung von Zink, die die Betonung auf Gottes Transzendenz legt, geht am Kern vorbei: "Seid ganze Menschen, denn auch Gott ist ganz, was er ist: Gott der Herrscher in der unsichtbaren Welt". Die Parallele in Matthäus 5:45 und bei Lukas macht deutlich, daß "vollkommen" hier "ununterschieden" oder "bedingungslos" meint

10 Wir brauchen nicht in die wissenschaftlichen Debatte einzutreten, welcher dieser in etwa parallelen Texte die Originalworte Jesu am getreuesten wieder­gibt. Beide erheben denselben Imperativ und beide wurzeln in der Ähnlichkeit von Vater und Kind.

11 VgL meine ausführlichere Analyse "The Political Axioms of the Sermon on the Mount" in The Original Revolution, pp.34ff. '

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- ein sehr begreifbarer, sogar erreichbarer Imperativ. Modeme (bzw. hellenistische oder mi ttelalterliche) Konzepte der "Vollkommen­heit", die beinhalten, daß man feste Grenzen überschritten hat, ohne Makel ist oder jede Anforderung des Gesetzes erftillt, oder im Wesen ohne Versuchung oder Selbstsucht ist, werden an diesen Text von Leuten herangetragen, die ihn benutzen wollen, um eine eigene These zu beweisen. All diese Nebenbedeutungen lenken von dereinfachen Forderung des Evangeliums ab, die nicht mehr (und nicht weniger) bedeutet als dies: weil Gott keinen Unterschied macht, sind auch seine Jünger aufgerufen, unterschiedslos zu lieben .

.. .jeder der liebt, ist aus Gott gezeugt und erkennt Gott .... darin besteht die Liebe, nicht djß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt und seinen Sohni als Sühnopfer für unsre Sünden gesandt hat. Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, sind auch wir verpflichtet, einander zu lie­ben . ... wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet (1. Joh. 4:7-12, meine Hervorhebung)

11. Der Jünger und das Leben Christi

A. In Christo sein als Defmition christlicher Existenz

Daran erkennen wir, daß wir in ihm sind: Wer sagt, er bleibe in ihm, ist verpflichtet, auch selbst so zu wandeln, wie jener gewandelt ist. (1. Joh. 2:6)

B. Mit Christus sterben und auferstehen

Was wir früher waren, ist mit Christus am Kreuz gestorben. Unser von der Sünde behe"schtes Ich ist damit tot ... Wenn wir aber zusammen mit Christus gestorben sind, werden wir auch mit ihm zusammen leben ... Ein fiir allemal starb Christus fiir die Sünde. Jetzt lebt er fiir Gott. Genauso müßt ihr von euch selbst denken: ihr seid tot fiir die Sünde, aber weil ihr mit Christus verbunden seid, lebt ihr fiir Gott. (Röm. 6:6-11, Gute Nachricht) Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch den Geist, der in euch wohnt. (Röm. 8:11) Ich bin mit Christus gekreuzigt; ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus leb tin mir . ..• (GaL 2:20; vgl. 5:24) Ihr aber habt so etwas nicht von Christus gelernt. 13

12 Vgl. unten II/C.

13 Es ist nich t ohne Bedeutung, daß das Konzept des "Lernens" in den pauli­nischen Schriften noch vertreten ist. Das zeigt, daß die Terminologie der "Jün­gerschaft", d.h. das Sprechen von Nachfolge und Lernen rudimentär noch vor­handen ist und fortfährt, die Verwandlungssymbolik zu überlappen.

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Ihr habt doch von ihm gelernt ... : Ablegen sollt ihr den alten Menschen eures frühreren Lebens, denn er richtet sich seiner trügerischen Lüste we­gen zugrunde. Erneuert euch vielmehr durch den Geist eures Denkens, und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist ... (Eph. 4:20-24 Jerusalerner Bibel). In der Taufe mit ihm begraben, wurdet ihr auch in ihm auferweckt durch den Glauben an die Macht Gottes ... Wenn ihr also mit Christus aufer­weckt seid, so sucht was droben ist. wo Christus ist ... (Kol. 2:12-3:1)

C. Lieben, wie Christus geliebt hat, der sich selbst hingab

Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander lieben sollt, wie ich euch geliebt habe, daß auch ihr einander lieben sollt. (Joh. 13:34). Das ist mein Gebot, daß ihr einander lieben sollt, wie ich euch geliebt habe. Größere Liebe hat niemand als die, daß einer sein Leben hingibt für seine Freunde. (Joh. 15:12) ..• das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, daß wir einan­der lieben sollen - nicht wie Kain von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug •.. Daran haben wir die Liebe erkannt, daß jener für uns sein Leben hingegeben hat. Auch wir sind verpflichtet, für die Brüder das Leben hinzugeben. (1. Joh. 3:11-16;vlg. 4:7-12 oben)

Fälschlicherweise wird oft die "Goldene Regel" für das Schlüs­selkonzept der Ethik Jesu gehalten: "Tut anderen, wie ihr wollt, daß sie euch tun." Jesus stellt sie jedoch nicht als die Summe seiner eigenen Lehre hin, sondern als die Summe des Gesetzes (Mark. 12:28; Matt. 22:40 zitiert Lev. 19: 15).14 Doch Jesu Erftillung dieser Zusam­menfassung des Gesetzes in seinem Wirken stellt ein anderes, ein "neues Gebot" auf (Joh. 13:34 oben zitiert; 15:12 vgl.l.Joh. 2:18): "Tut, wie ich euch getan habe" oder "Tut, wie der Vater tat, als er den Sohne sandte")5 Es ist erstaunlich, wie viele Abhandlungen über religiöse Ethik den Unterschied zwischen der Lehre Jesu und der der Rabbis (oder des Konfuzius) untersuchen, ohne diesen augenfälligen strukturellen Wandel zu bemerken.

14 Auch in Matt. 19:19; Luk. 10:27; Röm.13:9;Gal. 5:14 und Jakobus 2:8 wird gesagt, daß "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" das Herz des Geset­zes ist.

15 T.W. Manson, Ethics and Gospel (London:SCM, 1960), pp. 6 Off.

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D. Anderen dienen, wie er gedient hat

Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, ist es auch eure Pflicht, einander die Füße zu waschen ..•. Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch ein Gesandter größer als der, welcher ihn ge· sandt hat. (Joh. 13:1-16) Wir aber, die Starken, sind verpflichtet, die Schwachheiten der Unge· festigten zu tragen und nicht uns selbst zu Gefallen zu leben. Jeder von uns lebe dem Nächsten zu Gefallen ....• Denn auch Christus hat nicht sich selbst zu Gefallen gelebt •.. Darum nehmet einander an, wie auch Chris· tus euch angenommen hat. (Röm. 15:1-7) Er ist fiir alle gestorben, damit die, welche leben, nicht mehr fiir sich selbst leben, sondern dem, der fiir sie gestorben und auferweckt worden ist. (2. Kor. 5:14ff) Aber wie ihr in allem überreich seid ... , sollt ihr auch in diesem Liebes· werk überreich sein. Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, daß er obwohl er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet. (2. Kor. 8:7-9)16 Ihr Männer, liebet eure Frauen, wie auch Christus die Kirche geliebt und sich fiir sie dahingegeben hat .... So haben die Männer die Pflicht, ihre Frauen zu lieben ... (Eph.5:25-28)

E. Unterordnung

Das letzte Zitat, das Christi Modell der Dienerschaft in die konkrete Situation der Familie trägt, leitet über zu einem weiteren Thema apostolischen Denkens, das in einem besonderen Kapitel ausführlicher behandelt wird (vgl. unten, S. 146). Inhaltlich hätte dieses Kapitel auch hier voll integriert werden können.

16 Das ist nun eine der Stellen, wo Phi!. 2:1-11 tatsächlich zitiert werden könnte. Daß Christus "arm wurde" ist nicht ohne Bezug zur ökonomischen Praxis Jesu unter seinen Jüngern; doch "er war reich" deutet einen weiteren sogar kosmischen Bezug an, in der Herablassung des Herrn, parallel zur "Ge­stalt Gottes" oder "Gleichheit mit Gott" von Phi!. 2:6.

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III. Der Jünger und der Tod Christi

A. Mit Christus leiden als Defmition apostolischer Existenz 17

Ihn will ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Leidens­gemeinschaft mit ihm, indem ich gleichförmig werde mit seinem Tode, ob ich hingelangen könnte zur Auferstehung der Toten. (Phi!. 3:10f. Jemsa­lerner Bibel) Allezeit tragen wir das Sterben Jesu am Leibe herum, damit auch das Le­ben Jesu an unserem Leibe offenbar werde. Denn immerfort werden wir bei Leibes Leben dem Tode überliefert um Jesu Willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserem sterblichen Fleisch. (2. Kor. 4: 10018 Denn wie die Leiden Christi überaus reichlich über uns kommen, so ist durch Christus unser Trost auch überaus reichlich. (2. Kor. 1 :5) Jetzte freue ich mich in den Leiden für euch und fülle an seiner statt an meinem Fleische aus, was den TTÜbsalen Christi 19 noch fehlte. (KoI. 1: 24)

Allein die künstliche Aufgliederung des heutigen Textes trennt die Selbstinterpretation des Apostels von dem, was er für andere Christen als bindend ansieht. Er ist nur ein exemplarischer Nachfol­ger des wahren Beispiels. 20

17 Vgl. Erhardt Güttgemanns, Der leidende Apostel und sein Herr (Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht, 1966). Ein konstantes Thema von Güttgemanns Arbeit ist das, was er "christologische Distanz" nennt, d.h. die Objektivität des Bezuges auf den irdischen Jesus gegenüber Tendenzen (in der frühen Kir­che und in der Wissenschaft), Christus in einer zeitgenössischen Bedeutung zu redefinieren, die weniger davon abhängig ist, wer der gekreuzigte Jesus war.

18 Paulus gebraucht "Christus" fast immer als Eigenname; daß hier "Jesus" als Name steht ist ein bedeutsamer Fingerzeig. Entweder Paulus läßt hier einen früheren Gebrauch der Tradition anklingen, bevor er sie sich selber aneignete. Oder sein freier Gebrauch des Jesusnamens muß als besondere Betonung der historischen Karrriere des Mannes aus Nazareth im Kontrast zu dem mehr all­gemeinen funktionellen Titel "Christus" gesehen werden.

19 Paulus macht keinen Unterschied zwischen den Leiden Christi und denen der Apostel Der Apostel trägt das Leiden Christi, nämlich in seinem Leib, der Kirche.

20 Vgl wieder Güttgemanns, op.cit. Eine der Lücken unserer Skizze betrifft Jesu Einstellung zu seinem eigenen Leiden: aus den Evangelien haben wir nur seine Worte über das Kreuz der Jünger aufgenommen. Im Blick jedoch auf die enge Verbindung, die Paulus hier bekräftigt, sollte eine sorgfältige Analyse wei-

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Macht es so wie ich: ich versuche immer, allen Menschen entgegenzukom­men. Ich denke nicht an meinen eigenen Vorteil, sondern an den Vorteil aller, damit sie gerettet werden. Folgt meinem Beispiel, so wie ich dem Beispiel folge, das Christus uns gegeben hat. (1. Kor. 10:33f, Gute Nach­richt). Ihr seid unserem Beispiel gefolgt und damit dem Beispiel des Herrn. Ob­wohl ihr schwere Anfeindungen ertragen mußtet, habt ihr die Botschaft mit der Freude angenommen, die der Geist Gottes schenkt. (1. Thess. 1 :6, Gute Nachricht)

B. Teilhaben an der göttlichen Erniedrigung

Nichts geschehe aus Streitsucht oder eitler Ruhmsucht, vielmehr achte in Demut jeder den anderen höher als sich selbst . •.• Solche Gesinnung habt untereinander wie sie auch in Christus Jesus war. Er, der in Gottesgestalt war ... entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an ... (Phil.2:3-14, Je­rusalemer Bibel)

Im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht nach verbreüetem wissenschaftlichen Konsens21 eine vorpaulinische Preishymne der Entäusserung des Gottessohnes. Die erste in der Hymne gepriesene Erniedrigung ist nicht das Kreuz, sondern das Aufgeben der Privile­gien der "göttlichen Natur" .22 Doch Paulus verwendet das Bild in

ter zurückgehen. Eduard Lohse, Märtyrer und Gottesknecht (Göttingen: Vandenhock & Rupprecht, 219(3) und Nils Dahl, Volk Gottes, p.2S1, mei­nen, die Verschmelzung der Bilder vom leidenden Gottesknecht als Gemein­schaft und messianische Figur sei in der gebräuchlichen jüdischen Exegese von Jes. 53 nicht möglich gewesen und müsse somit Jesu kreative Neuinterpreta­tion gewesen sein. Paulus führt auch sich selbst als Beispiel an: 1. Kor. 4:16; Phil. 3:17; 2.Thess. 3:7ff.; und Hebr. 6:12 spricht auch von anderen mensch­lichen Vorbildern. Victor Paul Fumish, Theology and Ethics in Paul (Nashville: Abingdon, 1968), pp. 218ff., geht besonders auf die Abschnitte ein, wo die Nachahmung des Apostels die Nachahmung Christi veranschaulicht.

21 Archibald M.Hunter, Paul and his Predecessors (Philadelphia: Westminster, 1961), p. 36; R.P.Martin, Carmen Christi (Cambridge: V.P., 1967).

22 Der Gedanke "sich Gott gleichzustellen" mag im Kontrast stehen zu Luzi­fer oder Adam. Auf den allerfrühesten Stufen mag dieses Konzept des "Rau­bes der Gottgleichheit" die Präexistenz noch nicht vorausgesetzt haben: vgl. oben II/D Anm. 14. Möglicherweise bezog es sich ursprünglich auf die Ableh­nung des zelotischen Königtums.

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einem neuen Zusammenhang.23 Die Anspielung auf die Erniedrigung spricht nicht einfach von "Menschenantlitz" , sondern von "Knechts­gestalt" und das sogar bis zum Extrem des Todes am Kreuz.24 Die Einbettung in den größeren Kontext der Ermahnung an die Philip­per fügt der doppelten Bedeutung Erniedrigung/Erhöhung noch eine dritte Bedeutungsebene hinzu: die Selbstverleugnung, die die Einheit der Kirche fördert.

Donald G. Dawe25interpretiert die Philipperhymne recht ausführlich; aber sein Verständnis des kenotischen Motivs 26 richtet sich auf die Metaphysik der Menschwerdung und wie diese nach heute übertragen werden kann. Weder die Möglichkeit, JesuAb­lehnung der Position, auf die er als Sohn Gottes Anspruch hat, könnte auch konkret die Entscheidung in der Wüste gemeint haben, noch die Möglichkeit, daß der Ruf zur Einheit in Philipper 2: 14 das Motiv der Nachahmung des Vorbilds erhellen könnte, werden behandelt.

C. Gebt euer Leben, wie er es tat

So ahmet nun Gottes Weise nach als von ihm geliebte Kinder und wandelt in der Liebe, wie auch Christus euch geliebt und sich für uns dahingegeben hat ... (Eph. 5:lf; vgl. l.Joh. 3:16, oben zitiert II/e)

23 Betz, op.cit., sagt, Paulus "ethisiere" die Metaphorik der Nachahmung bei der Anwendung auf das Problem in Philippi. Die protestantische Auslegung hat sich i A. gegen den Gedanken gesträubt, daß "die Gesinnung Christi haben" auf irgendeine Weise eine Reflexion der menschlichen Haltung Jesu sei. Protestan­tische Exegeten haben meist kompliziertere Konzepte vorgezogen, wie "die Einstellung haben, die zu jemand paßt, der in Christus ist", um jeglichen Mora­lismus zu unterminieren. Wie Schulz jedoch deutlich macht, wird die einfa­chere Konzeption der Nachahmung durch den Kontext diktiert.

24 Die Übersetzung der Guten Nachricht ist nicht wörtlich, aber sie gibt in ihrer Paraphrase gut das Skandalöse, Anstößige wieder, das hierhergehört: "Er starb den Verbrechertod am Kreuz." Es wird weithin angenommen, daß dieser Ausdruck "bis zum Tod am Kreuz" von Paulus in den vorliegenden Hymnentext eingeftigt wurde. Den mit der ursprünglichen Hymne vertrauten Leser überraschte die Einfiigung wohl mehr als uns.

25 The Form of a Servant (Philadelphia: Westminster, 1968)

26 Das theologische Motiv der Kenosis ("Ausleerung") stützt sich auf Phil. 2:6. Christus entäußert sich seiner göttlichen Gestalt, um Mensch zu werden.

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D. Leidendes Dienen statt Herrschen27

Ihr wißt, daß die, welche als Fürsten der Völker gelten, sie knechten und ihre Großen über sie Gewalt üben. Unter euch ist es aber nicht so, son­dern wer unter euch groß sein will, sei euer Diener ..• denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, damit ihm gedient werde, sondern da­mit er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. (Mark. 10:42-45; Matt. 20:25-28)

In den' Berichten von Matthäus und Markus wurde dieses Wort dadurch provoziert, daß ausgerechnet nach Jesu ausführlichster Lei­densankündigung zwei seiner Jünger (bzw. ihre Mutter) einen privile­gierten Platz in seinem Reich beanspruchten. Lukas verzeichnet fast Identisches in den Gesprächen beim letzten Abendmahl; also eine Parallele zu Joh.13:1-13 (oben zitiert, II/C). Inhaltlich weicht Lukas in zwei Details ab. Er fügt hinzu "und ihre Gewalthaber lassen sich Wohltäter nennen" (22:25) . eine, vielleicht ironische, Anerkennung des Anspruchs der Obrigkeit auf moralische Bestätigung. Der Impera­tiv ist nicht auf die bevorstehende Opferung seines Lebens gegründet (wie bei Markus und Matthäus), sondern auf Jesu gegenwärtige Hal­tung: "Ich aber bin unter euch wie der Dienende." (22:27)28 Nur an zwei Punkten, hier und in III1F, verwenden wir auch Material aus den synoptischen Evangelien als Zeugnis des Geistes der aposto­lischen Kirche. Beide'Worte sind einigermaßen unabhängig von ei­nem bestimmten Standort innerhalb der Evangelienerzählung und richten sich an die Kirche nach Pfmgsten. Es ist daher unangebracht, sie in unsere Zusammenfassung über das Denken der Kirche einzube­ziehen.

27 Dieser Abschnit.t ist II/D sehr ähnlieh. Er unterscheidet sich darin: a) es wird eine spezifische Alternative des Dienens, nämlich Herrschen, betrachtet und abgelehnt; und b) das Dienen geht bis in den Tod.

28 Obwohl die Evangelieaberichte sich in der Plazierung dieses Textes unter­scheiden, beziehen sie ihn alle auf dlm Auftrag, den Jesus der Kirche gibt. Die meisten Kommentatoren übersehen die antizelotische und antirömische Ten­denz des Textes. Jesus sagt seinen Zuhörern nicht einfach, seid Diener. Er kon­trastiert dieses Gebot scharf mit jeder für seine Zuhörer denkbaren Form von Herrschaft. Dieser Kontrast ist nur dann sinnvoll, wenn es, wie im Begehren des Jakobus und J ohannes, ein reales Verlangen nach Herrschaft gab.

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DER JÜNGER JESU UND DER WEG CHRISTI 115

E. Nehmt unschuldiges Leiden ohne Klage an wie er

Wenn ihr aber fürRechttun leidet und es erduldet, das ist Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen worden, weil auch Christus für euch gelitten hat und euch ein Vorbild hinterlassen hat, damit ihr seinen Fußstapfen nachfolgt. (1. Petr. 2:20f) Denn es ist besser, daß ihr ... für Rechttun leidet als für Unrechttun. Denn auch Christus ist einmal der Sünden wegen gestorben als Gerechter fiir Ungerechte ... (3: 14-18) ... lasset euch durch die Feuersglut ... nicht befremden ... , sondern demge-mäß, daß ihran den Leiden Christi teilhabt,freueteuch ... (4:12-16)

F. Als Verfechter der Sache des Königreichs ertragt die Feindschaft der Welt mit Christus oder so wie er.

Wer nicht sein Kreuz trägt und mit mir geht, kann nicht mein Jünger sein. (Luk.14:27-33)

Lukas' Wiedergabe des Aufrufs zum Kreuz geht die Aufforderung voraus, Familienbande aufzugeben. Er wird gefolgt von der Wahrneh­mung, sich der Sache Jesu ohne Abwägung der Kosten zu verschrei­ben. Bei Matthäus (10:37ff) steht er im Zusammenhang mit der Aus­sendung der Zwölf. Bei Markus (8:34ff; und lO:39f) folgt er dem Be­kenntnis des Petrus "Du bist der Messias" und der ersten Leidensan­kündigung. Immer macht ihn der jeweilige Zusammenhang zu einer Grundaussage. überall wird im breiteren Kontext ein gesellschaftli­ches Leiden, die Ablehnung durch die eigene Familien, betont. Es geht nicht um eine besondere elitär-moralische Berufung Jesu oder einer geistlichen Elite, sondern um eine Bedingung des Heils. An dieser Stelle überlappen sich die Konzepte der "Jüngerschaft/Nach­folge" und der "Nachahmung/Teilhabe". Christus nachfolgen heißt nicht einfach nur von ihm lernen, sondern auch sein Schicksal teilen.

"Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr. " Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen. (Joh.15:20f) Jeder, der in Verbindung mit Jesus Christus ein Leben führen wül, das Gott gefällt, muß Verfolgungen erleiden.(2. Tim. 3:12 Gut!LNachricht) Gott hat euch die Gnade erwiesen, daß ihr nicht nur auf Christus ver­trauen dürft, sondemauch fiir ihn leiden. (Phil.l: 29 Gu te Nachrich t) ... daß ihr an den Leiden Christi teilhabt, freuet euch. (1.Petr.4: 13)

Das christliche Denken sieht gewohntermaßen "Verfolgung" als eine rituelle 0 der "religiöse" Angelegenheit olme unmittelbare

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ethische Bedeutung. Den Christen werden Leiden zugefügt, weil sie den wahren Gott verehren; was hat das mit dem Interesse un­serer Studie an der Einstellung gegenüber Obrigkeit, Gewalt, Krieg und Konflikten zu tun? Ist nicht Verfolgung um des Glaubens willen ziemlich unabhängig von der Sozialethik? Eine solche Schei­dung zwischen Religiösem und Sozialen muß jedoch in die Texte importiert werden; sie ist dort nicht zu fmden. Jesu Kreuz war eine politische Strafe; und wenn die Obrigkeit die Christen leiden läßt, dann meist wegen der praktischen Auswirkung ihres Glaubens und der Zweifel, den sie auf den Anspruch der Regierenden werfen, "Wohltäter zu sein. Wir können nicht den ganzen Text aus Hebräer 11:1-12:5 mit seiner zusammenhängenden Folge von Beispielen oder "Zeugen" der Treue von Abel bis zu den Propheten zitieren. "Glau-be" oder "Treue" bedeutete auf jeden Fall die Bereitschaft, inmitten des Leidens zu gehorchen und Gott für die noch nicht sichtbare Rechtfertigung zu vertrauen.29 Der Höhepunkt dieser Serie ist Jesus, "der, um die vor ihm liegende Freude zu erlangen, das Kreuz er­duldet" und dessen Jünger zum Widerstand bis hin zum Vergies­sen ihres Blutes bereit sein sollten.(12: 24)

G. Der Tod befreit aus der Macht der Sünde

Da nun Christus am Fleische gelitten hat, sollt auch ihr euch mit der glei­chen Gesinnung waffnen - denn wer am Fleische gelitten hat, der ist zur Ruhe gekommen von der Sünden. (LPetr • .4:1f; vgl.IIB oben) Die aber, welche Christus Jesusangehören, haben ihr Fleisch samt seinen Leidenschaften und Lüsten gekreuzigt. (Ga1.5: 24)

H. Der Tod ist Prophetenschicksal; Jesus, dem wir folgen, folgte bereits ihnen

Matt. 23:24; Mark. 12:1-9; Luk. 24:20; Apg. 2:36; 4:10; 7:52; 23:24; 1. Thess. 2: 15ff.

29 Wenn der Autor "Glaube" als Zuversicht auf das Erhoffte und Überzeugt­sein vom Nichtsichtbaren definiert, dann sind die Realitäten des Erhofften und Nichtsichtbaren nicht irgendwelche ansonsten unbekannte Wahrheit, Behaup­tung oder Prophetie, sondern die konkrete Rechtfertigung des Gehorsams. "Glaube" heißt gehorchen, ohne zu sehen, daß es sich "auszahlt" oder "funk­tioniert".

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1. Der Tod ist der Sieg

(Am Kreuz) hat er die Mächte und Gewalten entwaffnet, sie öffentlich an den Pranger gestellt und sie in Triumph gejührt in ihm. (KoI. 2: 15, Jeru­salemer Bibel)30 Denn während Juden Zeichen fordern und Griechen nach Weisheit fragen, predigen wir Christus, den gekreuzigten, jür Juden ein Ärgernis jür Hei· den aber eine Torheit, für die Berufenen selbst aber, sowohl Juden als Griechen, Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit (1. Kor. 1 :22-24) Jetzt ist das Heil und die Kraft und die He"schaft unserm Gott und die Macht seinem Gesalbten zuteil geworden... Und sie haben ihn überwun· den um des Blutes des Lammes und um des Wortes ihres Zeugnisses wil· len und haben ihr Leben nicht liebgehabt .•. (Offb. 12:10f; vgI. 5:9fO Sie (zehn Könige) werden gegen das Lamm kämpfen. Aber das Lamm und seinetreuen Anhänger ... werden sie besiegen. (17: 14, Gute Nachricht)

Zusammenfassung

Was bedeutet dieses Übermaß an Belegstellen für unser Gesamt­bild? Unsere Einteilung ist nicht besonders genau. Die Subkategorien trennen nicht wirklich unterschiedliche Gedanken; sie zeigen uns viel­mehr eine Vielzahl von Schattierungen und Betonungen innerhalb eines durchgehenden Denkmusters. An einigen Stellen gibt es einen eindeutigen Bezug zum irdischen Wirken, besonders zum Tod Jesu; an anderen wird die "Menschwerdung und Himmelfahrt" Christi we­niger konkret, in mehr hellenistischen Bildern dargestellt. In einigen wird das Leiden nicht erwähnt, andere sprechen darüber im Hinblick auf den Dienst an den Brüdern, doch öfter noch geht es um den Ver­zicht auf das Herrsein, das Aufgeben irdischer Sicherheit, die Heraus­forderung, vor die der leidende Gottesknecht die Mächte dieser Welt stellt, und die feindliche Reaktion dieser Welt. So wiederholen die Briefe die Herzstücke der Evangelienerzählungen aus Markus 8 :34 ("er nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach") und 10:43 ("Unter euch ist es aber nicht so").

Solange man· als Leser die politisch -gesellschaftliche Dimension von Jesu Wirken außer acht lassen konnte (wie es der größte Teil der Christenheit recht erfolgreich getan hat), solange war es auch mög-

30 Die Metaphorik des Triumphzuges versetzt die Christen nach einer Inter­pretation in die Position von Gefangenen (Gottes frühere Feinde) oder nach einer anderen in die von Soldaten.

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lieh, das "in Christ~s sein" der Briefe als mystisch oder das "Sterben mit Christus" als psychopathologisch aufzufassen. Wenn, wie wir nach den vorangegangenen Seiten wohl feststellen müssen, in der leh­re der Apostel zumindest derKem einer' Erinnerung steckt an das ir­dische Wirken des Herm in' seiner schlichten Geschichtlichkeit, dann bezeugt das Kreisen der apostolischen Ethik um das Kreuz der Jün­ger eine wesentliche, verbindliche und kostspielige soziale Haltung. Es mag Zeiten gegeben haben, in denen die Probleme von Macht, Ge­walt und Zusammenleben der Völker nicht im Zentrum des ethischen Interesses standen; nicht jedoch' im ausgehenden zwanzigsten Jahr­hundert. Die wiederentdeckte Ethik der "Verantwortung" oder der "Macht" kann nicht länger beanspruchen, christlich zu sein, und zur gleichen Zeit dem Urteil bzw. der Verheißung entgehen, die im Bei­spiel des leideridenGottesknechtes liegt .

. Zwar wurde die Beispielhaftigkeit von Jesu gesellschaftlich menschlicher Existenz selten als sozialethisches Modell angesehen31 , doch die von uns zitierten Texte und mit ihnen die darin repräsentier­ten neutestamentlichen, Traditionen waren kaum zu übersehen. Man hat sie nur anders interptetiert. Diesen anderen Interpretationen müssen wir uns zuwenden.32

31 Carl F.H. Henry sammelt in seinem Kap'itel "Jesus as the Ideal of Chri­stian EthiCs" aus Christian: Personal Ethics (Grand Rapids, Eerdmans, 1957), pp. 398ff; eine Fülle von Material, um der Exemplarität Jesu orthodoxe Loya­lität zu sichern. Doch sein Jesusbild ist erstaunlich selektiv. Es kreist um rein persönliche Tugenden (Selbstlosigkeit, Mitleid, Standhaftigkeit in der Versu­chung" Demut, ,Gehorsam) statt um ethische Spezifika. Die zelotische Ver­suchung wird .. nicht ertvähnt und Jesll Atmut ,oder Ehelosigkeit wird exemplari­scher. Wert ausdrücklich abgesprochen '(p. 411). Henrys spätere Aspects of Christian Social Ethics (Eerdmans, 1964) gehen nicht auf das Thema ein. Hen­ry ist also ein treuer Repräsentant der Tradition, die in der Lage war, große Teile des neutestamentlichen Idioms zu integrieren, ohne dessen eigentliche historische Tendenz zu· bemerken.

32 In seinem Aufsatz "Von der Imitatlo Dei zur Nachfolge Christi" (Aus frühchristlicher Zeit (Tübingen 1950), pp.186 ff.) unterstützt Hans Joachim Schoeps unsere Auffassung von der Bedeutung der Jüngerschaft in einer Ana­lySe des Hintergrunds dieses Begriffes. Er betont, daß J esu Ruf zur Nachfolge (Mark. 2:14) ein messianischer Ansptuch ist und daß die Einladung zur Jünger­schaft in Jesu eigenem Anspruch, dem Vater zu folgen, begründet wird. Auch wenn 4-as J ohannesevangelium diese Identität in Begriffen der griechischen On­tologie ausdrückt, und- der Apostel Pauluswieder eine ander.e Terminologie benutzt, die der mimeris; so bleiben doch grundsätzlich alle innerhalb dieses jüdischen Rahmens. Schoeps geht es darum, zu zeigen, daß spätere Interpre·

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Das "Kreuz" in der protestantischen Seelsorge

Als Seelsorgeinstitution muß sich die Kirche einem universalen . Bedürfnis stellen: die Hilfsbedürftigkeit von Menschen jeden Alters im Angesicht des Leidens: Krankheit und Unfall, Einsamkeit und Versagen. Gibt es einen besseren Trost als das biblische Wort vom Kreuz? Es macht das !;eid erträglicher, gibt ihm einen Sinn in Gottes Plan, ja es macht Leid sogar zum Verdienst, da "sein Kreuz tragen" ein Synonym für Jüngerschaft ist. Vielen Menschen in Krankenhäu­sern oder Konfliktsituationen wurde durch diesen Gedanken gehol­fen, die Last ihres Schicksals zu tragen und sie im Lichte von Gottes Anwesenheit und Plan zu sehen.

Der Respekt vor der Lebensqualität dieser Menschen und die Be­rechtigung dieses seelsorgerischen Anliegens dürfen uns nicht blind machen gegen Sprachmißbrauch und falsche Anwendung der Schrift, die damit einhergehen. Das Kreuz Christi war kein unerklärliches oder zufälliges Ereignis, das ihm zustieß wie Krankheit oder Unfall. Jesus akzeptierte das Kreuz als sein Schicksal, er bewegte sich darauf zu, provozierte es sogar, obwohl er anders gekonnt hätte. Er nimmt das Kreuz aus freiem Willen auf sich, und er warnt seine Jünger, falls sie sich beim Betreten deseiben Weges der Kosten weniger bewußt sein sollten (Luk.14:25-33). Das Kreuz von Golgatha war keine schwie­rige Familiensituation oder Enttäuschung persönlicher Erwartungen, "keine zermübende Schuld, auch keine nörgelnde Schwiegermutter; es war das politische,juristisch zu erwartende Ergebnis des moralischen Zusammenstoßes mit den die Gesellschaft beherrschenden Mächten. Schon die frühen Christen mußten davor gewarnt werden, sich alles und jedes Leiden als Verdienst zuzuschreiben; nur unschuldiges Lei-

. den, das. Ergebnis des bösen Willens ihrer Gegner, hat Bedeutung vor Gott (l.Petr.2:18-21, 3:14-16; 4:1,13-16; 5:9; Jakobus 4:10).

Eine andere Uminterpretation verlagert das Kreuz in die Inner­lichkeit der Selbsterfahrung, so bei Thomas Müntzer, Zinzendorf, den Erweckungsbewegungen und im christlichen Existenzialismus.

Wieder andere sprechen vom Kreuz und meinen subjektive Ge-

tation recht femliegende Inhalte unterstellte. Sie bezog sich z.B. auf ekstati­sche Erfahrungen (Stigmatisierung), auf symbolische Wiederholungen von Details aus Jesu irdischem Leben (Barfiißigkeit); oder sie behauptet, an der Ver­göttlichung der Menschheit teilzuhaben, deren Anfang die Menschwerdung Christi sei Es ist charakteristisch für all diese abweichenden Interpretationen, daß sie keinen Bezug haben zu dem Bereich persönlichen und sozialen Kon­flikts, innerhalb dessen Jesus dem AufrufurspIÜnglich seine Bedeutung gab.

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brochenheit, Absage an Stolz und eigenen Willen. Dietrich Bon­hoeffer sagt in Gemeinsames Leben33 : "In der Beichte geschieht der Durchbruch zum Kreuz." " ... und es ist ja nichts anderes als unsere Gemeinschaft mit Christus, die uns in das schmachvolle Sterben der Beichte hineinfUhrt, damit wir in Wahrheit teilhaben an seinem Kreuz .... in der Beichte bejahen wir unser Kreuz." Die Erniedrigung in der Beichte mag für die seelische Gesundheit für Gruppenprozesse und die Bildung einer Gemeinschaft ganz wünschenswert sein; doch djls sollte uns nicht von der Erkenntnis abhalten, daß im Neuen Te­stament dafür nicht das Wort Kreuz gebraucht wird.

Auch das kierkegaardsche Denken macht ausgeprägten Gebrauch von den Motiven des "Kreuzes" und der "Nachahmung"; ich bin we­niger sicher als mein Freund Vernard Eller 34 , daß darin die konkrete ZUIÜStung zur Jüngerschaft eingeschlossen ist.

Nachahmung und Entsagung

Lange Zeit hat man in Exegese und Predigt die äußere Fonn von Jesu Leben mit der eines "Bettelmönches" verglichen: er verließ Heim und Eigentum, er lebte ehelos und zog barfuß herum. Wieder­um, ohne Respektlosigkeit gegenüber dem Adel der monastischen Tradition und ihrer bitter nötigen Kritik religiöser Bequemlichkeit müssen wir uns bewußt sein, daß im Neuen Testament die Entsagung, der Verzicht einen anderen Ort hat. Sowohl die wenigen, die versu­chen, Jesus nachzufolgen, indem sie fonnal seinen Lebensstil nachah­men, als auch die vielen, die dieses Mißverständnis als Argument für Jesu Irrelevanz benutzen, haben eine erstaunliche Lücke im neutesta­mentlichen Material übersehen. Wir haben es an anderer Stelle schon kurz erwähnt: es gibt kein allgemeingültiges Rezept der Nachahmung Jesu. Nach allgemeiner Überlieferung war Jesus nicht verheiratet; doch wenn der Apostel Paulus, Hauptadvokat für ein Leben "in Christus", ausftilulich über die Vorteile der Ehelosigkeit oder die Nichtwiederverheiratung von Witwen (l.Kor.7) spricht, kommt es ihm nicht in den Sinn, Jesu Beispiel anzuftiluen, nicht einmal als ei­nes von vielen Argumenten. Es wird angenommen, daß Jesus vor sei-

33 München: Christian Kaiser Verlag, 1939, p98f.

34 Kierkegaard and Radical Discipleship (Princeton V.P., 1968), besonders das Kapitel "Christ as Savior and Pattern."

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nem Wirken als Zimmermann gearbeitet hat; doch niemals , auch nicht als er ausführlich dargelegt, warum er sich als Handwerker selbst unter­hält (l.Kor.9), kommt Paulus auf den Gedanken, hierin ahme er Jesus nach. Jesu Umgang mit der Dorlbevölkerung, seine Gleichnisse aus dem Leben der Bauern und Fischer, der Aufenthalt in Wüsten und auf Bergeshöhen wurden oft von den Verfechtern ländlichen Lebens als Vorbild angeführt, aber nicht im Neuen Testament. Die Gründung eines kleinen Jüngerkreises, den er in monatelangem engen Kontakt lehrte, wird als Modell seelsorgerischer Methode beansprucht; das Lehren in Gleichnissen wird zum Modell anschaulicher Unterwei­sung; es gibt Versuche, sein Gebetsleben oder die vierzig Tage in der Wüste nachzuahmen: aber nicht im Neuen Testament.

Es gibt nur einen Bereich, in dem das Konzept der Nachahmung gilt - aber da gilt es ftir die gesamte neutestamentliche Literatur, und, was noch auffälliger ist, es gibt eben keine Parallelen auf ande­ren Gebieten: es geht um die konkrete gesellschaftliche Bedeutung des Kreuzes in der Beziehung zu Feindschaft und Macht. Dienen er­setzt Herrschaft, Vergebung überwindet Feindseligkeit. So - und nur so - verpflichtet uns neutestamentliches Denken, "Jesus ähnlich zu sein".

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8. Christus und die Macht

Ein Einwand gegen den normativen Anspruch Jesu meint, sein radikaler Individualismus habe nichts zu Macht- und Strukturproble­men zu sagen. Manchmal wird dieser Ablehnungsgrund durch weitere, vielleicht treffendere Argumente überdeckt; so behauptet die "Inte­rimsthese", die Ethik Jesu sei nicht übertragbar, da er das bevorste­hende Ende der Geschichte erwartete; oder die "Elengchisthese" meint, die hohen ethischen Anspruche Jesu zielten nicht auf Gehor­sam - sie wollten den Menschen nur zur Trauer über seine Sünde bringen. Doch oft verraten die Argumente auch eine grundlegende Ablehnung auf der Basis dieses Individualismus. Im Einklang mit der persönlichen Ansprache, wie sie für den protestantischen Glä'uben seit Luther so zentral ist, verstärkt noch seit dem Pietismus und beson­ders seit dem Verschmelzen des protestantischen Existenzialismus mit dem modernen säkularen Individualismus - wiederum verstärkt seit Freud und Jung unserer Kultur ein Menschenbild verpaßt haben, das den Menschen als egozentrisch reagierenden Organismus be­schreibt - im Einklang mit all diesem schien es einleuchtend, daß Je­su Botschaft sich vor allem an das Individuum richtete, daß sie vom Zuhörer etwas verlangte, das am besten individuell zu leisten war. Ob dieses Etwas eine seltene heroische ethische Leistung ist, wie die Feindesliebe, oder eine flir den NormalbÜfger leichter zugängliche Reaktion, wie das Bedauern begangener Sünden, muß jedes Indivi­duum für sich entscheiden. Die Strukturen der Gesellschaft haben

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damit jedenfalls nichts zu tun.1

Als die Christen sich im vierten Jahrhundert in Positionen mit sozialer Verantwortung wiederfanden, so wird weiter argumentiert, mußten sie sich ihr Material für ein ethisches Urteil aus anderen Quel­len holen als bei Jesus. Das sollte uns nicht überraschen. Der Grund liegt nicht nur darin, daß die Verfasser und Leser des Neuen Testa­ments kulturell so naive Leute waren, die von gesellschaftlichen Insti­tutionen und Macht wenig Ahnung hatten, obwohl dies zutrifft und die Tendenz verstärkt. Der Grund liegt auch nicht nur darin, daß die Christen, was ihren sozialen Rang betrifft, im ersten Jahrhundert ei­ne unwichtige Minderheit waren, die gut ihr Leben leben konnte, ohne sich viel um solche Dinge zu kümmern, obwohl auch dies zu­trifft und den Effekt verstärkt. Der eigentliche Grund, warum wir

1 Rudolf Bultmann hat diese Auffassung für die Modeme klassisch fonnuliert: "Seine Predigt richtet sich nicht primär wie die prophetische Predigt an das Volk als Ganzes, sondern an die Einzelnen . ..• In diesem Sinne istJesu Gottesgedanke entgeschichtlicht; d.h. das Verhältnis von Gott und Mensch ist den Bindungen an die Weltgeschichte entnommen." Theologie des Neuen Testaments (Tübingen: Mohr, 61968), p. 25.

Nicht nur diejenigen, die an sozialen Fragen nicht interessiert sind, meinen, die biblische Sprache sei ohne unmittelbare Bedeutung für die Gesellschaft. Auch solche, denen es ausdrücklich um diese "Bedeutung" geht, halten diese für kein eigentlich biblisches Ariliegen, sondern meinen, sich ihm auf dem Wege allgemeiner geschichtsphilosophischer Aussagen oder über ein Konzept christ­licher Berufung nähern zu müssen. Im Vorwort des Herausgebers zu einer SalIlß}o lung von "Bibelstellen über Macht und ihren Gebrauch" in einer Sondernum­mer von Student World (Zeitschrift des Weltbundes christlicher Studenten) über das Gewaltproblem (57/1964) meint der ungenannte Verfasser (p. 169): "Unser Thema ist Teil einer zeitgenössischen Diskussion und wird daher eher an die Bibel herangetragen als aus ihr entnommen .... Das Gegenteil gilt von dogmatischen Fragen, die uns aus der Aufzeichnung der Offenbarung Gottes erreichen; wir würden sie ohne den biblischen Text nicht stellen."

Ich möchte meinen, was man traditionell als "dogmatische Fragen" ansieht, ist dem Inhalt der Originaltexte in vielen Fällen fremder als das Problem der Macht Es ist überliefert, daß J esus ausdrücklich vor den Fragen der Königschaft, der Feindesliebe, der Verwendung des Reichtums st;md; nur sehr indirekt kön­nen wir aus seiner Lehre etwas über die Metaphysik der Menschwerdung oder des Sühnetodes erfahren. Repräsentativ für diese Auffassung ist der Beitrag Ro­ger Mehls "The Basis of Christian Social Ethics" in Bennett, Hrsg., Christian Ethics in aChanging World. Mehl will die Grundlage für eine Sozialethik schaf­fen; doch dazu verlagert er das Anliegen des Neuen Testaments ganz auf die persöriliche Ebene, so daß die Problematik der Sozialethik schließlich darin be­steht, wie man J esus darin noch unterbringen kann. Die Lösung besteht dann hauptsächlich im Versuch, individuelle Kategorien ("Personalisation" "Verant­wortung") auf soziale Strukturen zu übertragen.

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uns nicht wundern sollten, daß die Kirche im konstantinischen Zeit­alter zu anderen Konstruktionen christlicher Sozialethik Zuflucht nehmen mußte, ist recht simpel und logisch, daß Jesus zu diesem Thema nicht viel zu sagen hatte. Und hätte Jesus sich zufällig in die­ser Richtung geäußert, etwa in den Spuren der prophetischen Tradi­tion, die er allerdings nur aufnahm, um sie existentieller zu formulie­ren, so steht doch fest, daß zur Zeit der paulinischen Gemeinden jede solche Dimension verlorengegangen war.

Inhaltlich haben wir diese Auffassung schon bei der erneuten Lektüre des Evangeliums abgehandelt. Dabei entdeckten wir ein Jesus­bild, das diese Argumentation auf ganzer Linie widerlegt. Es fehlt nun noch eine genaue Fonnanalyse: enthält die biblische Literatur tat­sächlich Konzepte, die dem "Macht-" oder "Struktur"-begriff, den die modernen Gesellschafts- und Politikwissenschaften gebrauchen, äquivalent sind? Lenkt unsere Voreingenommenheit für das Trans­zendente und die Seele, für Rechtfertigung, Offenbarung und Ver­söhnung unsere Aufmerksamkeit nicht so stark auf die inneren Struk­turen des einmaligen Individuums, daß sich keine Brücke hinüber in das andere Gebiet schlagen läßt?

Auch wenn die interdisziplinäre Tagesordnung noch nicht viel damit anfangen konnte, so hat doch die jüngste Exegetengeneration an diesem Punkt erstaunliche Klarheit geschaffen. Es hat sich eine exegetische Literatur entwickelt, die, obzwar von geringem Umfang, beeindruckt durch grundsätzliche übereinstimmung und durch ähn­liche Ergebnisse verschiedener Exegeten. Am systematischsten und prägnantesten wurde diese neue Sicht von Hendrik Berkhofund G.B. Caird formuliert; zufällig oder in detaillierten Untersuchungen unter­stützt von G.H.C. Mac Gregor und Markus Barth, hat dieses erneu­erte Verständnis die Sympathie einer ganzen Forschergeneration, die im Geist des "biblischen Realismus" arbeitet. Doch das Idiom wird hinter den Grenzen der Disziplinen noch nicht verstanden. Dieses Kapitel möchte darum nicht die paulinische Mächtelehre darstellen -sie wird von den Fachleuten heute weitgehend verstanden und akzep­tiert - sondern es soll erhellt werden, wie diese Lehre mit modernen Auffassungen und Fragen verknüpft ist.

Ein- und Mehrdeutigkeit des Machtbegriffs

Die zeitgenössische Diskussion zeigt deutlich, daß man sich sehr wohl über Wesen und Sitz eines Problems einigen kann, ohne genau zu wissen, wie es "in den Griff zu kriegen" ist. Wenn in der moder-

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nen Gesellschaftsanalyse Begriffe wie Macht und Struktur gebraucht werden, glaubt jeder gen au zu wissen, was gemeint ist. Und doch hätte ein Logiker wenig Mühe zu zeigen, daß nicht immer ein und dasselbe gemeint ist. Manchmal wird der Begriff "Macht" klar von "Autorität" unterschieden, wobei der zweite Begriff Legitimität oder rechtliche Gültigkeit der Machtausübung einschließt; ein andermal verschmelzen die beiden. Manchmal wird "Macht" von "Gewalt" un­terschieden, als etwas allgemeineres, das zwar legitimer ist, aber weni­ger offen sichtbar; auch hier wird oft gleichgesetzt. Das Bemühen um Genauigkeit und die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und Gemeinsamkeiten durchkreuzen und überlappen sich fortwährend; die Verbindungen sind je nach Schule und Sprache verschieden.

Etwas von dieser anregenden Verwirrung findet sich auch im Denken des Apostels Paulus, wenn er mitunter dieselben Denkmuster auf verschiedene Probleme in verschiedenen Kontexten anwendet. Er spricht von "Fürstentümern und Mächten", "Thronen und Herrschaf­ten" und gebraucht dabei eine politisch gefärbte Sprache. Aber er verwendet auch kosmologische Ausdrucke wie "Engel und Erzengel", "Elemente", "Höhen und Tiefen". Oder er spricht in religiöser Spra­che: "Gesetz", "Wissen". Manchmal kann der Leser Parallelen zwi­schen den verschiedenen Konzepten erkennen, manchmal auchnicht. 2

Die Komplexität solcher Begriffe ließe sich für den modemen Leser wohl sehr fruchtbar in einer Meditation über die mannigfalti­gen Bedeutungen des Wortes "Struktur" im gegenwärtigen Sprachge­brauch illustrieren. Es kann sich auf ein Netzwerk von Personen und Institutionen beziehen, die dazu in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen oder Druck auszuüben, wie in dem Ausdruck "Machtstruktur" . Man kann dieses Wort auf eine Gruppe von Menschen beziehen, die

2 Berkhof (Christus en de Machten, Nijkerk: Callenbach, 1953; hier zitiert nach Christ and the Powers, Scottdale: Herald, 1962, 21977) meint, jeder die­ser Ausdrücke habe für Paulus möglicherweise eine eigene, sehr präzise Bedeu­tung als terminus technicus gehabt; es handle sich also nicht einfach um paral­lelstehende Synonyme. Das Beste, was wir heute tun können, ist, uns um ein Verständnis der Richtung zu bemühen, die das Denkgebäude als Ganzes fiir uns hat. Wir könnten Berkhof zustimmen, daß Paulus wahrscheinlich eine solche fIXe Bedeutung im Sinn hatte; es ließe sich aber wohl zeigen, daß es wenig aus­machen würde, wäre das nicht der Fall gewesen. Auch ein heutiger Soziologe oder Psychologe kann sehr wohl Ausdrücke wie "Macht" oder "Struktur" vor verschiedenem Publikum oder in verschiedenem thematischen Zusammenhang verschieden gebrauchen und doch in seinem Denken nicht weniger klar und sy­stematisch sein. Verschiedene Begriffe in ungelahr synonymer Bedeutung oder einen Begriff in verschiedener Bedeutung und verschiedenem Kontext zu ge­brauchen, ist nicht notwendig ein Zeichen unklaren Denkens.

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bekannt sind oder herausgefunden werden können. Ein Streiter der Bürgerrechtsbewegung z.B. konnte den Terminus auf den Herausge­ber der Lokalzeitung, den Bankier, den Sheriff, den Vorsitzenden der Schulbehörde, den Besitzer des größten Kaufhauses in einer Süd­staatenstadt anwenden. Ein andermal ist die "Machtstruktur" nicht so sichtbar, aber man ist nicht weniger davon überzeugt, daß sie exi­stiert; etwa wenn Marxisten von der "Wallstreet" und damit symbol­haft über ein Phänomen sprechen, das nicht darum weniger real ist, weil es sich schwer exakt lokalisieren läßt.

In wieder anderen Fällen ist die "Struktur" nur im Kopf desjeni­gen vorhanden, der sie analysiert. Spricht ein Psychologe von "Per­sönllchkeitsstruktur" oder "Antwortstruktur", so will er unsere Auf­merksamkeit nicht auf bestimmte Nervenendungen und -verbindun­gen lenken. Er sieht vielmehr in der menschlichen Wahrnehmung und Reaktion ein Muster, das unabhängig von unserer Kenntnissen über die tatsächliche Chemie und Elektromechanik des Nervensystems "Struktur-"charakter hat. Für den Architekten wiederum hat Struk­tur mit dem baulichen Kunstwerk zu tun. Die Struktur einer Sprache ist ihre Gramma tik, Syntax und Logik, die Art und Weise wie die Wörter nach ungeschriebenen Gesetzen funktionieren, die irgendwo im kollektiven geistigen Prozess der entsprechenden Sprachgemein­schaft angesiedelt sind.

In all diesen Beispielen hat der Strukturbegriff die Funktion, Muster oder Regeln aufzuzeigen, die die direkt wahrgenommenen in­dividuellen Phänomene übersteigen, ihnen vorangehen oder sie bedin­gen. Die Brücke ist mehr als die Seile und Balken, aus denen sie sich zusammensetzt. Der psychische "Komplex" oder das "Syndrom" ist sehr viel mehr als die Gedanken und Reflexe, die er organisiert. Eine soziale "Klasse" ist sehr viel mehr als die Einzelpersonen, aus denen sie besteht. "Religion" ist sehr viel mehr als ein Sack voll ausgesuch­ter Rituale. Der Begriff der Struktur will in all seinen Ausprägungen diese Regelhaftigkeit erfassen. Analog dazu verweist der Begriff "Macht" in all seinen Modulationen auf eine Fähigkeit, Dinge gesche­hen zu lassen.

Besonders im Derlkerr des Apostels Paulus haben wir einen an­sehnlichen Wortschatz entdeckt, der sich mit Macht und Strukturen beschäftigt. Was will er mit diesem Vokabular sagen? Lassen sich sei­ne Aussagen in die Sprache der modernen Sozialwissenschaften über­setzen?

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Christus und die Mächte in der zeitgenössischen Theologie

In der letzten Generation hat die neutestamentliche Exegese ei­nen wichtigen Fortschritt gemacht_ Sie hat eine Lücke in der theolo­gischen Ethik mit einem Rätsel in der Interpretation des Neuen Testa­mentes in Zusammenhang gebracht. Seit dem Beginn der kritischen Beschäftigung mit dem Neuen Testament ist man davon ausgegangen, daß das Reden des Apostels von Engeln, Dämonen oder Mächten als überbleibsel des antiken Weltbildes zu vernachlässigen sei. Es wurde weder interpretiert noch übersetzt, sondern einfach ohne Diskussion fallen gelassen. Andererseits nahm man, wie wir gerade gesehen ha­ben, unter dem Einfluß des protestantischen Individualismus an, der Apostel habe sich nicht mit Strukturproblemen befaßt. Jetzt fällt uns auf: die unhantierbare Bildersprache hat dieselbe Gestalt wie das fehlende Teil im ethischen Puzzle. Die Ereignisse, die Europa zwi­schen 1930 und 1950 erschütterten, veranlaßten die protestantische Theologie, nach einem angemesseneren Verständnis der Macht des Bösen zu suchen, das die Kruste der zivilisiertesten Gesellschaften durchbrachen hatte. Es kann nicht länger davon ausgegangen werden, daß der Mensch und seine Institutionen ihre Probleme allein lösen können. Die Theologen begannen, von neuem zu fragen, was ihr Glaube an Jesus Christus einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft zu sagen hat.

Zur gleichen Zeit hatten modeme Forschungsmethoden den Theologen größere Möglichkeiten in die Hand gegeben, den Sinn biblischen Denkens innerhalb seines ursprünglichen kulturellen Kon­textes zu erfassen. Seit dem Ende des apostolischen Zeitalters hat es wohl nie eine größere Fähigkeit gegeben, sich in eine andere Kultur hinein zu versetzen. Die bislang "uninteressanten" Passagen des Neu­en Testamentes wurden nun verständlich. Statt sofort nach der heu­tigen Bedeutung lernten die Wissenschaftler zunächst einmal sorgfäl­tiger nach der Intention des Autors damals zu fragen, seiner eigenen Zeit gegenüber, in seiner eigenen Sprache und in Konzepten, die uns nicht mehr unmittelbar verständlich sind. Die neue Fragestellung und die neuen Methoden trafen so zusammen, daß man die paulini­sche Antwort ins ethische Puzzle einsetzen konnte. Es stellte sich he­raus, daß der Teil des neutestamentlichen Weltbildes, mit dem man nichts anzufangen gewußt hatte, genau die Fragen beantwortete, zu denen das Evangelium angeblich nichts zu sagen hatte.3

3 Indem wir die Bedeutung der apostolischen Begriffe für die Institutionen und Ideologien unserer Zeit so stark betonen, lehnen wir keinesfalls alle wört-

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Unsere Darstellung der paulinischen Lehre stützt sich dankbar und ausführlich auf die' Interpretation Hendrik Berkhofs, einer der kreativen Denker, die fur diese Analyse verantwortlich sind. Von mehreren Studien über diesen Zusammenhang, die ~ sich gegenseitig unterstreichen4 , ist seine Darstellung nur die klarste und zugänglichste.

Der Ursprung der Mächte im Schöpfungsplan Gottes

Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborne der ganzen Schöpfung; denn in ihm ist alles, was in den Himmeln und auf Erden ist, erschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, seien es Throne oder Hoheiten oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen; und er ist vor allem, und alles hat in ihm seinen Bestand. (KoL 1:15-17)

Was in Vers 17 mit "Bestand haben" übersetzt wird, hat dieselbe Wurzel wie unser modemes Wort "System". Das ist Christi Teil an

licheren Bedeutungen ab, die das Vokabular des Dämonischen außerdem ent­hält. (Okkultismus, Astrologie, Besessenheit, Exorzismllls). Der Unterschied zwischen heiden Bereichen oder Definitionsweisen des "Dämonischen" war wahrscheinlich fiir Paulus weniger offensichtlich als er manchem unserer Zeit­genossen erscheint

4 H. Berkhof, op.cit. Neben Berkhof, den wir hier ausführlich wiedergeben, sind die folgenden im wesentlichen parallelen Untersuchungen am hilfreichsten. G.B.Caird, Principalitiesand Powers (Oxford: Clarendon, 1956); G.H.C.Mac Gregor, "Principalities and Powers: The Cosmic Background ofPaul's Thought", NTS, 1 (1954), 17-28; auch in H.Mc Arthur; ed., New Testament Sidelights (Hartford, 1960), p.l01; E. Gordon Rupp, Principalities and Powers: Studies in the Christian Conflict in History (London: Epworth, 1952); W.A.Visser't. Ho oft, The Kingship ofChrist (New York: Harper, 1948), pp. 136ff: D.E.H. Whitely, The Theology ofSaint Paul(Oxford Blackwell, 1964), Kap.2,pp.18-30; Amos N.Wilder, Kerygma, Eschatology and Social Ethics (Philadelphia: For­tress, 1966). Unterstützendes Material findet sich bei J ames S.Stewart, "On a Neglected Emphasis in New Testament Theology," SJT, 4, (1951),292; and Andres Ny­gren; "Christ and the ForcesofDestruction,"ibid, 366. Die verwandten Studien Clinton Morrisons und Heinrich Schliers beschäftigen sich weniger direkt mit der möglichen Übersetzung paulinischer Konzepte in die Modeme. In Anm.5 wird ein ethischer Text im paulinisehen Idiom vorgestellt. Graydon F. Snyder (op. cit., pp.8i) meint, die Terminologie der "Mächte" zur Beschreibung von Ur­sprung und Niederlage des Bösen wurzele in dem, was er den "Wächtermythos" nennt Markus Barth sichtet die neuere Forschung über die Mächte in Acquittal by Ressurrection (New York: Holt, 1964), p.159, Anm.21.

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der Schöpfung, sagt der Apüstel Paulus (Jühannes hätte vüm präexi­stenten Würt gesprochen); in ihm gewinnt alles "System"; in ihm hält alles zusammen. "Alles", damit sind hier die Mächte, die Kräfte der Welt gemeint. Unter den Geschöpfen herrscht Ordnung, eine Ordnung, die ihrer ursprünglichen Absicht nach ein göttliches Ge­schenk war.

Die meisten Belege im Neuen Testament betrachten die Mächte als gefallen. Es ist daher wichtig, zu Beginn daran zu erinnern, daß sie zur guten Schöpfung Güttes gehörten. Gesellschaft, Geschichte -sügar die Natur - wären .ohne Regelhaftigkeit, System, Ordnung nicht möglich - und Gütt wußte um diese Nütwendigkeit. Das Uni­versum wird nicht willkürlich, sprunghaft und unberechenbar durch eine ununterbrüchene Fülge neuer göttlicher Eingriffe erhalten. Es wurde als Ordnung erschaffen, und "es war gut". Die Schöpferkraft arbeitete vermittelt, durch die die ganze sichtbare Wirklichkeit .ordnen­den Mächte.

Die gefallenen Mächte in der Vorsehung Gottes

Zu unserem Unglück haben wir jedüch keinen Zugang zur guten Schöpfung Güttes. Der Mensch und seine Welt sind gefallen, und da­ran sind auch die Mächte beteiligt. Sie handeln nicht länger mehr nur als Vermittler des heilsamen göttlichen Schöpfungsplanes; sie versu­chen nun, uns vün der Liebe Güttes zu trennen (Röm.8:38); sie be­herrschen das Leben derer, die fern sind vün der Liebe Güttes (Eph. 2:2); sie halten die Menschen in der Knechtschaft ihrer Gesetze (KoI. 2:20); sie unterwerfen die Menschen ihrer Vürmundschaft (GaI.4:3). Strukturen, die uns eigentlich dienen süllten, beherrschen und bewa­chen uns nun.

Düch selbst in diesem gefallenen Zustand ist das Wirken der Mächte nicht einfach grenzenlüs böse. Die Mächte üben trütz ihrer Gefallenheit weiter .ordnende Funktiün aus. Selbst Tyrrannei (nach Römer 13: 1 unter die Mächte zu zählen) ist nüch besser als Chaüs, und wir süllten ihr untertan sein. Das Gesetz (nach Gal. 4:5 hält es uns davün ab, zur Reife des Sühnes zu gelangen) ist nichtsdestütrütz gerecht und gut, und wir süllten ihm gehürchen. Selbst heidnische und primitive Fürmen süzialen und religiösen Ausdrucks bleiben, üb­wühl .offensichtlich nicht zur Nachahmung zu empfehlen, Zeichen der bewahrenden Geduld Güttes gegenüber einer Welt, die nüch nichts vün ihrer Erlösung weiß (Apg. 17:22-28). Bevür er Christi Werk erklärt, macht Paulus in der Sprache seiner Zeit drei grundsätz-

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liche Aussagen über die Struktur kreatürlicher Existenz: (a) Diese Strukturen. sind von Gott geschaffen. Der göttliche

Schöpfungsplan gibt der menschlichen Existenz ein Netzwerk von Normen und Regeln vor, das gleichsam die Leinwand bildet, auf die das Bild des Lebens gemalt werden kann.

(b) Diese Mächte haben rebelliert und sind gefallen. Sie konnten nicht bescheiden in übereinstimmung mit dem Plan Gottes bleiben, sondern beanspruchten für sich selbst absoluten Wert. So knechteten sie den Menschen und seine Geschichte. Der Mensch ist an sie ge­bunden. In der Tat ist ~'Knechtschaft" ein Grundbegriff des Neuen Testaments zur Beschreibung der Verlorenheit des Menschen außer­halb Christi. Wem ist der Mensch untertan? Natürlich den für das Le­ben und die Gesellschaft notwendigen Strukturen und Werten. Doch diese haben sich zu Abgöttern aufgeworfen und es geschafft, den Men­schen in ihren Dienst zu nehmen, als hätten sie absoluten Wert.

(c) Trotz ihrer Gefallenheit können sich die Mächte der Souverä­nität von Gottes Vorsehung nicht ganz entziehen. Er kann sie immer noch gebrauchen, um Gutes zu wirken.

Bevor wir in der "Struktur- und Wertanalyse" fortfahren, wollen wir uns ansehen, in welchen konkreten modemen Phänomen Berkhof Strukturanalogien zu den Mächten sieht. S.22 zählt er auf:" Mensch­liche Traditionen, der von den Gestirnen beeinflußte irdische Lebens­lauf, Moral, feststehende religiöse und ethische Regeln, das Rechts­wesen und die Staatsordnung." in einer anderen Aufzählung (p.2S) erscheinen: "Staat, Politik, Klasse, Klassenkampf, nationale Interes­sen, öffentliche Meinung, akzeptierte Moral, die Idee der Sittlichkeit, Demokratie ... " In wieder einer anderen Aufzählung (p.27) listet er folgendes auf: "Der Stellenwert des Klans oder Stammes unter primi­tiven Völkern, die Verehrung der Vorfahren und der Familie ... im chinesischen Leben, die hinduistische Sozialordnung ... , die astrolo­gische Geschlossenheit des alten BabyIon ... , die vielfältigen morali­schen Traditionen und Sittenkodexe, die das moralische Leben be­stimmen ... , die Kräfte von Rasse, Klasse, Staat und Volk."

Eine etwas abstraktere Analyse an dieser Anspielungen zeigt, daß e.s sich hier um ein umfassendes Bild religiöser Strukturen (be­sonders religiöser Untermauerungen stabiler früher und primitiver Gesellschaften), intellektueller Strukturen (-ologien und -ismen), mo­ralischer Strukturen ( Verhaltenskodices und Bräuche) und politi­scher Strukturen (Diktatur, Markt, Schul- und Gerichtswesen, Rasse,

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Nation) handelt. Die Totalität ist in ihrer Breite überwältigend5 . Nichtsdestoweniger zeigt sorgfältige Analyse auch hier, daß von all diesen Strukturen gilt, was der Apostel Paulus von den Mächten sagt:

(a) Ihrem Wesen nach können all diese Strukturen als Teile einer guten Schöpfung angesehen werden. Ohne übergeordnete religiöse, intellektuelle, moralische und soziale Strukturen gäbe es weder Ge­sellschaft noch Geschichte, noch den Menschen. Wir können nicht ohne sie leben. Strukturen sind und waren nie nur die bloße Summe der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Bestandteile. Und dieses "mehr" stellt eine unsichtbare Macht dar, auch wenn wir nicht gewohnt sind, uns diese Macht als Person oder Engel vorzustellen.

(b) Doch die Strukturen dienen dem Menschen nicht, wie sie es sollten. Sie ermöglichen ihm kein freies, menschliches und liebendes Leben. Sie haben sich verabsolutiert und verlangen vom Einzelnen und der Gesellschaft unbedingte Loyalität. Sie verletzen und knech­ten den Menschen. Wir können nicht mit ihnen leben- Wie soll der Mensch, nachdem er sich diesen Mächten einmal unterworfen hat, je wieder frei werden?

(c) Der Mensch ist verloren in der Welt, in ihren Strukturen, in der Strömung ihrer Entwicklung. Aber der Mensch wurde auch in ge­rade dieser Welt erhalten, er konnte hier er selbst sein und so auf Gottes Erlösungswerk warten. Seine Verlorenheit und sein Überleben sind nicht voneinander zu trennen, beides hängt von den Mächten ab.

Die "Exusiologie" des Apostels, d.h. seine Lehre von den Mäch­ten, 1st weit d-avon entfernt, archaisch oder bedeutungslos zu sein; sie enthüllt sich vielmehr als subtile Analyse der Probleme von Gesell­schaft und Geschichte, sehr viel differenzierter als die anderen Ver­suche der Theologen, dieselben Probleme ausschließlich mit den Be­griffen "Schöpfung" oder "Persönlichkeif' zu beschreiben. Einige

5 Albert van den Heuvel schrieb in ausdrücklicher Anlehnung an die Denk­struktur Berkhofs ein, wie er selbst es nennt, "witziges Buch" über Mission für junge Erwachsene. Unter der Überschrift These Rebellious Powers (New York: Friendship) 1965 skizziert er einen sozialethischen Ansatz, den er als modeme Übersetzung derpaulinischenDenkstruktur ansieht. In ähnlicher Absicht macht William Stringfellow in Free in Obedience (New York: Seabury, 1964) ausführ­lichen Gebrauch von der Terminologie der Gewalten. Beide demonstrieren, wie fruchtbar sich mit paulinischer Bildlichkeit die götzenhaft-dämonischen An­sprüche der gefallenen Mächte veranschaulichen lassen; Springfellow geht we­niger darauf ein, was sich zugunsten der Mächte aus der Perspektive von Schöp­fung und Erlösung sagen läßt, van den Heuvel achtet weniger auf ihr kollekti­ves und strukturelles Wesen.

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traditionelle Theologien haben versucht, dieses Thema unter dem Titel "Schöpfungsordnungen" abzuhandeln. Aber es ist selten, falls überhaupt, gelungen,· unter dieser überschrift mit solcher Klarheit und Präzision beides zusammenzubringen: die Gefallenheit des Men­schen und das fortwirkende Herrschen der Vorsehung_ Außerdem zählte man in der traditionellen Denkweise Religion oder Ideologie im allgemeinen nicht zu den Schöpfungsordnungen. Ebensowenig ist man davon ausgegangen, daß gerade in Christus all diese Werte Be­deutung und Zusammenhang fmden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Theologie der Schöpfungsordnung hat allgemein vertreten, daß Jesus Christus direkt kaum etwas mit den Schöpfungsordnungen zu tun hat. Vielmehr hätten die verschiedenen Ordnungen (Staat, Familie, Wirtschaft, etc.) autonomen Wert, ohne direkten Bezug zur Erlösung und zur Kirche, da sie ja vom Vater geschaffen seien.6

Das Werk Christi und die Mächte

Wenn die Verlorenheit des Menschen in seiner Unterwerfung un­ter die rebellischen Mächte einer gefallenen Welt besteht, was bedeu­tet dann das Werk Christi? Daß er sich diesen Mächten unterordnet, macht den Menschen zum Menschen; denn ohne sie gäbe es weder Geschichte, Gesellschaft, noch Menschlichkeit. Will Gott den Men­schen also in seiner Menschlichkeit retten, so können die Mächte nicht einfach zerstört, beiseite geschoben oder ignoriert werden. Ihre Herrschaft muß gebrochen werden. Das hat Jesus getan, konkret und historisch, als er unter den Menschen wirklich frei und mensch­lich lebte. Dieses Leben brachte ihn dorthin, wohin wirklich mensch­liches Leben jeden Menschen bringen wird, ans Kreuz. In seinem Tod handelten die Mächte - in diesem Fall die angesehensten, gewichtigs­ten Repräsentanten der jüdischen Religion und des römischen Staates

6 Vielleicht die ausdrücklichste zeitgenössische Formulierung dieser Ansicht ist H. Richard Niebuhrs "trinitarisches" ethisches Argument: "The Doctrine of the Trinity andthe Unity of the Church," TT 3/3 (Oct.1946), 371ff. Die Unterscheidung der verschiedenen Personen der Trinität wird gekoppelt an verschiedene Ausprägungen ethischen Denkens; Gott, der Vater, ist die spezifi­sche Autorität hinter dem, was eine frühere Theologie "Schöpfungsordnungen" oder "Vorsehung" genannt hätte. Die polemische Pointe dieser Anrufung der Dreieinigkeit besteht darin, daß Niebuhr damit einem von ihm so genannten "Unitarismus" der z·weiten Person gegensteuern will, nämlich einer Ethik, die sich zu sehr an Christus orientiert Lange vor Niebuhr machte ein Großteil der lutherischen Theologie dasselbe, indem sie die moralische Autonomie (Eigen­gesetzlichkeit) der verschiedenen kulturellen Bereiche betonte.

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- im Einvernehmen. Wie alle Menschen war auch er diesen Mächten untertan (er war es sogar freiwillig). Er akzeptierte den Status des Unterworfenseins. aber moralisch brach er ihre Regeln, weil er sich weigerte, sie in ihrer Selbstverherrlichung zu unterstützen; darum töteten sie ihn. Die Gerechtigkeit, die er predigte, war größer als die der Pharisäer und seine Vision einer Gesellschaftsordnung war um­fassender als die Pax Romana; er gestattete den Juden die Profanie­rung eines heiligen Tages (und widerlegte so ihre moralischen Vor­wände); er erlaubte den Römern, ihre prahlerische Achtung des Ge­setzes im illegalen Vorgehen gegen ihn zu verleugnen. Nur so konnten sie der Bedrohung ihrer Herrschaft entgehen, die in der Tatsache be­stand, daß er in ihrer Mitte so moralisch unabhängig von ihren For­derungen existierte. Selbst den Tod fürchtete er nicht. Deswegen ist sein Kreuz ein Sieg; es ist die Bekräftigung seiner Freiheit gegenüber den rebellischen Forderungen der geschaffenen Ordnung; darin un­terscheidet er sich von Adam, Luzifer und allen Mächten: Jesus "er­achtete das Gottgleichsein nicht als Beutestück" (phil. 2:6; Jerusa­lerner Bibel). Sein Gehorsam bis zum Tod ist nicht nur Zeichen, sondern Erstlingsfrucht eineT authentischen, wiederhergestellten Menschheit. Wir haben es hier zum ersten Mal mit einem Menschen zu tun, der nicht Sklave einer Macht, eines Gesetzes oder Brauches, Gemeinschaft oder Institution, Wert oder Theorie ist. Nicht einmal um sein eigenes Leben zu retten, läßt er sich zum Sklaven dieser Mächte machen. Diese authentische Menschlichkeit schließt das frei­willige Annehmen des Todes aus den Händen der Feinde ein. So bringt gerade sein Tod seinen Sieg: "Daher hat ihn auch Gott über die Maßen erhöht und ihm den Namen geschenkt, der über jeden Namen ist, daß ... jede Zunge bekenne, daß Jesus Christus der Herr ist..." (2:9-11).

Auch euch, die ihr tot wart durch die Übertretungen und durch die Vor­haut eures Fleisches, euch hat er mit ihm lebendig gemacht, nachdem er uns alle Übertretungen vergeben hatte dadurch, daß er die gegen uns lautende Urkunde austilgte, die durch die Satzungen wider uns war; und

-er hat sie aus dem Wege geräumt, indem er sie ans Kreuz heftete. Nach­dem er die Gewalten und die Mächte gänzlich entwaffnet hatte, führte er sie öffentlich zur Schau auf und triumphierte in ihm '(über sie.

. (Kol. 2:13-15)

Der Apostel benutzt drei komplementäre Verben, um die Be­deutung Christi und seines Todes für die Mächte zu beschreiben. Wfe

7 "in ihm" kann sich auf Christus oder das Kreuz beziehen.

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diese drei Begriffe wechselseitig zusammenpassen, faßt-Berkhof meis­terhaft zusammen:

Durch das Kreuz (das wir hier wie anderswo immer im Zusammenhang mit der Auferstehung sehen müssen) schaffte Christus die Sklaverei ab, die im Gefolge der Sünde als Drohung und Anklage über unserer Existenz gelegen hatte. Am Kreuz "entwaffnete" er die Mächte, "Er stellte sie öffentlich zur Schau und triumphierte dadurch über sie". Um genauer zu beschreiben, was mit den Mächten am Kreuz geschah, be­nutzt Paulus drei verschiedene Verben. Er "stellte sie öffentlich zur Schau". Gerade in der Kreuzigung kommt die wahre Natur der Mächte zum Vorschein. Vorher hatte man sie als fundamentale, letzte Realitäten, als Götter der Welt anerkannt Man hatte nicht erkannt und hatte auch nicht erkennen können, daß dieser Glaube auf einer Täuschung beruhte. Nun, da in Christus der wahre Gott auf der Erde erscheint, wird offenbar, daß ihm die Mächte feind­lich gegenüberstehen; sie handeln als Feinde, nicht als seine Werkzeuge. Die Schriftgelehrten, die Repräsentanten des jüdischen Gesetzes, dachten nicht darin, Ihn, der im Namendes Gesetzes kam, dankbar aufzunehmen; sie kreuzigten Ihn im Namen des Tempels. Die Pharisäer personifizier­ten die Frömmigkeit und kreuzigten ihn dementsprechend im Namen der Frömmmigkeit. Pilatus, der Vertreter römischer Gerechtigkeit und römischen Gesetzes, zeigt, was diese wert sind, wenn sie der Wahrheit selbst Gerechtigkeit widerfahren lassen sollen. Offensichtlich verstand keiner der "Herrscher dieser Welt", die sich selbst als Gottheiten anbeten ließen, Gottes Weisheit, "denn hätten sie sie erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekieu­zigt" (1. Kor. 2:8). Durch ihre Begegnung mit dem wahren Gott sind sie nun als falsche Götter entlarvt; sie werden öffentlich zur Schau ge­stellt. So hat Christus "über sie triumphiert". Eigentlich ist schon ihre Ent­larvung ihre Niederlage. Doch das ist nur den Menschen offenbar, die wissen, daß in Christus Gott selbst auf der Erde erschienen ist. Des­halb müssen wir genauso an die Auferstehung wie an das Kreuz denken. Die Auferstehung manifestiert, was mit dem Kreuz schon erreicht war: in Christus hat Gott die Mächte herausgefordert, ist in ihr Territorium eingedrungen und hat gezeigt, daß Er stärker ist als sie. Der konkrete Beweis dieses Triumphes besteht darin, daß Christus die Mächte am Kreuz "entwaffnet" hat. Die Waffe, von der sie bisher ihre Stärke herleiteten, wurde ihnen aus den Händen geschlagen. Diese Waf­fe bestand in der Macht der Illusion, in ihrer Fähigkeit, die Menschen glauben zu machen, sie seien die göttlichen Herrscher der Welt, die letzte Sicherheit und das Ziel, das letzte Glück und die letzte Pflicht für die kleine und abhängige Menschheit. Seit Christus wissen- wir, daß das eine Illusion ist. Wir sind zu Höherem berufen: wir stehen unter höherem Befehl und unter einemgrößeren Beschützer. Keine Macht kann uns von der Liebe Gottes in Christus trennen. Entlarvt und in ihrer wahren Natur bloßgestellt, haben sie ihren mächtlgen Einfluß auf die Men­schen verloren. Das Kreuz hat sie entwaffnet: wo immer es gepredigt wird, findet die Entlarvung und Entwaffnung der Mächte statt.

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Das Werk der Kirche und die Mächte

Wenn das Werk Christi im Sieg über die Mächte besteht, dann muß diese Botschaft von der Kirche auch verkündigt werden. Paulus sagt: "Mir, dem geringsten unter allen Heiligen, ist diese Gnade zu­teil geworden, den Heiden den unergründlichen Reichtum Christi zu verkünden und ans Licht zu bringen die Verwirklichung des Geheim­nisses, das von Ewigkeit her in Gott, dem Schöpfer des Alls, ver­borgen war, damit jetzt den Mächten und Gewalten in Himmelshö­hen durch die Kirche die vielfältige Weisheit Gottes kundgetan würde. Das. entspricht dem ewigen Vorhaben, das er in Christus Jesus, unse­rem Herrn, ausgeführt hat" (Eph. 3:8-11). Auch hier möchte ich Berkhofzitieren (pp.41f):

Paulus trifft diese Feststellung im Zusammenhang mit der Wahrheit, daß seit Christus eine neue Kraft die Bühne der Heilsgeschichte betreten hat: die Kirche. Sie unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von Is­rael, dem alten Volk Gottes. Sie ist eine bisher unvorstellbare Synthese der beiden Menschensorten, die die Welt bevölkern: Juden und Heiden. Daß Christus die beiden in einen Körper zusammengebracht hat, ist das Geheimnis, das von Ewigkeit her in Gott verborgen war (v.9), aber nun, dank Paulus und seinem Wirken, ans Licht gekommen ist. Dieses Wirken veranschaulicht den "unergründlichen Reichtum Christi" (v.8) und die "vielfältige Weisheit Gottes" (v.lO). Das ist es, was die Kirche den Mächten ankündigt. Die bloße Existenz der Kirche - Heiden und Juden, die vorher nach .der stocheia8 der Welt wandelten, leben nun in der Gemeins«haft Christi zusammen - ist schon eine Verkündigung, ein Zeichen an die Mächte, daß ihre ungebro­chene Herrschaft ans Ende gekommen ist. Der Text macht noch nicht einmal eine Aussage über eine positive oder agressive Einstellung zu den Mächten. Solch eine Haltung ist auch überflüssig; denn die bloße Gegen­wart der Kirche in einer von den Mächten regierten Welt ist schon eine im höchsten Maße positive und agressive Tatsache. Wir haben bereits da­von gesprochen, was das für die Mächte bedeutet; es ist für sie ein Zei­chen der Endzeit, ihrer beginnenden Einkreisung und bevorstehenden Niederlage. Die gleiche Tatsache ist auch fiir die Christen mit Bedeutung befrachtet Jeder Widerstand und jeder Angriff gegen die Götter dieser Zeit bleibt unfruchtbar, solange die Kirche nicht selbst Widerstand und Angriff ist, solange sie nicht selbst in ihrem Leben und in ihrer Gemeinschaft de­monstriert, wie Menschen von den Mächten befreit leben können. Wir können die vielfältige Weisheit Gottes nur dem Mammon predigen, wenn unser eigenes Leben zeigt, daß wir freudig aus seinen Klauen be­freit sind. Wenn wir den Nationalismus bekämpfen wollen, so müssen wir in unserem eigenen Herzen damit anfangen, keine Unterschiede

8 Oder nach den "Elementen"; den Komponenten, aus denen sich die Reali­tät zusammensetzt: H.Berkhof, p.S 8, Anm.6.

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mehr zwischen den Völkern zu machen. Wir werden der sozialen Unge­rechtigkeit und dem Zerfall des Gemeinwesens nur dann widerstehen können, wenn in unserem gemeinsamen Leben Gerechtigkeit und Gnade herrschen und soziale Unterschiede ihre trennende Kraft verloren haben. Prophetische und warnende Worte an die Adresse des Staates und der Nation haben nur dann Bedeutung, wenn sie aus einer Kirche erwachseri, deren inneres Leben selbst eine Verkündigung der vieIiältigen Weisheit Gottes an die "Mächte in den Himmelshöhen" ist.

Es ist daher ein fundamentaler Irrtum, in der Haltung der neu· testamentlichen Kirche zu sozialen Fragen einen "Rückzug" oder die Ursache dieser Haltung in ihrer Schwäche zu sehen, in ihrer zahlen· mäßigen Bedeutungslosigkeit oder niedrigen sozialen Klasse, in der Angst vor Verfolgung oder in der ängstlichen Sorge, nicht von der Welt befleckt zu werden. Die "Andersartigkeit der Kirche"9 wur· zelt in ihrer Stärke, nicht in ihrer Schwäche. Denn sie ist Botschafter der Befreiung, nicht Gemeinschaft von Sklaven. Sie ist kein Umweg, keine Wartebank, keine Hoffnung auf bessere Zeiten ein paar Jahr­hunderte später; die Zurückweisung des Patriotismus der Zeloten und Makkabäer und der herodianischen Kollaboration war vielmehr der Sieg der Kirche. Die Kirche nahm es als Geschenk an, eine "neue Menschheit" zu sein, durch das Kreuz und nicht durch das Schwert ins Leben gerufen. Noch einmal Berkhof (p.43):

Das heißt nicht, daß Paulus nichts von einer direkten Begegnung zwi­schen den Gläubigen und den Mächten weiß. Epheser 6:10-18 beweist das Gegenteil. Der Gläubige kämpft letzten Endes nicht gegen greif­bare Menschen und Dinge ("Fleisch und Blut" v.12), sondern gegen die Mächte, denen sie gehorchen. Dieser Krieg gegen die Mächte muß ernst­haft gefiihrt werden. Man sollte sich bewaffnen dafiir. Die aufgezählten Waffen (Wahrheit, Gerechtigkeit, Bereitschaft fiir das Evangelium des Friedens, Glaube, Heil und das Wort Gottes), zeigen, daß Paulus nicht an eine Offensive gegen die Mächte denkt. Natürlich muß der Gläubige seine Verteidigung sichern, und doch kann> er das nur tun, indem er einfach nur standhält im Glauben. Er soll nur glauben; damit wird nicht mehr von ihm verlangt, als er leisten kann. Es ist nicht seine Pflicht, die Mächte in die Knie zu zwingen. Das ist ganz allein die Aufgabe J esu. Er hat sich bisher darum gekümmert und wird es auch weiter tun. Wir sind gerade deswegen fiir die Verteidigung zuständig, weil er fiir die Offensi­ve verantwortlich ist. Wir sollen nur die Mächte, ihre verfiihrende und versklavende Kraft zurückhalten, damit wir "den listigen Anschlägen des Teufels standhalten" können (v.ll, vgL 13). Auch die figurative An­spielung auf Waffen weist uns auf diese defensive Rolle hin. Gürtel, Panzer, Schuhe, Schild, Helm und Schwert (machaira, das kurze Schwert) das sind alles Verteidungswaffen. Von Lanze, Speer, Pfeil und Bogen ist nicht die Rede. Sie werden nicht gebraucht; diese Waffe trägt Christus

9 VgL meinen Artikel "The Otherness of the Church"MQR, 35 (Oct.1961), 286.

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selbst. Unsere Waffe ist es, uns eng an ihn zu halten und außerhalb der Reichweite der verschlingenden Gewalt der Mächte zu bleiben.

Die Kirche hat Vorrang in der christlichen Sozialstrategie

Bietet das Neue Testament ein Konzept zur Interpretation von Struktur und Geschichte einer säkularen Gesellschaft? In der pau­linischen Auffassung von den Mächten entdeckten wir ein Gedanken­gebäude, das sich sehr gut zur Behandlung dieser Probleme eignet.

Die kreatürliche Stellung des Menschen, sein gefallener Status, die Fortdauer der göttlichen Vorsehung, die ihn als Menschen erhält, das Rettungswerk Christi und die spezifische Stellung der christ­lichen Gemeinschaft innerhalb der Geschichte, sie alle werden in der Begrifflichkeit sozialer Struktur und der ihr innewohnenden Dynamik beschrieben. So kann leicht die Beziehung zu zeitgenössischen Gesell­schaftstheorien hergestellt werden. Darum möchten wir nun die Stellung der Kirche im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang nä­her betrachten.

Für Paulus, wie ihn Berkhof interpretiert, ist die bloße Existenz der Kirche schon ihre Hauptaufgabe. Sie selbst verkörpert die Ver­kündigung der Herrschaft Christi an die Mächte, aus deren Herr­schaft die Kirche befreit zu werden beginnt. Die Kirche greift die Mächte nicht an; das hat Christus getan. Die Kirche konzentriert sich darauf, sich nicht von ihnen verfUhren zu lassen. Ihre Existenz de­monstriert den Sieg über die Rebellion der Mächte.1°

Die paulinische Vorstellung vom Ort der Kirche in der Welt be-

10 Die wissenschaftliche Debatte darüber, inwieweit die Parusieerwartung der frühen Kirche enttäuscht wurde (vgl. p.97, Anm.10), hat die Aufmerksamkeit von der übereinstimmenden Überzeugung, wie neu und einzigartig das schon Geschehene war, abgelenkt. "Das Bekenntnis Jesu als Herrn und Heiland und der Anspruch Jesu auf die gesamte zivilisierte WeIt, wie er in den weitreichen­den missionarischen Zielen des Paulus veranschaulicht wird, schreibt die Hoff­nungen der Propheten, der Psalmisten und der frommen Armen fort auf eine Zeit, in der Gottes Wille auf Erden wie im Himmel getan wird .... Es ist richtig, daß die frühe Kirche die unmittelbare Wiederkunft Christi erwartete. Das ge­hörte untrennbar zu ihrem Geschichtsbild. Aber das kann nicht vergessen ma­chen, daß die Gläubigen ein neues Modell menschlicher Gemeinschaft formten und sehr konkrete soziale Werte in einer wachsenden Bewegung verwirklichten und dabei immer mehr mit existierenden Institutionen und bestehenden Inte­ressen ökonomischer, sozialer und politischer Natur zusammenstießen." Amos Wilder, Otherworldliness and the New Testament (New York: Harper, 1954), p.116. Das gesamte Lebenswerk Wilders, seine Rehabilitation neutesta­mentlicher Sprache und Bildlichkeit liegt im Wesentlichen auf der Linie un­serer Studie.

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inhaltet entscheidende Aussagen und Folgerungen für die zeitgenös­sische ökumenische Diskussion über die Stellung der Kirche in einer Welt rapiden sozialen Wandels. Der Ausdruck "verantwortliche Ge­sellschaft" ist seit seinem Auftauchen in den Vorbereitungsdoku­menten zur Versammlung des Weltrates der Kirchen in Amsterdam 1948 sehr verbreitet. In diesen Dokumenten wurde nachdrücklich unterstrichen, daß die Kirche, falls sie eine Aufgabe in der Gesamtge­sellschaft sieht, den ersten Schritt auf sich selbst zu tun muß. Die Losung hieß, "Laßt die Kirche Kirche sein." Ebensogut hätte man sa­gen können, "Laßt die Kirche eine wiederhergestellte, eine erneuerte Gesellschaft sein." Die Kirche muß ein Modell der Humanität sein, die z.B. ökonomische und rassische Gegensätze überwunden hat. Nur dann wird sie der Gesellschaft um sie herum etwas über den Umgang mit diesen Gegensätzen zu sagen haben. Wenn ihre Versöhnungspre­digt an die Welt nicht der eigenen Erfahrung entspricht, ist sie weder ehrlich noch wirksam. 11

Der Verfasser des Positionspapiers, aus dem der Ausdruck "ver­antwortliche Gesellschaft" stammt, war J.H. Oldham.12 An den An­fang seiner Erörterung über "die Praxis des gemeinsamen Lebens" setzte er folgende Erklärung:

Die erste unabdingbare Aufgabe besteht darin, der menschlichen Person durch die Wiedererweckung des persönlichen Lebens im lebendigen Ge-

II Franklin H.Littel, From State Church to Pluralism (New York: Doubleday Anchor, 1962)p.120 zeigt, wie protestantische amerikanische Kirchenführer sich selbst ihr Urteil sprechen, wenn sie der Gesamtgesellschaft durch politische Sanktionen moralische Verpflichtungen aufzuerlegen versuchen, die sie mit theologischen und kirchlichen Begründungen noch nicht mal den eigenen Mit­gliedern vermitteln können. Littell führt den Prohibitions- und Evolutionsstreit an. (Die Prohibition, daS Alkoholverbot in den USA 1920-34, führte zu einer Zunahme des organisierten Verbrechens und mußte schließlich als undurch­führbar aufgegeben werden. - In einigen Counties in den Südstaaten wurde per Gesetz die Evolutionstheorie in den Grundschulen verboten.) " ... Durch allgemeine Gesetze versuchten die Kirchenpolitiker sicherzustellen, was sie vielen ihrer Mitglieder nicht überzeugend als klug oder anstrebenswert darstellen konnte .... Da ihr die Glaubwürdigkeit eines wirklich disziplinierten Zeugnisses fehlte, wurde die protestantische Hinwendung zum politischen Han­deln zutiefst diskreditiert, und die Kirchen haben bis auf den heutigen Tag nicht ihre Autorität im öffentlichen Leben wiedererlangt."

12 J.H. Oldham, "Eine verantwortliche Gesellschaft", in Die Kirche und die Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung, Band III der von der Amsterdamer Versammlung des Weltrates der Kirchen herausgegebenen Reibe Die Unord­nungder Welt und Gottes Heilsplan. (Tübingen: Furche, 1948), p. 157f. Das in­terne Zitat stammt aus einem Aufsatz von G.D.H. Cole im Christian News­Letter, Nr. 90, 16. Juli 1941.

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ben und Nehmen, in der gegenseitigen Verpflichtung und Verantwortung einer Personengemeinschaft wieder Substanz zu geben. Wenn unsere Diagnose richtig ist, so kann die Welt nicht von oben her, sondern nur von unten her in Ordnung gebracht werden. Nur durch Leben kann Le­ben wieder Substanz und Tiefe erhalten. Predigten und Programme be­wirken aus sich keine Wandlung. Menschliches Leben ist Leben in Be­ziehungen zu anderen Personen und kann nur in diesen Beziehungen Sinn und Tiefe gewinnen.Da die Zahl der Personen, mit denen ein einzelner direkte und enge Beziehungen haben kann, begrenzt ist, muß die Kunst des Zusammenlebens in kleinen Gruppen, vor allem der Familie, ge­lernt und geübt werden. Das wesentliche Problem der modemen Gesellschaft besteht nach Pro­fessor G. D. H. eole darin, demokratische Lebensmethoden flir kleine Menschen in großen Gemeinschaften zu fmden. Denn die Menschen sind klein und ihre Leistungsfähigkeit kaun nicht über ihre Erfahrung hin­aus reichen. Diese kleinen Gruppen sind die Kräfte; aus denen das neue Europa gebaut werden muß, wenn die Demokratie der sie regierende Geist sein soll Sie sind die Kerne des neuen sozialen Bewußtseins, auf auf dem allein die praktischen Baumeister der neuen sozialen Ordnung von morgen eine Gesellschaft aufzubauen hoffen dürfen, in der die hö­heren Fähigkeiten der Liebe und des schöpferischen Dienstes einen Bo­den für ihr Wachstum finden werden. Die Kirche ist in erster Linie mit der Aufgabe befaßt, echtes soziales Leben auf doppelte Weise neu zuschaffen. Zunächst geschieht ihr größ­ter Beitrag zur Erneuerung der Gesellschaft durch Erfiillung ihrer vor­nehmsten Verpflichtung, das Wort zu predigen, und durch ihr Leben als gottesdienstliche Gemeinschaft. Quelle der Erneuerung, Ursprung neuen Lebens ist der Gottesdienst. Nur von seiner Fülle kann der verarmte Menschengeist neues Leben empfangen. Nur indem er auf die Forderung eingeht, vollkommen zu sein wie Er, kann er sich nach neuen Aufgaben ausstrecken. Seine Gnade und Wahrheit verbürgt und erhält letzten En­des die persönlichen und kulturellen Werte, die fiir die Gesundheit der Gesellschaft wesentlich sind. Die Kirche kann fiir die Gesellschaft nichts Größeres tun als ein Mittel­punkt zu sein, in welchem kleine Gruppen von Personen gemeinsam diese Erfahrung der Erneuerung erleben und einander in christlichem Le­ben wie im Handeln in weltlichen Bereichen unterstützen. Solche Grup­pen werden aus Wort und Sakrament und aus der Verbundenheit, wie sie die Gemeindeversammlung schenkt, lebendige Kraft schöpfen.

Dieser zentrale Stellenwert der Kirche wurde in den folgenden Jahren in den Basisdokumenten ökumenischer Sozialstrategie immer wieder unterstrichen. Doch als Studien über bestimmte soziale Pro­bleme angestellt wurden, wurde er verschwommener.13 Diese Studien

13 Seit 1961 (Neu Dehli) ist der Ausdruck "verantwortliche Gesellschaft" auf ökumenischen Treffen und in den Zeitschriften immer weniger geläufig. Einige Ethiker, im besonderen H.D.Wendland und Walter Muelder hatten den Termi­nus aufgegriffen und ihm ihre eigene Bedeutung gegeben. Andere, wie Keith

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waren zur Erfassung der Probleme sozialer Organisation notwendig; dabei hatte es aher oft den Anschein, als gäbe es hier keine spezifisch christliche Perspektive. Es schien so, als gäbe es in solchen Fällen nur die richtige, die Expertenperspektive - den Blickwinkel des Wirt­schaftswissenschaftlers, des Landwirtschaftsexperten, des Soziologen, der nicht unbedingt in der Kirche zu fmden ist. Außerdem erschien ein spezifisch christlicher Standard als Basis gesellschaftlicher Zu­sammenarbeit zwischen Christen und Nichtchristen nicht sehr geeig­net. Wir können nicht unbedingt davon ausgehen, daß während des ganzen ökumenischen Forschungsprozesses der zentrale Stellenwert der christlichen Gemeinschaft als neuer Menschheit im Blick behalten wurde, und zwar nicht nur als bloße Behauptung, sondern als Instru­ment sozialen Wandels.

Die veröffentlichten Dokumente aus dem ökumenischen Ge­spräch über Sozialethik haben es einigermaßen geschafft, nicht den pharisäischen Versuchungen zu erliegen. Es gibt kaum Tendenzen, Probleme zu lösen, indem man sich einem unveränderlichen Gesetz oder einer Kasuistik ohne Hintertürchen zuwendet. Doch wurde die sadduzäische Versuchung, auch eine Form der Knechtschaft unter den Mächten, ebenso erkannt und vermieden? Gemeint ist damit, die Annahme, die wirklich geschichtsbestirnmenden Kräfte lägen in den Händen der Armeeflihrer und Marktbosse, und zwar in einem sol­chen Ausmaß, daß Christen, wollen sie zur Erneuerung der Gesell­schaft beitragen, wie alle anderen auch versuchen müssen, sich selbst an die Spitze von Staat und Wirtschaft zu setzen, um diese Macht flir die Ziele einzusetzen, die sie für wünschenswert erachten. 14

Bridston, Max Alain Chevalier und Charles West hatten dagegen Zweifel auf systematisch-theologischer Ebene angemeldet. Eine vielleicht ebenso bedeut­same, obwohl nicht so offensichtliche Ursache, daß sich der Terminus weder durchsetzte noch zu konzeptioneller Klarheit fand, könnte in seinem Verwur­zeltsein im konstantinischen oder nachkonstantinischen Kontext liegen, wo es rür Christen normal ist, sich als Inhaber entscheidender Macht in Gesellschaft und Staat zu sehen.

14 Dieses Denkmuster wird in jüngster Zeit meist unter der Bezeichnung "ge­rechte Revolution gegen hoffnungslos ungerechte Gesellschaftordnungen" ge­handelt. Jacques Ellul hat in seiner Studie Violence (New York: Seabury, 1969) die These in Frage gestellt, Gewalt sei gerecht, wenn sie von Christen für einen erstrebenswerten sozialen Wandel gebraucht werde, während sie von seiten des Unterdrückers ungerecht sei Die hastigen, theologisch konservativen Kriti­ker der "Theologie der Revolution" übersehen oft, daß diese nur eine beschei­dene Neufonnulierung der Konzepte vom gerechten Krieg ist, die von den mei­sten nichtrevolutionären christlichen Gruppen geteilt werden. Unter den erstell eingehenden Kritikern dieser theologischen Rechtfertigung der Revolution wa­ren Beiträge von Max-Allain Chevallier und Keith Bridston zur Studie der World Student Christian Federation, The Christian in the World Struggle (Genf: WSCF, 1952), hrsg. M:M. Thomas und D.J. McCaughey.

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Das "pietistische"Mißverständnis

Hüten wir uns vor den beiden Mißverständnissen dieser kriti­schen Haltung gegenüber der Ausübung sozialen Drucks, zu der uns der Apostel geführt hat. Er sagt nicht, wie es einige konservative reli­giöse Gruppen tun, das Evangelium beschäftige sich nur mit persön­licher Ethik und nicht mit sozialen Strukuren. Auch sagt er nicht, der einzige Weg zur Veränderung der Strukturen gehe über das Herz des Einzelnen, vorzugsweise das des Machthabers; man müsse dann nur noch darauf sehen, daß er seine Herrschaft über die Gesellschaft demütiger, einsichtiger oder nach besseren Maßstäben ausübt. Auf was man sehen muß, ist vielmehr, daß die primäre soziale Struktur, durch die das Evangelium die Änderung anderer Strukturen herbei­führt, die christliche Gemeinschaft ist. Hier, innerhalb dieser Gemein­schaft, werden Menschen demütig und ihr Verhalten ändert sich; dies geschieht nicht durch einen bloßen Appell an ihr Schuldgefiihl, son­dern durch authentische soziale Beziehungen zu anderen Menschen, die sie nach ihrem Gehorsam fragen; die (in den Worten Jesu) "bin­den und lösen".

Es geht uns nicht um ein übertrieben radikales ethisches Engage­ment, so als wäre alles, was mit der Struktur dieser Welt zu tun hat, wegen des Zwanges und der Gewalt, die die Gesellschaft regieren, für den Christen unrein oder wertlos.15 Es mag Umstände geben, in denen Christen bestimmte gesellschaftliche Funktionen ablehnen müssen, um moralisch glaubwürdig zu bleiben. Jedes ethische System zieht Grenzen. Wenn der Jünger Jesu sich entscheidet, bestimmte Ar­ten der Macht nicht zu gebrauchen, so nicht einfach deswegen, weil es sich um Macht handelt; die Mächte als solche, Macht an sich, ge­hören zur guten Schöpfung Gottes. Er entscheidet sich gegen-be­stimmte Typen der Macht, weil in einem gegebenen Kontext die Re­bellion der Struktur einer gegebenen Macht so irreparabel sein kann, daß der zur Zeit wirksamste Weg, Verantwortung zu übernehmen, die

15 Unter denen, die sich mit der Geschichte der Ethik beschäftigen und in der Nachfolge Ernst Troeltschs, Max Webers und H. Richard Niebuhrs stehen, herrscht breite Übereinstimmung, daß die katholischen Briefe des Neuen Testa­ments, Tertullian, die Täufer und Tolstoy eine solche "pietistische" oder "Rückzugs-"position vertreten. In dem sehr einflußreichen B.uch Christ and Culture beschreibt Niebuhr diese Position als "Christus versus Kultur"; doch seine Analyse wird durch seine polemische Voreingenommenheit entscheidend verzerrt. Ob diese Charakterisierung den eben erwähnten Personen und Bewe­gungen nun angemessen ist oder nicht, sie deckt sich auf jeden Fall nicht mit der Position des Autors dieser Studie.

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Verweigerung der Zusammenarbeit und damit die Parteinahme für die von dieser Macht Unterdrückten ist. Diese Verweigerung ist kein Rückzug aus der Gesellschaft. Sie ist vielmehr ein nicht unbedeuten­der negativer Eingriffin den Prozess sozialen Wandels, eine Weigerung, für ein gutes Ziel schlechte Mittel zu verwenden.

Die Glaubwürdigkeit der Kirche steht häufig da auf dem Spiel, wo sie den kostspieligen Weg der Verweigerung aus Gewissensgründen im Angesicht der Gegnerschaft der Welt weitergehen soll. Doch wir sollten den normalen Ausdruck ihrer Sendung in und durch die Ge­sellschaft nicht überdramatisieren. Sie ist zum Gewissen und zur Dienerin der menschlichen Gesellschaft berufen. Die Gemeinde muß durch Erfahrung die Fähigkeit erworben h~b~n, unterscheiden zu können, wann, wo und wie Gott die Mächte für seine Zwecke ge­braucht, und ob das auf Grund ihres glaubwürdigen Zeugnisses oder trotz ihrer Untreue geschieht. Jedenfalls ist sie aufgerufen, zum Auf­bau menschenwürdigerer Strukturen beizutragen. Aber die Gemeinde wird auch darauf achten müssen, wie Gott sich ein Volk versöhnt und zusammenruft, um nicht der Versuchung der Sadduzäer oder der "Deutschen Christen" anheimzufallen und von der Oberfläche der Geschichte eine billige Erklärung seines Willens abzulesen. Gott arbeitet in der Welt, und es ist Sache der Gemeinde, zu wissen, wie er arbeitet. Sie sollte die erste sein, die unterscheidet, zwischen diesem göttlichen Wirken - das zuverlässig und sicher erkannt werden kann, und zwar nicht nur im Licht des Glaubens - und dem Hin und Her auf der Oberfläche der laufenden Ereignisse, bei deren Anblick viele, sogar viele in der Kirche, ausrufen: "Seht, hier ist Christus!", "Hier ist Gott am Werk!" Die Aufgabe der Unterscheidung ist sehr viel schwieriger, als viele derjenigen annehmen, die uns in den sechziger und siebziger Jahren ermutigt haben, nach Gottes Handeln in der "Weltrevolution" (was immer das ist) Ausschau zu halten.

Christus und die Mächte heute

Es wird oft behauptet, das christliche Menschenbild, das den Menschen 'als gefallen und doch erlösbar ansieht, biete einen ange­messeneren, d.h. richtigeren und realistischeren Ausgangspunkt, als die utopische Vorstellung, der Mensch habe es schon fast soweit ge­bracht, daß er sich selbst erlösen könne, oder die mechanistische Auf­fassung, der Mensch sei nichts weiter als das Produkt seiner Umstän­de. Außerdem, das können wirnun bestätigen, bietet uns die biblische Auffassung von den Geschichtsmächten angemessenere intellektuelle

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Rahmenbedingungen für die Aufgabe sozialer Urteilsbildung, zu der wir heute besonders aufgerufen sind. Diese Einsicht will nicht einfach nur den Bedürftigen mit ihren sozialen Problemen helfen, sie ist keine modernisierte Philanthropie; sie will auch nicht in erster Linie den einzeillen Christen zu guten Taten oder zur Vermeidung von Sünde anleiten. Sie ist vielmehr Teil der christlichen Verkündigung, daß die Kirche unter Befehl steht, den Mächtigen die Erftillung von Gottes geheirrmisvollem Plan (Eph. 3: 1 0) bekanntzumachen, wie sie in dem Menschen geschehen ist, in dem ihre Rebellion gebrochen und ihre Ansprüche niedergeschlagen wurden.16

Die Verkündung der Herrschaft Christi kann nicht Ersatz oder Vorbedingung sein für den an jeden Einzelnen gerichteten Ruf des Evangeliums. Sie ist auch nicht die bloße gesellschaftliche Konse­quenz der Bekehrung vieler Individuen der Reihe nach. Sie macht sol­che Bekehrungen nicht überflüssig, garantiert oder fördert sie aber auch nicht unbedingt. Das traditionelle protestantische Denken legt uns diese Alternativen nahe. Doch das Neue Testament setzt nicht mit einem solchen Dilemma ein, und wir brauchen uns dadurch kei­nen Klotz ans Bein binden zu lassen.17 Auf die Verkündigung, daß

16 Wie Charles West die Begrifflichkeit der "Macht" gebraucht, ist typisch fiir ein nicht hinterfragtes Verständnis ohne ausfiihrliche Darstellung und Prüfung. In Ethics, Violen ce, and Revolution (New Y ork: Council on Religion and Inter­national Affairs, 1969), pp.45f. spricht West von der "fortwährenden Entmy­thologisierung und Entwaffnung der Mächte durch Gott - genauer durch Christus - damit sie als Diener für seine Pläne mit den Menschen legitimiert werden." Der Begriff "Legitimation" riskiert ein zu einfaches und naives Ver­ständnis, in dem nicht das fortdauernde Moment des Kampfes, des Rückfalls und, schlimmer noch, der Rebellion enthalten ist. Doch wir zitierten West hier auch nur als Beispiel einer zwar akzeptierten (doch nicht voll ausgefiihrten oder überprüften) Fruchtbarkeit der exusia Metaphorik.

17 Die protestantische Theologie war sich lange nicht über die Frage einig, ob das Wirken Christi "objektive" Wirklichkeit hat oder ob seine Realität vom Nachvollzug durch den Glauben abhängt. Ist der Sieg über die Mächte etwas, das "draußen" geschehen ist, gleichgültig ob es jeder weiß oder glaubt? Hat sich tatsächlich die Gestalt des Universums verändert? Oder änderte sich nur die Orientierung des einzelnen Gläubigen bzw. der Kirche? Ist die Herrschaft der Mächte also nur für den Glauben gebrochen, und hängt ihre endgültige Nie­derlage von der Glaubenstreue der Kirche im Ausleben ihrer Befreiul!!t ab. Graydon Snyder meint in einem unveröffentlichten Aufsatz, diese Alternati­venstellung sei dem apokalyptischen und mythischen Kontext fremd, aus dem die Aussagen stammen. Dieser Kontext ist nicht interessiert an "äußerlichen" Realitäten, die unsere Situation nicht verändern; auch die Vorstellung, unsere Lage könne sich durch bloße Kraft des eigenen Glaubens verändern, ist ihm

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Christus Herr ist, können nur Individuen antworten. Sie ist trotzdem eine soziale, politische und strukturelle Tatsache, die eine Herausfor­derung an die Mächte darstellt. Daraus folgt, daß der Anspruch, den eine solche Verkündigung erhebt, sich nicht auf die beschränkt, die sie akzeptiert haben; die Bedeutung ihres Gerichts beschränkt sich nicht auf die, die auf sie hören wollen. Es war Johann Christoph Blumhardt, der vor einem Jahrhundert fUr den deutschen Protestan­tismus die Wunderkraft des Evangeliums im individuellen Leben und gleichzeitig die eschatologischen Fundamente des politischen Enga­gements der Christen wieder entdeckte. "Daß Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht! Sein ist die ganze Welt." Diese Aussage ist nicht von der wohlwollend hörenden Haltung einzelner Menschen oder der Un­terwerfung einzelner Mächte abhängig. Es ist eine Erklärung über das Wesen des Kosmos und den Sinn der Geschichte, von der sowohl unsere Beteiligung als auch unsere Verweigerung aus Gewissensgrün­den Autorität und Verheißung erhalten.

Es kann nicht Aufgabe dieses Kapitels sein, ausftihrliche Beispiele fUr die Bedeutung dieses Ansatzes im konkreten sozialen und ethi­schen Denken zu liefern. Berkhof selbst gibt nur einige skizzenhafte Hinweise, besonders auf die Auslandsrnission der Kirche und auf jenen spezifisch westlichen Totalitarismus, der dann entsteht, wenn die Mächte nicht mehr durch die Proklamation des Reiches, die sie ur­sprünglich gedemütigt hatte, eingeschüchtert sind. Vielleicht enthal­ten die Schriften Jacques Elluls über Geld, Gesetz, Gewalt und Tech­nologie das folgerichtigste Denken im Rahmen dieses Ansatzes, ohne daß er sich immer ausdrücklich auf paulinisches Vokabular bezieht.18

fremd. Diese Alternativensetzung zieht sich durch die ganze Geschichte der christlichen Kontroverse um die Sozialethik, von der klassischen lutheranisch­katholischen Debatte zur Auseinandersetzung zwischen Lutheranern und Re­formierten bis zum heutigen Streit zwischen "Evangelikalen und Liberalen". Sie ist jedoch das Ergebnis einer falsch gestellten Ausgangsfrage. Das Dilemma ist ein Produkt der modernen protestantisch individualistischen Ontologie, nicht eine innerhalb des biblischen Textes erkennbare Unterscheidung.

18 Vielleicht der früheste Versuch, mit dem Konzept der Mächte in der mo­demen Theologie etwas anzufangen, waren Otto Pipers Die Grundlagen der Evangelischen Ethik (Gütersloh,1928),pp.122ff, "Die Mächte". Das Buch be­schäftigt sich jedoch hauptsächlich mit Theodizee und philosophischer An­thropologie. Es lokalisiert das Wissen um die Rebellion der Mächte in "gläu­biger Reue" statt in der Geschichte selbst. Es versucht nicht die tatsächliche innere Struktur des paulinischen Denkens über die Mächte darzustellen, oder ihre zeitgenössische Relevanz anzudeuten. In Pipers späteren Schriften über Gott in der Geschichte, God in History (New York: Macmillan, 1939), wird

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Unser westlicher Wissenschaftsglaube hindert uns daran, die Bedeu­tung dieses Ansatzes in bezug auf Phänomene wie Okkultismus, Psy­chodynamik und die Massenmedien zu sehen. Die schöpferische über­tragung des paulinischen Gedankengutes braucht jedoch nicht damit, daß wir eine sowohl erfaßbare als auch natürliche Erklärung sehen, abgeschlossen sein.

Wir haben damit einen weiteren Punkt erreicht, an dem die Be­deutung der Haltung Jesu für die Ethik in einen Abschnitt apostoli­scher literatur einbricht, mit dem ganze Generationen vonProtestan­ten nichts anzufangen wußten. Nicht irgendein kosmischer Hokuspo­kus hat die Mächte besiegt, sondern die Konkretheit des Kreuzes; das Kreuz wirkt auf die Mächte nicht durch magische Worte oder die Er­ftillung eines juristischen Kontraktes, der nach unschuldig vergossenem Blut verlangt, sondern durch die souveräne Anwesenheit Jesu, des göttlichen Thronanwärters, und der Kirche, die selbst Struktur und gesellschaftliche Macht ist, innerhalb der Strukturen der geschaffenen Ordnung. So erhält die Geschichtlichkeit Jesu im Wirken der Kirche in ihrer Begegnung mit anderen Macht- und Wertstrukturen der Ge­schichte dieselbe Relevanz, die der Mensch Jesus für die hatte, denen er diente, bis sie ihn töteten.

die Realität einer satanischen Macht mehr betont, aber der größere Bereich verschiedener rebellischer Mächte wird vernachlässigt. Implizit findet sich das Konzept der Mächte in Pipers Christian Meaning o[ Money (Englewood Cliffs, N.J.: Prentice Hall, 1965); ebenfalls nicht explicit in A Biblical View o[ Sex and Ma"io.ge ( New York: Scribner, 1960). Vgl. die populäreren Arbeiten, oben Anm..4. J ohn Swomley interpretiert inLiberation Ethics (Macmillan, 1972) bes. Kap. 3 tLIO "Fürstentümer und Mächte" als unterdrückende soziale Strukturen.

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9. Revolutionäre Unterordnung

Am Anfang unseres Buches stand eine kritische Bestandsaufnah­me des lange herrschenden wissenschaftlichen Konsenses bezüglich der Bedeutung Jesu: er habe gemeint, die Gesellschaft existiere so­wieso nicht mehr lange, und habe daher keine relevante Sozialethik gelehrt. Dieser Konsens setzt eine bestimmte Exegese voraus und ver­stärkt sie wiederum; wir versuchten, eine alternative Exegese darzu­stellen. Aber unsere Untersuchung ist mit einer neuen Auslegung der Evangelien nicht abgeschlossen. Ein weiteres Hauptargument für die Geringschätzung des Anspruchs Jesu bezieht sich auf die Ethik der frühen Kirche. Zwar ging das Leben der menschlichen Gesellschaft weiter, doch Jesus lieferte dafür keine Sozialethik; df\shalb, so läuft die Argumentation weiter, war die Kirche gezwungen, amderswo An­leihen zu machen.

Ein Schlüsselaspekt dieser These zeigt sich in jenem besonderen Typus ethischer Unterweisung, den die Wissenschaftler Haustafeln nennen. Das Neue Testament weist zahlreiche Spuren dieses beson­deren Typs ethischer Unterweisung auf. Das prägnanteste Beispiel fmdet sich im Kolosserbrief (3: 18 - 4: 1):

Ihr Frauen, seid euren Männem untertan, wie sich 's im Herrn gebührt! .

Ihr Männer, liebet eure Frauen. .. Ihr Kinder, seid euren Eltern gehorsam in allen Dingen!

denn das ist im He"n wohlgefällig. Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht,

damit sie nicht mutlos werden! Ihr Sklaven, seid in allen Dingen

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REVOLUTIONÄRE UNTERORDNUNG

euren leiblichen Herren gehorsam ... weil ihr den Herrn fUrchtet!

Ihr Herren, gewähret euren Sklaven, was recht ist, und stellet sie euch gleich, da ihr wißt, daß auch ihr einen Herrn im Himmel habt!

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Im Epheserbrief findet sich eine ähnliche Unterweisung (5:21 -6:9).

Seid einander untertan in der Furcht Christi! Ihr Frauen euren Männern wie dem Herrn! ... Ihr Männer, liebet eure Frauen,

wie auch Christus die Kirche geliebt und sich fUr sie dahingegeben hat . ...

Ihr Kinder, seid euren Eltern gehorsam im Herrn; denn das ist recht . ...

Und ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn, sondern ziehet sie aufin der Zucht und Ermahnung zum Herrn.

Ihr Sklaven, seid euren leiblichen Herren gehorsam. .. wie Christus ...

Und ihr Herren, tut dasselbe gegen sie ... da ihr wißt, daß sowohl ihr als euer Herr in den Himmeln ist und daß es bei ihm kein Ansehen der Person gibt.

Inhaltlich ähnlich, aber im Detail verschieden ist die Ermahnung im 1. Petrusbrief (2:13 - 3:7). Eltern und Kinder werden hier nicht erwähnt, stattdessen die Regierung:

Seid aller menschlichen Ordnung untertan um des Herrn willen ...

Denn so ist es der Wille Gottes, daß ihr durch Rechttun der Unwissenheit der törichten Menschen den Mund stopft ...

Ihr Sklaven, seid mit aller Furcht eueren-Herrn untertan. ... Desgleichen ihr Männer, wohnet einsichtig zusammen mit - dem weiblichen Teil als dem schwächeren,

und erweiset ihnen Ehre ... Jeder Versuch, das Leben der jungen Gemeinden, dem diese

Texte entstammen, zu rekonstruieren, wird die einzig vernünftige

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Hypothese darin sehen, daß die Parallelität von Gedanken und so­gar Begriffen aus recht verschiedenen literarischen Kontexten sich aus einem gemeinsamen Muster moralischer Unterweisung in diesen Gemeinden herleitet. 1 Mindestens seit Martin Luther wurden diese Ermahnungen als eigenständige literarische Form erkannt.2 Ob sie nun in der Praxis als Katechismus oder in der Taufliturgie3 ge­braucht wurden, die inhaltliche und logische Parallele stützt die An­nahme, das Nachdenken der frühen Kirche über solche Fragen sei in festen Formen geschehen.

Was bedeutet die wahrscheinliche Existenz eines solchen wieder­kehrenden Denk- und Unterweisungsmusters für unsere Ausgangs­frage? Wir dürfen uns hier der weithin akzeptierten klassischen For­mulierung der These durch Martin Dibelius, dem Vater der form-kri­tisch analytischen Methode, zuwenden.

Diese Spruchsammlungen wollen die Pflichten der einzelnen Gruppen, d.h. Personenkategorien im Hause festlegen. Ihre Existenz in urchristli­chen Schriften bezeugt das Bedürfnis des jungen Christentums, sich im Alltagsleben einzurichten. Selbstverständlich ist dieses Bedürfnis nicht; denn das Christentum, das als eschatologische Botschaft in die Welt und auch speziell in die griechische Welt eintrat s. 1. Th. 1,9f., konnte schein­bar auf jede grundsätzliche Stellung zu den Kulturgemeinschaften Fami­lie und Vaterland wie zur Kultur überhaupt verzichten vgl. die persönli­che ~tenlmg des PIs zur Ehe 1. COI. 7,29ff. Infolgedessen war das Christen­tum auf die Befriedigung. jenes Bedürfnisses wenig vorbereitet; konnte ihm zum mindesten nicht mit Gedanken des Evangeliums Jesu gerecht

1 Diese Ausführungen lehnen sich, mit Genehmigung des Au tors, stark an die unveröffentlichte Dissertation David Schroeders an, Die Haustafeln des Neuen Testaments, Ihre Herkunft und ihr theologischer Sinn, die 1959 von der Evan­gelischen Theologischen Fakultät der Universität Hamburg angenommen wur­de, und an eine Vorlesungsreihe über Neutestamentliche Ethik (leider ebenfalls unveröffentlicht) aus der Dissertation. Schroeder zeigt durch kritische Beweis­führung, daß keine literarische Abhängigkeit dieser Texte voneinander nachge­wiesen oder angenommen werden kann; die Parallelen lassen sich nur mit der Annahme erklären, daß es im vorllterarischen Leben der Urgemeinde weitrei­chende Gemeinsamkeiten im Gebrauch dieses Musters moralischer Unterwei­sung gegeben hat. Schroeders Schriften werden im Folgenden als Haustafeln und Ethik zitiert.

2 Möglicherweise hat Luther sogar das Etikett "Haustafein" erfunden; zumin-dest hat er zu seiner weiten Verbreitung beigetragen. .

3 Nach Darstellung der verschiedenen wissenschaftlichen Vermutungen über die Stellung der Haustafeln im Leben der frühen Kirche folgert Schroeder (Ethik, Kap. 3), sie seien eher aus der ethischen Predigt/Lehre der Gemeinden als vor einem bestimmten literarischen Hintergrund entstanden.

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werden. Man war also auf die sittlichen Belehrungen angewiesen, wie sie hellenistische und jüdische Propaganda ausgebildet hatten .... So hat das Urchristentum in einem ganz langsam einsetzenden Prozeß die Welt zu bearbeiten angefangen; gerade die Haustafein sind geeignet, die· sen Vorgang zu verdeutlichen. Sie zeigen aber doch, daß die chnstliche Paränese die sittlichen Familiengrundsätze griechischer Popularphiloso­phie und jüdischer Halacha für die Durchschnittsethik des Abendlandes aufbewahrte.4

In klassischer Form stoßen wir hier wiederum auf die Behaup­tung, eine aus der Bedeutung Jesu abgeleitete Ethik sei für die prak­tischen Bedürfnisse der Kirche unangemessen oder irrelevant, beson­ders für das Weite rIeben in der Gesellschaft, während das Reich Got­tes auf sich warten läßt; das Material fur die ethische Urteilsfmdung und Einsicht müsse also anderswo entlehnt werden, wo immer es zu finden sei, besonders aus dem jüdischen und heidnischen Denken. Im Falle der Haustafeln muß die Entlehnung wohl aus der Stoa vorge­nommen worden sein.5

Die Tatsache dieser Entlehnung, wenn es denn eine Tatsache ist, hat drei bedeutsame Implikationen. Eine davon betrifft das Verhält­nis von Offenbarung und Natur, oder Jesusauf der einen und dem Verstand auf der anderen Seite, als Quellen ethischer Systeme. Wenn die frühe Kirche aus nichtbiblischen Quellen moralische Einsicht ent­lehnen konnte, so wird die Annahme solcher freien Entlehnung (zu jeder Zeit) und die damit demonstrierte Unzulänglichkeit der Ur­quellen uns den langen Weg zu einer eigenen christlichen Ethik frei­machen.

Zweitens: die Entlehnung ethischer Richtlinien aus nichtbibli­schen, nichtchristlichen Quellen ist also nicht nur notwendig, mög­lich und legitim; es deutet sich auch an, welcher Art die dort gefun-

4 An die Kolosser, Epheser und Philemon, HzNT, XII (31953), pp.48f.

5 In dem gerade zitierten Dibeliustext werden die jüdische Ethiktradition (halaka) und die hellenistische (stoa) als Parallelen aufgeführt. Für Dibelius waren sie wohl in dem Sinh parallel, daß er beide zur Auffüllung der Lücke be­mühen konnte; wo Jesu überhitzte Eschatologie keine Ethik anzubieten ver­mochte. Sie mögen auch inhaltlich einiges gemeinsam haben. Jede ethische Lehre, die mit sozialer Kontinuität rechnet, muß z.T. dieselben Dinge sagen. In ihrer literarischen und logischen Fonn weisen sie jedoch keine Parallelen auf. Schroeder zeigt (Haustafeln, pp.29ff.), daß die jüdische Tradition keine unmittelbaren literarischen Vorbilder für die Haustafein liefert; sie ist zu ein­deutig an spezifische Befehle Gottes, deren Anwendung und Interpretation ge­bunden, als daß sie sich durch Aufzählungen gegebener sozialer Strukturen lei­ten ließe. Wir beschränken daher die weitere Diskussion der Entlehnungsthese auf die stoische Seite.

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dene Einsicht sein wird. Da sie ethische Verpflichtungen durch den Stand einer Person (Ehefrauen und Ehemänner, Kinder und Eltern, Sklaven und Herren, ... ) definieren, sagen die Haustafeln eigentlich, daß es möglich ist, sich seiner Pflichten zu vergewissern, indem man herausfmdet, wer man ist, welche Rolle man hat. An dieser Stelle ha­ben viele, wie Dibelius, darauf hingewiesen, daß uns die Stoiker sehr ähnliche Anweisungen geben:

Er (der Philosoph) sollte seinen eigenen Willen in Übereinstimmung mit dem Geschehen bringen; so daß nichts, was geschieht, gegen unseren Willen geschieht, noch etwas, das nicht geschieht, nicht geschieht, wenn wir es wünschen .... So daß jeder sein Leben frei von Schmerz, Furcht und Beunruhigung verbringt und gleichzeitig mit seinen Mitmenschen die natürlichen und erworbenen Beziehungen ,aufrechterhält, nämlich die des Sohnes, Vaters, Bruders, Bürgers, der Ehefrau. des ~achbarn, Reisegefährten, Herrschers und des U:ntertan,.6 Das z'weite Feld der Untersuchung handelt von der Pflicht; denn ich soll nicht gefühllos sein wie eine Statue, sondern meine natürlichen und er­worbenen Beziehungen aufrechterhalten, als religiöser Mensch, Sohn, Bruder, Vater, Bürger'? Achte darauf, ob sie (die über dir stehen) ihre Pflichten als Menschen be­achten, als Söhne, Eltern und in allen anderen Beziehungen.8

Die dritte Folgerung besagt: die frühe Kirche wandte sich ab von der Radikalität Jesu und den Werten zu, die sie in der gegebenen Ge­seIlschaftsstruktur fand. So gewann sie eine ihrem Wesen nach kon­servative Haltung. Sie entschloß sich, die Unterdrückung der Frau und die Institution der Sklaverei nicht anzutasten.9

6 The Discourses of Epictetus as R~ported by Anion, ins Englische übersetzt von W.A. Oldfather, Loeb Classical Library, CIV, 308f.

7 Ibid., CV, 23.

8 Ibid., CV, 355. Ähnliche Aufzählungen finden sich auch bei Mark Anton, Plu tarch, Diogenes Laertius, Cicero, Horaz u.a.; Schroeder, Haustafeln, pp.3 2ff.

9 Eine vollständige Wiedergabe der traditionellen Interpretation des paulini­schen Versagens gegenüber der institutionellen Sklaverei bringt P.R. Coleman­Norton, "The Apostle Paul and the Roman Law of Slavery", in seiner Antho­logie Studies in Roman Economic and Social History (Princeton U.P., 1951), pp. 155ff. Coleman-Norton sammelt eine Fülle von Hintergrundmaterial zur Interpretation der Sklaverei als Institution und über die Behandlung entlaufe­ner Sklaven. Er geht von der falschen Annahme aus, eine Unterweisung vom Typus der Haustafeln erscheine nur einmal im Neuen Testament (p. 164). Auch versäumt er es, historisch angemessen danach zu fragen, was es für Pau­lus bedeutet hätte, die Sklaverei anzugreifen, und bewahrt sich so vor der Er­kenntnis, in welchem Ausmaß sowohl die Haustafein als auch der Brief an Philemon eine Alternative zur zeitgenössischen Funktion der Sklaverei als Institution darstellen. VgL unten Anm. 31.

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So bereitete sich die Kirche langsam darauf vor, zur Religion der herrschenden Klassen aufzusteigen, eine Entwicklung, die drei Jahr­hunderte später, im Zeitalter Konstantins, ihren Höhepunkt erreich­te.

Man kann diese Entwicklung positiv oder negativ werten. Martin Dibelius sah es als Fortschritt an, daß die Kirche sich von der zeitlo­sen Radikalität Jesu distanzierte und anfmg "die Welt zu bearbeiten" - womit er das meinte, was Martin Luther vor ihm "Schöpfungsord­nungen" genannt hatte.

Seit der Reformation hat es dementsprechend eine Richtung so­zialethischen Denkens gegeben, die die paulinischen Anleihen bei der Stoa als Präzedenzfall oder Vollmacht angesehen hat für die fortdau­ernde Legitimität von Einsichten, die aus der Natur der Dinge ge"· wonnen wurden, wie sie jeder Philosoph sehen kann.1°

Seit einiger Zeit, besonders im Zusammenhang des "progressi­ven" Protestantismus, wird die Wertung oft umgedreht; die Apostel, und Paulus im besonderen, werden sehr schnell und nachdrücklich wegen ihrer frauenfeindlichen Haltung verdammt oder weil sie es versäumten, die Sklaverei frontal anzugreifen, wie das nach unserer heutigen Erkenntnis ihre Pflicht gewesen wäre.

Man kann zu diesem negativen Befund auch auf anderen Wegen kommen: aus der Perspektive der radikalen protestantischen "Wort Gottes Theologie" wird behauptet, in Entlehnungen wie dieser zeige sich der Anfang eines Rückfalls in ,,natürliche Theologie"; eine Wer­tung, die die exegetische überzeugung unterstützt, diese Texte seien nicht wirklich repräsentativ für die paulinische Theologie, sondern wahrscheinlich von späteren Jüngern verfaßt worden, die nicht mehr seine tiefe Einsicht in die Offenbarung als Alternative zu menschli­cher Weisheit hatten.

Trotz unterschiedlicher Schlußfolgerungen setzen diese überle­gungen mit einer übereinstimmenden Interpretation der tatsächli­chen Lage in der Urgemeinde ein. Sie sind sich daher auch einig, wie

1 ° Die vielleicht schaxfsinnigste Intetpretation der Haustafeln im Rahmen die­ser Voraussetzungen ist diejenige Heinz-Dietrich Wendlands, "Zur Sozialethi­schen Bedeutung der Neutestamentlichen Haustafeln", in Otto Michel und illrich Mann, Hrsg., Die Leibhaftigkeit des Wortes, Festgabe Adolf Köberle (Hamburg: Furche Verlag, 1958), pp. 34ff. Sorgfältige Analyse bringt Wend­land zu vielen Einsichten, wie sie ähnlich später auch in diesem Text vertre­ten werden. Doch seine Grundannahme der Entlehnung und "Christianisie­rung" heidnischer Prinzipien stellt er nicht in Frage; dieses Denkmuster ist seinem lutherischen Verständnis von Gesetz und Evangelium und der Ethik der Schöpfungsordnungen verbunden.

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wir die Probleme angehen müssen. Beide Auffassungen sehen in der Mitte des Kanons einen Abgrund zwischen der Ethik Jesu und der Ethik der apostolischen Kirche. Wir sind gezwungen, zwischen bei­den zu wählen. Die Kirche mußte den Abgrund überspringen, weil auf Jesu Seite des Grabens jede adäquate moralische Ausrüstung fehlte.

Die These vom stoischen Ursprung der Haustafeln wurde von der Wissenschaft so schnell und gründlich akzeptiert, daß erst vor kurzem ernsthafte Zweifel aufgetaucht sind. Sorgfaltigere Unter­suchungen erkannten nun, inwieweit die Polarität zwischen Jesus und Paulus der neutestamentlichen Kritik des letzten Jahrhunderts durch die hegelianische Voreingenommenheit F. C. Baurs überge­stülpt wurde, statt notwendig aus dem Text zu erwachsen.11 Schließ­lich findet sich das Material nicht nur in den paulinischen Schriften, sondern auch im 1. Petrusbrief; ein Anzeichen dafür, daß nicht ein Apostel diesen Weg der Lehre diktierte.12 Nirgends im Text fmdet sich eine literarische Basis für die Behauptung, die moralischen Er­malmungen an Frauen und Männer, Kinder und Eltern, Sklaven und Herren seien eine Art Notbehelf, weil das Königreich auf sich warten ließ. Wie wir in Kürze sehen werden, nennen die Texte selbst ganz andere Gründe für das in den Haustafeln geforderte Verhalten.

Schon auf der Ebene sorgfältiger Logik und skeptischer Quellen­lektüre also fangen die Zweifel an Dibelius' Ansicht an. Ernsthaftere Zweifel - und vielleicht auch hilfreichere Lehren - kommen zum

11 Die wegweisende Studie von Edwyn Hoskyns und Noel Davey, Das Rätsel des Neuen Testaments. (Vorwort von Gerhaxd Kittel und Julius Schniewind), (Stuttgaxt: Kohlhammer, 1938, 1957, Theol. Bücherei Bd. 7) stellt die These von der Lücke im Kanon am pointiertesten in Frage.

12 Für einige Forscher, so Z.B. Hans Lietzmann in Geschichte der Alten Kir· ehe, Bd I, Die Anfänge (BerlinjLeipzig: de Gruyter, 1932), sind die Petrus­briefe bereits Repräsentanten des "Frühkatholizismus", d.h. eine Degenera­tion, die auf die frühen und korrekteren Einsichten des paulinischen Evange­liums folgte. Anderen, wie Vincent Taylor, The Atonement in New Testament Teaching (London: Epworth, 1940), erscheint die im 1. Petrusbrief repräsen­tierte Entwicklungsstufe im Denken der Kirche - unabhängig von der tat­sächlichen Entstehungszeit - "primitiver" oder weniger "entwickelt". Beide Auffassungen hätten Schwierigkeiten damit, das parallele Auftreten der Haus­tafeln bei Paulus und Petrus zum Nachweis einer radikalen Wende des ethi· sehen Denkens im Zentrum des neutestamentlichen Kanons zu machen.

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Vorschein, wenn wir die zur Debatte stehenden Anweisungen ge­nauer und mit mehr Respekt betrachten. Wir werden sehen, daß die Haustafeln mit ihrer Aufforderung, bestimmte Rollen auszufüllen, zwar im weitesten Sinne nach Stoizismus aussehen, daß es aber sehr wichtige Unterschiede gibt, die jede einfache Erklärung, wie z.B. di­rekte Entlehnung aus einer bestehenden stoischen Quelle, verbieten.

(a) Die stoische Moral fordert mich auf, meiner eigenen Natur gemäß zu leben. Diese Natur, Rolle oder Funktion hat natürlich eine soziale Seite; sie setzt mich in Beziehung zu anderen Personen. Aber die Erftillung eines authentischen Lebens in übereinstimmung mit meiner Rolle liegt nach stoischer überzeugung in meiner Person zen­triert. In den Haustafeln hingegen ist es die Beziehung selbst, zu de­ren Erftillung wir aufgerufen sind. Das zeigt sich in der literarischen Form. Wo die Stoa die Funktionen des Vaters, Bruders, Freundes einzeln aufführt, geschieht die Aufzählung in den Haustafeln paar­weise: beide werden angesprochen: Frau und Mann, Sklave und Herr. Die Wechselseitigkeit der Beziehung zeigt sich aber nicht nur in der literarischen Struktur der Aufzählung; sie ist auch ein Teil des Imperativs selbst. Die Aufforderung "untertan" zu sein, zu "lieben", "Ehre zu erweisen" gebraucht immer ein Verb, das die Person nicht zu sich selbst, zu ihrem Bild von sich selbst, zu ihrer Natur oder Rol­le in Beziehung setzt, sondern zum Gegenüber.

(b) Das stoische Denken verwendet all diese Substantive im Singular und unterscheidet in einer Personmöglichstviele verschiedene Rollen. In der Vielheit der Rollen verwirklicht sich die Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums. In der Entscheidungssituation bestimmt der Mensch selbst, welche Defmition seiner Rolle er an­wendet. Der Rollen sind so viele, und sie lassen sich so variabel kombinieren, daß die Aufzählung der Rollen einer Relativierung jeglicher ethischer Verbindlichkeit nahekommt.

Die Haustafeln hingegen sprechen im Plural. Ihre Ermahnungen richten sich an alle Frauen, alle Sklaven,alle Eltern in den Gemeinden, die die Briefe empfangen. Auch die Zahl der Beziehungen, die die Haustafeln ansprechen, ist begrenzt. Die ethischen Einsichten der Haustafeln machen also das Angebot einer GruppendiSziplin,sie bieten kollektive Einsichten und Werte, mit deren Hilfe es einer gan­zen Gemeinschaft und. nicht nur einer meditativen Elite möglich wird, ein gemeinsames moralisches Engagement zu entwickeln.

(c) Das"stoische Denken will nur darlegen und nachforschen, was ist. Sein Werkzeug ist die Vernunft, und als Basis moralischer Verpflichtung gilt ihm die "Natur der Dinge". Hat ein Mensch die

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Natur der Dinge erkannt, so handelt er auch danach. Die stoischen Ausflihrungen stehen nicht im hnperativ. In den Haustafeln hin­gegen ist die grammatische Form einheitlich imperativisch.

Ihrer Form nach steht die Ethik der Haustafeln dem Stil des sogenannten "apodiktischen Gesetzes" aus dem Alten Testament am nächsten. In Epheser 6:2 wird ausdrücklich auf Exodus .19:25 verwiesen; doch der imperativische Stil fmdet generell eine Parallele im Alten Testament. 13 Nach dem Zeugnis der Syntax stammt die Entlehnung nicht aus dem hellenistischen Judentum (von da ergäbe sich inhaltlich kein großer Un terschied) sondern aus den prophetischen hnperativen, wie sie das Alte Testament aus dem Munde Gottes überliefert. Weiter gestützt wird diese Ansicht durch eine gramma­tische Besonderheit des Imperativpartizips.14

(d) Weiteres Anschauungsmaterial für den Unterschied zwischen stoischem und apostolischem Denken liefert der Wortschatz selbst. Sogar dort, wo fast diesseibe Aussage getroffen wird, sind die ge­bräuchlichsten Begriffe nicht dieselben. "Gehorsam" bezeichnet das Neue Testament mit hypakouein, wo die Stoiker peithestai sagen würden; die Beziehung zwischen Sklaven und Herren bezeichnet das Neue Testament mit den Begriffen doulos und kynos, die Stoa hin­gegen mit oiketai und despotai. "Liebe" heißt im Neuen Testament agapan und bei den Stoikern philein.15 Hätten die Apostel direkt von den Stoikern entlehnt, so hätten sie darauf zählen können, daß deren Begriffe den lesern bereits vertraut waren, und man hätte wohl eine größere übereinstimmung erwarten können.

(e) Die Stoa spricht den Menschen in seiner Würde an und ruft ihn auf, der höchsten Vision seiner selbst zu leben. Der Aufruf richtet sich an die Führungskräfte der Gesellschaft, den Fürsten, den Freien, den Vater; an diejenigen, die Zeit, Muße und die Fähig-

13 Deut. 16:2lf; 17:1; 22:5; 23:7f; Lev. 17:10; Amos ·5:4; Sprüche 3:lf; (Schroeder, Haustafeln pp.92ff.).

14 Derselbe imperativische Gebrauch des Partzips findet sich außer in den HaustafeIn noch in Römer 12: 9ff. Seine Ursprünge sind nicht griechisch, son­dern rabbinisch: Schroeder, Ethik, 11,11; David Daube, The New Testament and Rabbinie ludaism (London: Univ. of London, 1956), pp.90ff; und, W.D. Davies, Paul and Rabbinie ludaism (London: S.P.C.K., 21955), pp329f.

15 Schroeder, Haustafeln, p.124. Schroeder nennt noch weitere linguistische und literarische Argumente, die gegen jede direkte verbale Entlehnung spre­chen (pp. 86ff).

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keit haben, über ihre Natur und deren Erfüllung nachzudenken}6 Selbstkontrolle und ein gewisses Maß an Herrschaft über amfere ist an sich schon eine Tugend. Ein freier Mann sollte sich vor der Bin­dung an eine Frau oder der Abhängigkeit von Untergebenen hüten.

Diese Konzentration auf die Würde des Adressaten fehlt im Neuen Testament. Die Ermahnung der Haustafeln richtet sich zu­erst an den Unter~ebenen: an den Sklaven vor dem Herrn, an die Kinder vor den Eltern, an die Frauen vor ihren Ehemännern.17Hier beginnt das revolutionär Neue im Stil des urchristlichen ethischen Denkens, fUr das es keine Erklärung in der Entlehnung aus anderen kulturellen Quellen der Zeit gibt. Die untergebene Person in der SOzialordnung wird als moralisch Handelnder angeredet. Sie ist aufgerufen, ihre gesellschaftliche Stellung verantwortlich in ihrer Bedeutung vor Gott zu akzeptieren. Es wird nicht einfach, wie im jüdischen und hellenistischen Denken angenommen, daß die Frau den Glauben ihres Mannes hat oder daß der Sklave dem Haushalt seines Herrn als religiöser Einheit angehört. Hier ist ein Glaube, der denjenigen persönliche moralische Verantwortung zuspricht,_ die in ihrer Kultur keinen gesetzlichen oder moralischen Status hatten; sie werden zu Entscheidungsträgern. Dieser Glaube gibt ihnen die Verantwortung, ihre gesellschaftliche Stellung nicht als sinnlosen Ratschluß des Schicksals anzusehen, sondern als eigenes sinner­fülltes Zeugnis und Dienst, als eine Sache, die sie moralisch entschei­denkönnen.

(f) Nicht nur richtet sich die Stoa an den Höhergestellten oder Adligen und an das hohe und edle Element im Menschen; ihre Vor­stellung, was der Mensch ist und werden sollte, konzentriert sich auf seine Würde und innere Leidenschaftslosigkeit; sein Freisein von Abhängigkeit und Verpflichtung.18 Unterordnung mag in der Be-

16 Genauer gesagt: nur der Philosoph kann lernen, sich in diesen Rollen zu verstehen. Es gibt keinen Ansatz zu einer Ethik, die einer Gemeinschaft zu­gänglich wäre, oder denen, die keinen Anspruch auf die Hilfe des Philosophen haben.

17 Daß das Ansprechen der untergebenen Partei Vorrang hat, wird durch Schroeders Hypothese über die vor-literarische Überlieferung dieser Ermah­nungen noch verstärkt (Haustate/n, p.89; Ethik, 111). In der geschrieben Tra­dition stellen sie sich einheitlicher dar; sie müssen sich also, so argumentiert er, vereinheitlich t haben.

18 Es ist bemerkenswert, daß Epiktet, obwohl selbst ein Sklave, die Sklaven­rolle nicht als eine der auszufUllenden auffUhrt.

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ziehung zu Gott oder zum Staat angebracht sein, nicht aber in der Beziehung zu Menschen.19 In den Haustafeln hingegen ist der Auf­ruf zur willigen Unterordnung das Zentrum des Imperativs. Die beste Wiedergabe von hypothassesthai ist nicht Unterwerfung, die an zu­Boden-Geworfen- und überranntwerden denken läßt, auch nicht Untertänigkeit, die Passivität beinhaltet. Unterordnung meint das Akzeptieren einer Ordnung, wie sie existiert, allerdings mit anderer Sinnfullung, da sie freiwillig und aus echter Motivation akzeptiert wird.

Warum muß diese Aussage überhaupt gemacht werden? Warum mußten zu jener Zeit Frauen und Kinder zur Unterordnung ermahnt werden? War das denn nicht selbstverständlich? Gab es in der dama­ligen Gesellschaft überhaupt eine andere Möglichkeit? Hier stoßen wir auf die zweite revolutionäre Voraussetzung, die unseren Texten zugrunde liegt. Zum Verständnis eines Textes reicht es nicht aus, nach der Antwort zu suchen, die er auf die von ihm behandelte Frage gibt. Zum wirklichen Verständnis der Antwort müssen wir auch die Bedeutung der Frage, auf die geantwortet wird, verstehen. Da die Apostel Sklaven und Frauen zur Unterordnung ermutigten, muß es einen Grund gegeben haben, der sie in Versuchung führte, anders zu handeln. Was mag das gewesen sein? In der Erfahrung ihrer Bekehrung, in ihrer Erziehung als neue Gemeindeglieder oder in der Erfahrung des gemeinsamen Lebens muß es etwas gegeben haben, das diesen unterdrückten Menschen eine Vision oder einen Hauch neuer Würde und Verantwortung vermittelte. Da sie der Versuchung ausgesetzt waren, sich über ihren Stand zu erheben, mußte das bereits'~geschehen sein. Nur wenn sie etwas im Leben oder in der Predigt der Kirche schon auf den Gedanken gebracht hatte, ihr untergeordneter Status sei in Frage gestellt oder ver­ändert, bestand überhaupt die Versuchung der Unbotmäßigkeit, die diese Texte ansprechen.

Einer der Gründe für das Versagen des Christentums, agressiver und erfolgreicher für soziale Gerechtigkeit einzutreten, sieht man seit lincolns Tagen und erst recht seit der Bürgerrechts- und der Frauen-

19 Die Grundbedeutung von hypotassein ist "unterordnen"; im Medium heißt es dann, "seine untergeordnete Stellung akzeptieren". Das Verb kommt in der griechischen Fassung des Alten Testaments 31mal vor; es steht flir verschiede­ne hebräische Begriffe. Daraus wird ersichtlich, daß es anscheinend im Hebräi­schen kein entsprechend eindeutiges Konzept gegeben hat Im Alten Testament ist Unterordnung in der Beziehung zu Gott oder zum König normal, aber im allgemeinen nicht anderen Menschen gegenüber.

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bewegung in der paulinischen Lehre der Unterordnung. Zwar geht es unserer Studie nicht in erster Linie um eine C.e­

schichte des Christentums als Kraft für soziale Gerechtigkeit;20doch mag ein kleiner Umweg gestattet sein, da hier ziemlich deutlich wird, wie leicht Paulus mißverstanden wird. Wem es sein christliches Engagement nicht erlaubt, sich über den Apostel lustig zu machen oder ihn einfach zu ignorieren, der kann meinen, seine Lehre der Unterordnung (die man nicht akzeptieren will, und deren fundamen­tal revolutionären Charakter man nicht versteht) sei damit zu "ent­schuldigen" oder zu "verstehen", daß er darin eben noch nicht zu den "höheren" 21 Einsichten von Galater 3 :28 "gereift" oder "fortge­schritten" sei, besonders noch nicht zu dem modern klingenden Gleichheitsgrundsatz, der alle Unterschiede zwischen "Jude und Grie­che, Sklave und Freiem, Mann und Frau" abstreitet. 22

20 Seit Ernst Troeltsch ist es ein Gemeinplatz, daß eine christliche Minder­heitsbewegung mit einer nicht angepaßten Ethik eine bemerkenswerte soziale Wirkung haben kann.

21 Ein Beispiel fUr diesen herablassenden Ansatz ist (die in anderer Hinsicht recht hilfreiche) Studie Krister Stendahls, The Bible and the Role of Wornen (Philadelphia: Fortress, 1966). Um die unkritische Hölzernheit bestimmter traditioneller Interpretationen zu überwinden, spielt Stendhal auf die beschrie­bene Weise den Paulus, mit dem er übereinstimmt, gegen den aus, mit dem er nicht einig ist und verbaut sich so jede Möglichkeit, gerade an den Punkten aus dem Hören auf das apostolische Zeugnis zu gewinnen, an denen Aussagen gemacht werden, die nicht das verstärken, was wir sowieso schon glauben. Stendhal macht sich über die naive Exegese lustig, die versucht, sich in die Zeit des Textes hineinzuversetzen oder auf fundamentalistischen Annahmen be­ruht; aber er bietet keinen alternativen Ansatz, der es der Schrift ermöglichen würde, eine im Leben der Kirche so notwendige Rolle zu spielen. Es sollte doch eine andere Möglichkeit geben, Frauen den Dienst in der schwedischen Kirche zu ermöglichen, als einfach die Bestandteile der Schrift auszumerzen, die nicht zu unseren modernen Überzeugungen zu passen scheinen. Was wäre, wenn sich z.B. der summarische, doktrinäre Egalitarismus unserer Kultur, dem das Konzept von der "Stellung der Frau" lächerlich und bäuerisch und das der Unterordnung schockierend erscheint, tatsächlich (nach dem "Willen Gottes" oder in langfristiger sozialer Praxis) als dämonisch, lieblos, persönlichkeits­zerstörend, der Schöpfung gegenüber respektlos und unrealisierbar heraus­stellen sollte? Identillzieren wir uns so sehr mit dem modernen abendlän­dischen Selbstverständnis, daß wir uns von diesem modernen Mythos davon abhalten lassen, darauf zu hören, was der Apostel über die christologische Ba­sis gegenseitiger Unterordnung zu sagen hat?

22 Es sollte festgehalten werden, daß es in GaL 3:28 nicht um Gleichheit im Sinne der Aufhebung jeglicher Verschiedenheit von Rolle und Rechten geht,

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Anerkennend wird vennerkt, daß Paulus schließlich doch noch die Stufe erreicht hat, die wir an ihrem modemen Klang als solche erkennen; so gelingt es uns dem Neuen Testament ein individualisti­sches Menschenbild zuzuschreiben, das schließlich zur Abschaffung von Sklaverei und Unterordnung führt; doch wir müssen Geduld haben mit dem Apostel und ihm die Überreste seines Unterord­nungsdenkens verzeihen, d.h. wir müssen sie (für unsere Zwecke) aus dem Kanon streichen.

Eine sorgfaltige Analyse eines solchen herablassenden Schriftver­ständnisses müßte sich einmal mit dem allgemeinen Problem der Schriftinterpretation23und dann mit dem Wesen des implizit egalitä­ren Individualismus beschäftigen, den es in Gal. 3 :2824so anerkennt. Wir müssen uns jedoch hier mit dem Kontext unserer Texte begnü­gen.Der Aufruf zu williger Unterordnung kann ohne eine Versuchung zur Auflehnung nicht erklärt werden. Eine solche Versuchung zur Auflehnung ist nicht denkbar, ohne das vorherige Vernehmen einer

sondern um Einheit und gleiche Würde in gegenseitiger Anerkennung. Der Be­zug auf "Sklaven und Freie, Mann und Frau" verstärkt nur das Thema des gan­zen Buches: "Juden und Griechen". In dieser Einheit bleibt Jude Jude und Grieche Grieche. Wertgleichheit bedeutet nicht Rollenidentität. Wer aus GaL 3:28 eine "moderne" Aussage zur Frauenemanzipation macht, von der man auf den Rest paulinischen Denkens herabschauen kann, ordnet den Text nicht nur logisch falsch ein (wie im obigen Text gezeigt wird), er liest den Text selbst falsch.

23 Die modemen Richter der neutestamentlichen Ethik machen normalerwei­se keine Gegenvorschläge, was Paulus in seiner Situation hätte anders machen sollen. Wie hätte eine Emanzipationsproklamation damals ausgesehen? War der Weg Lincolns wirklich erfolgreich? Meistens fällt ihnen auch nicht auf, daß die "etablierten" Formen des "Christentums", die die Sklaverei legitimierten, we­der der Ethik Jesu noch der paulinischen Ethik, wie diese Studie sie darstellt, gehorchten. Sie scheren sich im allgemeinen auch nicht darum, eine Alternati­ve anzubieten (Islam?), die über die Jahrhunderte eine befreiendere Wirkung gehabt hätte. Welche Korrektur oder Herausforderung kann es eigentlich für unsere Selbstgenügsamkeit geben, welche Kontinuität christlicher Gemein­schaft - ohne das richtende und erlösende Wort Gottes zu erwähnen - wenn das momentane eigene Verständnis in jeder neuen Kommunikation souverän entscheidet, ob es sie akzeptiert?

24 Die egozentrische Modernität des zeitgenössischen Lesers verfälscht seine Lieblingstexte im selben Ausmaß wie die ihm weniger genehmen (vgl. oben, Anm. 22). Nicht nur .der Text in Gal. 3:28 sondern auch die fast wörtliche Pa­rallele in KoL 3:11 unterstreicht nicht die Gleichheit isolierter Individuen, sondern die komplementäre Einheit verschiedenartiger Menschen in einem Leib (siehe unten, "Rechtfertigung" und neue "Schöpfung", pp.189, 195).

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Botschaft, die die Würde des Untergeordneten bekräftigte. Der Ruf zur Unterordnung setzt also - in jeder nur denkbaren Rekonstruk­tion der paulinischen Botschaft - gerade eine Proklamation der Men­schenwürde voraus, statt sie abzuleugnen.

Wo die Stoa den anspricht, der schon angesehen ist, und ihn ermutigt entsprechend der Würde zu leben, die er bereits in seiner Rolle sieht, richtet sich die Ermahnung der Haustafeln zuerst an Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter und setzt voraus, daß sie eine Botschaft gehört haben, die die Unterwerfung in Frage stellt, gegen die sie bisher nichts tun konnten.25 Von wem hatten sie solche Botschaft gehört, wenn nicht von Paulus?26

Wie hatten sie sie gehört, wenn nicht in Form des Berichts, die Messianität Jesu habe ein neues Zeitalter eröffnet, das die Menschen durch die Auferstehung des Gekreuzigten zum Gehorsam befreit?

(g) Die einzige "Sanktion" oder "Motivation" zur Untermaue­rung der stoischen Ethik ist der selbstverständliche Pragmatismus, sich der Natur der Dinge anzupassen und der eigenen Rolle gemäß zu leben. Es wird kein Lohn versprochen, kein Herz bewegt, keine Bitte ausgesprochen. Die Ethik rechnet mit der Bereitschaft des aufrech­ten Mannes, das Rechte tun, wenn er erst weiß und versteht, was recht ist. Man rechnet mit dem gesunden Menschen, der ohne Frage und Diskussion das Richtige tut.

Die Haustafeln hingegen geben sogar mehrere Gründe zur Inter­pretation und Motivation. Und es sind alles inhaltliche Argumente, d.h. sie befehlen nicht nur das Rechte, sie erklären auch, warum die-

25 Die Überlegung, Paulus habe "Überreste" des Unterordnungdenkens beibe­halten, ist sogar an dem Punkt falsch, wo sie annimmt, die Pflicht zur Unter­ordnung sei je gelehrt worden. Sklaven und Frauen wurden durch übermäch­tige Gewalt und fehlende Alternativen untertan gehalten und nicht durch mo­ralische Lehre. Wie wir bereits feststellten, richtete sich die moralische Lehre gar nicht an untergeordnete Personen. Paulus "entlehnte" sein Unterordnungs­denken nicht, auch "mißglückte" es ihm nicht, es zu "überwinden". Er (oder vor ihm die Urgemeinde) schuf es in der Anwendung des zentralen christologi­schen Themas auf ein universales menschliches Problem: Jesu Leiden ist die Regel für das Leben seiner Jünger.

26 Wir haben gesehen, daß Gal. 3: 28 und KoL 3: 11 fast wörtliche Parallelen sind, auch wenn es im Kontext um recht verschiedene Dinge geht. Das erlaubt die Hypothese, der Schreiber habe in beiden Fällen ein früheres Diktum oder ein Motto zitiert, das seinen Lesern bereits bekannt war. Die Metaphorik der "neuen Menschheit", "neuen Kreatur" oder "neuen Person" mitsamt ihrer Illustration in der Nichtanerkennung von Unterschieden zwischen Jude/Grie­che, Sklave/Freiem wäre also vorpaulinische Tradition.

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se Art zu handeln recht ist. Sie haben alle einen spezifischen Bezug zur Person Christi und zum Wirken der Kirche. Manchmal wird das Beispiel Jesu besonders erwähnt. Die deutlichste Anspielung bringt L Petr. 2: 18: der Sklave soll sich selbst dem ungerechten Herrn un­terordnen, nach dem Vorbild Christi, der ebenso handelte, als er un­schuldig angeklagt war; und Epheser 5 :22: die Bereitschaft des Mannes, sich für seine Frau zu opfern, wird durch Christi Opfer für seine Kirche motiviert und inhaltlich bestimmt. 27

Anderswo wird ausführlicher auf die Teilhabe an der Person, dem Wesen und der Bewegung Christi hingewiesen, etwa in den Wor­ten "wie sich's im Herrn gebührt".28

In wieder anderen Fällen wird zusätzlich auf das Zeugnis hinge­wiesen, das der Christ dem Nichtchristen zu geben versucht. Die Frau wird zur Unterordnung motiviert, um ihren ungläubigen Mann zum Glauben an Christus zu gewinnen. 29 Außerdem bezieht sich die Pa-

. rallele zu den Haustafeln in Timotheus weitgehend auf das Leben in der Gemeinde. Schließlich werden auch der Lohn und die Ergebnisse des Gehorsams angesprochen.30

An dieser Stelle wird wiederum deutlich, daß sich die apostoli­sche Ethik nicht aus griechischen oder jüdischen Quellen herleiten läßt. Weder der allgemeine Imperativ zur Unterordnung, noch die spe­zifische Begründung dieses Aufrufs im Vorbild oder in der Natur Christi, an der der Gläubige Anteil hat, kann anders erklärt werden,

27 Das Konzept der Nachahmung, Konformität oder Teilhabe in Bezug auf die Knechtschaft Christi ist im neutestamentlichen Denken auch außerhalb der HaustafeIn weit verbreitet. Vgl. oben pp. 110,114.

28 Eph. 5:21, " in der Furcht Christi"; KoL 3:18, " wie sich's im Herrn ge­bührt". Schroeder, Haustateln, pp. 161-170, verfolgt ausführlich die Bedeu­tung der Formel in Christus ode): im Herrn, die als Bekräftigung der Unterord­nung des Gläubigen gebraucht wird. Weit entfernt davon, eine heidnische Ent­lehnung zu sein, zeigt die Verwendung dieses Aufrufs, daß er im Zentrum des christlichen Bekenntnisses und der christlichen Frömmigkeit wurzelt.

29 l.Petr. 2:12; 15; 3:1 :"damit ... etliche ... durch den Wandel ihrer Frauen gewonnen werden"; vgL l.Kor. 7: 16.

30 Eph. 6:3 :"damit es dir wohl gehe" (aus Deut. 5:16); 6:8 :"daihr wißt, daß jeder, wenn er etwas Gutes vollbringt, die Vergeltung daf'ür vom Herrn em­pfangen wird"; KoL 3:24 :"weil ihr wißt, daß ihr vom Herrn als Vergeltung das Erbe empfangen werdet"; l.Petr. 3: 7 : "damit eure Gebete hicht gehindert werden".

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als daß sie aus der ursprünglichen Lehre der Apostel im frühen Zu­sammenleben der christlichen Gemeinschaft entstanden.

(h) Nach dem Aufrufzur Unterordnung an die Adresse der schon Untergeordneten gehen die Haustafeln weiter; sie drehen die Bezie­hung um, wiederholen die Forderung und verlangen nun von dem die Beziehung beherrschenden Partner eine Art Unterordnung. Eltern werden aufgefordert, ihre Kinder nicht zu reizen; Männer sollen ihre Frauen lieben (agapan). Philemon wird nahegelegt, Onesimus "nicht mehr als einen Sklaven, sondern als einen, der mehr ist als ein Sklave: ein geliebter BrudeL .. sowohl im Fleische als im Herrn" zu empfan­gen, so wie er Paulus selbst empfangen würde.

Der an beide Seiten gerichtete Aufruf zur Unterordnung ist wie­derum ein revolutionäres Merkmal. Bliebe es beim Akzeptieren der bestehenden sozialen Ordnung, beim Aufruf an die Untergeordneten, zu bleiben, wo sie sind - dann hätte die lutherische Tradition nicht unrecht, die in diesen Texten eine Bekräftigung der Schöpfungsord­nung mit Offenbarungsautorität sieht: Gott hat die Gesellschaft so geschaffen. Dieselbe Tradition hätte dann ebenso recht mit dem Schluß, christliche Sozialethik sei notwendig im Grundsatz konserva­tiv, da die gegenwärtige Ordnung im göttlichen Imperativ verwurzelt sei.

Doch die Haustafeln und ihr Ruf nach Unterordnung an die un­tergeordnete Person heiligen nicht die bestehende Ordnung; sie rela­tivieren und untergraben diese Ordnung weit mehr durch das promp­te Umdrehen des Imperativs. Der Befehl zur Unterordnung änderte in der Praxis wenig am Verhalten der Frau. Für einen Mann des er­sten Jahrhunderts bedeutete es jedoch einen sehr viel konkreteren und radikaleren Wandel in seinem Verhalten als Ehemann, wenn er seine Frau liebte (agapan). Dasselbe gilt fUr den Vater, der sein Kind nicht ärgern, oder fUr den Herrn, der seinen Sklaven im Wissen um ihrer beider Dienerschaft gegenüber einem größeren Herrn behandeln soll.31

31 Diese Untersuchung geht nicht näher auf den Philemonbrief ein, da der Sprachgebrauch der Haustafeln dort nicht auftaucht. Eine Interpretation die­ses Textes würde jedoch den Rest unserer Studie nur unterstützen. Es ist ein Teil der Bekehrung des Onesimus durchPaulus, daß er freiwillig zu seinem Herrn zurückkehrt. Indem er Onesimus diesen Schritt empfiehlt, geht er über die Vorschriften von Deut. 23:15f. hinaus (Coleman-Norton, op.cit. pp. 172ff, kann selbst nach der Sichtung beträchtlichen Materials keine Aussage darüber machen, ob Paulus hier einer römischen Gesetzesverpflichtung nachkommt). Paulus weist Philemon an, Onesimus "nicht mehr als einen Sklaven, sondern als einen geliebten Bruaer sowohl im Fleische als im Herrn" wie Paulus selbst

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Nonnalerweise würde man in der Exegese hier innehalten, um den möglichen Ursprüngen dieses Traditionsfragments nachzugehen. Wo­her hatten Petrus und Paulus dieses Sortiment von Imperativen, die sie in ihre Briefe einarbeiteten? Da die Beweislage gegen die simple Entlehnung aus hellenistischen oder jüdischen Quellen und ebenso ge­gen gegenseitiges Entlehnen spricht,32 bleibt uns kaum ein anderer Schluß, als daß diese Lehre aus den frühesten Jahren der Kirche stammt, daß sie direkt aus dem Bekenntnis zu Christus als ihrem Herrn und der Wirkung dieser Verkündigung auf die Zuhörer erwach­sen ist. So bleibt als mögliche Quelle nur noch Jesus selbst.33

Zwar haben wir uns dankbar auf die Arbeit der Exegeten ge­stützt, doch wir haben die Texte aus einem mehr systematisch-ethi­sehen Blickwinkel gelesen. Wir haben nun an einer anderen und recht verschiedenen Stelle der neutestamentlichen Literatur das systemati­sche Axiom der modemen protestantischen Ethik, den Kontrast zwi­schen der statischen Gesellschaftsethik in den späten paulinischen Schriften und der Ethik des in Jesus bevorstehenden GottesreiChes geprüft. Gerade dort, wo sich angeblich die systematische Kluft zwi­schen den zwei Richtungen ethischen Denkens lokalisiert und sym­bolisiert, in den Gedanken des Apostels Paulus über die menschlichen Beziehungen intlerhalb der stabilsten Funktionen der Gesellschaft, der Familie und der Wirtschaft, fmden wir eine· Ethik, . die sich in

zu empfangen. Dann empfiehlt Paulus dem Philemon, ohne Druck auszuüben, wie es unter Brüdern sein soll (er bietet sogar Bezahlung an), er solle Onesimus freilassen. Die amerikanische Erfahrung seit 1865 hat gezeigt, daß die bloße Freilassung aus der Leibeigenschaft nicht notwendig eine Statusverbesserung für den Sklaven bedeutet, wenn sie nicht einhergeht mit einer neuen und eh­renhaften Beziehung zum früheren Herrn und zur herrschenden Sozialstruktur. Wie Paulus mit Onesimus umgeht, die Anweisung, ihn als Bruder zu behandeln, dokumentiert also nicht den konservativen sondern den erneuernden Charak­ter der paulinischen Ethik.

32 Eine äußerst sorgfältige Arbeit über die Beziehung zwischen neutestament­lichem Denken urid Stoa ist J.N. Sevensters Paul and Seneca (Leiden: Brill, 1969). Ohne sich besonders mit den Haustafeln zu beschäftigen, findet Seven­ster (bes.pp. 167-218) ähnliche Unterschiede wie wir zwischen Paulus und Se­neca.

33 Bzgl. der Interpretation der auf Jesus zurückgehenden Tradtionskette, auf die der Apostel Paulus mehrmals ausdrücklich und noch öfter indirekt hin­weist, vgl. Oscar Cullmann, Die Tradition als exegetisches, historisches und theologisches Problem (Zürich: Zwingli Verlag, 1954); und Archibald M. Hun­ter, Paul and his Predecessors (Westminster, 1961).

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Form und Inhalt und selbst in der Sprache aus der Neuartigkeit von Lehre, Wirken und Triumph Jesu herleitet.

Der Blick weitet sich

Nachdem wir nun die Struktur des ethischen Denkens der Haus­tafeln kennengelemt haben, entdecken wir es auch anderswo im Neu­en Testament.34 In seinem ersten Brief an die Christen in Karinth

34 Sehr scharfsinnig fonnuliert Johannes Hamel diese erweiterte Logik: "Die Mahnung: "Jedermann sei untertan ... " ist darum so viel mißverstanden und dann mißbraucht worden, weil man nicht den Gesamtzusammenhang be­achtet hat, in dem sowohl das Wort Hypotassesthai wie die ähnlichen Auffor­derungen zum Gehorsam, zum Ehren, zum Sichselbsterniedrigen usw. stehen. All diese Worte dIÜcken nämlich ein Wesensmerkmal christlichen Verhaltens zueinander, bzw. zum Mitmenschen aus: in der Gemeinde, im Haus und in der Stadt, gegenüber MitbIÜdern, Nichtchristen und auch in politischen Zusam­menhängen gegenüber den Machtträgern. Zum "Sichunterordnen", "Gehor­chen", zu dem "Den-anderen-höher-Achten-als-sich-selbst" werden die Männer gegen ihre Frauen und umgekehrt, die Sklaven gegen ihre Herren (und der Sa­che nach vice versal vgl. auch Philemon), die Kinder gegen ihre Eltern (und die Eltern sollen ihre Kinder darin ehren, daß sie sie nicht zum Zorn reizen), die Jüngeren gegen die Älteren und die Ältesten gegenüber der von ihnen geleite­ten Gemeinde ermahnt. Wenn man so die Mahnung "Seid untertan" nicht iso­liert betrachtet, verliert sie sofort den üblen Beigeschmack, den das Wort "Untertan" nun einmal in der deutschen Geschichte und Literatur gewonnen hat. Hypotassesthai heißt eben nicht "Mitmachen" um jeden Preis, nicht "Untertanengehorsam", nieht "Kotaumachen" vor Thron und Altar, ist nicht das Verhalten des loyalen Bürgers zur Zeit des Absolutismus. Vielmehr ist die­se durch das NT durchlaufende Parainese in der Person und dem Weg des Herrn begIÜndet, der Nonn und Verwirklichung dieses Sicherniedrigens zu­gleich ist: s. 1. Tim 2, 3-7; Tit 3, 3-7; 2,11-14; 1. Petr 2,21-25; 3,18; Eph 5, 25-27; 4,32-5,2; Phil 2,5-11; Kol 2,18; 20; 22ff.; 4,1; Eph 6,1.4.5ff. 9; 1. Kor 7,20ff.; 8,l1f.; Röm 14,7ff.15.20; 15,3f.; GaI5,24; 6,2 und viele andere Stel­len. Das bekannteste Beispiel, der Christuspsalm von Phil 2,5ff., begründet durch den Hinweis auf den sich selbst erniedrigenden Herrn unseres Heiles die Mahnung an die Gemeinde, den anderen höher zu achten als sich selbst. Die inhaltliche Füllung des Hypotassesthai erfolgt durch den gekreuzigten und auferstandenen Hern, der sich als der Freie um unsere twillen erniedrigt und sich selbst für uns dahingegeben hat. Da wir von dieser Tat dieses Herrn leben, ziemt es sich, daß wir uns untereinander in Entsprechung zu diesem donum und exemplum auch einander "unterordnen", so wie sich die Gestalt der Liebe untereinander nach der Liebe bestimmt, die der uns dienende und uns erret­tende Herr uns erwiesen hat. Versteht man das Hypotassestahi dagegen iso­liert, so macht man aus dem Urwort der Nachfolge ein fonnales und passives Gehorchen, das den "Untertanen" ihre eigene Verantwortung nimmt und den Mächtigen einen Freipaß zur Willkür ausstellt. An diesem Mißverstehen ist aber nicht das NT, sondern unser Unglaube schuld, der aus dem Ruf zur Frei-

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findet Paulus mehr als einmal Gelegenheit, ethische Probleme aus . dem häuslichen Bereich anzusprechen. Dabei zeigen sich dieselben Denkmuster. Es war damals üblich, daß die Frau in der Öffentlichkeit

heit in der Kreuzesnachfolge die Mahnung zum Sichducken gemacht hat, zum Wohlgefallen der jeweils regierenden Gruppen.

Dieser TatbestllIld wird nun durch eine weitere Beobachtung an den Texten bestätigt, die unser politisches Verhalten angehen.Wir gehen dabei von 1. Tim. 2, lff. aus, wo zur Fürbitte aufgerufen wird. Für wen? Zunächst "für alle Men­schen"! Und erst dann schließt sich die Mahnung an, "für die Kaiser und alle, die in obrigkeitlicher Stellung sind". So erscheint also die Fürbitte für die Re­gierenden und an der Regierung in irgendeiner Form Teilnehmenden als Son­derfall innerhalb des Betens und Dankens fur alle Menschen. Sollte etwa dahin­ter die Meinung stehen, gerade diese Personen seien bei der Fürbitte zu verges­sen, die nur zu leicht übersehen werden können? 1. Petr. 2, 13ff. bestärkt uns in dieser Vermutung. Es heißt dort zunächst: "Seid untertan jeder menschli­chen K tisis" (nach den neueren Forschungen als Übersetzung eines rabbinischen Terminus technicus mit "Geschöpf" wiederzugeben), d.h.: "Seid untertan je­dem von Gott geschaffenen Menschen". Und daran schließt sich wiederum, pa­rallel zu 1. Tim 2, lff. " ... es sei dem Kaiser als dem Oberherrn oder den Statt­haltern ... " In v. ·17, der zusammenfassenden Mahnung, heißt e.s dann ganz ent­sprechend: "Erweiset jedermann Ehre, liebet die Bruderschaft, fürchtet Gott, ehret den Kaiser!" Tit. 3, Hf. finden wir dieselbe Verbindung der allgemeinen und speziellen Mahnung zur Unterordnung, nur dort in umgekehrter Reihenfol­ge. Es heißt zunächst: "Erinnere sie, den Obrigkeiten und Gewalten untertan zu sein, Gehorsam zu leisten, zu jedem guten Werk bereit zu sein", und geht dann weiter: " ... niemanden zu lästern, nicht streitsüchtig zu sein, freundlich, alle Sanftmut (praytes!) gegen alle Menschen beweisend." Tit 3 setzt also bei der schwersten Mahnung ein und bettet sie in die Ermahnung zur Sanftmut (= Niedrigkeit) gegen alle Menschen ein, um dann im folgenden diese Parainese im Werk und Weg Christi zu begründen. Aber auch in Röm 12 und 13 finden wir diesen Zusammenhang: 12, 17ff. wird ermahnt, mit allen Menschen Frieden zu halten, seine Feinde zu lieben, und nach 13, 8ff. gilt es, niemandem etwas schuldig zu bleiben als die Liebe, zusammengefaßt in dem Gebot, seinen Näch­sten zu lieben wie sich selbst. Durch diesen Zusammenhang hat das Hypo­tassethai auch in Röm. 13, 1-7 seine dem Christusgeschehen entsprechende Füllung gefunden. Die Auslegung von Röm 13, lff. durch die Späteren (1. Petr und Pastoralbriefe, aber auch 1. Clem, Ignatius, Eph 10 und Polykarp XII,3) trifft also den Sinn der paulinischen PaJ:ainese ganz richtig.

Ist das Hypotassesthai (mit seinen sachlich identischen Wortparallelen) also prinzipiell ein Verhalten "gemäß dem Evangelium" von dem sich erniedrigen­den Herrn der Welt, so ist es an jedem einzelnen Ort jeweils ein freies, höchst aktives, Gefuhl, Verstand und Willen umgreifendes, sich über Lage und Gegen­über sehr genau Rechenschaft gebendes Handeln, das von Anfang an die Mög­lichkeit zu einem geistgewirkten Widerstand, zu einer dem Herrn gemäßen Di­stanzierung und zu einer leidensbereiten Absage an diesem oder jenem be­stimmten Punkte in sich hat." Johannes Hamei, "Erwägunge;. zur unchristlichen Parainese ... " in Ernst Wolf, htsg., Christusbekenntnis im Atomzeitalter? ThEx, 70 (1959), 159-161.

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einen Schleier oder eine Kopfbedeckung trug. Die christlichen Korin­therinnen stellten ihre neue von Christus verliehene Würde u.a. in der Geste des Schleierabwerfens während, des Gotttlsdienstes dar' (vgl. 1. Kor. 11:2ff.). Der Schleier war ein Zeichen des Schutzes (Paulus) nennt ihn "Macht"); in der Öffentlichkeit wurde damit angezeigt, daß die Frau einen Platz hatte in der Gesellschaft, daß sie unter dem Schutz ihres Vaters oder Ehemannes stand; gleichzeitig war der Schlei-

. er jedoch ein Symbol der Unterwerfung. Manche Interpreten kommen bei der Lektüre dieses Abschnitts,

wie bei den Haustafeln, zu dem Schluß, es sei doch ein Jammer, daß Paulus noch nicht die Gleichheit aller Menschen in Christus eingese­hen habe. Doch wenn wir verstehen wollen, worum esin dieser Passa­ge geht, müssen wir annehmen, daß die Frauen in Korinth diese Bot­schaft bereits vernommen hatten. Sonst hätten sie den Schleier nicht abgenommen, schon gar nicht im Gottesdienst. Der Schleier einer Frau, die sich in der Versammlung erhob, um zu sprechen (zu "be­ten" oder zu "prophezeien"), wurde so zum Symbol einer Doppel­strategie: der befreienden Wirkung des Evangeliums auf die Frauen auf der einen Seite - sie hatten Rederecht und konnten religiöse Funktionen übernehmen (und zwar in weit größerem Ausmaß als es ihnen als einfache Mitglieder des Haushalts ihres Vaters oder Bruders zugestanden hätte) - und der Anerkennung der Gesellschaftsord­nung,"in der die Frauenrolle weiterhin gelebt werden mußte.

Wie in den Haustafeln, wird auch hier deutlich daran erinnert, daß Unter- und überordnung keinen Wertunterschied bedeutet: "Vor dem Herrn ist allerdings die Frau nichts ohne den Mann und der Mann nichts ohne die Frau. Zwar wurde djeP(au aus dem Mann ge­macht; aber der Mann wird von der Frau geboren.'; (l.Kor. 11: 1 Hf.). Unterordnung im Rahmen der gegebenen Rahmenbedingitngen heißt nicht, die untergeordnete Partei moralisch oder persönlich für min­derwertig zu achten. Das Gegenteil trifft zu; daß die untergeordnete Partei dazu aufgerufen werden kann, diese Unterordnung freiwillig zu akzeptieren, ist, wie in den Haustafeln, ein Anzeichen, daß dieser Partei bereits ein Wert zuerkannt wurde, der sich grundsätzlich von dem unterscheidet, den jede andere Gesellschaft zugestanden hätte.

In Kapitel 7 desselben Briefes spricht Paulus über die besonde­ren Entscheidungen, vor die zwei Kategorien von Untergebenen ge­stellt sind: Frauen und Sklaven. Sein Rat zeigt sowohl etwas von der Freiheit, mit der das Evangelium ethische Entscheidungen angeht, als auch von der Folgerichtigkeit und Konsequenz in verschiedenen Entscheidungssituationen. Zunächst rät er, den gegenwärtigen sozia-

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len Status beizubehalten; "Jeder bleibe vor Gott in dem Stande, in dem er berufen wurde." (V.24, Jer.) Das heißt: der Sklave soll Skla­ve bleiben; der Unverheiratete unverheiratet; die verheiratete Frau soll bei ihrem ungläubigen Mann bleiben; die verlassene Frau soll nicht wiederheiraten, solange ihr Mann lebt; der Beschnittene und der Unbeschnittene sollen ihren Stand akzeptieren. Paulus geht aber nicht etwa davon aus, eine Änderung dieser Dinge sei Sünde oder falsch, breche also das Gesetz Gottes. Der Apostel will vielmehr allen helfen, "ohne Sorgen" (V. 32) in einer Welt zu leben, deren Struktu­ren nicht von Dauer sind und nicht so wichtig, daß wir unsere An­strengungen auf eine Statusänderung in diesen Strukturen kon­zentrieren sollten. ("Die Zeit ist kurz; damit fortan auch die, welche Frauen haben, so seien, als hätten sie keine, und die Weinenden, als weinten sie nicht .... denn die Gestalt dieser Welt vergeht." V. 29:31)

Doch es geht Paulus nicht nur um die Freiheit, die sich daraus ergibt, daß man nicht gegen seinen gegenwärtigen Stand rebelliert; einige Ratschläge des Apostels scheinen gerade in die entgegengesetz­te Richtung zu weisen. Erhält ein Sklave die Gelegenheit, frei zu wer­den, so soll er sie wahrnehmen (V.21).35 Stirbt der Mann der ver­lassenen Frau, so ist sie frei, wieder zu heiraten (V.39); will jemand unbedingt heiraten, so ist dagegen nichts zu sagen (V.36). Doch ein freier Mann darf nicht zum Sklaven werden, denn das würde wegfüh­ren von der Freiheit, statt zu ihr hin (V.22!). Der Christ ist also auf­gerufen, seinen sozialen Status unter der Perspektive anzusehen, mehr Freiheit zu erlangen. Bietet sich ihm die Chance zu mehr Freiheit, so soll er sie nutzen, denn zur Freiheit sind wir in Christus berufen. Aber er kann diese Freiheit schon in seinem gegenwärtigen Status ver­wirklichen: wenn er sich freiwillig unterordnet, weil er weiß, daß so­ziale Unterschiede im Lichte der kommenden Erflillung von Gottes Plan relativ unwichtig sind. .

Wir treffen auf diesseibe Haltung gegenüber der Gesellschaft, wenn wir unser Blickfeld wiederum erweitern: zur Lehre des Neuen Testaments über den Staat. In 1. Petrus 2 begann der Text der Haus-

35 Um die Diskussion zunächst auf diesen Punkt zu beschränken, haben wir hier das gängige Verständnis von V. 21 akzeptiert: "Wenn du Gelegenheit hast, frei zu werden, dann ergreife sie." (Gute Nachricht) Diese Übersetzung ist je­doch auf keinen Fall eindeutig. Es gibt gute grammatische Gründe für die entge­gengesetzte Lesart. Die Zürcher Bibel übersetzt: "Wenn du auch frei werden kannst, so bleibe umso lieber (in deinem Stande). (VgL Sevenster,op.cit.,p.189; Stendahl, op.cit.,p.33). Diese Lesart würde die Haupttendenz dieses Kapitels verstärken, ohne jedoch die Erlaubnis für eine Statusveränderung ganz zu ver­weigern, wo sie geboten erscheint.

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tafeln: "Fügt euch dem Herrn zuliebe jeder menschlichen Ordnung" (Gute Nachricht). Es geht also zunächst um die Obrigkeit, dann um die Sklaven und schließlich um die Frauen. In 1. Tim. 2, den einige Exegeten auch unter die Haustafeln zählen, wird zuerst zur Unterord­nung unter die Regierung ermahnt, dann geht es um die Unterord­nung der Frauen und schließlich sollen Christen das Ordnungsamt des Bischofs und Diakons in der Kirche anerkennen. Ohne Verbin­dung zu den Haustafeln ist der Aufruf zur Unter()-~dnung unter die Obrigkeit in Römer 13. Die Obrigkeit ist also, wie die Ordnung der Familie, eine der gegebenen Strukturen menschlicher Beziehungen. Innerhalb dieser Strukturen ist der Christ zur Ausfüllung seiner Rolle berufen. Wiederum wird die Unterordnung motiviert und durch ihre Bezogenheit auf die Sendung Christi gerechtfertigt)6

Allerdings gibt es an dieser Stelle einen entscheidenden Unter­schied. Nach der Einladung an die Frauen richteten die Haustafeln einen ähnlichen ungeheuer neuen Aufruf an die Männer, ihre Frauen zu lieben; nach dem Aufruf an die Sklaven, untertan zu sein, appel­lierten die frühen christlichen Morallehrer an deren Herren, sie eben­so zu respektieren; nach der Ermahnung der Kinder, ihren Eltern ge­horsam zu bleiben, wurde die Ermahnung umgedreht und auch an die Eltern gerichtet. Die an den Christen als Staatsbürger gerichtete Er­mahnung wird jedoch nicht umgedreht. Der König wird nicht aufge­fordert, sich als Diener des Volkes zu verstehen. Hat das seinen Grund nur darin, daß die apostolischen Prediger und Autoren natürlich wuß­ten, daß sich unter ihrem Publikum keine Könige befanden? Oder liegt es daran, daß hier Jesu Lehre zum Vorschein kommt, wie sie sich in verschiedenen Formen erhalten hatte; Jesus hatte seine Jünger an­gewiesen, keine Regierungsgewalt über andere zu übernehmen, da sie der Berufung des Jüngers zum Dienen widerspricht)7

36 Römer 12:lf. stellt die gesamte ethische Passage in den Zusammenhang der "göttlichen Gnadengaben"; 12:4-8 begründet die Imperative mit dem Ausfiillen der zugeteilten Rolle; 12: 1 7-21 befiehlt den VeIZicht auf Rache; das paßt zur Anerkennung der Mächte als Racheübende (13:4). Markus Barth, Acquittal by Resurrection, pp.43ff., stellfumfassend dar, wie die Unterordnung von Röm. 13 im Werk Christi verwurzelt ist. "Er (Paulus) argumentiert nicht aus einer Schöpfungsordnung oder für ein leichtes Leben, sondern aus der Erniedrigung und Erhöhung Christi" (p.46)

37 Markus 10:42f; Matt. 20:25ff; Luk. 22:25ff.

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In seiner wegweisenden Untersuchung der neutestamentlichen überlieferungskritik,The Primitive Christian Catechism, 3 8 stellt Erz­bischof Philip Carrington die Haustafeln in einen größeren Tradi­tionszusammenhang. Er unterscheidet didaktische Texte3 9 , in denen dieselbe Imperativfolge wiederkehrt:

(a}legeab ... (b) sei untertan .. . ( c) sei wachsam .. . (d) widerstehe .. . Die Vermutung scheint angebracht, daß die Parallelität dieser

Abfolge (sie umfaßt mehr als diese vier Verben) auf eine gemeinsame mündliche katechetische Tradition· der Urgemeinde· zurückweist. Je­der neue Christ hätte also diese Unterweisung empfangen und sie als Teil seiner Taufverpflichtung akzeptiert, als Teil des ,,Kennenlernens Christi" (Eph. 4:20; KoI. 2:6). Carrington vermutet weiter,die frü­hen Gemeinden hätten in der Behandlung des Heidenproblems oder der Probleme von Gliedern aus heidnischen Hintergrund40 nach ge­meinsamen Unterwei_sungsformen (im Verbalen und Sozialen) gesucht, die auf vorchristliche (d.h. jüdische) Modelle zurückgingen.

Er zeigt jedoch nicht das Neue in der Christianisierung dieser Muster auf. Der Imperativ der Unterordnung wird von den Autoren des Neuen Testaments ausdrücklich am Beispiel Christi gemessen und begründet,41 Carrington entdeckt den Güdischen?) Ursprung im An­nehmen der"gottgleichen Stellung von Ältesten und Vätern". Zwar gibt es jüdische Vorbilder für diese Unterweisungsmuster, doch kön­nen wir Carrington nicht folgen,wenner den Inhalt der Unterwei­sung auf das in den jüdischen Parallelen vorhandene reduziert.

38 Cambridge, V.P., 1940.

39 KoL 3-4; Eph. 3-6; l.Petr. 2:1-4; 11; l.Petr. 4: 12ff; lakobus; Hebr. 12-13.

40Ibid., pp.68, 88ff.

41 Pp. 64, 68.

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Eine neue Schöpfung 42

So verstreut die ethischen Anweisungen der neutestamentlichen Autoren auch sind, so locker sie sich den verschiedenen Situationen der Adressaten anpassen, so verbindet sie doch eine gemeinsame kla­re Logik. Die Befreiung der Christen vom status qua durch das Evan­gelium von Christus, der freiwillig die Bindungen der Geschichte auf sich nahm, ist so tiefgehend und neuartig, daß der Gläubige weiß, seine Unterworfenheit unter die versklavenden und entfremdenden Mächte dieser Welt ist gebrochen; die Befreiung Christi erreicht jede Gebundenheit, und er will im Einklang mit diesem radikalen Wandel handeln.

Gerade um Christi willen aber sollen wir der Gesellschaft außer­halb der Kirche die.sen Wandel nicht mit Gewalt aufzwingen. Weil wir seinem Vorbild freiwilliger Unterordnung nachfolgen, sollen wir auf Gewalt verzichten; wir leben in einer neuen Welt, unter einer neuen Herrschaft, die nicht eine simple Alternative zur gegenwärti­gen Erfahrung ist, sondern erneuertes Leben in der Gegenwart. Wir haqen die Hoffnung, daß die liebevolle Freiwilligkeit unserer Unter­ordnung selbst missionarisch wirkt; "denn der ungläubige Mann ist durch die Frau geheiligt und die ungläubige Frau ist durch den Bru­der geheiligt. ... Denn was weißt du, Frau, ob du deinen Mann retten wirst?,,43 Die freiwillige Unterordnung der Gemeinde ist ein Zeugnis an die Welt.

Die stoischen Denkstrukturen werden also schöpferisch umge­formt. Die Urgerneinde akzeptierte die nüchterne stoische Analyse, daß sich ethische Pflichten am besten in einem Rollenmodell dar­stellen ließen. Doch die Beschreibung dieser Rolle veränderte ihre Form in der Begegnung mit dem apodiktisch imperativen Stil des alttestamentlichen Gesetzes. Der Inhalt veränderte sich in der Hal-

42 DieseZwischenüberschrift ist aus einem anderen paulinischen Kontext ent­lehnt: "Wenn jemand in Christus ist, siehe, eine ganz neue Schöpfung." (2.Kor. 5:17 Yoder). Es gibt keine linguistische Rechtfertigung die "neue Schöpfung" auf das erneute Individuum zu beschränken, wie in der protestantischen Pre­digt so oft geschehen; vg!. unten p.199. Wer Christus als Herrn bekennt, trifft nicht nur eine Aussage über sich selbst, sondern auch über die Welt. Christen können menSChliche Beziehungen durch freiwillige Unterordnung verändern, nicht weil (a la Troeltsch oder Dibelius) Jesus die Welt nicht verändert hat son­dern gerade weil er es getan hat.

43 Vgl. oben Anm. 29

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tung des Dienens, wie sie aus Beispiel und Lehre Jesu . selbst abge­leitet wurde. Sein Programm der revolutionären Unterordnung, des freiwilligen Dienens statt Herrschens, befähigt. Menschen in gesell­schaftlich untergeordneten Positionen, diesen Status zu akzeptieren und ohne Unmut darin zu leben. Zugleich verlangtes vom Höherge­stellten, dem beherrschenden Gebrauch seiner. Stellung· abzusagen, ihn aufzugeben. Dieser Aufruf ist also gerade keine simple Anerken­nung der Klassenherrschaft, an die sich die frohe Botschaft richte­te.44 Der untergeordnete Mensch wird zum ethischen Handeln be­freit, wenn er die Unterordnung in Christus freiwillig annimmt, statt sich fatalistisch oder murrend zu beugen. Die neue Weltordnung wird die alte nicht sofort und mit Gewalt ersetzen, sondern die alte und die neue Ordnung existieren auf verschiedenen Ebenen in Konkur­renz miteinander. Weil sie weiß, daß es in Christus weder Mann noch Frau gibt, kann die christliche Ehefrau die Unterordnung unter ih­ren ungläubigen Mann frewillig akzeptieren. Weil Christus alle Men­schen befreit hat, und der Freie auf derselben Stufe wie der Sklave steht, kann sich die Beziehung zwischen beiden human und ehrlich innerhalb der· Rahmenbedingungen der bestehenden Wirtschaftsord­nung' deren Struktur vergeht (1 Kor. 7:31), weiterentwickeln.

Troeltsch und seine Jünger hatten recht: die Urgemeinde mußte für ihr Leben innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen eine Sozial­ethik entwickeln, wie sie nicht ohne weiteres in den Ausführungen Jesu in ihrer unmittelbaren Reich-Gottes-Erwartung zu erkennen ist.

Aber sie hatten unrecht, als sie daraus folgerten, die von der Kir­che dann entwickelte Ethik habe keinen Bezug zur Ethik Jesu, ja sie stehe dazu im Gegensatz.45 Weit zutreffender ist dagegen die Aussa-

44 Das Verständnis, die Lehre des Paulus habe tatsächlich unkritisch die Gesell­schaftsstruktur seiner Zeit gutgeheißen, und Christen, die sich von ihm leiten lassen, täten heute dasselbe, ist weit verbreitet, sowohl unter sozial Konservati­ven als auch unter "Möchtegernrevolutionären", die sich gerade deswegen vom Neuen Testament abwenden. Dieses Mißverständnis ist teilweise dem Unvermö­gen des Lesers anzulasten, im Text die Elemente moralischer Gewissensbildung und der Gegenseitigkeit (e und h oben) zu sehen, aber auch dem modernen My­thos, gerechte Gewalt auf der Seite der Unterdrückten sei ohne Zweifel ein Mi ttel der Befreiung.

45 Wir haben oben (p.97, Anm. 10) schon auf Hans Werner Bartschhingewie­sen, der gezeigt hat, daß, wenn Änderungen in den Evangelientexten (z.B. Mar­kus und Lukas) festzustellen sind, diese keine Abschwächung, sondern eher ei­ne Bekräftigung der eschatologischen Erwartung Jesu repräsentieren. Der Her­ausgeber Lukas gruppierte nicht deswegen einige Details um, weil er seine le­bendige Hoffnung verloren hatte, sondern weil er weiter Zeugnis von ihr able­gen wollte.

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ge, daß es die Ethik Jesu selbst war, die umgefonnt und übertragen wurde in die Haltung der in der Gesellschaft dienenden Kirche, wie in den Haustafeln deutlich wird. Weil in der Auferstehung und an Pfmgsten ein Teil des kommenden Königreiches schon in unsere Ge­schichte eingebrochen ist, kann die Gemeinde jetzt das neue Leben des Gottesreiches in den gesellschaftlichen Strukturen leben. Die Urge­meinde hatte es nicht nötig, ein Rollenkonzept aus der Stoa zu bor­gen; sie entdeckte, daß ein Christ in jeder Rolle die Dienerschaft Christi leben kann, daß er sich freiwillig unterordnen kann, weil er weiß, daß ein anderer Herrscher die Nonnen setzt; dadurch verwan­delte sie das Rollenkonzept. Frauen, Kinder oder Sklaven, die sich

. freiwillig unterordnen, da "es sich im Heim gebührt", geben nicht die Radikalität Jesu preis; gerade diese Haltung gegenüber den Struktu­ren dieser Welt, diese Freiheit, sie nicht zerstören zu müssen, da sie sowieso vergehen werden, lehrte Jesus als erster und machte sie in sei­nem Leben konkret.

Nun wäre es ein Mißverständnis, wollte man auf jede sozialethi­sche Frage eine direkte Antwort in den kasuistischen Lehren des Neuen Testaments suchen. Wir haben uns ein Segment dieser Lehren vorgenommen. Es hat sich als wichtig im Bezug auf gesellschaftliche Fragen herausgestellt und stimmt mit der Ethik Jesu überein. Es ging uns besonders darum, die weitverbreitete Auffassung zu prüfen, die Ethik der Apostel verleugne die Ethik Jesu. Diese Ansicht konnte wi­derlegt werden. Aber das heißt nicht, daß wir in anderen Fragen -Wohlfahrtsstaat, Eigentum in der Industriegesellschaft, ethische Zwickmühlen der modernen Medizin - ohne größere Verallgemeine­rungen, längere henneneutische Anmarschwege und Einsichten aus anderen Quellen auskommen können. Wir stellen nicht etwa den An­spruch, alle modernen Fragen der Ethik biblisch beantworten zu können; wir halten nur fest, daß das Neue Testament da, wo es flir seine Zeit spezifische Richtlinien aufstellt, die messianische Ethik Je­su bestätigt und anwendet.

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10. Jedermann sei untertan:

Römer 13 und die Autorität des Staates

Römer 13: 1-7 ist die zentrale und zureichende Grundlage einer christlichen Staatslehre. Jedenfalls gab es daran keinen Zweifel, bis die Krise des Nationalsozialismus das Herzland der protestantischen Theologie heimsuchte. In diesem Text scheint ziemlich unzweideutig gesagt zu werden, daß die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist und die Christen daher ihrer Obrigkeit gehorchen sollen, nicht nur weil sie ih­re Sanktionen fUrchten, sondern weil sie die obrigkeitliche Aufgabe, das Böse zu unterdrücken und das Gute zu ermutigen, aus Gewissens­überzeugung unterstützen. Besonders im nachkonstantinischen Kon­text, . den die katholische und protestantische Theologie lange als selbstverständlich voraussetzten, diente dieser Text als eine Art Mini­verfassung fUr den christlichen Staatsmann (der das Böse bestrafen und das Gute belohnen sollte) und für den christlichen Staatsbürger (der aus Gewissenüberzeugung gehorchen sollte). Wenn eine solche göttlich eingesetzte Obrigkeit das Schwert fUhrt, so ist diese Hand­lung vom allgemeinen Tötungsverbot ausgenommen. Es mag Zweifels­fälle geben, etwa wenn eine Regierung einen ungerechten Krieg führt; oder wenn eine Obrigkeit von ihren Bürgern verlangt, Sünden zu be­gehen; doch innerhalb der Christenheit waren diese Eventualitäten nicht so greifbar, daß man die Grenze abgesteckt hätte. Vermutlich trifft diese Definition auf alle Staaten zu, doch besonders natürlich auf die Regierungen im christlichen Europa und Amerika.

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Die neutestamentliche Exegese hat nun schon lange ein so simp­les Konzept der göttlichen Einsetzung verworfen; doch es hält sich im systematisch-theologischen und ethischen Denken vieler Protestan­ten, besonders theologisch konservativer Protestanten. Es ist daher wichtig, zusätzlich zur Vers-um-Vers-Einzelexegese1, die traditionel­len Gemeinplätze systematisch, ja sogar polemisch unter die Lupe zu nehmen. Um die polemischen Fragen deutlich herauszuarbeiten, muß unsere Skizze dabei das Risiko der Vereinfachung eingehen. Wir wollen deshalb die angreifbare Behauptung der Tradition so präzise wie nur möglich formulieren: weil die Obrigkeit von Gott als Teil sei­ner guten Schöpfung eingesetzt wurde, verbinden sich ihr Auftrag, das Schwert zu fUhren, und die Pflicht des Christen zum Gehorsam gegen den Staat. Deshalb ist der Christ moralisch verpflichtet, das legale Töten des Staates (Todesstrafe, Krieg) zu unterstützen und da­ran mitzuwirken, obwohl er nach Jesu Lehre und Beispiel zu ganz Anderem verpflichtet wäre.

(1) Das Neue Testament spricht auf vielfältige Weise über den Staat: Römer 13 steht nicht im Mittelpunkt der neutestamentlichen Staats­lehre.

Ein starker Strang der Lehre des Evangeliums sieht die säkuläre Obrigkeit unter der Herrschaft Satans. Ihren vielleicht typischsten Ausdruck findet diese Position in der Versuchungsgeschichte: Jesus

1 Die exegetische Diskussion wird für die klassischen theologischen Traditionen zusammengefaßt von Fritzhermann Keienburg, Die Geschichte der Auslegung von Römer 13: 1-7 (Baseier theologische Dissertation, Gelsenkrichen, 1956), neuere Studien sichtet Ernst Käsemann, "Römer 13: 1-7 in unserer Genera­tion", ZTK, 56 (1959), 316-376. Eine gründliche Vers-um-Vers-Wiedergabe ohne weiterführende theologische Interpretation liefert Rolf Walker, "Studie zu Römer 13: 1-7", ThEx, 132 (1963). Mehr noch als für die vorangegangenen gilt für dieses Kapitel, daß wir nicht den Versuch unternehmen, den wissen­schaftlichen Konsens ausführlich darzustellen; das ist für unseren Zweck auch nicht erforderlich. Die wesentlichen Umrisse unserer Untersuchung sind nicht originell; sie in aller Ausführlichkeit zu diskutieren, würde ein anderes Publikum interessieren. Unsere Auffassung kommt der von Markus Barth, Acquittal by Resu"ection, pp.34 und 159; Herbert M. Gale, "Paul's View of the State",Interpretation, 6(1952), 409ff;und Hans Werner Bartsch, "Die neu­testamentlichen Aussagen über den Staat", EvT, 19 (1959), 375ff. sehr nahe. Die erste Skizze dieser Darstellung erwuchs aus einem "Peace Witness Seminar" (Friedenszeugnisseminar) über "Evangelicals in Social Action" (Evangelikale in sozialer Aktion), das vom 30. November bis zum 2. Dezember 1967 vom Eastern Mennonite College, Harrisonburg, Virginia durchgeführt wurde.

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widerspricht nicht dem Anspruch Satans, die Herrschaft über alle Na­tionen vergeben zu können. Stellt man diese Perspektive in den Mit­telpunkt, so erscheinen alle neutestamentlichen Texte in einem ande­ren Licht. 2

Dem modemen Denken erscheint diese Auffassung anstößig, da sie dem modemen demokratischen Humanismus widerspricht. Außer­dem wird sie in extremer Weise von Jehovas Zeugen vertreten. Doch sicherlich wird niemand leugnen können, daß sie Teil des biblischen Materials ist und in der frühen nachapostolischen Kirche Bedeutung hatte. Wenn wir den Text aus dieser Perspektive betrachten, erinnern wir uns auch, daß Römer 13 über eine heidnische Obrigkeit spricht.3 Hier geht es höchstens um ein Einwilligen in die Herrschaft dieser Obrigkeit, um ein Gewährenlassen, nicht um die Etablierung eines Staates durch Gott oder um die Einsetzung eines bestimmten Herr­schers "von Gottes Gnaden".

Eine weitere wichtige Richtung apostolischen Denkens sieht den Staat im Rahmen des Sieges Christi über die Fürstenttimer und Mäch­te. Diese Position wird von Hendrik Berkhofund G. Caird vertreten.4

Statt einer stabilen Institution, die schon von der Schöpfung datiert, dem "Staat als solchem", wird uns hier empfohlen, an einen dynami­schen Prozeß zu denken, der sich auf das sogar die Grenzen der Kir­che überschreitende Heilswerk Christi bezieht und es reflektiert. Der sprachliche Befund - der Text spricht allgemein von den "Mächten"5 - sollte uns davon abhalten, den Text so selbstverständlich isoliert

2 Eine erns1zunehmende Fonnulierung dieser Perspektive ist Archie Penner's The New Testament, the Christian, and the State (Scottdale: Herald, 1959).

3 Wenn wir nach einer stark abweichenden Textvariante "alle Mächte" lesen, so bezöge sich das möglicherweise nicht auf andere, nichtrömische Obrigkei­ten, sondern auf andersgeartete Mächte.

4 Eine ausführliche Interpretation und Bibliographie zum Thema "Sieg über die Mächte" findet sich oben, pp. 122ff, und bei Markus Barth, loc.cit.

5 Der Terminus "Mächte" in Römer 13: 1 (exouswe) mag die spezielle kosmo­logische Bedeutung haben, um die es bei Berkhof und Caird geht; dieser Mei­n ung ist O. Cullmann in der Nachfolge K.L. Schmidts. Wie in den anderen Fundstellen erscheint das Wort im Plural und (vielleicht) mit dem Adjektiv "alle". Der Unterschied liegt darin, daß hier die Synonymreihe (Herrscher, Throne, Engel, Fürstentümer; ... ) und· der ausdrückliche Bezug auf Christus fehlt. Daher ist auch die einfache, funktionale Bedeutung "Obrigkeiten" möglich. Wenn der Ausdruck anderswo im Neuen Testament im Plural er-

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zu interpretieren, wie wir es gewohntennaßen tun. Oscar Cullmann meint, gerade im christologisch-kosmologischen Zusammenhang wer­de die neutestamentliche Staatsauffassung am deutlichsten ausge­drückt.

In der Offenbarung, am markantesten in Kapitel 13, froden wir ein ähnliches Bild der Obrigkeit wie in den frühesten Abschnitten der Evangelien. Die Mächte verfolgen die wahren Gläubigen. Genauso ver-

. hält es sich mit dem erschlossenen Hintergrund von Petrus und Jako­bus. Wir werden uns später wieder der Beziehung zwischen Offenba­rung 13 und Römer 13 zuwenden; im Augenblick mag die Andeu­tung genügen, daß die hier fonnulierte Staatsauffassung jedenfalls auffallend komplizierter und kritischer ist als die traditionelle inter­pretation von Römer 13. Es ist daher im Prinzip schon fragwürdig, daß die protestantische Ethik so von diesem einen Text beherrscht wurde, als sei er eine Art Charta oder Verfassung für den Bereich der Politik.

(2) Die Kapitel 12 und 13 bilden eine literarische Einheit. Römer 13: 1-7 kann nicht isoliert betrachtet werden.

Kapitel 12 beginnt mit einem Aufruf zur Nonkonfonnität, der mit der Erinnerung an die Bannherzigkeit Gottes begründet wird. Er frodet seinen Ausdruck in einem veränderten Leben, in einer neuen Qualität der Beziehungen innerhalb der christlichen Gemeinschaft und, was die Feinde angeht, im Leiden. Das Konzept der. Liebe kehrt dann in 13: 8-10 wieder. Daher ist jede Interpretation des Textes, die nicht Leiden und dienende Liebe einschließt, ein Mißverstehen des Textes in seinem Kontext. Es gibt keine literarkritischen Gründe, weder Textvarianten noch stilistische Argumente, die die Behauptung stützen könnten, es handle sich hier um einen Fremdkörper im Text­zusammenhang, um eine Einfugung.6

scheint, überwiegt die kosmologische Bedeutung; im Singular sind beide Be­deutungen möglich. Robert Morgenthaler, ap.cit., untermauert im detailierten

. Vergleich mit Lukas die. Behauptung Oscar Cullmanns, exausiae habe politische Bedeutung. Die wissenschaftliche Debatte zu dieser Frage ist bedeutsam, da sie sich auf das Problem der "Macht" ( vgl. Kap. 8) und auf das Thema der "Unterordnung"( (Kap. 9) bezieht, doch flir die These des vorliegenden Kapi­tels hat sie weniger Bedeutung.

6 Die Fremdheit dieses Abschnitts im Textzusammenhang wurde am eindring­lichsten von James Kallas vertreten: Romans 13:1-7; an Interpolation",NTS, 11, 365-374. Seine Argumentation basiert ganz auf seinen Ansichten über die

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Zu Beginn der Texteinheit (12: 1) wird eine feste Verbindung hergestellt zum "Erbarmen Gottes", dem Thema des vorhergehenden Brief teiles. Dieses "Erbarmen" umfaßt die unverdiente Berufung der Heiden zum neuen Leben in Gott (Kap. 1-5), die unverdiente Erneue­rung selbst des "Leibes" durch den Heiligen Geist (Kap. 6-8) und das fortwährende Erlösungsinteresse Gottes für das Volk Israel (Kap. 9-11).7

Die Fortsetzung unseres Abschnittes hofft auf ein konkret bevor­stehendes und historisches Heil, "näher als zu der Zeit, zu der wir gläubig wurden." Es zeigt sich in derneuen Qualität der Sorge um den "schwachen Bruder" (14: 1-21) und im Sammeln finanzieller und geistlicher Reserven, um einander (14: 26-29) und Paulus (v. 22-25, 30-33) zu unterstützen. Der ganze Text also sieht christliche Nonkon­formität und dienende Liebe hervorgerufen und getrieben durch das Gespür für Gottes triumphale Bewegung von einer barmherzigen Ver­gangenheit zu einer triumphierenden Zukunft. Jede Interpretation von Römer 13: 1-7, die daraus eine statische oder konservative Stütze des gegenwärtigen Gesellschaftssystems macht, weigert sich, den Kon­text ernstzunehmen.8 Jede Interpretation, die nicht sieht, daß Gottes Barmherzigkeit Feindseligkeiten durch die Gründung der neuen Ge-. (

Vereinbarkeit dieser Lehre mit anderen paulinischen Auffassungen. Einige Theologen meinen, ein späterer Schreiber habe den Abschnitt eingefügt; andere wiederum glauben, Paulus habe eine seinem sonstigen Denken fremde Tradition zitiert. Um die Überzeugung zu gewinnen, der Text passe nicht zum übrigen Paulus, müssen ihm die meisten dieser Wissenschaftler zuerst einen Sinn geben, wie er dem Text von späteren Lesern aufgesetzt wurde, statt daß sie von der Betonung ausgehen, die auch unsere Studie darin rIndet. Diejenigen, die die Echtheit des Abschnitts bezweifeln, interpretieren ihn zuerst in eine Richtung, die Paulus wahrscheinlich nicht vertreten hätte. Würde der Text mit größerer Offenheit gegenüber seinen Wortlaut und weniger Virhaftetsein in der späteren Tradition gelesen, so könnte man diesen Streit vergessen.

7 Vgl. unten, pp. 196, Anm. 6, 7 und 12, die Ausführungen Bartschs und Minears zum politischen Aspekt des ganzen Römerbriefes.

S Man könnte die Fragestellung ausweiten, indem man die traditj.onelle U~ter­scheidung zwischen Schöpfung und Erlösung anwendet. In den Eingangska­piteln des Römerbriefs könnte man die Setzung einer Dualität zwischen Schöpfung und Erlösung sehen. Dann wäre 13:1-7 mit seiner Beschreibung der Mächte als Schöpfungsordnung (vgl. die Bezeichnung "Geschöpfe" im Paral­leltext l.Petr.2:13) in einem Erlösungskontextfehlam Platze. Wir gehen dieser Frage hier nicht weiter nach, da erst ihre Vorannahmen über die Verschieden­heit der Ordnungen von Schöpfung und Erlösung untersucht werden müßten, bevor sie Licht auf die Fragestellung werfen könnte.

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meinschaft überwindet, die die menschlichen Grundbedürfnisse um­schließt (Güter werden geteilt, Missionare unterstützt) macht die ein­zelnen Teile des Textes unverständlich, indem sie sie vom Ganzen iso­liert.

Außer diesen Schlußfolgerungen aus dem breiteren Kontext gibt es verbale Querverweise, die den Text an seine unmittelbare Umge­bung binden. Wie wir später ausführlich sehen werden, beginnt Vers 13: 8 mit einem verbalen Echo auf Vers 7. Wie Oscar Cullmann und andere gezeigt haben, wird die Unterwerfung unter die Mächte in 13:1 mit der Hoffnung von 13:11-14 begründet und erklärt. Vers 10 legt Vers 8 aus, und definiert das "Gute" in Vers 3, das das Verhal­ten der Christen unter der Obrigkeit bestimmt.

Zwischen den Begriffen Rache und Zorn herrscht eine ganz spe­zifische dialektische Wechselwirkung. Den Christen wird gesagt (12: 19), niemals Rache zu üben, sondern sie Gott und seinem Zorn zu überlassen.9 Dann werden die Machthaber als diejenigen erkannt, (13:4), die genau die Funktion ausüben, die der Christ Gott über­lassen soll. Man kann sich schwerlich vorstellen, daß diese beiden Verse, die eine so ähnliche Sprache gebrauchen, unabhänwg voneinander gelesen werden sollen. Die Regierung hat eine andere Funktion als die Christen. Wie fahig ein unendlicher Gott auch sein mag, zu gleicher Zeit durch die Leiden seiner gläubigen Jünger, die Böses mit Gutem vergelten, und durch die zornige Gewalt der Mächtigen, die Böses mit Bösem bestrafen, zu arbeiten, ein solches Verhalten ist für Men­schen nicht komplementär, sondern steht zueinander in Widerspruch.

In seiner souveränen, gewährenlassenden Vorsehung kann Gott ein götzendienerisches, heidnisches Assyrien (Jesaja 10) oder Rom auf seine Weise "gebrauchen". Das geschieht jedoch, ohne daß er die Handlung, die er so benutzt, moralisch legitimieI:t, oder daß er sein Bundesvolk zur Teilnahme daran verpflichtet. Stünden die Aussagen von 12: 19 und 13:4 nicht im selben Abschnitt, so müßten wir nicht unbedingt die eine auf die andere beziehen, um dann zu schließen, daß das Verbot der Rache im einen Vers die Teilnahme der Christen

9 Im Allgemeinen neutestamentlichen Sprachgebrauch ist Zorn eine Leiden­schaft, die vermieden (Eph.4:31; Ko1.3:S; Matt.5:22; 1. Tim.2:S; Titus 1:7) oder kontrolliert werden soll (Eph.4:26; Jak.l:19). Der göttliche Zorn darf nicht in anthropomorpher Analogie zur menschlichen Leidenschaft verstanden werden (vgl. Anthony T. Hanson, The Wrath ofthe Lamb Londeon: S.P.C;K., 1957, bes. pp. 173ft), und durch menschlichen Zorn wird ihm nicht gedient (Jak.l:20).

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an ihrer Ausführung, wie sie im anderen beschrie ben wird, ausschließt. Man könnte dann sagen, dieKOntexte seien so verschieden, daß die Begriffe nicht unbedingt dieselbe Bedeutung hätten. Aber da es sich um die durchgehende Argumentation innerhalb eines Abschnittes handelt und dieselben Wörter auch in der Mitte des Textes gebraucht werden, ist die Interpretation sehr wahrscheinlich, daß es sich um dieselbe "Rache" und denselben "Zorn" handelt, die zum einen un­ter Gottes Kontrolle stehen und zum anderen doch nicht von Christen geübt werden sollen.

(3) Die geforderte Unterordnung erkennt jede existierende Gewalt an, akzeptiert jegliche Herrschaftsstruktur. Der Text bestätigt nicht, wie die Tradition behauptet, eine bestimmte Regierung als göttlich eingesetzt.

Eine Auffassung der göttlichen "Einsetzung" der Obrigkeit meint, jede existierende Obrigkeit sei von Gott in einer besonderen Vorsehungshandlung eingesetzt. Daher hat diese Obrigkeit Offenba­rungsqualität. Die Ereignisse, die sie an die Macht brachten, haben selbst Vorsehungscharakter. Wenn Deutschland von Adolf Hitler regiert wird, so bedeutet schon diese Tatsache, daß seine Regierung "von Gott eingesetzt" ist; die Ereignisse, die dazu geführt haben, sind eine geschichtliche Offenbarung an das deutsche Volk; des­halb muß es sich seiner Macht unterwerfen und sie als göttlich legiti­miert ansehen. Dieses Konzept - die bloße Existenz einer Obrigkeit. konstituiert schon deren Legitimität - könnte man "positivistisch" nennen. Bestimmte lutherische Kreise tendierten in der Vergangen­heit zu dieser Auffassung. Sie muß sicher nicht so weit gehen, Hitler zu rechtfertigen; aber es ist vielsagend und stimmt mit ihrer theologi­schen Struktur überein, daß sie so weit gehen kann, ohne daß im theologischen System innere Widersprüche entstehen. Was auch im­mer ist, ist der Wille Gottes. Wenn wir uns das anschauen, was ist, wissen wir, was Gott von uns verlangt. Durch ihre Vberstrapazierung in Hitlerdeutschland wurde diese Auffassung eindeutig diskreditiert; doch in der volkstümlichen Frömmigkeit und im Patriotismus vieler Länder ist sie weiterhin recht lebendig.

Die Schwäche dieser "positivistischen" Auffassung besteht darin, daß im Text des Römerbriefes keine bestimmte Obrigkeit moralisch anerkannt wird und nichts darüber ausgesagt wird, wer gerade Kaiser

.. ist und wie seine Politik aussieht. Die Alternative, im Logischen wie im Historischen, ist eher in

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der calvinistischen Tradition zu Hause. Man könnte von der "norma­tiven" Auffassung sprechen. Sie reicht von Huldrych Zwingli über Cromwell bis zu Kar! Barth und Emil Brunner. Nichteine bestimmte Obrigkeit wird eingesetzt, sondern das Konzept der gerechten Regie­rung, das Prinzip der Obrigkeit an sich. Solange eine Obrigkeit gewisse Minimalanforderungen erftillt, kann sie zu Recht göttliche Legitima­tion beanspruchen. Wenn sie jedoch die göttlich zugewiesenen Funk­tionen nicht mehr erftillt, verliert sie ihre Autorität. Dann wird es zur Pflicht des Predigers, diese Regierung als ungerecht anzuprangern und die Rebellion zu schüren. Es kann zur Pflicht der christlichen Bürger werden, sich gegen eine solche Regierung zu erheben, nicht weil sie gegen die Regierung, sondern weil sie für eine gerechte Regie­rung sind. Im Konzept der gerechten Rebellion wird der Prediger zwar nicht selbst zum Revolutionär, aber er predigt die moralische Verpflichtung zum Aufstand gegen eine ungerechte Obrigkeit im Na­men einer gerechten Regierung. Diese,s Konzept hat seine Wurzel in . Huldrych Zwingly. In der zweiten Generation der reformierten Tra­dition, der Generation Calvins, konnte es schon auf die Situation der französischen Hugenotten angewendet werden. Es fmdet seine Fort­setzung über lohn Knox und Cromwell in der Amerikanischen Revo­lution und wird gegenwärtig von einer Strömung der Ökumene arige­wandt, die die Rebellion unterdrückter Völker in Lateinamerika oder Afrika gegen den amerikanischen und westeuropäischen Kultur- und· Wirtschaftsimperialismus rechtfertigen möchte.

Diese Auffassung hat einen eingebauten Nachteil. Wer soll da­rüber urteilen, wie schlecht eine gute Regierung werden darf? Wieviel Abweichung von der Norm darf man menschlicher Schwachheit zu­gestehen? Ab wann ist eine Obrigkeit disqualifiziert? Doch eine noch größere Schwäche bedeutet die Tatsache, daß der Text von Römer 13 keine Rechtfertigung des Konzepts der gerechten Revolution enthält. Die Konzeption eines "gerechten Staates", eines Staates, der diesen Namen verdient, in dessen Namen man den empirischen Staat ablehnt und zu stürzen versucht, kom!nt in diesem Abschnitt nicht vor. Im sozialen Kontext der jüdischen Christen in Rom war es ja gerade die Pointe des Abschnitts,ilmen jeden Gedanken an Rebellion oder selbst gefühlsmäßige AblehnunK gegenüber der korrupten heidnischen Obrig­keit auszureden. Es wird keine Definition des theoretisch "wahren Staats" gegeben, mit der man den "realen" Staat verurteilen und stürzen könnte. IO

10 "Rebellion" hat in diesem Abschnitt die Bedeutung gewaltsamen Um­sturzes. Natürlich kann man Rebellion auch anders definieren, so daß damit

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Die "legitimistische" oder "normative" Auffassung versucht oft, Römer 13 ( der gute Staat) und Offenbarung 13 (der böse Staat, der sich religiös verherrlicht und dem widerstanden werden muß) gegen­einander abzuwägen. Die Christen müssen zuerst herausfinden, mit welchem Staat sie es zu tun haben. Ist es der legitime Staat des Rö­merbriefes, so müssen sie ihn unterstützen. Handelt es sich um den bösen Staat der Offenbarung, so müssen sie gegen ihn arbeiten. ll Dafür fmdet sich jedoch in keinem der beiden Texte eine Grundlage. Keiner der beiden Texte fordert aktive moralische Unterstützung. oder religiöse Zustimmung gegenüber dem Staat; beide Texte rufen zur Unterordnung unter die bestehende Macht auf.

Wenn sowohl die "positivistische" als auch die "normative" In­terpretation den Text vergewaltigen, was ist dann die tatsächliche Aussage des Abschnitts? Der Apostel macht eine moralische Aussage und keine metaphysische. Er spricht zur gegenwärtigen Situation der römischen Christen als Repräsentanten der Christen im ganzen römi­schen Reich, und nicht über das Wesen politischer Realität an sich; er diktiert keine ideale Gesellschaftsordnung.

Es wird nicht behauptet, daß Gott die bestehenden Mächte schaffe, einsetze oder bestimme, sondern nur, daß er sie ordne, in die richtige Ordnung bringe, ihnen souverän sage, wo sie hingehören, wel­ches ihr Platz ist. Es hat nie eine Zeit ohne Obrigkeit gegeben; Gott hat die Obrigkeit nicht durch neuerlichen schöpferischen Eingriff ge­schaffen; seit die menschliche Gesellschaft existiert, hat es Hierarchie, Autorität und Macht gegeben. Ihre Ausübung beinhaltet Herrschaft,

jedes Nichteinverstandensein mit der Legitimität einer Regierung gemeint ist -sogar das gewaltlose - ohne Schaffung einer Gegenregierung. In diesem Sinne könnte man von gewaltloser Verweigerung als einer Form der Rebellion sprechen. Würden wir dieser Defmition zustimmen, so wäre die Unterschei­dung zwischen guten Obrigkeiten, die die Christen segnen, und schlechten, gegen die sie rebellieren sollten, immer noch zweifelhaft. "Unterordnung" ist gerade die christliche Form der Rebellion. In ihr teilen wir Gottes Geduld mit einern System, das wir grundsätzlich ablehnen. Vgl. Kap. 9 oben.

11 Diese Alternativen finden sich am deutlichsten bei Oscar Cul1mann, The State in the New Testament, pp73ff, doch sie sind von Karl Barth bis Eberhard Arnold sehr verbreitet. V gl. mein Christian Witness to the State, p 76.

Der normative Ansatz wurde besonders von einem Kreis protestantischer Theologen um Ernst Wolf stark kritisiert. Das Neue Testament und Römer 13

im Besonderen enthalten keine "Lehre vorn Staat". D.h. nicht, das Neue Testament mache keine Aussagen zum Staat, oder das Gesagte sei nicht klar oder zusammenhängend. Vielmehr gebe es keine dogmatisch autorisierte und unveränderliche Auffassung, wie der Staat auszusehen habe, die dann zur An­erkennung oder Ablehnung bestimmter Staaten benutzt werden könnte.

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mangelnden Respekt vor der Menschenwürde und reale oder poten­tielle Gewalt, seit es die Sünde gibLGottheißtin seiner Ordnungsfunk­tion nicht die Tätigkeit der Obrigkeit moralisch gut. Ein Feldwebel ruft keine Soldaten ins Leben; ein Bibliothekar produziert keine Bü­cher, und er fmdet auch nicht jedes Buch gut, das er katalogisiert. Ebenso übernimmt Gott für die Existenz der rebellischen "bestehen­den Mächte" keine Verantwortung, weder für ihre Gestalt noch für ihre Identität. Sie sind eben da. Der Text sagt nur, daß er sie ordnet, sie auf ihren Platz verweist und sie durch seingewährenlassendes Re­gieren in übereinstimmung mit seinem Plan bringt.

Das gilt für alle Obrigkeiten. Es ist eine Feststellung de facta und de jure. Sie gilt für die Regierung von Diktatoren und Tyrannen wie für konstitutionelle Demokratien. Sie gilt sogar rur die Regierung von Banditen und Kriegsherren, soweit diese tatsächlich echte Regie­rungsgewalt ausüben.12

Daß Gott die Mächte ordnet und gebraucht, offenbart nichts Neues darüber, wie die Obrigkeit aussehen sollte und wie wir auf sie reagieren sollten. Keine Obrigkeit wird eingesetzt, gerettet oder zum Sprachrohr göttlichen Willens gemacht; sie wird nur eingeordnet; in seinem kosmischen Ordnungshandeln macht Gott Gebrauch von ihr. Das heißt nicht, daß das Handeln menschlicher Regierungen gutes menschliches Verhalten ist. Ein Bibliothekar ist in den wenigsten Fällen vom Inhalt eines Buches, das er einstellt, begeistert; Gott heißt die Brutalität, mit der Assyrien Israel straft, nicht gut. (les. 10).

Unmittelbar und konkret ist dieser Text für die jüdischen Chri­sten Roms, im Angesicht des offiziellen Antisemitismus und der wachsenden Willkür des kaiserlichen Regimes, eine Warnung vor je­dem Gedanken an Revolution oder Aufstand. Er ruft zu einer wehr-

12 Die mittelalterliche und klassisch protestantische Auffassung von der durch einen göttlichen Willensakt eingesetzen Obrigkeit nimmt immer an, ohne die­sen kreativen Akt würde die "Anarchie" herrschen. In der geschichtlichen Wirk­lichkeit gibt es jedoch keine Anarchie. Wo die eine Macht nicht herrscht, herrscht eine andere.

Machdem wir nun zwischen "einsetzen" und "ordnen" unterschieden haben, sind wir vielleicht in der Lage festzustellen, was benötigt würde, sollte die traditionelle Ansicht trotzdem richtig sein. Um die protestantische Stan­dardauffassung von den in der Schöpfung geoffenbarten Ordnungen zu belegen, müßten wir nicht nur nachweisen, daß Paulus sagt, die Mächte existieren, son­dern, auch daß es einen jedem Menschen angeborenen Maßstab zur Kontrolle der ObrIgkeit gibt. An den wenigen Stellen jedoch (z.B. Röm. 2), an denen Paulus (nach einigen Exegeten) auch Heiden eine Art moralischer Einsicht zu­spricht, schließt er nie die Maßstäbe sozialer Ordnung in dieses natürliche Wis­sen ein.

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losen Haltung auf gegenüber einer tyrannischen Regierung)3 Das ist die unmittelbare und konkrete Bedeutung des Textes; wie seltsam, daß man daraus einen klassischen Beweis für die christliche Verpflich­tung zum Töten gemacht hat.

(4) Die Römer sollten einer Obrigkeit untertan sem, in der sie keine Stimme hatten. Der Text will nicht Christen zum Militär- oder Polizeidienst einberufen.

Rom verlangte von den unterworfenen Völkern keinen Militär­oder Polizeidienst; dieser war Erbberuf oder Bürgerprivileg. Es gab keine allgemeine Wehrpflicht. Als Sklaven und Juden wären die mei­sten frühen Christen sowieso nicht unter eine solche Wehrpflicht ge­fallen, selbst wenn es sie für römische Staatsbürger gegeben hätte. Die Obrigkeit verlangte von ihren Bürgern nicht, das Schwert der Obrigkeit mitzutragen. Die in den Versen 3 und 4 beschriebenen Auf­gaben der Obrigkeit verlangen vom Christen keinerlei Dienst. Die Verse 6 und 7 zählen das auf, "wozu ihr verpflichtet seid". Sie erwäh­nen keinerlei Mitwirkung oder Dienst.

Diese Beobachtung hat nicht nur mit dem Text zu tun, sondern auch mit der damaligen politischen Situation. Es ist darum nicht le­gitim, die Bedeutung des Textes ganz selbstverständlich auf andere Dienste auszudehnen, die andere Regierungen zu anderen Zeiten von ihren Bürgern verlangen könnten. Gerade naiver Buchstabenglaube darf die modeme Einrichtung der Wehrpflicht nicht unter das "Untertan-sein" rechnen.

(5) Die Christen sollen sich dem Schwert des Stllllltes unterwerfen, d.h. sie sollen seine Richter- und Polizeigewalt anerkennen. Das Schwert bezieht sich nicht auf die Todesstrafe oder den Krieg.

Das Schwert (machaira) ist das Symbol richterlicher Autorität. Es diente nicht zum Vollzug der Todesstrafe; die Römer kreuzigten ihre Verbrecher. Es war auch keine Kriegswaffe, nur ein etwas län­gerer Dolch. Auch die Pistole eines Verkehrspolizisten, oder das

13 "Welulos" beinhaltet hier, wie in der ganzen Studie, nicht Zustimmung oder Schweigen gegenüber dem Bösen, sondern das, was Paulus in 12:7 meint und Jesus in Matt. 5:39, den leidenden Verzicht der Vergeltung mit Gleichem. Dies schließt andere Arten der Opposition gegen das Böse nicht aus. Vgl. oben Anm 10.

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Schwert eines Schweizer Bürgeroffiziers sind mehr Symbole der Autorität als Waffen. Das heißt nicht, die römische Herrschaft sei milde gewesen, oder diese Waffe habe nur symbolische Bedeutung gehabt. Symbolisiert wird die Art und Weise, wie eine bestimmte Obrigkeit ihre Herrschaft über ihre Untertanen ausübt: durch die Androhung von Gewalt. Nicht im Symbol enthalten ist die Hin­richtung zum Tode Verurteilter oder Feindseligkeiten gegen andere Nationen.14 Die Römer hatten gar keine Nachbarnationen, mit denen sie hätten richtigen Krieg ftihren können. Die Grenzscharmüt­zel glichen eher Polizeiaktionen als Krieg.

Die Unterscheidung zwischen Polizei und Krieg betrifft nicht nur das Ausmaß der Gewalt oder die Anzahl der Personen, die töten oder getötet werden. Es handelt sich um einen wichtigen Strukturun­terschied in der soziologischen Bedeutung der Androhung von Gewalt. Die Polizei richtet die Gewalt oder die Androhung von Gewalt nur gegen die betroffene Partei. Die Gewalt des Polizeibeamten wird von seinem Vorgesetzten überwacht. Er gebraucht seine Macht in den Grenzen der staatlichen Gesetze, von denen auch der Kriminelle weiß, daß sie ihn betreffen. In jedes ordentliche Polizeisystem sind ernstzunehmende Sicherungen gegen den Mißbrauch polizeilicher Ge­walt gegenüber Unschuldigen eingebaut. Die polizeiliche Gewalt ist in der Regel stark genug, den einzelnen übeltäter zu überwinden, so daß jeder Widerstand von seiner Seite zwecklos ist. Der Krieg hat eine ganz andere Struktur. Die Lehre vom "gerechten Krieg" ist ein Versuch, die Logik der begrenzten Polizeigewalt in den kriegerischen Bereich zu übertragen - kein sehr erfolgreicher Versuch. Man kann dem Denkmuster15 des "gerechten Krieges" eine gewisse Logik nicht absprechen, wohl aber jeglichen Realitätssinn. Die Aussage von Rö­mer 13 zum Krieg könnte sich höchstens auf eine sehr präzise Opera­tion beziehen, die innerhalb der sehr deutlichen Grenzen der klassi­schen Definitionskriterien eines "gerechten Krieges" ausgeführt wür­de. Je ehrlicher wir versuchen, solche Kriterien zu definieren und zu

14 Andererseits ist es die nonnale Waffe für den Kampf Mann gegen Mann (Matt.26:51t) und für einen Aufstand (Luk.22:36ff). Im nichtrömischem Kontext wurde damit die Todesstrafe vollstreckt (Hebr.lI: 3 7; Apg.12: 2).

15 Der Begriff des "gerechten Krieges" ist seit Hiroshima in vielen Kreisen un­populär geworden; aber die Logik, auf die er sich bezieht, ist, abgesehen vom Pazifismus, immer noch der einzige ernstzunehmende Versuch, sich mit dem moralischen Problem des Krieges zu beschäftigen. Selbst viele, die sich Pazi­fisten nennen, argumentieren in Wahrheit noch mit dem "gerechten Krieg". Vgl. Ralph Potter, Warand Moral Discourse (Richmond: John Knox, 1969).

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respektieren, desto klarer wird uns, daß, solange es um einen realen oder denkbaren Krieg im Namen einer realen oder denkbaren Obrig­keit geht, wir die Funktion ehrlicherweise nicht unter die Autorisie­rung der Obrigkeit in Römer 13 einschließen können

(6) Christen, die sich der Obrigkeit unterordnen, behalten ihre moralische Unabhängigkeit und ihr Urteilvermögen. Die ~utorität der Obrigkeit rechtfertigt sich nicht selbst. Jede bestehende Obrigkeit ist Gott untergeordnet; der Text behauptet jedoch nicht, alles, was die Regierung tut oder von ihren Bürgern verlangt, sei gut.

(A) "Denn sie sind Diener Gottes, die eben hierzu beständig tä­tig sind." Welche grammatische Konstruktion steckt hinter diesem Ausdruck? Im Griechischen steht hier das Partizip proskarterountes. Vom grammatischen Standpunkt aus ist es das Wahrscheinlichste, daß diese Partizipialkonstruktion eine adverbiale Bestimmung der vorhergehenden Aussage ist. Dann müßten wir lesen: "Die Regieren­den erfüllen einen Auftrag Gottes, indem sie ständig über dem Recht wachen." (Gute Nachricht) oder "Denn Gottes Diener sind sie, wenn sie beharrlich diesem Amt obliegen." (Jerusalerner Bibel) Im engsten Sinne könnten wir diese Bestimmung also einschränkend verstehen. Doch es gibt auch positivere Widergaben: "Denn der Gottesdienst, den die Verantwortlichen im Staat wahrnehmen sollen, besteht darin, daß sie ihrem Amt nachkommen." (Zink) "Denn sie sind Gottes Die­ner, auf solchen Dienst beständig bedacht." (rev. Luther) Was Paulus auch gemeint haben mag, eines ist sicher: es gibt Kriterien, nach de­nen man das Funktionieren der Obrigkeit beurteilen kann. Ausgehend vom Gesamtzusammenhang steht es uns zwar nicht zu, abzuwägen, ob wir uns gegen die Obrigkeit erheben sollten, als erfüllten bestimmte Obrigkeiten den Status der Obrigkeit nicht und rechtfertigten daher die Revolution; noch können wir mit diesem Maßstab feststellen, ob eine Obrigkeit von Gott zugelassen wurde; denn jede Obrigkeit wur­de von Gott zugelassen. Alle bestehenden Mächte sind dem ordnen­den Wirken Gottes unterworfen, und Christen sollen ihnen allen un­tertan sein. Doch das Ausmaß, in dem eine Regierungihren Dienst er­füllt, können wir schon beurteilen und messen, indem wir danach fra­gen, inwieweit sie beharrlich (Partizip Präsens) Gute und Böse nach ihrem Verdienst belohnt. "Dienerin für dich zum Guten" wäre also ein Kriterium, ein Urteilsmaßstab, nicht die Beschreibung einer Tat­sache.

Bisher haben wir Vers 6 so gelesen, als wäre der Rest der her-

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kömmlichen Interpretation korrekt. Zwei weitere Schwierigkeiten je­doch fUhren uns bei sorgfältiger Analyse weiter weg von der traditio­nellen Auslegung.

Normalerweise hat das Verb proskarterein kein Akkusativobjekt. Es steht ohne Objekt oder mit Dativobjekt. Die häufigste neutesta­mentliche Verwendung wird von der Zürcher Bibel mit "verharrten einmütig (im Gebet)" wiedergegeben. (Apg.l: 14; 6:4;Ko1.4:2;Röm. 12:13.) Das bedeutet jedoch, daß dieser Satz nicht einfach die Be­hauptung bestätigt, daß die Machthaber sowieso schon "eben hierzu beständig tätig sind", da der Akkusativ, der mit "eben hierzu" wie­dergegeben wird, nicht das Objekt dieses Verbs sein kann. Die Über· setzung müßte also lauten: "eben hierzu sind sie Diener Gottes, daß sie beständig tätig sind". In dieser Konstruktion ist eine adverbiale Bedeutung des Partizips sogar wahrscheinlich, unwahrscheinlich ist dagegen die Bedeutung als eigenständige Aussage. Die oben bereits aufgestellte Interpretationshypothese wird durch diese überlegungen also gestützt.

Eine noch größere Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß nicht unmittelbar deutlich wird, worauf sich "sie sind" bezieht. Im allge­meinen nehmen die Exegeten an, die Regierenden aus Vers 3 und die Obrigkeiten aus den Versen 1-3 seien alle irgendwie in ein grammati­sches Subjekt verschmolzen, sowohl feminin-singular als auch masku­lin-plural, und mit immer der gleichen Bedeutung. Man ignoriert da­mit jedoch ganz die Schlüssel zur Interpretation, die uns durch Genus und Numerus in die Hand gegeben sind. Es wäre besser, konkret nach dem Pluralsubstantivzu suchen, auf das sich "sie sind" in Vers 6 be­ziehen kann. Das letzte Pluralsu.bstantiv aus dem Bereich der Obrig­keit sind die "Regierenden" von Vers 3; doch der Abstand ist zu weit, daß hier der Bezug liegen könnte. So meinten einige ernstzu­nehmende Wissenschaftler, unter ihnen M. Dibelius, es sei wahr­scheinlicher, daß "Diener Gottes" selbst der Bezug seL16 Dann müß­ten wir lesen: "Die Diener Gottes sind gerade für diese Aufgabe da (soweit sie ausharren)". Des weiteren sind wir gezwungen, zwischen zwei Bedeutungen des Wortes "Diener" zu wählen. Im säkulären grie­chischen Wortgebrauch bezeichnete der mit "Diener" übersetzte Aus­druck (leitourgoi) Regierungsbeamte, meist Steuereinzieher. Da der vorhergehende Satz sich auf das freiwillige Steuerzahlen bezieht, scheint es ganz angebracht, (mit Dibelius) nun von den Regierungsbe­amten .zu sprechen, die Gott auf diese Weise dienen. Doch die ge­bräuchlichste biblische Verwendung des Wortes, wie auch des fast gleichbedeutenden diakonos, bezieht sich auf den Priester oder den Christen, der Gott im Opfer und im Gottesdienst "dient". Vom Text 16 Martin Dibelius, "Rom und die ersten Christen im Ersten Jahrhundert", in Botschaft und Geschichte, 11 (Tübingen: Mohr, 1956), 181, Anm.9.

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her kann Paulus mit "Diener Gottes" also durchaus auch die Christen meinen. Das würde sich ganz gut in den Kontext einfügen: die Chri­sten sind um ihres Gewissens willen untertan; deswegen bezahlen Chri­sten auch Steuern, da Christen auch, als Diener Gottes, sich dem Ziel widmen, daß das Gute belohnt und das Böse bestraft wird. Der Dienst zum Guten ist "für dich", d.h. er ist am Wohlergehen jedes einzelnen Untertans (und nicht nur an dem des Vollbürgers ) zu messen.!7

(B) Auf welche Kriterien und Unterscheidungsmerkmale proskar­terountes sich in Vers 6 auch bezieht, Vers 7 leitet uns umso deutli­cher zur Unterscheidung an. "Leistet jedermann das, wozu ihr ver­pflichtet seid", kann nicht heißen, "gebt alles der Obrigkeit". Eine sehr viel ernstzunehmendere Interpretation des Textes hört darin eine implizite Anspielung auf die Worte Jesu: "Gebt jedem, was ihm zu­steht." D.h. "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Steuern und Zolleinnahmen, vielleicht Ehre, stehen dem Kaiser zu; doch Furcht schulden wir allein Gott.!8

Wiederum finden wir Maßstäbe für unsere Haltung zur Obrigkeit. Bestimmte "Ehrungen" oder "Furcht" sollen wir der Obrigkeit ver­weigern. Vers 8 verstärkt das Differenzierungsgebot von Vers 7. Die Worte "wozu ihr verpflichtet seid" in Vers 7 und "schuldig" in Vers 8 haben dieselbe Wurzel. Die meisten deutschen übersetzungen geben diese Tatsache mit demselben Ausdruck wieder: "Gebt also allen Ver­tretern der Staatsgewalt, was ihr ihnen schuldig seid." (V.7) "Bleibt niemand etwas schuldig, nur die Liebe schuldet ihr einander immer." (Ökumenische Einheitsübersetzung). Die Ansprüche des Kaisers müs­sen an der Liebe gemessen werden. Die Liebe wiederum definiert sich darin, daß sie nicht verletzt. Die Unterwerfung, auf die sich die Verse 1-7 beziehen, kann also keine moralische Verpflichtung bein­halten, unter bestimmten Umständen, auf Geheiß der Obrigkeit an­dere zu verletzen.

Das Griechische kennt sehr passende Ausdrücke, Gehorsam zu beschreiben, im Sinne von: seinen Willen und seine Handlun­gen ganz den Wünschen anderer zu unterwerfen. Paulus jedoch ruft zur Unterordnung auf. Dieses Wort basiert auf derselben Wur­zel wie das göttliche Ordnen der Mächte. Zwischen Unterord-17 Jean Laserre macht darauf aufmerksam ("Note complementaire sur Rom. 13,4", CR Okt. 1963, pp.39ft) daß diese Koppelung der Ausübung obrigkeit­licher Gewalt mit dem Wohlergehen des Untertans (nicht nur mit den formal definierten Rechten des Vollbürgers) ein sehr wesentliches Urteil über die Au tonomie der Obrigkeit beinhaltet 18 C.E.B.Cranfield, "Some Observations on Romans XIII; 1-7", NTS, 6 (1959-60), 241ff. bringt überzeugende Argumente p. 248, daß für Paulus "Furcht" (phobos) nur Gott zusteht. Ethelbert Stauffer (Christus und die Caesaren, p. 149) berichtet, daß die karthagische Märtyrerin Donato, als man sie aufforder­te "Schwöret bei dem göttlichen Geist des Herrn unseres Kaisers! ",antwortete: "Ehre dem Kaiser, wie sie dem Kaiser'gebührt -Furcht aber Gott. / Honorem Caesari quasi Caesari -timorem autem Deo."

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nung und Gehorsam gibt es einen bezeichnenden Unterschied.l9 Der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, der sich seiner Regie­rung widersetzt und doch in ihrem Herrschaftsbereich bleibt und die von ihr verhängten Strafen auf sich nimmt, oder der Christ, der die Verehrung des Kaisers verweigert und sich doch von diesem Kaiser töten läßt, ordnet sich unter, ohne jedoch zu gehorchen.

Der Imperativ und die Befähigung zur Unterordnung gründen sich nicht auf Furcht oder Berechnungen der Überlebenschancen, sondern, wie wir gesehen haben, auf "Gottes Erbarmen" (12: 1) oder auf das "Gewissen" (13:5). Doch wie begründet das Gewissen Unterordnung? Was kann als Motiv unserer Unterordnung dienen, wenn es nicht die Erschaffung der Obrigkeit durch Gott ist? Wir können eine Parallele ziehen zum Beispiel der Sklaven (1. Petr.2: 13ff; 19ff), der Frauen und Kinder (Eph.5:2lff; Ko1.3:18ff). Ihre Unterordnung liegt darin begründet, daß Jesus Christus selber Unterordnung und Erniedrigung akzeptierte (Phil.2:5ff). 20 Die Bereitschaft zum Leiden ist also nicht nur eine Prüfung unserer Geduld oder gar unnütze Wartezeit; sie bedeutet Teilhabe am Wesen von Gottes siegreicher Geduld mit den rebellischen Mächten der Schöpfung. Wir sind der Obrigkeit untertan, da Jesus, indem er dies tat, Gottes Sieg enthüllte und errang.

Zusammenfassung

Diese Skizze beabsichtigte nicht, eine umfassende oder abge­wogene Darstellung des Textes zu geben; es wurde nur auf die Punkte eingegangen, die die gängigen Interpretationstraditionen als Argumente für ihre Auffassung von der Obrigkeit (einschließlich Teil­nahme am Krieg) benutzen. Diese Tradition, die in den Kirchen seit Konstantin den Ton angibt, verursacht ein Spannungsverhältnis zwischen Römer 13 und ähnlichen Texten und Matthäus 5. Das gilt für Protestanten und Katholiken, für konservative und liberale Theo­logien. Der Schluß, den man aus der Spannung zwischen den beiden

19Cranfield, p.242, unterstreicht den Unterschied zwischen Gehorsam und Unterordnung.

20 Zur allgemeineren Bedeutung der "Unterordnung" in der neutestament­lichen Ethik vgl. Kap. 9 oben. Es verdient wiederholt zu werden, daß es zu Beginn des Abschnittes Röm. 12-13 nicht um Gott den Schöpfer oder provi­dentiellen Regierer des Staates geht, sondern um das "Erbarmen Gottes" und die Versöhnung von Juden und Heiden in einem Volk.

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Pflichten zieht, heißt dann: im sozialen Bereich haben die Pflichten von Römer 13 Vorrang und im persönlichen die von Matthäus 5. Diese Auslegung kann man dann dem pazifistischen Gesprächs­partner vorhalten und ihm vorwerfen, er stelle den persönlichen Be­reich vor die soziale Verpflichtung, er ziehe Jesus dem Paulus vor oder die Eschatologie der Verantwortung.

Manche Pazifisten akzeptieren diese Analyse und argumentieren daraufhin, persönliche Glaubenstreue sei wichtiger als soziale Verant­wortung. Dabei übersehen sie aber, daß die Logik der nachkonstan­tinischen Sicht nur unter der Voraussetzung stimmt, daß Römer 13 und Matthäus 5 sich tatsächlich widersprechen. Wäre das der Fall, so gäbe es vielleicht immer noch gute Gründe, sich für Jesus und gegen Paulus bzw. für die Eschatologie und gegen die Verantwortung zu entscheiden; doch die obigen Ausführungen sollten gezeigt haben, daß die Voraussetzungen nicht stimmen. Das Neue Testament stellt nicht zwei Imperative nebeneinander. Wir müssen im Konfliktfall nicht zwischen Feindesliebe und Gehorsam gegen die Obrigkeit wählen. Römer 12 - 13 und Matthäus 5 - 7 stehen in keinem Spannungsverhältnis zueinander. Beide unterweisen die Christen in all ihren Beziehungen, die zur Gesellschaft eingeschlossen, wehr­los zu sein. Beide rufen die Jünger Jesu auf, ihre Verstrickung in das egoistische Wechselspiel, das die Welt "Rache" oder "Gerechtigkeit" nennt, zu lösen. Beide fordern die Christen auf, sich dem historischen Prozess zu unterwerfen und ihn zu respektieren. Zwar wird im Lauf der Geschichte das Schwert weiter geführt, und es entsteht eine Ord­nung im Feuer, doch die Christen sollen nichtim Führen des Schwer­tes ihren Versöhnungsauftrag sehen.

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11. Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben

Nach dem Lesen der Geschichte Jesu haben wir das Denken der apostolischen Kirche an einigen Stellen ausgelotet. Wir haben gese­hen, daß Jüngerschaft, Nachahmung und Teilhabe seine Hauptthemen waren, und wie diese nicht nur die Motivation, sondern auch das äußere Verhalten der frühen Christen bestimmten. Ein paralleles Phänomen läßt sich an der Kosmologie des Apostels beobachten: die Terminologie der Fürstentümer und Mächte hat nicht nur mythologi­sche Bedeutung. Sie läßt sich sehr präzise auf die Glaubenstreue der Kirche· innerhalb der Strukturen gesellschaftlicher Machtverhältnis­se anwenden. Der Apostel begründet außerdem seine (für den moder­nen Betrachter manchmal schockierende) Bereitschaft, innerhalb der Grenzen einer durch Sklaverei und radikale soziale Schichtung ge­kennzeichneten Gesellschaft zu leben, mit dem Werk Christi und dem Stellenwert der Kirche in der Weiterflihrung dieses Werkes.

Die soziale Haltung Jesu hat also in der apostolischen Kirche überlebt. Wir haben das in mehreren, sich wechselseitig verstärkenden Beweisketten dargestellt. Eine grundlegende Tatsache, so könnte man kritisch einwenden, wird dabei jedoch unterschlagen. Der Apos­tel mag wohl in seinem Denken Spuren der Ethik Jesu bewahrt haben, schließlich beanspruchte er nicht, auf jedem Gebiet Pionier­dienste zu leisten. Sein eigenständiger Hauptbeitrag zum Leben der Urgemeinde besteht doch aber wohl in seiner Haltung gegenüber Rechtfertigung und Gesetz. Steht nicht im Zentrum der paulinischen Theologie das Argument, das durch '1udaisierende" Kräfte ausge­löst wurde und dann verschiedene Formulierungen erfuhr, vor allem in Römer und Galater, der Mensch könne vor Gott nur durch den Glauben und nicht durch das Einhalten des Gesetzes gerechtfertigt werden.

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Ein überführter Dieb oder Mörder ist auch nach einer Amnestie, die seine Strafe aussetzt, noch ein Dieb bzw. Mörder. Desgleichen ist ein Sünder weiterhin Sünder, wenn Gott auch auf grund der Er­lösungstat Christi, die kein Mensch hätte vollbringen können, erklärt, der Sünder sei hinfort als neuer Mensch anzusehen, dem vergeben sei und der wieder in die Gemeinschaft aufgenommen sei. Daß der Sünder so "anzusehen" sei, ist geistlich gesprochen eine juristische Fiktion. Sie hat nur wegen der souveränen Autorität des Richters, der dieses erklärt, Gültigkeit. Der Akt der Rechtfertigung oder das Gerechtfertigtsein vor Gott hat daher keinerlei Bezug zu einer objektiven oder empirischen Gerechtigkeitsleistung auf Seiten des Menschen.

Dieser fehlende "Bezug" setzt sich fort in allgemeineren Phäno­mena: der Trennung zwischen Körper und Seele, objektiven und subjektiven Realitäten, äußerer und innerer Geschichte. Hier liegt der Schlüssel zu den von Paulus gesetzten besonderen Akzenten. Oder etwa nicht?

Liegt nicht die zentrale Botschaft des Apostels Paulus darin, daß er dem Handeln Gottes jede objektive Dimension nimmt? Das Handeln Gottes soll nicht in Frömmigkeit, religiösen Praktiken oder ethischem Verhalten anschaulich werden, und so die mensch­liche Aufmerkamkeit auf menschliche Werke statt auf Gottes Ge­schenk richten. Unterhöhlt nicht das Bestehen auf Rechtfertigung allein im Glauben und nur durch Gnade, ohne jede Beziehung zu Werken implizit jedes radikale ethische und soziale Engagement, auch wenn Paulus selbst nicht so weit geagangen ist, diese Folgerung selbst zu ziehen. Der klassische Protestantismus sieht die Rechtferti­gung aus Gnade durch den Glauben als den Dreh- und Angelpunkt des Evangeliums. Wenn wir dem zustimmen, müssen wir dann nicht die Ethik, die Paulus von den Judenchristen übernommen und mit den Heidenchristen geteilt hat, als überbleibsel eines überlebten, zum Untergang verurteilten anderen Systems ansehen? Ging nicht die später wieder eingeführte Betonung guter Werke und einer sozialen Haltung auf Kosten der paulinischen Betonung der Gnade?

Paulus und der modeme Mensch

Jahrhundertelang war man von diesen Interpretationen des Apostels Paulus und den ihnen zugrunde liegenden Annahmen so überzeugt und hielt sie als Korrektiv gegenüber bestimmten Ten­denzen des Katholizismus für so notwendig, daß niemand auf den

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Gedanken kam, mit der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtferti­gung des Menschen verhalte es sich anders. Es reimte sich alles so. gut auf das augustinische Erbe und paßte wie angegossen in das Muster protestantischer Verkündigung, daß kein Zweifel den Panzer der Selbstverständlichkeit durchdringen konnte.

So schien es zumindest, bis die biblischen Wissenschaften in unserem Jahrhundert besser und freier zwischen dem ursprünglichen kulturellen Kontext eines Bibeltextes und ~einem Beitrag zum zeit­genössischen Denken unterscheiden lernten. 1 Die selbstkritische Ob­jektivität der wissenschaftlichen Exegese kann uns davon befreien, die Autorität der Bibel weiterhin darin zu sehen, daß ihre Aussagen unsere eigenen überzeugungen bestätigen. Diese Objektivität kann uns frei machen, deutlicher darauf zu hören, was die Bibel tatsach­lich sagt.

Nachdem die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion eine freiere und weniger apologetische Lektüre der alten Dokumente einmal er­möglicht hatte, wurde es auch möglich, das grundlegende Vorurteil in Frage zu stellen, dem Apostel Paulus sei es in erster linie um das persönliche Angenommensein gegangen. Da Martin Luther die apostolische Botschaft unter dieser Fragestellung las, konnte er sein Vorurteil darin bestätigt finden. Die Schulung im Kloster hatte bei Luther das Bedürfnis nach dem persönlich gnädigen Gott hervorge­rufen. So war es für ihn ganz selbstverständlich, dies auch für das Hauptanliegen des Apostels zu halten. Ebenso selbstverständlich war es für John Wesley oder J9,erkegaard oder ist es noch heute für den existenzialistischen oder konservativ evangelikalen Leser, das Evange­lium mit diesem Vorurteil zu lesen und dann natürlich auch diese Botschaft darin zu fmden - denn alle vier sind Kinder Luthers, und jeder stellt auf seine Weise immer noch die Frage nach der persönli­chen Rechtfertigung.

Wir wollen einmal das Vorurteil, die Gerechtigkeit Gottes und die Rechtfertigung des Menschen seien grundsätzlich auf der indi­viduellen Ebene angesiedelt, beiseite stellen. Wir wollen dieses Axiom zur Hypothese machen, die erst noch der Prüfung bedarf. Wir wollen die zumindest denkbare alternative Hypothese auf­stellen, Paulus verstehe unter Rechtfertigung etwas, das kosmische oder soziale Dimensionen hat. Dadurch würde der persönliche Charakter der Rechtfertigung, die Gott denen, die glauben, zurech-

1 Krister Stendahl, "Biblical Theology", Interpreter's Dictionary of the Bible (Nashville: Abingdon, 1962), I, 418ft".

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net, nicht geschmälert;2 durch das Hineinstellen der persönlichen Rettung in eine umfassendere Realität würde allerdings der Individu­alismus negiert, den wir mit Versöhnung verbinden.

Krister Stendahl hat dieses Axiom in seinem Artikel "The Apostle Paul and the ~trospective Conscience of the West"3 in Frage gestellt. Stendahl weist Stück für Stück nach, daß alle konsti­tutiven Elemente der klassischen "Luthererfahrung" sowohl im Den­ken als auch in der Erfahrung des Apostels {licht vorhanden sind. Paulus war nicht von seiner Schuld besessen, und er suchte nicht nach einem gnädigen Gott; er hatte ein ziemlich robustes Gewissen, und es kümmerte ihn kaum, ob Gott nun gnädig war oder nicht. We­der Juden noch Heiden jagt er ein schlechtes Gewissen ein, um ihnen dann Erleichterung in der Botschaft der Vergebung zu versprechen.

Zweitens,-Paulus sieht die Funktion des jüdischen Gesetzes nicht darin, daß es den Menschen ihre Schuld vor Augen führt und sie fUr die Botschaft der Vergebung vorbereitet, indem es das Bewußt­sein ihrer Sündhaftigkeit vertieft. Das Gesetz war vielmehr eine gnä­dige Maßnahme Gottes, um das Leben seines Volkes zu regeln, so­lange es auf die Ankunft des Messias wartete. Ist das Gesetz einmal da, so macht es wohl sein Gegenüber - die Sünde - deutlicher; doch fiir den Gläubigen ist das nicht seine erste Absicht oder sein Haupteffekt.

Drittens, der Glaube war für Paulus kein geistliches Exerzitium, das von Selbstvertrauen über Verzweiflung zu Vertrauen in die para­doxe Güte des göttlichen Urteils führt. Der Kern des Glaubens liegt in dem Bekenntnis, daß in Jesus von Nazareth der Messias gekommen ist. Darin unterschieden sich die Judenchristen von den übrigen Juden. Nicht dadurch wurde ein Jude zum Christen, daß er Gott als gerech-

2 Im Blick auf die kQrrigit;rende Absicht der vorliegenden Auseinandersetzung müssen wir noch einmal feststellen, daß es nicht unsere Absicht ist, den umge­kehrten Fehler zu begehen, und zu behaupten, Rechtfertigung sei nur sozial. Wir widersprechen einer bestimmten polemischen Anwendung der traditionel­len Lehre, die sie dazu benutzte, die ethische und soziale Dimension auszu­schließen. Indem wir Autoren zitieren, die die fehlenden Dimensionen wieder­entdeckt haben, streiten wir die persönliche Dimension nicht ab. Wir streiten allerdings ab, daß man am angemessensten darüber spricht, wenn man vom Rest abstrahiert, wie es bestimmte westliche Traditionen neuern Datums ange­nommen haben. Dieses Kapitel behandelt nicht die ganze Breite des paulini­schen Rechtfertigungsdenkens: es fragt nur danach, inwieweit dieses Denken tatsächlich die Argumente gegen eine "messianische Ethik'~ unterstützt.

3 HTR, 56 (Juli 1963), 199ff.

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ten Richter und gnädigen und vergebenden Beschützer erkannte. Das glaubte er schon als Jude. Nicht ein neues Verständnis seiner Sünde oder der Gerechtigkeit Gottes, sondern Jesus machte ihn zum Chri­sten. Das Glaubensverständnis des reflektierenden Menschen und die Lehrmeinungen des gläubigen Verstandes bauen auf diesem grund­sä tzlichen messianischen Bekenntnis auf. Sie können ihm nicht voraus­gehen oder es ersetzen.

Nicht das Festhalten der Judenchristen an der Gesetzeserflil­lung bekämpfte Paulus als Häresie; solchen Überzeugungen gegen­über verhielt er sich recht tolerant. Wenn er in Jerusalern weilte, paßte er sich dem orthodoxen jüdischen Ritus sogar an. Auch ging es nicht um die Überzeugung der Judenchristen, sie würden durch Gesetzeserflillung gerettet, denn das glaubten sie· gar nicht. Die Ju­denchristen wollten nicht erkennen, daß nun, da der Messias gekom­men war, der Bund Gottes auch den Heiden offen stand. Das be­zeichnete Paulus als ihre fundamentale Irrlehre. Kurzum: es ging um die grundsätzliche Frage der sozialen Struktur der Kirche. Sollte sie eine neue, unerhörte Gemeinschaft von Juden und Heiden sein oder die Konföderation einer judenchristlichen mit einer heidenchristli­chen Sekte? Oder mußten gemäß den Bedingungen promessianischen Proselytenturns alle Heiden zunächst einmal Juden werden?

Stendhal exemplifiziert diesen Unterschied an einem der klassi­schen Texte, Galater 3:24. Das Gesetz wird da als "Wächter" be­zeichnet. Es soll das jüdische Gemeinschaftsleben ordnen, bis der Messias kommt. Paulus geht es darum, daß nun, nach dem Kommen des Messias, die Heiden nicht den Weg des Gesetzes gehen müssen, sondern direkt in die neue Gemeinschaft aufgenommen werden kön­nen. Luther hingegen (und die meisten heutigen deutschen Überset­zungen) interpretiert "Wächter" als den "Zuchtmeister" ,der eine not­wendige Phase repräsentiert, die selbst heute den Heiden nicht er­spart bleibt. Zwar müssen sie nicht in allen Details der jüdischen Ge­setzgebung unterwiesen werden. Doch um überhaupt Gnade empfan­gen zu können, muß man zuerst unter dem Joch eines beliebigen Ge­setzes gebrochen werden. Alle Menschen müssen durch das Stadium des usus elenchticus, d.h. sie fallen unter das Gericht, das mit der Rechtfertigung durch Gott einher geht.

Was also versteht Paulus unter Sünde? Wenn er sich selbst über­haupt ernsthaft als Sünder bezeichnet, so nicht wegen einer allge­meinen existenziellen Angst vor der Gerechtigkeit Gottes, sondern

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sehr darauf eingegrenzt, daß er die Kirche verfolgt und die Öffnung des Bundes zu den Heiden bekämpft hatte, weil er Jesus nicht als den Messias erkannt hatte. Die Änderung, die nun in seinem Leben stattgefunden hat, betrifft nicht die überwindung innerer Wider­stände oder die Fähigkeit, Gott die Rechtfertigung anzuvertrauen; vielmehr wurde Paulus durch das wunderbare Eingreifen Gottes auf der Straße nach Damaskus und durch spätere Erfahrungen zum Werkzeug auf Gottes Seite. Ihm wurde das Vorrecht zuteil, die Hei­den zu gewinnen.

Das war nicht nur Paulus, sondern auch seinen Lesern vollkom­men klar. Die Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes - und das war das Entscheidende - sollte sich an beide richten, Juden und Heiden, .beide sollten ein Teil der neuen Gemeinschaft der Gläubigen werden; die einen auf dem Weg des Gesetzes, die anderen auf einem anderen Weg. Erst als in späteren Generationen diese Beziehung zwischen Ju­den und Heiden vergessen oder polemisch verfälscht wurde, konnte die paulinische Rechtfertigung im Sinne westlicher Selbsterforschung und individuellem Persönlichkeitsanspruch, besonders in der Nach­folge Augustins, übersetzt und uminterpretiert werden. Das göttliche Rechtfertigungshandeln wurde in Begriffe umformuliert, die jedem Menschen einsehbar und zugänglich sind; es hatte somit ewige und universale Bedeutung, wogegen die Versöhnung zwischen Juden und Heiden in der Nichtwiederholbarkeit der Heilsgeschichte nur zu ihrer Zeit und an ihrem Ort verstanden und gefeiert werden kann.

Stendhal ist bestimmt nicht intolerant. Er weist den möglichen Einwand nicht gleich zurück, die neqe''westliche'' Interpretation sei nach bestimmten Nützlichkeitserwägungen "gültiger" oder "relevan­ter" als die ursprüngliche Auffassung; die "Weiterentwicklung der Dogmatik" mag sich als keine schlechte Sache erweisen. Dennoch schließt er mit der Vermutung, in der sozialen Realität des heilsge­schichtlichen Anliegens der Urgemeinde liege vielleicht auch eine Botschaft rür den modemen Menschen. Das hätte außerdem den Vorteil, den biblischen Zeugnissen und ihrem Denken mehr Gerech­tigkeit widerfahren zu lassen.

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Der neue Mensch

Am unbefangensten und deutlichsten fonnuliert Paulus den be­sonderen Charakter seines apostolischen Dienstes im Epheserbrief.4

Der Apostel beansprucht hier ein Wissen und ein Amt, das nicht auf derselben Ebene wie das der anderen Apostel liegt, sondern ein­zig dasteht unter den Aposteln. Gerade ihm wurde Gnade zum Dienst an den Gemeinden verliehen (Eph. 3 :2), ihm wurde ein Ge­heimnis offenbart (3:3). "Geheimnis" meint in diesem Zusammen­hang nichts Mysteriöses, für immer Verborgenes, sondern den strate­gischen Plan Gottes, der bis zum Zeitpunkt seiner Anwendung ge­heimgehalten wurde.5

Von Ewigkeit her war diese "Geheimstrategie" in Gott verbor­gen, doch nun ist sie bekannt und wird von der Kirche über die Kir­che hinaus bekannt gemacht, ja sogar den "Gewalten und Mächten in den himmlischen Regionen" verkündet (3:90.

Worum geht es bei diesem göttlichen Plan, der eine zeitlang ver­borgen war, doch nun dem Paulus offenbart wurde? Es geht genau darum, daß Juden und Heiden nun in einer Gemeinschaft versöhnt sind.

Denkt daran, was ihr früher gewesen seid! Ihr gehört ja zu den Völkern, die von den Juden die "Unbeschnittenen" genannt werden. ... Ihr jedenfalls wart früher von Christus getrennt. Ihr seid Fremde gewesen und habt nicht zu Gottes erwähltem Volk gehört. Die Zusagen, die Gott seinem Volk gemacht hatte, ha­ben für euch nicht gegolten. Ohne Hoffnung und ohne Gott habt ihr in der Welt gelebt Damals wart ihr Gott fern, aber durch die Verbindung mit Christus Jesus seid ihr ihm jetzt nahe. Denn durch das Blut Christi ist eure Schuld gesühnt. Er ist es, der uns allen den Frieden gebracht und Juden und Nicht juden zu einem einzigen Volk verbunden hat. Durch sein

4 Wir brauchen hier nicht zu erörtern, ob der vorliegende Text des Epheser­briefes aus Paulus eigener Feder stammt, oder ober von seinem Sekretär oder einem späteren Schreiber, der vorgab im gleichen Geist zu schreiben, verfaßt wurde. Wären diese Aussagen über den Dienst des Paulus einem späteren Schreiber zuzuschreiben, so wären sie darum nicht weniger Teil unserer Dis­kussion.

5 Normalerweise scheint der Begriff "Geheimnis" militärisch gebraucht wor­den zu sein. Ein Schlachtplan wird bis zur Schlacht geheimgehalten; doch hat die Schlach t einmal begonnen, ist er allgemein bekannt.

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Sterben hat er die Mauer eingerissen, die die beiden trennte und zu Feinden machte. Denn er hat das jüdische Gesetz mit seinen Forderungen beseitigt. So war es Gottes Plan: Christus sollte die getrennten Teile der Menschheit mit sich verbinden und zu einer neuen Menschheit vereinen. Er sollte Frieden stiften und durch seinen Tod beide mit Gott versöhnen. Am Kreuz sollte die Feindschaft zwischen den Menschen und Gott ein fiir allemal ausgelöscht werden. (Epheser 2: 11-16, Gute Nachricht). Die Feindschaft, die in Christus ihr Ende findet, ist in diesem

Abschnitt zuerst und hauptsächlich nicht die Feindschaft zwischen dem gerechten Gott und den Menschen, die gegen seine Regeln ver­stoßen haben, sondern die zwischen Juden und Griechen. Die über­windung dieser Feindschaft, das Friedenstiften durch den Abbruch der Trennmauer bedeutet selbst die Erschaffung einer neuen Mensch­heit. Die Trennmauer war das jüdische Gesetz, das die Juden in Ehre hielten, während sich die Heiden nicht darum kümmerten. Das ein­zigartige Amt des Paulus als "Gefangener Christi Jesu um eurer, der Heiden, willen" (3:1) ist nicht von seinem ebenso einzigartigen Of­fenbarungswissen um das "strategische Geheimnis" Gottes zu tren­nen. Das ist das Werk Christi: er rettet nicht nur individuelle Seelen und befähigt sie zur gegenseitigen Liebe; er stiftet Frieden, reißt die Mauer ein und bildet damit eine neue Gemeinschaft aus zwei ver­schiedenen Gruppen von Menschen, von denen die eine unter dem Gesetz gelebt hatte, die andere nicht. Die Apostelgeschichte berich­tet von der Initiative des Heiligen Geistes: zuerst in Jerusalem, dann in Samaria und schließlich in Damaskus und Antiochien öffnen sich die Gemeinden der brüderlichen Gemeinschaft gläubiger Juden und Griechen. Paulus, einer der Hauptdarsteller dieses Stückes und dessen berufener Interpret, erklärt diese Ereignisse hier als Ausweitung der Bedeutung des Kreuzes und der Auferstehung Jesu.6

6 Die Aufzeichnungen vom Wirken des Heiligen Geistes in der Apostelge­schichte beziehen sich immer auf die Öffnung der Kirche, auf die Ausweitung ihrer Mission. Der Heilige Geist offenbart sich in jenen göttlichen Eingriffen, . die die Kirche zu einer Verkündigung an eine erweiterte Welt treiben. Vgl. Harry Boei, Pentecost and Missions (Grand Rapids: Eerdmans, 1961). Eine gängige Auslegung der paulinischen Auffassung vom geschichtlichen Standort seiner eigenen Mission stellt eine temporal-kausale Beziehung zwischen der Evangelisierung der Völker und der Wiederkunft Christi her: wenn das Evange­lium allen Völkern verkündet worden ist, dann kommt das Ende (Matth. 24: 14). Besonders Oscar Cullmann und Johannes Munk (zus. gef. in John Knox, "Romans 15:14-33 and Paul's Conception of His Apostolic Mission", JBL,

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Um diese Botschaft in den früheren Schriften, in denen sie noch nicht so weit entwickelt ist, besser zu erkennen, haben wir sie zu­nächst im Epheserbrief, einem relativ späten Dokument, identifi­ziert, in dem allerdings der Begriff der "Rechtfertigung" noch nicht einmal eine zentrale Rolle spielt. Im weiteren stützen wir uns, wie schon bisher, stark auf einige zeitgenössische Wissenschaftler; und es sei nochmals unterstrichen, daß es uns in diesem Buch nicht um Ori­ginalität geht, sondern um den Versuch, mit aller Folgerichtigkeit ethische Schlußfolgerungen aus den Forschungsergebnissen anderer Spezialgebiete zu ziehen.

Die neue Rechtfertigung

Markus Barth 7 trifft das Herz der klassischen Diskussion in Ga-later (2: 14ft):

Wir haben an Christus geglaubt, damit wir aus Glauben an Chri­stus gerechtgesprochen würden und nicht aus Werken des Ge­setzes; denn aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerecht­gesprochen werden. Was bedeutet "gerechtgesprochen"? Geht es hier tatsächlich,

wie die protestantische Tradition annimmt (besonders das Luther­tum; aber die anglikanische und reformierte Liturgie legen dasselbe Zeugnis ab), nur um den quasi-juristischen Status der menschlichen Schuld vor Gott, die als Antwort auf einen Glaubensakt durch eine Erklärung des Richters annulliert bzw. amnestiert wird?

In seiner sorgfaltigen Analyse dieser klassischen Passage zeigt Markus Barth, daß es sich hier immer noch um die Frage des ersten Teils von Kapitel 2 handelt: sollten Juden- und Heidenchristen ei­nander annehmen und in emer Gemeinschaft leben? "Gerechtge­sprochen" werden heißt zurechtgerückt werden in und für diese Ge-

113 (März 1964), HO haben dieses Verständnis. Krister Stendahls Auffassung und die hier von Eph. 2-3 behauptete sehen es genau anders herum: weil das Ende gekommen ist, gehören die Heiden zum Bundesvolk. Die Einsammlung der Heiden ist kein Mittel zum Zweck oder Vorbedingung für die Erfüllung der Zeit; sie ist selbst das Ende. Die Erfüllung der Zeit ist Vorbedingung der Heidenmission. Vgl. 'luch Paul M:inear, "Paul's Missionary Dynamic", in The Obedience of Faith; the Purposes of Paul in the Epistle to the Romans, SBT, 2nd ser, 19 (1971), 91fT.

7 Markus Barth, "Je ws and Gentiles: the Socia! Character of Justification in Paul", JES, 5/2 (Frühjahr 1968), 24lff. Vgl. auch Barths Rechtfertigung, Theologische Studien 90, 1969.

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meinschaft. Der Galaterbrief drückt also mit dem Wort Rechtfer­tigung dasselbe aus, was in Epheser mit "Frieden schließen" oder "die Mauer niederreißen" bezeichnet wird.

Teilnahme an Tod und Auferstehung Jesu Christi ist das Mittel der Recht­fertigung: nur in Christi Tod und Auferstehung wird der neue Mensch aus mindestens zwei alten geschaffen: aus einem Juden und einem Grie­chen, aus einem Mann und einer Frau, einem Sklaven und einem Freien, etc. '" Der neue Mensch wird Wirklichkeit, wo sich zwei zuvor fremde und feindlich gesonnene Menschen vor Gott begegnen. Die Rechtferti­gung in Christus ist daher kein individuelles Wunder, das diesem oder jenem zustößt, das jeder für sich suchen oder besitzen sollte. Rechtfer­tigung aus Gnade ist vielmehr ein Zusammenfügen dieses Menschen und jenes Menschen, des nahen und des fernen; ... sie ist ein soziales Ereig­nisß Barth untermauert damit, was wir mit Stendahl im Epheserbrief

zeigen konnten, obwohl seine Analyse aus einer anderen Richtung kommt und einen anderen Text behandelt: Göttliche Rechtfertigung und Versöhnung der Menschen untereinander stehen nicht in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Es ist eben nicht so, daß der "Glaube" im Individuum entsteht und es über seine Endlichkeit hi­nauswachsen läßt und daß Gott dann in diesem Individuum eine Än­derung bewirkt, wodurch es zur Bruderliebe befahigt wird. Barth charakterisiert die Auffassung Albert Ritschels so: "Vergebung und Rechtfertigung seien eine Art psychisches Ventil, das dem einzelnen Kirchenglied die Teilnahme am ethischen Prozeß ermögliche", bei Paulus sei dagegen eine solche Beziehung zwischen Vorspiel und Fol­ge nicht zu erkennen.9

Die ,,neue Kreatur"

Wenn es einen biblischen Text gibt, der den Individualismus des pietistischen Erbes für das Laienverständnis zusammenfaßt, so ist es 2. Korinther 5: 17: "ist jemand in Christus, so ist er eine neue Krea­tur" (revidierte Luther). Nichts scheint offensichtlicher, als daß hier ähnlich wie bei der Wiedergeburt (Joh. 3:5f0 eine metaphysische oder ontologische Veränderung des Individuums versprochen wird.

8 Ibid., p. 259.

9 Generell würde man das neutestamentliche Wort pistis besser nicht mit "Glaube" übersetzen, denn für den modernen Menschen hat das Wort sein Schwergewicht entweder auf einem Glaubensinhalt oder auf dem Akt des Glaubens; Glaubenstreue wäre wohl eine genauere Wiedergabe seiner Bedeu­tung.

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Das Wunder, ein neuer Mensch zu werden, war das zentrale Verspre­chen evangelistischer Verkündigung, und es hat seinerseits wieder da­zu gedient, traditionelle Auffassungen über die Wurzeln des christli­chen sozialen Engagements zu erhellen. Weil nur veränderte Einzelne tatsächlich auch ihr Verhalten ändern, sind einige Formen sozialen Aktivismus fruchtlos; der veränderte Einzelne wird sich auf jeden Fall anders verhalten; deswegen ist der sicherste Weg zur Verände­rung der Gesellschaft die Predigt des Evangeliums an Einzelne.

Wir wollen die korrigierende Wirkung dieser Haltung in be­stimmten ZusaIllITX!nhängen in der Geschichte protestantischen Den­kens und Kirchenlebens nicht leugnen. Wie Stendahl gestehen wir nichtbiblischen Denkstrukturen eine gewisse Nützlichkeit zu. Auch die Bildlichkeit der "Wiedergeburt" in Johannes 3 oder parallele Themen sollen nicht ignoriert werden. Wir fragen nur, ob Paulus tat­sächlich in diesem Text solches sagt. Je intensiver wir uns mit dem Text beschäftigen, desto größer werden unsere Zweifel.

Die Worte "er ist" stehen nicht im Originaltext. Nun mag es oft notwendig sein, in der übersetzung ein "ist" einzufügen, um ein Prä­dikat klar zu definieren, das im Griechischen kein Hilfsverb braucht. Doch die Hinzufligung von "er", um ein vorgestelltes Wort im vor­hergehenden Fall zu erklären, ist eine ganz andere Sache. Zwar ist es grammatisch nicht möglich, sich auf das ,,jemand" vorher im Vers zu beziehen und es als Subjekt dieses Prädikats zu verstehen: doch das ist nicht die einzige Interpretation, und andere sollten vorher ausprobiert werden.

Eine zweite Schwäche der traditionellen Interpretation der ,,neuen Kreatur"als der verwandelten individuellen Persönlichkeit besteht darin, daß das Wort ktisis, hier mit "Kreatur/Geschöpf' oder "Schöpfung" übersetzt, nirgends sonst im Neuen Testament zur Be­zeichnung der Einzelperson benutzt wird. Es bezeichnet meist nicht das Objekt, sondern den Akt der Schöpfung (z.B. Röm. 1 :20), "seit Erschaffung der Welt". Zweitens kann damit das gesamte Universum gemeint sein (Markus 16:15; KoI. 1:15;24; Röm. 8:19-22; Hebr. 9: 11). Die einzige Belegstelle zur "menschlichen Schöpfung" bezieht sich auf soziale Institutionen (1. Petr. 2: 13). Die einzige andere Stel­le, die den Ausdruck "neue Schöpfung" benutzt, gebraucht ihn ei­gentlich parallel zur ,,neuen Menschheit" in Epheser 2:15; auch da geht es nicht um ein erneuertes Individuum, sondern um eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit, die gekennzeichnet ist durch die über­windung der Barriere zwischen Juden und Griechen; "denn weder Beschneidung gilt etwas noch Vorhaut, sondern nur eine Neuschöp-

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fung" (Gal. 6: 15).10

Wenn wir diese rein sprachlichen Beobachtungen zusammenset­zen, werden wir uns sehr wahrscheinlich den neueren übersetz1,lngen anschließen: wörtlich "ist jemand in Christus: neu ist die Schöpfung" oder etwas eleganter "ist jemand in Christus, so ist die ganze Welt neu". Der Akzent liegt nicht auf einer ontologischen Veränderung der Person (ganz zu schweigen von der Veränderung im psychologi­schen oder neurologischen Bereich), sondern auf der Verwandlung der Perspektive derer, die Christus als ihren Kontext akzeptiert ha­ben.

Das ist auch das Thema im Rest des fraglichen Abschnitts. Pau­lus erklärt, warum er niemanden mehr vom menschlichen Stand­punkt aus betrachtet 1 1 ; warum er Jude nicht mehr als Jude, Grie­che nicht mehr als Grieche ansieht, vielmehr jeden Menschen im lichte der neuen Welt betrachtet, die in Christus begonnen hat. "Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden." (Elberfelder), das ist eine gesellschaftliche oder historische Aussage, der es nicht um Innerlichkeit oder Geflihl geht.

Zuerst für die Juden, doch auch für die Griechen

Ganz andere Töne schlägt Paulus in der Einleitung und im Schluß seines Briefes an die Christen in Rom an. Hans Werner Bartsch zeigt auf12 , daß Paulus nie die gesamte römische Gemein-

10 Selbst das Verb ktizo neigt dazu im Sinne der "neuen Menschheit" ge­braucht zu werden: "erschaffen in Christus zu guten Werken" (Eph. 2:10); vgl. 2:15;4:24;Kol. 3:10.

11 Eine Standardinterpretation dieses Abschnitts sieht hier Paulus sein Aposto­lat gegen jene verteidigen, die ihm vorwerfen, er habe nicht wie die anderen Apostel den irdischen Jesus gekannt. Diese Bedeutung wird jedoch dadurch ausgeschlossen, daß Paulus im Folgenden abstreitet, daß er irgendsonstjeman­den auf diese Weise kennt. Vgl. J.B. Sou15ek, "Wir kennen Christus nicht mehr nach dem Fleisch", EvT, 19/7 (Juli 1959), 300tI. 1. Kor. 3:3f benutzt den Ausdruck "Nach dem Fleisch", umzu beschreiben, wie Menschen in Kategorien gesteckt werden, und wie dieses Schubladendenken die Gemeinde zerteilt. "Dem Fleische nach" kann auch einfach bedeuten "der biologischen Abstammung nach" (Röm. 1:3; 4:3; 9:3-5; 1. Kor. 10:18; 11:18; Gal. 4:23).

12 Hans Werner Bartseh, "Die Historische Situation des Römerbriefes", Com­munio Viatorum, 8/4 (Winter 1965), 199 rf. VgL auch Etienne Trocme, "La Egltse Romaine et la methode missionaire de l'Apotre Paul," NTS, 7il (Okt. 1960), 148ff. Unabhängig von Bartsch, Barth und Trocme kOmmt Paul Minear (op. cit.) zum gleichen Schluß.

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schaft als "Gemeinde"13 anspricht, und daß außerdem das Problem der Spannungen zwischen Juden und Heiden an den Gelenkstellen der Argumentation des Buches sowie in der Einleitungundim Schluß­wort zu finden ist. Vordergründig ging es bei der Frage nach dem Stellenwert des Gesetzes nicht um systematisch theologische Speku­lation, wie Menschen für Gott annehmbar werden können, sondern um die sehr konkrete römische Situation, in der Juden und Griechen, legalistische und heidnische Christen einander akzeptieren mußten. über keiner der beiden Gruppen steht das "Gesetz" als Weg zum See­lenheil oder als Hindernis auf diesem Weg. Das "Gesetz" ist vielmehr die historisch konkrete Gestalt der jüdischen Auserwähltheit. Die se­parate Existenz des auserwählten Volkes war das Problem, das von der Rechtfertigung gelöst wurde.

Der Ausdruck "Rechtfertigung" (ebenso wie der oben unter­suchte Ausdruck "Schöpfung") sollte in seiner Wurzelbedeutung ge~ sehen werden, als verbales Substantiv, als Handlung, "die Dinge zu­rechtrücken", statt als abstrakter Begriff, der den quasi-juristischen Status eines Menschen als Ergebnis eines Richterspruchs defmiert. Rechtfertigung durch Gott verkündigen heißt verkündigen, daß Gott die Dinge zurechtrückt; es liegt in seinem Wesen und im Wesen seines Bundes, daß er die Dinge zurechtrückt.

Bartsch unterstreicht diese Interpretation in einer Fülle von De­tailbeobachtungen. Daß die Christen in Rom nicht als "Gemeinde" angesprochen werden, läßt im Lichte des sonstigen paulinischen Sprachgebrauchs vermuten, daß ihre Einheit für die Gruppe selbst und für Paulus ein Problem darstellte. Bartsch unterstreicht die wie­derholte Bezugnahme auf Juden und Griechen an allen GelenksteI­len des Dokuments, ganz zu schweigen von der besonderen Bedeu­tung der Kapitel 9-11, die ganz der Bedeutung jüdischer Identität im Zusammenhang mit der nun von Gott ins Leben gerufenen Kir­che gewidmet sind. Vom Glaubensgehorsam (1:5) über das Einan­derannehmen (14: 1; 15 :7) bis zu Paulus' Engagement für eine Kol­lekte zugunsten Jerusalems ist es sein Wunsch, daß in Rom eine sol­che neue Gemeinschaft entsteht, in der die Spaltung der Menschheit zurechtgerückt wird und in der Menschen, die nicht unter dem Ge-

13 In Kapitel 16 grüßt Paulus vierundzwanzig Einzelpersonen namentlich, zwei Familien (oder Hausgemeinschaften? V. 10,11) und eine weitere Gruppe von Heiligen (v. 15); doch nur die Gruppe im Hause der Aquila bezeichnet er als "Kirche".

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setz geboren wurden, ihm freiwillig gehorchen.14

Mit Zustimmung des Lesers wollen wir in der Gesellschaft Sten­dahls, Barths, Bartschs und Minears das paulinische Rechtfertigungs­denken als soziales Phänomen ansehen, das seinen Schwerpunkt in der Versöhnung von Menschen verschiedenartiger Herkunft hat; doch was hat das mit unserem Ausgangsproblem zu tun, besonders mit der Ethik revolutionärer Gewaltlosigkeit, die Jesus seinen Jün­gern anbietet?

Vielleicht wird hier eine doppelte negative Wirkung auf den Stand der theologisch-ethischen Debatte deutlich. Diese Debatte wurde von einer Negation bestimmt, die sich auf das stützte, was man an der paulinischen Botschaft für das Besondere hielt. Weil Pau­lus nicht Jesus und Rechtfertigung keine Sozialethik ist, deshalb hat der Weg Jesu für unsere Zeit seine Verbindlichkeit verloren, so lau­tete jedenfalls der klassische Standpunkt. Eine offenere Lektüre des Apostels negiert wiederum diese Negation. Die Negation dieser Ne­gation ist umso bemerkenswerter, als die zitierten Exegeten einfach ihrer Forschungsarbeit nachgingen, ohne sich vorher zu verabreden, meine Lesart der paulinischen Ethik oder der Ethik Jesu zu unter­stützen.15

Doch die Verkündigung, daß Gott verschiedene Menschengrup­pen versöhnt, ist in sich viel mehr als eine doppelte Verneinung. Das zu verkündigen, wie es Paulus in seinen Schriften Jahrzehnte nach Pfmgsten tat, bestätigt, wie real diese Versöhnu~gserfahrung und die Einladung dazu ist. Irgendwo gegen Ende der Entwicklung des apo-

14 Der Un terschied in der Funktion des Gesetzes bei Paulus und Lu ther besteht nicht nur darin, daß die Heiden das Evangelium nicht über den Weg des Geset­zes eneichen müssen; das Gesetz hat bei Paulus auch fortdauernde Gültigkeit für alle Gläubigen. Das Gesetz ist also nicht abgeschafft, sondern in seiner le­benspendenden, versöhnenden Absicht wiederhergestellt.

15 Diese Skizze stützt sich also auf die Resultate zeitgenössischer Neutesta­mentler, die nicht die Intention hatten, meine These zu stützen. Das sollte als Verteidigung gegen jeden Verdacht parteüscher Auslegung genügen. Doch soll­te man nicht meinen, diese Interpretation des Römerbriefes sei erst in den 60er Jahren aufgetaucht. Die Behauptung, die Botschaft des Römerbriefes sei mehr sozialer und weniger "existenzieller" Natur, als sie von der protestantischen Tradition gemacht wur­de, ist im akademischen Untergrund seit einem Jahrhundert vertreten, beson­ders bei Johann Christoph Blumhardt und im "religiösen Sozialismus" des eu­ropäischen Protestantismus (ca. 1910 - 1925). Die Bewegung zersplitterte am persönlichen und theologischen Konflikt der beiden Leitfiguren Leonhard Ra­gaz und Karl Barth, die"jedoch beide Paulus in diesem Lichte sahen.

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stolischen Christentums sagt Paulus dasselbe, was Jesus irgendwo na­he dem Anfang gesagt hatte. Daß er es immer noch sagen kann, be­weist, daß es zumindest in bescheidenem Maße durch die Erfahrung bestätigt wurde. Paulus behauptet, Gottes Liebe triumphiere in der Erhaltung seiner Schöpfung darin, daß er gleichermaßen Bevorrech­tigte und Benachteiligte, Freunde und Feinde segnet; d.h. für uns, daß die Echtheit (Jesus sprach von "Vollkommenheit")16 unserer Liebe sich auch in der Anwendung auf den Feind, den Heiden, den Sünder verwirklicht. fu gewissem Sinn sind die Ethik der Ehe und das Verbot des Ehebruchs, die Arbeitsethik und die Vorschriften zur Haltung gegenüber der Sklaverei, die Öffnung zur Kommunika­tion und das Verbot der Uige alle Teil dieses Versprechens einer neuen von Gott ermöglichten und geschaffenen Menschheit, die von den Gläubigen bereits empfangen wird. Doch par excellence und auf die schöpferischste, authentischste, erschreckendste und skandalö­seste und daher auch evangeliumgemäßeste Weise nimmt dieses Ver­sprechen dort Gestalt an, wo es um die Feindschaft zwischen Völ­kern, die Ausweitung der Nächstenliebe auf den Feind und den Ver­zicht auf Gewalt selbst in der gerechtesten Sache geht. Die Gute Nachricht, daß mein Feind und ich - nicht durch eigenes Ver­dienst oder Werk - in einer neuen Menschheit vereinigt sind, ver­bietet mir hin fort, jemals wieder sein Leben in meine Hände zu neh­men.

Wir müssen noch einmal auf alles bisher über das paulinische Rechtfertigungsdenken Gesagte zurückkommen. Zur Korrektur der früher herrschenden einseitigen Sozialethik betonte unsere Darstel­lung, was vorher abgestritten wurde: Jesus war Lehrer und Bei­spiel1 7, nicht nur Opfer; Gott erschüttert das Bestehende, er garan­tiert nicht nur die Schöpfungsordnung; Glaube ist Jüngerschaft und

16 Die "Vollkommenheit", zu der Jesus in der Bergpredigt (Matt. 5:48; vgl. Luk. 6:350 aufruft, bedeutet weder Makellosigkeit noch Sündenfreiheit, son­dern genau die Weigerung, zwischen Freund und Feind, Innen und Außen, Gut und Böse zu unterscheiden~ Sie wird den Menschen in der Unterschiedslosigkeit geoffenbart, mit der Gott Gute und Böse gleichermaßen liebt (vgL oben, p. 107).

17 Das Thema des Gehorsams und der Nachahmung als Antwort auf Jesus'als Lehrer und Beispiel war in Theologie und Frömmigkeit vorhanden (vgl. oben p. 118, Anm. 31); doch selten spielte es im formalen ethischen Diskurs eine Rolle, und seine Bedeutung lag mehr in der Motivation als im Inhalt. "Be like Jesus, this my song ... " bezieht sich auf die selbstlose Absicht, nicht auf ver­ändertes Verhalten.

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nicht nur Subjektivität. In der Kontroverse der Debatte mag es so erscheinen, als werde das "andere" oder "traditionelle" Element ab­gelehnt: Jesus als Sühneopfer, Gott der Schöpfer, die Subjektivität des Glaubens. Wir wiederholen daher unsere Versicherung - wie die Untersuchung der Struktur unserer Darstellung bestätigen wird -eine solche neue Einseitigkeit ist nicht beabsichtigt. Uns geht es da­rum, das Neue Testament gegen den Ausschluß des "messianischen Elements" zu verteidigen. Die Einseitigkeit liegt auf seiten der Tradi­tion, nicht auf unserer Seite. Die traditionellen Auffassungen be­haupten, daß Jesus, weil er als Opfer anzusehen sei, nicht König sein könne, oder weil in Jesus das Wort Fleisch geworden sei, könne er nicht menschliches Vorbild sein.

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12. Der Krieg des Lammes

Jesus und Paulus bildeten den Mittelpunkt unserer Untersuchung. Ihrer Originalität und der Fülle des Materials wegen, aus dem wir sie kennen, müssen sie im Zentrum jeder neutestamentlich theologischen Synthese stehen. Doch auch die anderen neutestamentlichen Gestal­ten sollten nicht vernachlässigt werden. Ein gründliches Vorgehen müßte die von uns erarbeitete Lesart an diesen Gestalten über­prüfen: etwa am Denken des Verfassers von Matthäus oder des Autors des Hebräerbriefes; auch Petrus, Johannes, Judas oder der Se­her der Apokalypse böten sich an. Wir haben allen Grund zur Annah­me, daß unsere bisherige Auffassung durch Lektüre in dieser Richtung bestätigt würde. Wir müssen hier allerdings auf eine weitere wissen­schaftlich sorgfältige, all diese Dokumente gegenemander abwägende Analyse verzichten. Stattdessen wagen wir eine Zusammenfassung, die sich jedoch besonders auf die eben erwähnte Johannesapokalypse stützt. Wir werden kurz das Themades Buches herausarbeiten; der Kontrast zur heutigen Situation mag einiges erhellen. Gleichzeitig werden wir die Argumentation des ganzen Buches zusammenfassen.

Das zeitgenössische sozialethische Denken läßt sich dahingehend charakterisieren, daß heutige Christen von der Frage nach Sinn und Richtung der Geschichte besessen sind. Sozialethische Verantwortung wird vom tiefen Verlangen bewegt, die Dinge in die richtige Richtung voranzutreiben. Ob eine bestimmte Handlung richtig ist oder nicht, scheint untrennbar mit der Frage der Folgen verbunden. So geht es also beim gesellschaftlichen Engagement zum Teil, wenn nicht ganz, um die Suche nach dem richtigen "Ansatzpunkt", dem "Hebel" zur "Beeinflussung" und "Steuerung" des Geschichtsverlaufs. Man ist sich allerdings nicht darüber einig, wo dieser Ansatzpunkt liegt. Für die Bewegung der "moralischen Aufrüstung" etwa ist es die Ideologie;

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"Ideen haben Beine", und man braucht einem ansteckenden neuen Gedanken nur auf die Beine zu verhelfen, dann wird er schon alleine seinen Weg machen. Andere meinen, die Erziehung bestimme letzt­endlich Wesen und Richtung der Zivilisation; wer die Lehrerseminare kontrolliert, beherrscht die Welt.

Protestierende Studenten halten oft das Büro des Rektors oder des Universitätspräsidenten Hir das· Zentrum der Universität; also besetzen sie dieses Büro. Che Guevara hielt die Bauern fUr das Rück­grat der bevorstehenden lateinamerikanischen Revolution, also ging er in die bolivianischen Berge. Die konservativ-evangelikale Bewegung richtet ihren Bekehrungsrufan den Willen des Einzelnen. Verändert er sein Herz, so ergibt sich der Rest von selbst. Wieder andere fmden im Proletariat oder in der Weltpolitik ein universales Erklärungsmuster.

Welchen "Hebel" man auch bevorzugt, die logische Struktur die­ses Ansatzes bleibt die gleiche. Man versucht, den Brennpunkt im Zusammenhang der menschlichen Beziehungen zu finden, den roten Faden dieses Gewebes, an dem Sinn und Ursache hängen. Dieser rote Faden ist wichtiger als der einzelne Mensch, sein Leben und Wohler­gehen, da er festlegt, worin dieses Wohlergehen besteht. Also ordnet man dieser einen "Sache" andere weniger wichtige Werte unter: das eigene Leben und Wohlergehen, das des Nächsten, und (natürlich!) das des Feindes. Wir ziehen diesen strategischen roten Faden, um das ganze Gewebe zu retten. Konstantin beruft sich auf diese Logik und rettet das römische Reich. Luther geht ein Bündnis mit den Fürsten ein und rettet die Reformation. Chrustschow und seine Nachfolger gehen kapitalistische Kompromisse ein und retten damit den Marxis­mus. Die Vereinigten Staaten schließlich schließen Verträge mit Mi­litärdiktaturen und drohen mit der Bombe zur Rettung der Demo­kratie.

Die analytische Betrachtung einer solchen Sozialethik, die auf einer Geschichtstheorie und der Entscheidung fUr eine bestimmte Monokausalität basiert, kann mindestens drei Grundvoraussetzungen unterscheiden:

1. Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist sichtbar, einsehbar und beeinflußbar. Die Gesellschaft wird sich also in die Richtung bewegen, in die wir sie mit unseren Entscheidungen haben wollen.

2. Uns stehen alle Informationen zur Verfügung, um Ziel und Richtung fUr uns und für die Gesellschaft zu bestimmen.

3. Mit den beiden ersten Annahmen verknüpft und von ihnen abhängig: Wirksamkeit in der Verfolgung der so gesetzten Ziele ist

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DER KRIEG DES LAMMES 207

selbst ein moralischer Maßstab. Einer kritischen Betrachtung erscheinen diese Annahmen keines­

wegs so selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick aussehen. Da gibt es zunächst ein Phänomen, das Reinhold Niebuhr "Ironie" ge­nannt hat: wenn Menschen versuchen, die Geschichte zu beeinflussen, so nimmt diese meist einen anderen als den gewünschten Verlauf. Fehlt dem Menschen eventuell die moralische Qualifikation zur Fest­legung geschichtlicher Ziele? Zumindest erscheint es zweifelhaft, daß er dazu in der Lage ist, den Geschichtsverlauf zu erkennen und zu bestimmen, während gleichzeitig eine Heerschaar von Konkurrenten und Mitspielern die historische Bühne der Beeinflussung für sich be­ansprucht; jeder auf seine Weise, aber alle mit demselben Vertrauen in die Manipulierbarkeit der Geschichte in die jeweils eigene Richtung. Von theologischen Vorbehalten ganz abgesehen, ist schon die innere Logik dieser Strategie ziemlich brüchig. Es muß erst noch bewiesen werden, daß die Geschichte sich in die richtige Richtung bewegen läßt. Das strategische Herangehen an ethische Entscheidungen muß sich außerdem gleich zu Beginn die Frage gefallen lassen, ob Effektivität als Ziel einer Ethik dienen kann. Selbst wenn es uns gelänge, Effekti­vität zu messen, wenn wir also unser Ziel klar formulieren, und seine Erreichung zweifelsfrei feststellen könnten, stellt uns dann nicht die Sanftmut Jesu, seine Haltung zur Macht und zum Dienen in einem tieferen Bereich unseres Seins in Frage: dürfen wir überhaupt unser Handeln durch den von uns gewünschten Geschichtsverlauf bestim­men lassen? Wessen Wille soll geschehen?

Es geht uns jedoch in dieser Studie weder darum, eine logische noch eine systematische Auseinandersetzung mit dieser Fragestel­lung in der traditionellen oder zeitgenössischen Sprache theologischer Debatte zu fUhren. In den vergangenen Jahrhunderten debattierten gleichsam taube Partner über den Sinn der Geschichte und den Stel­lenwert der Entscheidung des Christen innerhalb dieses Sinnzusam­menhangs. Ein Teil der Gesprächspartner war so in voraufklärerischen Konzepten stabiler gesellschaftlicher Ordnung befangen, daß selbst die Andeutung einer Bewegung nur als Bedrohung empfunden wer­den konnte. Ein anderer Teil klammerte sich mit ebensolcher unkri­tischer Irrationalität an den Fortschrittsglauben nachaufklärerisch westlicher Provenienz, wonach die beobachtbare Bewegung der Ge­schichte sich selbst genügt und im allgemeinen zum Guten fortschrei­tet. Daher ist der geschichtliche Prozeß die einzige ethische Entschei-

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dungshilfe von Belang. Keine der bei den Parteien erwartete im Neuen Testament eine Antwort auf diese Frage. Die mittelalterliche Vision von der göttlichen Stabilität aller Glieder im corpus christianum hat mit der nachaufldärerischen Fortschrittsideologie genau den Gedan­ken gemeinsam, daß die Geschichte uns aus der Zeit des Urchristen­tums fortgerückt hat, und daher auch das apostolische Zeugnis in dieser Frage nicht mehr relevant ist.

Die früheren Abschnitte dieses Buches versuchten, einigermaßen ausführlich die Elemente einer im Denken von Jesus und Paulus ver­wurzelten Vision vom Platz des Christen in der Welt darzulegen. Was noch aussteht ist, wie gesagt, die Probe dieses Ansatzes im Rest der kanonischen Schriften .. Diese Schriften (die katholischen Briefe und die Apokalypse) sind weniger geschlossen, weniger leicht verständ­lich und auch weniger umfangreich. Unsere Ausführungen können also hier nicht dieselbe Ausftihrljchkeit beanspruchen, die wir in frü­heren Teilen der Studie anstrebten. Wir können jedoch danach fra­gen, inwieweit das, was wir in diesen Schriften feststellen, mit den anderen von uns untersuchten apostolischen Zeugnissen überein­stimmt. Und es scheint bei dieser Frage angemessen, das Augenmerk auf den Sinn der Geschichte zu lenken.

Die deutlichsten Hinweise und die unmittelbarsten Quellen zum apostolischen Geschichtsbild, besonders zum Wechselspiel zwischen Vertrauen und Machtausübung in der Geschichte finden sich in dem Teil der biblischen Schriften, in dem wir sie am wenigsten vermuten, nämlich in den über das ganze Neue Testament verstreuten liturgi­schen Einsprengseln, besonders aber in der Offenbarung des Johan­nes, die daran besonders reich ist.

In seinem ersten Gesicht (Offb. 4-5) empfängt der Seher von Patmos das Bild einer versiegelten Schriftrolle in der Hand dessen, "der auf dem Throne saß " (eine Umschreibung für Gott selbst, dem niemand ins Angesicht schauen kann, dessen Anwesenheit aber als Licht erfahren wird).

Die Frage, die Johannes in der Vision der siebenfach versiegel­ten Schriftrolle vorgelegt wird, ist genau die Frage nach dem Sinn der Geschichte. Diese Frage, das unterstreicht die Vision auf eine sehr dramatische Weise, versagt sich der Beantwortung durch die normalen Möglichkeiten menschlicher Vernunft. Es ist jedoch kei­neswegs eine Frage ohne Bedeutung oder eine, die einen nicht zu kümmern braucht. Wenn wir den Sinn menschlichen Lebens und Leidens nicht kennen, so ist das ein Grund zum Weinen, wie es der Seher tut.

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Wir sind mit zahlreichen Philosophiegeschichtlern einer Mei­nung, daß das Interesse an Geschichte, die Idee, Geschichte habe einen Sinn, selbst eine jüdisch-christliche Erfindung ist. Nach dem Wohin der Geschichte zu fragen ist keine eitle philosophische Neugier. Es ist der notwendige Ausdruck der überzeugung, daß Gott in der Vergan­genheit wirkte, und daß er versprochen hat, weiter unter den Men­schen zu wirken_ Wenn Gott der in der Geschichte wirkende Gott ist, von dem die Bibel berichtet, dann kann das Interesse ftir den Ge­schichtsverlauf nicht illegitim oder irrelevant sein. Die mystische, existenzialistische oder spiritualistische Mißbilligung der Beschäfti­gung mit dem Lauf der Ereignisse ist ftir den Christen nicht gerecht­fertigt.

Doch die Abfolge der Visionen und Hymnen gibt uns nicht die Standardantwort. "Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist, zu em­pfangen die Macht!" (5: 12) Das ist ftir Johannes kein unergründliches Paradox, sondern eine positive und inhaltliche Bekräftigung, daß das Kreuz und nicht das Schwert, Leiden und nicht brutale Gewalt den Sinn der Geschichte bestimmt. Der Schlüssel zum Gehorsam des Got­tesvolkes ist nicht Effektivität und Erfolgsorientierung sondern Ge­duld (13:10). Das Gute triumphiert nicht deswegen, weil ihm die Macht zu Hilfe eilt; in jedem menschlichen Konflikt wird so der Ein­satz von Gewalt und anderen Spielarten der Macht gerechtfertigt; zwar ist der Triumph des Guten gesichert, aber er bezieht seine Si­cherheit aus der Kraft der Auferstehung und nicht aus dem Abwägen von Ursache und Wirkung oder weil den positiven Helden, den "good guys", ihre überlegenheit eingebaut ist. Zwischen dem Gehorsam des Gottesvolkes und dem Triumph der Sache Gottes besteht nicht die Beziehung von Ursache und Wirkung, sondern die von Kreuz und Auferstehung. Wir haben diese biblische "Geschichtsphilosophie" zu­erst im gottesdienstlichen Leben der späten neutestamentlichen Kir­che entdeckt; hier fmden wir die verzweifeltste Begegnung der schwa­chen Kirche (Johannes ist im Exil, Paulus im Gefängnis) mit der Macht der schrecklichen Herrscher jener Zeit. Aber diese Haltung ist nicht mehr als eine logische Weiterflihrung des Werkes Christi; er ent­schied sich ftir leidendes Dienen und gegen Gewalt und Herrschaft; die Grundrichtung seines Lebens war liebe bis zum Tod und nicht Gerechtigkeit, die sich auf Gewalt gründet. Jesus lebte die göttliche Feindesliebe so konsequent, daß es ihn alle Effektivität kostete; so gab er jeden Einfluß auf die Geschichte dahin.

Die neutestamentliche Kirche unterstreicht nicht nur sein Wis­sen über den Sinn der Geschichte oder den Sinn der Demut in der

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Geschichte; sie bezieht das auchaufbesondere Weise auf das Kommen und den Dienst des Menschen Jesus. Wäre uns von allen Büchern des Neuen Testaments nur die 6ffenbarung Überliefert, so wüßten wir vielleicht nicht, wer mit diesem Lamm gemeint ist, auf dem alle Herr­schaft ruht. Worauf es letztlich ankommt, ist, welche Beziehung die­ses Lamm zur übrigen menschlichen Geschichte hat, zur Geschichte der Menschen, die es loben und preisen. Die Antwort liegt in der Per­so~ Jesu selbst, von dem dieselbe frühe Kirche in anderem Kontext sagt: "und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns".

Das urchristliche Bekenntnis bedeutet für unser gegenwärtiges Anliegen zweierlei. Negativ gesprochen: das ethische Denken wurde weggerückt aus dem Bereich der Spekulation voneinander unabhän­giger Köpfe, deren jeder isoliert über den Sinn der Dinge nachdenkt; es wurde neu verankert in einem ganzen Bündel von Antworten, die zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kontext gegeben wurden. Ethik und "Theologie" (wie sie in der Vergangenheit unter­schieden wurden) müssen, wenn wir sie als Christen treiben, in der Offenbarung Gottes wurzeln und nicht nur in Spekulation oder in einer für sich selbst sprechenden "Situation".

Doch wichtiger noch ist die Kehrseite, die positive Seite dieses Bekenntnisses. Der Wille Gottes wird in der Person und im Auftreten Jesu deutlich und konkret erfahrbar. Wir dürfen in Jesus nicht nur den letzten und größten in einer langen Reihe von Rabbis sehen, die frommen Leuten anständiges Benehmen beibrachten; wir sollten Je­sus als Beweger der Geschichte betrachten und als Maßstab, mit des­sen Hilfe wir lernen können, den Lauf der Geschichte zu erkennen.

Der Krieg des Lammes

Das beste und erhellendste Beispiel für die schwierige Entschei­dung zwischen Erfolgsorientierung und Gehorsam ist Jesus selbst. Was es für das Lamm heißt, geschlachtet zu werden, von dem wir dann singen "es ist würdig zu nehmen die Macht", ist nicht davon zu trennen, was es für Jesus bedeutete, unter der Inschrift "König der Juden" gekreuzigt zu werden.

Der Name "Christus", d.h. der zur Herrschaft Gesalbte, muß für unsere gegenwärtigen Zwecke genügen, um symbolisch auszudrücken, daß sein Wirken unter den Menschen nicht zu trennen ist von den politischen Hoffnungen seines unterdrückten Volkes. Genaue Exegese zeigt, daß es für Jesus eine echte Herausforderung gab, sich des poli­tischen Erfolges oder der "Relevanz" in einem Bündnis mit den zelo-

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tischen Kräften oder einer anderen Machtgruppe der jüdischen Gesell­schaft zu versichern. Er entschied sich dafür, die Krone zurückzuwei­sen und das Kreuz zu akzeptieren und identiftzierte sich damit so sehr mit der göttlichen Liebe, daß er um ihretwillen die "Erfolgsorien­tierung" opferte. Nun wird oft argumentiert, auflange Sicht sei diese Absage an den Erfolg tatsächlich eine sehr erfolgreiche Sache gewesen. "Wer sein Leben verliert ... , der wird es fmden." Doch diese paradoxe Möglichkeit ändert nichts an der ursprünglichen harten Tatsache, daß Jesus damit jedes Kriterium aus der Hand gab, mit dem er hätte fest­stellen können, daß alles nach Plan ging.

Die schon erwähnte Hynme der Urgemeinde drückt diesen Ver­zicht am besten aus: "Er hielt es nicht für eine Raub, wie Gott zu sein." (Phi!. 2 :6)

In anderen Zeiten hat Theologie diese Worte im Hinblick auf die göttliche Natur des ewigen Gottessohnes und seine Erniedrigung zur Menschwerdung gedeutet. Das war sicher die beste Fonnullerung, als die Menschen am tiefsten und bedeutungsvollsten in Begriffen wie "Essenz" und "Substanz" denken konnten. Doch man kann - und damit kommt man der Substanz des Hynmentextes viel näher - in der "Gleichheit mit Gott" auch den Aspekt der providentiellen len­kung der Ereignisse sehen; die Alternative dazu wäre das Annehmen der Machtlosigkeit. Jesus verzichtete auf den Anspruch, die Geschich­te zu lenken.

Das übereinstimmende Zeugnis der Schrift lautet: Christen sind diejenigen, die Christus gerade in diesem Punkt folgen. Paulus zitier­te die Hymne in Phi!. 2 als Teil seiner Bitte an die Christen in Philip­pi, weniger egoistisch zusammenzuleben. Die Visionen der Offenba­rung ftihren weiter vom himmlischen Thronsaal, in dem das Lamm ge­priesen wird, zur Vision des Triumphes (Kap. 12), in der die Menge "unserer Brüder" den Drachen besiegt hat" um das Blut des Lammes und um des Wortes ihres Zeugnisses willen und haben ihr Le ben nicht liebgehabt (sondern haben es hingegeben) bis zum Tode". An anderer Stelle kann Paulus den ganzen apostolischen Dienst mit seinem inne­ren und äußeren Leiden so beschreiben: "allezeit tragen wir das Sterben Jesu am Leibe herum, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde" (2. Kor. 4:10). Das ist es, was Jesus meint, wenn er als Jünger nur denjenigen anerkennt, der bereits ist, sein Kreuz auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen.

Paulus zitierte das Lied vom dienenden Herrn, um die Christen in Philippi zu einem selbstloseren Verhältnis zueinander zu bringen, zur Förderung der brüderlichen Beziehungen in der Versammlung. Auch

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wir haben uns in diesem Zusammenhang auf die Hymne bezogen; sie ist ein weiteres Beispiel der Aufforderung an den Christen, seinen Herrn nachzuahmen.

Die ursprüngliche Bedeutung der Hymne geht jedoch weit über eine bloße Einladung zur Nachahmung Christi hinaus. Das Bekennt­nis des dienenden Herrn kontrastiert auf dramatische Weise die Er­niedrigung bis zum Tode mit seinem Sieg. Der Verzicht Gott gleich zu sein (v.6) ist in der späteren Entwicklung der christlichen Dogma­tik auf den metaphysischen Inhalt von Gottheit und Inkarnation be­zogen worden, doch möglicherweise beinhaltete die ursprüngliche Be­deutung des Hymnus die viel konkretere Gottgleichheit, die die Schlange Adam versprochen hatte: unbeschränkte Herrschaft über die Schöpfung.

Oder sie bezieht sich auf die Gottgleichheit, die der Kaiser für sich beansprucht. Jesus verzichtete also nicht nur auf den metaphy­sischen Status der Sohnschaft, sondern auch auf die ungebundene souveräne Machtentfaltung über die Menschen, unter denen er seine Wohnung nahm. -Seine Selbsterniedrigung, seine Demut und sein Ge­horsam bis in den Tod bestehen gerade in seinem Verzicht auf Herr­schaft in seiner deutlichen Abkehr von der Verpflichtung, durch das Lenken der Geschichte in die richtige Richtung wirksam zu sein.

Doch Gott sieht im Verzicht und im Akzeptieren der Niederlage den Sieg. "Daher hat ihn auch Gott über die Maßen erhöht und ihm den Namen geschenkt, der über jeden Namen ist, damit ... jede Zun­ge bekenne, daß Jesus Christus (der) He" ist." (v.9ft). Der Titel "Herr" war in den urchristlichen Glaubensbekenntnissen nicht, wie so oft in der modernen Frömmigkeit, ein Ettikett, mit dem der Gläu­bige seine Demut, Zuneigung oder Hingabe bekundete; er war die Be­stätigungund Bekräftigung seines Sieges über die Mächte des Kosmos. Dieser alte Hymnus, ein Herzstück der apostolischen Schriften und somit eines der frühesten ausführlichen Zeugnisse christlichen Gottes­dienstes, bekräftigt somit, daß Gott in seiner Herrschaft über die Ge­schichte vom offensichtlichen Mißerfolg und Versagen Jesu, Men­schen in Bewegung zu setzen, Gebrauch macht.

Wir haben bereits festgestellt, daß dieser Text eine Geschichts­philosophie unterstreicht, in der Verzicht und Leiden einen Sinn ha­ben. So weit wir in unserer Un tersuchung jetzt gediehen sind, können wir wohl sagen, daß der Apostel diesen Verzicht wohl in enger Ver­bindung zur menschlichen Karriere Jesu sah. Jesus lehnt konkret die Macht ab, die ihm der Versucher und die Zeloten anboten. Der Hym­nus ist also nicht, wie es einige gern hätten, nur ein Text aus einer

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hellenistischen Mysterienreligion über eine mystische Christusfigur , die vom Himmel herabsteigt und wieder dorthin entschwindet; er ist gleichzeitig ein Dokument über den historischen Jesus, der den sehr politischen Tod am Kreuz erlitt. Damit verzichtete nicht nur die zweite Person der göttlichen Dreieinigkeit auf den Anspruch, die Ge­schichte zu regieren, damit die Forderung des ewigen göttlichen Ge­setzes erfüllt würde; es verzichtete auch ein armer, müder Rabbi, der aus Galiläa nach Jerusalern kam, um verworfen zu werden.

Das biblische Konzept vom Kreuz des Christen meint nicht, Lei­den an sich sei erlösend, oder Märtyrertum sei etwas Erstrebenswer­tes. Es bezieht sich auch nicht ausschließlich auf Verfolgung aus reli­giösen Gründen durch eine ausgesprochen heidnische Obrigkeit. Was Jesus in seinem Ruf zum Kreuz anspricht, ist die scheinbare Nieder­lage jener "Strategie" des Gehorsams, die sich weigert, zur Strategie zu werden; das unvermeidliche Leiden derer, deren Ziel es ist,jener Liebe treu zu bleiben, die sich der Gnade des Nächsten ausliefert, die auf Gerechtigkeit für sich selbst verzichtet und sich ganz für die Ver­söhnung des Gegners und des Fremden einsetzt. l.Petr.2:23 zieht da­her direkte gesellschaftliche Konsequenzen aus dem Verhalten Chri­sti: "als er litt, drohte er nicht; er übergab es vielmehr dem, der ge­recht richtet."

Das unterscheidet sich erheblich von jener Spielart des "Pazifis­mus", die zwar das Töten ablehnt, aber meint, mit den passenden ge­waltlosen Techniken auch ohne Töten all das zu erreichen, was sie anstrebt oder worauf sie ein Recht hat. In diesem Zusammenhang scheint die Gewalt manchmal nur deswegen abgelehnt zu werden, weil man auf diesem Weg billiger, gefahrloser oder schlauer jemandem seinen Willen aufzwingen kann, und es schwieriger ist, sich gegen die­se Art von Zwang zu wehren. Natürlich ist jeder Verzicht auf Gewalt der Gewaltanwendung vorzuziehen; doch Jesus verzichtete in erster Linie nicht auf Gewalt, sondern auf den Zwang zum guten Zweck, der immer wieder die Mittel heiligt und die Menschen dazu verleitet, die Würde anderer zu verletzen. Es geht nicht darum, all seine gerech­ten Ziele zu erreichen, ohne das Mittel der Gewalt zu gebrauchen. Nur wenn wir auch bereit sind, unsere gerechten Ziele aufzugeben, wenn sie sich nicht mit gerechten Mitteln erreichen lassen, haben wir teil am triumphierenden Leiden des Lammes.

Dieses Konzept der Beteiligung an Gottes Kampf mit der rebelli­schen Welt - das frühe Quäkerturn hatte dafür die Bezeichnung "Krieg des Lammes" - hat den seltsamen Nachteil - oder Vorteil,je nach der eigenen Perspektive - nur dann Sinn zu haben, wenn Christus tat-

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sächlich der Herr ist, wie es die Christen behaupten. Fast jeder von Christen entwickelte ethische Ansatz, ob pazifistisch oder nicht, ist auch ftir Nichtchristen akzeptabel. Ob Jesus nun der Christus ist, ob Jesus Christus nun Herrist, ob diese religiöse Sprache eine Bedeutung hat oder nicht, die meisten ethischen Ansätze werden dadurch in ih­rer Funktion nicht berührt. Ihr eigentliches Fundament liegt in einer Interpretation der menschlichen' Situation oder einer ethischen Ein­sicht, von der behauptet wird, sie sei Menschen guten Willens allge­mein zugänglich. Anders bei der· Ethik des Paulus und bei seiner Vision "an seinem Leibe das zu vollenden, was den Leiden Christi noch fehlt" (KoI. 1:24). Wenn Jesus Christus nicht der war, als den ihn die historische Christenheit bekannt hat, die Offenbarung Got­tes im Menschen, dann bricht dieses eine Argument ftir den Pazifis­mus zusammen.

Ohne Macht leben!

Wir mißverstehen den Lobpreis der Gemeinde auf das Werk Christi und die Richtschnur, die Paulus seinen Lesern gegeben hat, wenn wir das Kreuz als besonders wirksame Technik ansehen, sich durchzuset­zen (wenn auch vielleicht nur unter bestimmten Umständen erfolg­versprechend). Der Schlüssel zur letzten Relevanz und zum Triumph des Guten liegt nicht in der Berechnung des Erfolges, ob man nun nach den Gesetzen der Mathematik oder nach paradoxen Maßstäben rechnet, sondern der Schlüssel liegt im schlichten Gehorsam. Gehor­sam erschöpft sich nicht im verbalen Einhalten festgelegter Regeln, er spiegelt das Wesen Gottes wider. Das Kreuz ist kein Rezept für die Auferstehung. Leiden ist kein Mittel, Menschen zu gewinnen, noch etwas Gutes an sich. Doch Glaubenstreue, die eher die augenscheinli­che Niederlage akzeptiert, als Komplize des Bösen zu werden, ist we­gen ihrer übereinstimmung mit dem, was Gott zustößt, wenn er un­ter die Menschen gerät, am letztendlichen Triumph des Lammes aus­gerichtet.

Daß sich das Gute an der Treue des Glaubens orientiert und nicht an den Ergebnissen, verunsichert uns moderne Menschen. Wir ver­wechseln den "Triumph des Guten", der einzig durch die Auferste­hung und das Versprechen der ewigen Herrlichkeit des Lammes ga­rantiert wird, mit einem unmittelbar erreichbaren und herbeimanipu­lierbaren Triumph, der sich gleich nach der nächsten Kampagne so­zialer Aktion einstellt: man muß sichnur der Gesellschaft als Ganzes bemächtigen, man muß sich an ihre Spitze setzen. So haben es im

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Mittelalter die Kirche Roms oder der Islam getan. Dasselbe versuchen heute der Marxismus und verschiedene Nationalismen demokratischer oder diktatorischer Prägung. Trotz aller Unterschiede in der Sprache und in der gen auen Vorstellung, wie die gute Gesellschaft auszusehen hätte (selbst diese Vorstellungen unterscheiden sich nicht besonders), besteht der tatsächliche Unterschied zwischen den einzelnen Positio· nennurdarin, daß man eine andere Vorstellung der moralischen Elite hat, die die Gesellschaft von oben herab leiten soll. Natürlich ziehen wir eine demokratisch kontrollierte Oligarchie jeder anderen vor. Marxistische, islamische und andere Ausformulierungen von der opti­malen Gesellschaft stehen zur Wahl. Doch der moderne Mensch ist praktisch nicht in der Lage, das Grundaxiom in Frage zu stellen, näm· lich, daß die Lösung der sozialen Frage damit entschieden wird, wel·

.. che "Aristokraten" ihrer besseren Ideolo~e wegen moralisch legiti· miertsind, die gesellschaftliche Macht von oben herab so zu gebrau· chen, daß alle Menschen in ihre Richtung gelenkt werden.

Steht die gewünschte Richtung der Geschichte einmal fest, ha­ben wir die gerechte Sache gefunden, so sollten wir willens sein, da­für Opfer zu bringen; nicht nur unsere eigenen Werte, sondem auch die des Nächsten und besonders die des Feindes sollten wir dafür op­fern. In anderen Worten, das Erreichen der guten Sache, die geschicht­liche Verwirklichung der von uns gewünschten Veränderungen schafft einen neuen, autonomen, ethischen Wert, "Relevanz", etwas an sich Gutes, in dessen Name dann Böses getan werden darf.

Theoretische Debatten werden immer darüber geflihrt, ob man um des Guten willen Böses tun darf. Doch die tiefergehende Frage betrifft das dieser Frage zugrundeliegende Axiom, daß es nämlich eine gute Sache sei, die Geschichte in die richtige Richtung zu be­wegen. Denn nur aus dieser Voraussetzung folgt die weitergehende "opportunistische" Rechtfertigung des Bösen.

Wenn es stimmt, daß dem Lamm die Ehre gebührt, dann darf man den sogenannten christlichen Pazifismus nicht nur auf der Ebene der Mittel verstehen, so als behaupte der Pazifist, er könne alle tradi­tionellen Kriegsziele ohne Gewalt genauso gut oder gar noch besser erreichen. In manchen Fällen mag ein solcher Pazifismus durchaus recht behalten. Doch es kann auch schiefgehen. Christlicher Pazifis­mus, der eine theologische Basis im Wesen Gottes und im Wirken Jesu Christi hat, zerbricht die berechnende Verbindung zwischen un­serem Gehorsam und der Orientierung auf den Erfolg: der Sieg Gottes erwächst aus der Auferstehung und nicht aus erfolgreicher, effektiver Herrschaft oder abgesichertem Überleben.

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Diese Klarstellung beschert uns jedoch sogleich eine neue Frage, die uns nicht beschäftigen bräuchte, würden wir uns damit zufrieden­geben, Pazifismus lediglich als Ablehnung gewalttätiger Mittel zu de­finieren. Kann man von den Institutionen der bürgerlichen Gesell­schaft verlangen, die Maßstäbe von Brüderlichkeit und Gleichheit durchzusetzen; Maßstäbe, denen sich die Christen in der Kirche auf freiwilliger Basis, aus der Freiwilligkeit des christlichen Gehorsams heraus widmen. Erstens, ist das im Sinne moralischer Folgerichtigkeit? Denn jeder Appell an die staatliche Macht beinhaltet eine klare Er­folgsberechnung, und zur Erreichung des Zieles wird Druck ausgeübt. Zweitens, ist das im Sinn einer radikalen Angemessenheit an die Situ­ation? Angenommen, wir haben ein objektives und vielleicht ein pro­phetisches Wissen um die Mißstände unserer Gesellschaft und außer­dem einen Blick für mögliche Lösungen; ist es der Sache angemesse­ner, an die überzeugende Kraft der Wahrheit zu appellieren, damit eine Annahme und Verwirklichung unserer Lösungen möglich wird? Oder sollen wir ehrlich und umso leidenschaftlicher geringere Motive ansprechen: die öffentliche Meinung, Vorurteile, die Angst vor der Bombe, oder die unrealistische Hoffnung, daß der Feind am Ende doch ein guter Kerl ist?

Warum stellen wir diese Frage? Sollen wir aus Pessimismus über die Angemessenheit oder gar die Möglichkeit eines christlichen Zeug­nisses gegenüber der Gesellschaft zu jener Selbstbezogenheit und je­nem Mangel an sozialem Engagement zurückkehren, die so lange für so viele Kirchen kennzeichnend waren? Ich denke, diese Frage könn­te uns eher zu der Erkenntnis führen, daß das Gericht am Hause Gottes beginnt. Viele Verzerrungen und Mißverständnisse der Wahr­heit und des Guten, die zum Krieg führen, haben ihren Ursprung im Lager der Christen. Die Wurzeln der "Kreuzzugsmentalität" sind nicht im modemen Sinne "säkulär"; sie wurzeln auch nicht in den Sitten heidnischer Religionen. Sie sind eine Deformation biblischen Glaubens. Weil die Kirche zur Kriegsmentalität beigetragen hat, muß die Polemik echten christlichen Friedenszeugnisses theologischseifl und sich in erster Linie an die Kirche richten.

Selbst wenn die Wurzeln dieses Zeugnisses gegen den Kreuz­zug und für das Kreuz nicht ausgesprochen christologisch wären, wie ich behauptet habe, müßten wir dennoch in diesen Kontext hinein sprechen. Welche Hilfe die wachsende Einsicht unserer Zeit in soziale Mechanismen auch sein mag, am dringlichsten erscheint mir die De­batte über ein christliches Menschenbild und das Ziel der Geschichte. Diese Debatte muß sich an den Zuhörerkreis richten, der vom zielge-

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richteten göttlichen Handeln in der Geschichte weiß und sich dafür engagiert.

Vielleicht gibt es unter heutigen Christen eine neue Empfänglich­keit für die fortdauernde Aktualität der Botschaft der Offenbarung. Die Einsicht, die westliche Gesellschaft bewege sich auf den Zu­sammenbruch dessen zu, was man mit Christentum identifizierte, ist weit verbreitet. Die Christen müssen erkennen, daß sie eine Minder­heit sind, nicht nur auf der Erde als Ganzem, sondern auch zu Hause, inmitten der Anhänger nichtchristlicher und nachchristlicher Bekennt­nisse. Vielleicht ist das eine gute Vorbereitung für die Erkenntnis, wie unangemessen und widersinnig es von Konstantin bis gestern war, anzunehmen, die fundamentale Verantwortung der Kirche für die Ge­sellschaft bestehe darin, sie zu leiten.

Vom Zwang befreit, in uns selbst die Wächter der Geschichte zu sehen, könnten wir vielleicht wieder das Geschenk empfangen, uns selbst als Teilhaber am liebenden Wesen Gottes zu betrachten, wie es in Christus offenbart wird. Vielleicht können uns die Lieder der Urge­meinde dabei helfen, wenn es den apostolischen Argumenten nicht gelingt. Einmal befreit von den Zwängen und vom Drang, die Welt am Laufen zu halten, könnte die Kirche auch Worte und Wege finden, Menschen außerhalb ihrer Grenzen-zu einer dienenden Haltung in der Gesellschaft einzuladen.

Zusammenfassung:

Die säkularistische und marxistische Kritik an der Vision des Marsches ins himmlische Jerusalern behauptet, das Versprechen einer himmlischen Belohnung lähme das Handeln hier und heute. Die Er­wartung einer jenseitigen besseren Welt entferne die Gegenwart von eben dieser Verheißung.

Das mag auf die Jahrhunderte zutreffen, in denen die Nutznießer des Gesellschaftssystems den Trost der zukünftigen Welt dazu benutz­ten, ihre Untertanen gefügig zu halten. Doch es geht uns hier nicht um die Frage, ob die Religion des achtzehnten Jahrhunderts Opium für das Volk war; es geht uns darum, die Funktion der apokalypti­schen Vision, deren Seher keiner Droge verfallen waren, in der Kirche des ersten Jahrhunderts zu verstehen.

Im Weltbild jener Zeit gab es keinen grundsätzlichen Riß zwi­schen Gegenwart und Verheißung. Unser gegenwärtiges Handeln be­reitet uns den Weg in die Zukunft. "Diesseits" und "Jenseits" waren keine radikalen Gegensätze; auf dem Weg nach Zion liegt die Wüste.

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Begriffe wie "Jenseits" bekräftigen in diesem Kontext die soziale Version; sie lenken nicht von ihr ab. Sie verschieben das Erwartete nicht in eine von der jetzigen radikal verschiedenen Welt, sondern die Verheißung liegt ein Stück weiter in der Richtung der überschaubaren Zukunft, für die wir Verantwortung tragen.

Der modeme Leser hat keine lebendige Vorstellung vom Him­mel oder von Zion. Eine Hymne wie das klassische Erweckungslied "Himmelan geht unsere Bahn" hört er unter dem Schatten des Vor­urteils, daß eine Verbindung von hier nach dort nicht existiert. Das ist auch der Grund, weshalb er jenen, die von einer "jenseitigen Welt" sprechen, vergeistlichende Absichten unterstellen muß, die von der Kluft zwischen dieser und jener Welt geprägt seien. Diese Interpretation kann so weit gehen, (wie z. B. bei Rudolf Bult­mann), daß man behauptet, das Neue Testament gebrauche mit Absicht eine mythische Sprache (d.h. eine Sprache, die Diesseits und Jenseits im selben Universum ansiedelt), und zwar zu eben dem Zweck, die Unvereinbarkeit der beiden festzustellen; Religion ist nicht von dieser Welt, das ist der Sinn des Mythos, wie er in der Entmythologisierung zu Tage tritt.

Nimmt man jedoch den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen hier und dort nicht als Ausgangspunkt, dann kann die Proklamation einer sinnvollen Zukunft nicht bedeuten, daß man sich von der Ge­genwart abwendet. Beide formulieren dieselbe verheißungsvolle Zu­kunft und werfen Licht zurück auf den gegenwärtigen Imperativ, wo­nach gerade die jüngste "säkulare Theologie" gesucht hat.

Der Seher von Patmos prophezeit die Zukunft als ein Universum - d.h. als ein einheitliches, ganzheitliches System - in dem Gott han­delt, in dem wir handeln, in dem sich unsere jeweiligen Handlungen aufeinander beziehen. Die Gesetze des Geistes und der Vorsehung, die wir in diesem System am Werk sehen, sind für den, der glaubt, ge­nauso handfest, wie die Gesetze des dialektischen Materialismus für den Marxisten.

Vas vorschnelle Urteil über die Irrelevanz des Apokalyptischen, das einen oft daran hindert, die gesellschaftliche Bedeutung der Offen­barung des Johannes zu erkennen, obwohl ihre gesamte Botschaft von Königreichen und Imperien nur so wimmelt, ist in seiner Auswir­kung ein weiterer Aspekt der modemen Relativierung des Gehorsams, die wir das ganze Buch hindurch angesprochen haben. "Was die fru­hen Christen auch unter Erfüllung der Geschichte verstanden haben, es muß sich auf jeden Fall auf Außergeschichtliches bezogen haben", so lautet das Argument. Doch je näher wir uns diesen "entmytholo-

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gisierenden" Denkansatz betrachten, desto deutlicher wird: seine Er­gebnisse werden von sein~n Voraussetzungen diktiert.

Es bleibt uns nichts weiter zu tun, als noch einmal zu bekräftigen: die katholischen Briefe, in denen das in den Urgemeinden verbreitete Denkmuster am wenigsten reflektierender· Analyse unterworfen wur­de, und die ins Neue Testament eingebetteten liturgischen Elemente, die die Neue Zeit bezeugen, sind Neuformulierungen genau der Haltung zur Geschichte, die wir vorher in den besser komponierten Texten der Evangelien oder der Paulusbriefe gefunden haben. Nur die Tonart ist verschieden. Ein Lebensstil, dessen Charakteristikum die Gründung einer neuen Gemeinschaft und die Ablehnung jeglicher Gewalt ist: das ist das Thema der neutestamentlichen Verkündigung, vom Angang bis zum Ende, von rechts nach links. Das Kreuz Christi ist das Modell für die soziale Wirksamkeit der Christen. Denen, die daran glauben, ist es die Macht Gottes.

Vicit agnus noster, eum sequamur. Unser Lamm hat gesiegt, ihm wollen wir folgen.

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Nachwort des Autors

Das Anliegen dieses Buches läßt sich nicht schnell und in weni­gen Worten umschreiben_ Auf der am wenigsten abgehobenen Ebene ist es die Antwort eines engagierten christlichen Pazifisten auf die Tatsache, daß die etablierte christliche Theologie nie um Auswege verlegen war, die sie an den pazifistischen Inhalten der Botschaft des Neuen Testamentes vorbeiführten.

Auf der abstrakteren Ebene stellt es eine Übung in fundamen­taler philosophischer Hermeneutik dar. Es versucht die Einsichten über das biblische Weltbild, die unter der Bezeichnung "biblischer Realismus" bekannt geworden sind, auf das Leben der christlichen Gemeinschaft anzuwenden. Seit den Pionierleistungen von Hendrik Kraemer, Otto Piper, Paul Minear, Markus Barth und Claude Tres­montant ist es nicht mehr unvorstellbar, daß in der biblischen Sicht der Realität Dimensionen enthalten sind, die sich nicht einfach in zeitgenössische Weltbilder einfügen lassen, sondern in kreativer Spannung zu der Kultur unserer und vielleicht jeder Zeit stehen. Das Hauptinteresse der Bewegung des "biblischen Realismus" vor einer Generation richtete sich auf die Metaphysik und die Persönlichkeit Gottes. Daraus erwuchs die erneute Beschäftigung mit Ekklesiologie und Eschatologie, ohne die weder bestimmte ökumenische Entwick­lungen noch das Entstehen der "Theologie der Hoffnung" möglich gewesen wäre. Dieses Buch erarbeitet auf dem Gebiet der Ethik - als späte Frucht der biblisch realistischen Revolution - eine Sicht, in der gerade Ekklesiologie und Eschatologie neue Bedeutung fUr das Wesen der Ethik erhalten.

Auf beiden Ebenen - der ethischen und der hermeneutischen -möchte dieses Werk Zeugnis davon ablegen, daß - über die Fragen theoretischer und formaler Natur hinaus - in Jesu Vision der gött­lichen Ordnung genug konkretes und spezifisches Material enthal­ten ist, um die heutige Zeit anzusprechen. Und selten war eine Zeit so aufnahme bereit wie die unsere - vorausgesetzt man befreit das Material von verfälschenden Vorurteilen.

In den zehn Jahren seit der Verfassung dieses Textes in der ame­rikanischen Urform, hat manche Kritik oder Forschungsergebnis das Bild im Kleinen geändert; doch bleibt die Hauptthese nach wie vor vertretbar. Nur an wenigen Stellen wurde versucht, Neueres hinzuzu­fügen,. Etliche rein amerikanische ~spielungen wurden fallen ge­lassen, einige neuere Literaturhinweise wurden ergänzt.

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222 NACHWORT DES AUTORS

Die Vorbereitung des amerikanischen Textes wurde durch Unter­stützung des Institute of Mennonite Studies und der Schowalter Foundation ermöglicht; viele Kollegen und Freunde haben durch ihren Rat und ihre Kritik mitgeholfen. Für die deutsche Fassung bin ich dem Übersetzer zu Dank verpflichtet. Für ihre Anregungen und ihre Kritik danke ich besonders Rutlnld Foth, Julia Hildebrandt und Andrea Lange. Die Drucklegung wurde durch Unterstützung des Mennonite Central Committee (Pe ace Section), des Mennonitischen Friedenskomitees, der Vereinigung deutscher Mennoniten Gemein­den und durch die Hilfe vieler Freunde ermöglicht.

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Namen- und Sachregister

Abia,74 Abimelech,78 Abraham, 72, 78 Adam, 112, 133 Agrippa,83 Amalekiter, 71 Amos, 101 Ananias,45 Anna, 27 Antiochien, 196 Antiochus Epiphanes, 83 Aretas IV, 28 Aristobulus, 83 Ataxerxes, 77 Asa,74f Assyrien, 177,181 Athen, 13

Barabbas, 53f Benhadad, 74 Bethlehem, 13, 27, 56 Blumhardt, Johann Christoph, 144, 202 Bonhoeffer, Dietrich, 104, 120

Cäsar, 27,50, 82ff, 186f Caesarea Philippi, 56 Caligula, Gaius, 54, 100 Calvin, 179 Chrustschow, 206 Cosmas Indicopleustes, 47f Chalcedon, 94 Cromwell, 179

Damaskus, 196 David,27 Deutschland, 178 Donata, 186

Eleazer, 45 Elengchis, 122 Elia, 40 Elisa,76 Elisabeth, 25

223

Emmaus,56 Epiktet, 150, 155 Esra, 77 Existenzialismus, 119, 122

Franziskaner 14f, 87 Freud,122

Gamaliel,63 Gerar, 78 Gethsemane, 51, 53 Gideon,73 Golgatha, 53 Guevara, Ernesto, 100, 122, 206

Halacha, 149 Hanani,74 Hanna,25 Hegel,20 Herodes, 27f, 40f, 41, 44, 62 Herodianer, 136 Herodias, 28 Hiskia, 75, 79f Hillel, 63, 65 Hitler, Adolf, 178 Hugenotten, 179

Inkarnation, 17,91 Isaak,78

J ahasiel, 75 Jakobus, 31, 168 Jericho, 73 J ohannes der Evangelist, 205 Johannes von Patmos, 208 Johannes der Täufer, 26 - 28, 37, 45, 56 Josaphat, 79 Josia,94 Josua, 72 - 76 Jung, C. G., 122

Kaiphas, 54, 100 Kapernaum, 38

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224 NAMEN-UNDSACHREGffiTER

Kidron,31 Kierkegaard, 88, 120, 191 Knox, John, 179 Kohathiten,75 Konstantin, 16,206 Korahiten, 75

Lincoln, Abraham, 156 Luther, Martin, 88, 122, 148ff, 19lf, 202, 206 Luzifer, 112, 133

Machaerus, 28 Magnificat, 25 Makkabäer, 25, 132 Maleachi, 45 Maria, 25, 27, 37 Marxismus, 218 Masada,13 Menahem,45 Metanoia, 37 Midianiter, 73 Mischna, 31, 63f Moralische Aufrüstung, 205 Moses, 40, 50, 67, 71 Müntzer, Thomas, 88, 119

Nationalsozialismus, 172 Nazareth, 33f, 38 Nebukadnezar, 36 Nicäa,94

Onesimus,16lf

Pax Romana, 133, 148 Petrus, 39, 5lf, 162, 205 Petronius, 83 Pharisäer, 64 Philemon, 150, 16lf Pietismus, 27, 100, 122, 141, 198 Pilatus, 29, 41, 45, 53ff, 82, 100, 134 Prosbul, 63ff

Qumran, 29, 51

Rabbula,47 Ragaz, Leonhard, 202 Rom, 13, 177

Sacharja, 44, 52, 56 Sanherib, 75

Satan, 29, 38, 53 Shammai,63 SHoa, 57 Simeon,27

Täufer, 14, 141 Tertullian, 141 Theodoro von Mopsuestia, 47f Theodosius, 94 Theophil,27 Timoateus, 160 Tolstoy, 15, 141 Torah,35 Trinität, 8, 9, 9~ Tschechische Brüder, 14 Tübingen, 20

Wesley, John, 191

Zacharias, 26f, 56 Zebedäus,50 Zedekiah, 36f Zeloten, 17,44,47, 52f, 57, 81

84,90,112, 132 Zinzendorf, 88, 119 Zwingly, Huldrych, 179

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Au torenregister

Anderson, Hugh, 35 Arnold, Eberhard, 180

Baron, S. W. 62 Barth, Karl, 179f, 202 Barth, Markus, 124, 128, 167, 173f, 197 - 202 Bartsch, Hans Werner, 50, 97, 170, 173, 200 - 202 Baur, F. C., 152 Bennett, John C., 17 Berkhof, Hendrik, 124, 125, 128ff, 174 Betz, Hans Dieter, 104, 105, 113 Billerbeck, Paul, 13 3 Blinzler, J osef, 41 Boer, Harry 196 Brandon, S. G. F., 12, 23, 43f, 47, 55, 90 Bridston, Keith, 140ff Brown, Bob. W., 53 Brown, Dale, 27 Brunner, Emil, 179 Buber, Martin, 205 Bultmann, Rudolf, 94, 123, 218

Caird, G. B., 124,128, 174 Carmichael, Joe1, 23, 46, 55 Carrington, Philip, 168 Chevallier, Max-Alain, 140ff Cohn, Haim, 55 Cole, G. D. H., 138 Coleman-Norton, P. R., 150, 161 Colewell, Ernest C., 16 Conzelmann, Hans, 14 COK, Harvey, 92 Cranfield, C. E. B., 186 Crockett, L., 33 Cullmann, Oscar, 41 - 44,53,162, 174ff, 180, 196

Dahl, Nils A., 55, 112 Daube, David, 154 Davey, Noel, 152 Davies, W. D., 154 Dawe, Donald G., 113 Dibelius, Martin, 14, 148 - 152, 169, 185 Dodd, C. H., 87 Dupont,29

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Edwards, George R., 47 Eichrodt, Walther, 104 Eller, Vernard, 120 Elliot, Willis E., 90 Ellul, Jacques, 140, 144 Eppstein, Victor, 46 Ewald, P., 41

Farmer, W. R., 45, 52 Fascher, Erich, 29f Fensham, F. Charles, 61 Filson, Floyd, 14 Finch, R. G., 33 Foxell, W. J., 29 Furnish, Viktor Paul, 112

Gale, Herbert M., 173 Gerhardson, Birger, 30 Goguel, Maurice, 39f Grant, 29 Grundmann 41 Guilding, A., 33 Güttgemanns, Erhardt, 111

Hahn, Ferdinand, 56 Haley, Jay, 39 Harnei, Johannes, 163f Harnilton, Neili Q., 23,46, 90 Hanson, Anthony T., 177 Hendry, George S., 101 Hengel, Martin, 45, 52 Henry, Carl F. H., 118 van den Heuvel, Albert H., 131 Hili, David, 35 Hoekendijk, Johanncs, 36 Hoskyns, Edwin, 152 Hunter, Archibald M., 112, 162 Hyldahl, Niels, 3lf

Jacob, Edmond, 105 Jensen, Ellis. E., 90 Jeremias, Joachim, 34,42,57 Jones, E. Stanley, 35

Kallas, Jarncs, 175 Käscmann, Ernst, 173 Kaufman, Donald D., 49 Keicnburg, Fritzhcrmann, 173 Kclly, H. A., 31 Kcnnard, Jr., J. Spcnccr; 49

AUTORENREGISTER

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AUTORENREGISTER

Klassen, William, 12, 45 Knox,John,98,196 Kraeling, Carl H., 28

Lagrange,35 Larsson, Edvin, 87, 105 Lasserre, Jean, 48, 185 Levertoff, P. P. 33 Lietzmann, Hans, 152 Lind, Millard, 78, 100 Litell, Franklin H., 138 Lohmeyer, Ernst, 46 Lohse, Eduard, 112

MacGregor, G. H. C., 14, 124, 128 MacKencie, John L., 30 Manson, T. W., 109

. Martin, R. P., 112 McArthur, H., 128 Mehl, Roger, 17f, 123 Minear, Paul, 197, 200ff Moffatt,97 Moore, Sebastian, 90 Morgenthaler, Robert, 31, 175 Morris, Leon, 33 Morrison, Clinton, 128 Muelder, Walter, 139 Munck, Johannes, 196

Niebuhr, H. Richard, 13, 17, 92, 99, 132, 141 Niebuhr, Reinhold, 13, 15, 99ff, 207 North,35 Nygren, Anders, 128

Oldham, J. H., 138 Olmstead, A. T., 45

Penner, Archie, 174 Philibert, Michel, 39 Piper, Otto, 144f Plummer,35 Potter, Ralph, 183

von Rad, Gerhard, 78f, 85 Ramsey, Paul, 15f, 99 Ritschl, Albrecht, 198 Rose, Stephen, 90 Rupp, E. Gordon 128

227

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228

Schechter, S., 105 Schlatter, A., 43 Schlier, Heinrich, 128 Schmidt, K. L. 174 Schnakenburg, Rudolf, 29 - 32 Schoeps, Hans Joachim, 118 Schonfield, Hugh, 23, 55 Schroeder, David, 148ff, 154f, 160 Schulz, Anselm 104ff Schwarzschild, Stephen, 35 Schweitzer, Albert, 95 Schweizer, Eduard, 104 Scott, Ernest F. 45f, 48 Sevenster, J. H. 162, 166 Shaul, Richard, 13 Sheldon, Charles, 14 Sittler, J oseph, 92 Snyder, Graydon F., 20, 97, 128, 143 Sou~ek, J. B., 56, 200 Stamm, Johann Jakob, 105 Stauffer, Ethelbert, 41, 45, 49, 97, 186 Stegner, R. W., 29

AUTORENREGISTER

Stendahl, Krlster, 55, 157,166,191 - 194, 197, 200, 202 Stewart, James S., 30, 128 Strachan, R. H., 29 Stringfellow, William, 131 Strobel, A., 97 Swomley, John, 145

Taylor, Vincent, 152 Thomas, M. M., 140 Tinsley, E. J., 104 Titus, Erle Lane, 98 Toews, John E., 12 Trocme, Andre, 34f, 59,61,200 Trocme, Etienne, 12,46,55 Troeltsch, Ernst, 14, 98, 141, 157, 169f Trotter, F. T., 98

Vincent, John, 88 Visser't Hooft, W. A., 128

Walker, Rolf, 173 Weber, Max, 141 Wedel;Theodore,14 Wendland, Heinz-Dietrich, 139, 151 Werner, Martin, 97 West, Charles, 140, 143 Whitely, D. E. H., 128 Wilder, Amos, 98, 128, 137 Winter, 24f, 54f Wolf, Ernst, 164, 180 Wolska, Wenda, 48

Zahn, Th., 41

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Bibelstellenregister

Genesis 2. Könige 13:8ff 78 6:11ff 76 22 72 18f 76 26:16ff 78

2. Chronik Exodus 14:11 74 14:13 71 16 74 17 71 16:7-9 75 19:25 154 20 75 20 105 20:17 75 22:25 64 20:29 75 23:23 73 32- 75 23:29f 73 32:7f 76

Leviticus Esra 17:10 154 8:2lff 77 19:2 105f 19:15 109 Psalmen 25 35 2:7 29,31 25:20-21 60 110 49 25:28 61 118 49 25:54 61

Sprüche Deuteronomium 3:lf 154 3:26 50 5:16 160 Jesaja 8:3 30 10 177,181 13:7-11 63 42:1b 29 15:lff 61 53 112 16:2lf 154 53:12 50 17:1 154 58:6-12 36 22:5 154 61 33,35f 23:7f 154 61:2 34,61 23:15f 161 28:7 78 Jeremia

34 36 Josua 35:8 61 6 73

Daniel Richter 12:11 82 7 73 7:2 73 Amos

5:4 154 1. Samuel 2 25 Habakuk 2:9 78 2 97

229

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230 BIBELSTELLENREGISTER

Sacharja 12:7 186 4:6 78 12:13-34 57

12:28f 109 Matthäus 13:26ff 52 3:12 28 15:6ff 54 4:1-11 29 16:15 199 5 187f 5-7 188 Lukas 5:22 177 1:46ff 25 5:25 65 1:68ff 25 5:27-32 38 3:7ff 25 5:39 182 3:9 26,41 5:40ff 65 3:11-14 28 5:43-48 107 3:17 26 5:45 107 3:21 38 5:48 203 3:21-4:14 28 6:12 107 3:22 28,31 6:14 61,.107 4:13 53 6:16 61 4:14ff 32 6:32-34 39 4:16-30 35 6:35f 39 4:18f 28, 34 7:1 39 4:31 38 9:38 48 5:16 38 10:37ff 115 5:21 38 16:22 57 5:30 38 18:23-35 62 6:11ff 38 19:19 109 6:32-36 65,107 20 50 6:35f 203 20:17ff 43 8:18 38 20:25ff 114,167 9:1-22 39 21:5 44 9:7 28 22:21 186 9:51 40,44 22:40 109 10:18 38 23:24 116 10:25ff 57 24:14 196 10:27 109 24:30f 52 11:4 61,107 26:5lff 31,50,183 11:42 68 26:53f 52 11:53f 57 27:39 54 12:29-31 60

12:30-33 68 Markus 12:49 40 2:14 118 12:51-53 41 5:40 48 12:57 65 8:29ff 40 13 57 8:3lff 31 13:lf 41,83 8:34ff 115 13:6-9 41 10 50 13:9 40 10:39f 115 13:13f 57 10:42-45 114, 117, 167 13:31-33 40 12:1-9 116 13:33-35 41

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BIBELSTELLENREGISTER 231

14 86 15:5 57 14:25ff 42 17:22-28 129 14:25-36 40,119 23:12-24 116 14:27-33 115 16:lff 66 Römer 16:9 66 1-5 176 16:16 28 1:3 200 19:36-46 44 1:5 201 19:47 48 1:20 199 20:1-8 49 2 181 20:9-18 49 4:3 200 20:19 48 6:6-11 108 20:20-25 49 6-8 176 20:41-44 49 8:11 108 20:45-21:4 49 8:19-22 199 21:5-36 49 8:24 106 22:2' 48 8:38 129 22:24ff 50,57 9-11 176,201 22: 25ff 43,114,167 9:3-5 200 22:35 186 12:lff 106,167,171 22:36ff 183 12:4-8 167 22:76 29 12:7 182 23-24 53 12:9ff 154 23:3 29 12:13 185 23:35 31 12:17-21 164,167 24:20 116 13 164, 172ff 24:21 56 13:1 129 24:26 50 13:4 164,167,177

13:8 164 Johannes 13:9 109 1:1-4 91 14:1-21 176,201 2:15 48 14:7ff 163 3 199 14:22-25 176 3:5f 198 14:26-29 176 6 40 14:30-33 176 6:60-66 40 15:1-7 110, 163, 201 8:lff 57 15:14-33 196 12:34 109 15:20 163 13:1-13 43, 98, 110, 114 16 201 13:34 109 16:10f 201 15:12f 109f 16:15 201 15:20f 88,115

1. Korinther Apostelgeschichte 1:22-25 102,117 1:14 185 2:8 134 2:36 116 3:3f 200 4:10 116 4:16 112 6:4 185 7 120,165 7:52 116 7:16 160 12:2 183 7:20ff 163,169

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232 BIBELSTELLENREGISTER

7:24 165 4:31 177 7: 29ff 20,148,166 4:32 106,163 7:31 170 5:lf 113 7:32 166 5:2 163 8:11f 163 5:2lff 147,160,187 9 121 5:25ff 86,110,163 10:18 200 6:1-9 163 10:33f 112 6:2 154 11:2ff 165 6:3 160 l1:l1f 165 6:'8 160 11:18 200 6:9 147 15:49 106 6:10-18 136

2. Korinther Philipper 1:5 11 1:29 86,115 3:18 106 2 211 4:10f· 86,11,211 2:1-5 86,113 4:4 106 2:1-11 110 4:16 112 2:3-14 112 5: 14ff 110 2:5ff 163,187 5:17 169,198 2:5-11 163 8:7-9 110 2:6 110, 133, 211f

2:9-11 133,212 Galater 3:10f 109 2: 14ff 197 3:17 112 2:20 108 3:21 106 3:24 193 3:28 157f Kolosser 4:3 129 1:15ff 91 106,128,199 4:5 129 1:24 86,111,199,214 4:23 200 2:6 168 5:14 109 2:12-3:1 109 5:24 108, 116, 163 2:13-15 133 6:2 163 2:15 117 6:15 200 2:18ff 163

2:20 129 Epheser 3-4 168 2:2 129 3:8 177 2:10 200 3:9 106 2:11-16 196 3:10 200 2:15 199f 3:11 158f 3-6 168 3:13 106 3:2f 195 3:18ff 146,160,187 3:9f 195 3:24 160 3:8-11 135 4:1 146,163 3:10 143 4:2 185 4:20 168 4:20-24 109 1. Thessalonicher 4:24 106,200 1:6 112 4:26 177 1:9f 148

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BIBELSTELLENREGISTER 233

2: 15ff 116 2 166 2:1-4,11 168

2. Thessalonicher 2:12ff 147,160,164,176, 3:7ff 112 187,199

2:18-21 119,160 1. Timotheus 2:20f 115 2 164, 167 2:21-25 163 2:3-7 163f 2:23 -213 2:8 177 3:1 160

3:7 147,160 2. Timotheus 3:14-18 115,119 3:12 115 3:18 163

4:lf 116,119 Titus 4:12ff 115, 119, 168 1:7 177 5:9 119 2:11-14 163 3:lff 164 1. Johannes 87 3:3-7 163 1:5-7 106

2:6 108 2:18 109

Hebräer 2:23f 106 1:2ff 91 3 87 6:12 112 3:1-3 106 9:11 199 3:11-16 109 11:1-12:5 116 3:16 113 11:37 183 4:7-12 108 12 86 4:17 106 12-13 168 12:2-4 116 Offenbarung

4-5 208 Jakobus 168 5:9ff 117 1:19f 177 5:12 209 2:8 111 12 211 4:10 119 12:lOf 117

13 117, 175,180 1. Petms 13:10 209 1:15f 106 17:14 117

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Der Autor

1927 in Smith~ ville, geboren, kam erst­m<lls als Freiwilliger und dann als Ersatzdienstleistender im Nachkriegshilfswerk des nord~ amerikanischen Mennonite Central Committee nach Euro­pa. Sein in Goshen (mdiana) begonnenes Studi­um setzte er an der Basler theologischen Fakultät wo er 1957

1962 erscrnen seine Dis­sertation über die

und Re-in der Schweiz.

des Commit­

tee nahm er an der theolo­gischen Tagungsreihe zum Thema der Ethik die ab 1955 unter dem Obertitel Church and Peace Vertreter der Landes­kirchen und der historischen Friedensldrchen zum Gespräch zusam­menftihrte (erste Tagung in Puidoux); daraus entwickelte sich seine Tätigkeit als Sprecher des christlichen Pazifismus radikal freikirch­licher Prägung. Die Politik Jesu entwickelte sich aus dieser Ab 1959 in der Missionsbehörde seiner Denomination er die Mennoniten Nordamerikas bei verschiedenen des Weltrates der Kirchen. Seit 1965 dient er als Professor der Theo­logie an den Associated Mennonite Biblical Seminaries Indiana) und seit 1967 ebenfalls an der katholischen Notre Dame. 1970 - 1971 war er Gastdozent an der Facultad Evan­gelica de Teologia (Buenos Aires) und 1974 - 1975 an der Faculte de Theologie Protestante der Universität Straßburg. Seine Veröffent­lichungen beschäftigen sich hauptsächlich mit te und Sozialethik.

234