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Gettinger©2014 1 Leben wir nicht schon längst in einer Zeitenwende? Eine Skizze „Sozialdemokratische Politik unter den Bedingungen des wiedergewonnenen Primats der Politik wird sich, wenn die aktuellen Verteilungsfragen beantwortet sind, den wirklich großen Fragen des Wandels unserer Gesellschaft zuwenden müssen, zum Beispiel: der demographischen Entwicklung, die in Deutschland wie in Europa dramatische Formen angenommen hat (Familienpolitik, Generationengerechtigkeit, Zuwanderung, Integration); der technischen und politischen Durchsetzung einer Energiewende (Sonne, Wind, Wasserstoff); der Neubestimmung anthropologischer Grenzen von Globalisierung, Technisierung und Flexibilisierung (Schutz der sozialen Umwelt); einer neuen Unternehmensethik, deren Bezugspunkte nicht Spekulationsgewinne und Managergehälter, sondern die Erfüllung von Pflichten für die Gesellschaft bilden.“ - Hans-Peter Bartels, MdB * So oder ähnlich, wie im obigen Zitat, lauten derzeit die ‚Utopien‘ führender europäischer Sozialdemokratien. Solche Ansagen klingen mehr als nur hohl: sie klingen verlogen, illusionär, und wenn wir es ‚wertfrei‘ formulieren: entsetzlich vereinfacht, auf sträfliche Weise reduktionistisch, kurzsichtig. Erweitern wir also unser Blickfeld. Bürgerlich liberaler Individualismus und proletarisch-sozialer Kollektivismus sind und waren einander ergänzende Teile eines ‚sozialen Ganzen‘. Dieses Ganze heißt ‚industrielle Moderne‘. Von Beginn dieser Epoche an stand ein Thema im Zentrum aller ideologischen Auseinandersetzungen: die ‚soziale Frage‘. Sie blieb und bleibt bis heute ‚ungelöst‘. Für eine kurze Zeit in etwa zwischen 1945 und 1975 schien man einer Lösung der sozialen Frage nahe gekommen zu sein, nämlich in der Form dessen, was sich moderner Sozialstaat nannte, im Modell der sogenannten ‚öko-sozialen Marktwirtschaft‘. Die Stabilität dieses Sozialstaats beruhte auf drei Säulen: a) permanentes Wirtschaftswachstum, b) garantierte Formen neokolonialer Ausbeutung von ‚Drittländern‘ (billige Rohstoffe aus der ‚Dritten Welt‘) und c) Existenz eines konkurrierenden kollektivistisch organisierten industriellen Sozialmodells, ‚zweite Welt‘ genannt (‚Ostblock‘; die als ‚kalter Krieg‘ bezeichnete Systemkonkurrenz zwischen West und Ost war ein Mechanismus der Systemstabilisierung). Die inhärenten Widersprüche moderner Industriegesellschaften entwickeln und entwickelten systemtranszendierende Dynamiken. Im Westen stellten neoliberalen Konzepte und Politikformen den Sozialstaat in Frage, im Osten die immanenten Widersprüche einer bürokratisierten Planwirtschaft. Beide Entwicklungen verliefen parallel und führten vor ca. 25 * http://www.hans-peter-bartels.de/ein-ideologischer-epochenwechsel/

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Reflexionen zu sozialen und poltischen Trends

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Leben wir nicht schon längst in einer Zeitenwende? Eine Skizze

„Sozialdemokratische Politik unter den Bedingungen des

wiedergewonnenen Primats der Politik wird sich, wenn die

aktuellen Verteilungsfragen beantwortet sind, den wirklich großen

Fragen des Wandels unserer Gesellschaft zuwenden müssen, zum

Beispiel: der demographischen Entwicklung, die in Deutschland

wie in Europa dramatische Formen angenommen hat

(Familienpolitik, Generationengerechtigkeit, Zuwanderung,

Integration); der technischen und politischen Durchsetzung einer

Energiewende (Sonne, Wind, Wasserstoff); der Neubestimmung

anthropologischer Grenzen von Globalisierung, Technisierung

und Flexibilisierung (Schutz der sozialen Umwelt); einer neuen

Unternehmensethik, deren Bezugspunkte nicht

Spekulationsgewinne und Managergehälter, sondern die Erfüllung

von Pflichten für die Gesellschaft bilden.“ - Hans-Peter Bartels,

MdB*

So oder ähnlich, wie im obigen Zitat, lauten derzeit die ‚Utopien‘ führender europäischer

Sozialdemokratien. Solche Ansagen klingen mehr als nur hohl: sie klingen verlogen,

illusionär, und wenn wir es ‚wertfrei‘ formulieren: entsetzlich vereinfacht, auf sträfliche

Weise reduktionistisch, kurzsichtig.

Erweitern wir also unser Blickfeld.

Bürgerlich liberaler Individualismus und proletarisch-sozialer Kollektivismus sind und waren

einander ergänzende Teile eines ‚sozialen Ganzen‘. Dieses Ganze heißt ‚industrielle

Moderne‘. Von Beginn dieser Epoche an stand ein Thema im Zentrum aller ideologischen

Auseinandersetzungen: die ‚soziale Frage‘. Sie blieb und bleibt bis heute ‚ungelöst‘.

Für eine kurze Zeit – in etwa zwischen 1945 und 1975 – schien man einer Lösung der

sozialen Frage nahe gekommen zu sein, nämlich in der Form dessen, was sich moderner

Sozialstaat nannte, im Modell der sogenannten ‚öko-sozialen Marktwirtschaft‘. Die Stabilität

dieses Sozialstaats beruhte auf drei Säulen: a) permanentes Wirtschaftswachstum, b)

garantierte Formen neokolonialer Ausbeutung von ‚Drittländern‘ (billige Rohstoffe aus der

‚Dritten Welt‘) und c) Existenz eines konkurrierenden kollektivistisch organisierten

industriellen Sozialmodells, ‚zweite Welt‘ genannt (‚Ostblock‘; die als ‚kalter Krieg‘

bezeichnete Systemkonkurrenz zwischen West und Ost war ein Mechanismus der

Systemstabilisierung).

Die inhärenten Widersprüche moderner Industriegesellschaften entwickeln und entwickelten

systemtranszendierende Dynamiken. Im Westen stellten neoliberalen Konzepte und

Politikformen den Sozialstaat in Frage, im Osten die immanenten Widersprüche einer

bürokratisierten Planwirtschaft. Beide Entwicklungen verliefen parallel und führten vor ca. 25

* http://www.hans-peter-bartels.de/ein-ideologischer-epochenwechsel/

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Jahren zum Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer imperialen Einfluss-Sphären

(‚Ostblock‘).

Seit damals ist das globale und immer prekäre Gleichgewicht zwischen Individualismus und

Kollektivismus empfindlich gestört. Die sozialen Ungleichheiten nehmen seither weltweit

rapide zu, die soziale Balance beginnt zu kippen. Dieser Prozess wird durch Entwicklungen

verschärft und beschleunigt, welche das gesamte moderne Industriemodell in Frage stellen:

nicht nur das ökosoziale Fließgleichgewicht gerät ins Rutschen (‚shifting baselines‘), auch das

ökologische Gleichgewicht der Biosphäre des Globus gerät im Verlauf der industriellen

Revolutionen immer mehr aus dem menschliches Leben ermöglichenden Gleichgewicht

(Klimawandel, Rückgang der Artenvielfalt, Erschöpfung der Ressourcen, etc.). Das gesamte

Projekt der industriellen Moderne steht damit immer stärker zur Disposition.

Die heute dominierenden (neo-)liberalen Ideologien, welche primär nur technokratische

Antworten auf diese Krisenlagen ausgeben, verlieren dadurch zunehmend an

Glaubwürdigkeit, aber ohne sicht- und spürbare Alternativen. Die soziale Frage wird als

solche individualistisch ‚ausgeblendet‘, der dominierende Individualismus implodiert, wird in

Folge hohl und phrasenhaft. Diese ideologische Selbstdemontage des Liberalismus befördert

soziale und psychosoziale Regressionen hin zu autoritären Fundamentalismen, zu

fundamentalistischem Autoritarismen. Es fehlt an allen Ecken und Enden an sozialer

Phantasie, an ‚utopischer Potenz‘, sowohl im linken und rechten politischen Spektrum.

Dieses Faktum wurde in der jüngeren Geschichte schon öfter konstatiert, bisher aber immer

Lügen gestraft. Der US-Historiker Russell Jacoby zu diesen Entwicklungen (‚The End of

Utopia. Politics and Culture in an Age of Apathy‘):

“Daniel Bell's The End of Ideology offered the sharpest formulation…. The End of Ideology,

published in 1960, closed with reflections on the fate of younger intellectuals in a world that

had put radicalism and utopianism to rest. The new generation, with "no meaningful memory"

of old debates, finds itself in a society that has rejected "apocalyptic and chialistic visions."

"There is a restless search for a new intellectual radicalism," but nothing is found. Ideology is

"intellectually devitalized"; politics offers "little excitement." Social reforms do not provide a

"unifying appeal." "Whether the intellectuals in the West can find passions outside of politics

is moot."……. In the early 1960s history was speeding up and radicalism found a new life;

ideological conflict was intensifying, not weakening….The new left and the 1960s resist a

brief summary; it remains disputed when the "1960s" began, what they accomplished or when

they ended. For some conservatives, the 1960s are only too alive, the origin of America's

malaise, drug problem and underclass. A fairer account might credit the 1960s with ending

the war in Vietnam and creating a new awareness of racial and social inequalities. Few doubt

that the 1960s marked a period of relentless disputation. Not only a political revolution, but a

revolution in life, morals and sexuality was discussed, and sometimes pursued. The 1960s

slogan "The personal is political" meant that private life, once considered outside of politics,

was now the subject of manifestos and criticism.

The 1960s buried talk of "the end of ideology." At least this is what many believed. Already

in 1960, C. Wright Mills, the radical sociologist, denounced the "end-of-ideology" proponents

as smug conservatives, tired liberals and disappointed radicals. "Ultimately, the end-of-

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ideology is based upon a disillusionment with any real commitment to socialism." Its

partisans believe "that in the West there are no more real issues.... The mixed economy plus

the welfare state plus prosperity—that is the formula. U.S. capitalism will continue to be

workable." For Mills this was bunk; the end of ideology was "on the way out." A new left was

emerging that was not afraid to be utopian. "Is not our utopianism a major source of our

strength? ... Our theoretical work is indeed utopian—in my own case, at least, deliberately so.

What needs to be... changed, is not merely first this then that detail ... [but] the structure of

institutions, the foundation of policies."

For the next several decades the end-of-ideology thesis took a beating. The civil rights

movement, black power, antiwar protests, national liberation struggles, feminism—the world

seemed drenched in revolution and ideology. "What is the evidence for the increasingly

fashionable thesis of the gradual extinction of ideology in the West?" asked an observer in

1967. He found little, and argued in an essay titled "The End of the `The End of Ideology'"

that ideology was "waxing stronger than ever." Bell's argument, stated another commentator,

smacked of the past. "The sixties have now passed their half-way mark and it seems that

perhaps Bell's death sentence was a bit premature." "One would have thought, a few years

ago," stated another analyst, "that the age of ideology was at an end." The emerging student

movement, however, refuted the idea.

In 1968, using Bell's phrase as an epigraph, Christopher Lasch blasted the notion of the end of

ideology. "All of Western society faces insurrectionary threats from within," stated Lasch.

"Vietnam has exploded the cold-war consensus.... Riots threaten to become a permanent

feature of urban life." Militant blacks attack America and support Third World revolutions.

Students are rebelling in Paris, Berlin, Rome and Madrid. For Lasch, postindustrial society

generated new conflicts. We are witnessing "a revival of ideology."

…..

In 1989 communism collapsed in Eastern Europe; the disintegration of the Soviet Union soon

followed…..The events of 1989 mark a decisive shift in the Zeitgeist: History has zigged or

zagged. No simple lesson follows, but it is clear that radicalism and the utopian spirit that

sustains it have ceased to be major political or even intellectual forces. Nor is this pertinent

simply to adherents of the left. The vitality of liberalism rests on its left flank, which operates

as its goad and critic. As the left surrenders a vision, liberalism loses its bearings; it turns

flaccid and uncertain.”1

Aber heute scheinen wir tatsächlich an einem entscheidenden Wendepunkt der ideologischen

und gesellschaftlichen Entwicklungen angelangt zu sein. Die Fundamente des Modells der

industriellen Moderne stehen zur Disposition: Und es sieht ganz nach epochaler Krise aus,

nach einem grundlegendem Paradigmenwechsel. Seit langem geistern Ideen herum, dass wir

auf eine postmoderne, postindustrielle Phase der gesellschaftlichen Entwicklung zusteuerten.

Was mit diesen Termini anderes gemeint ist, als eine adäquaten Beschreibung beobachtbarer

sozialer Phänomene, wie ideologische Selbstdestruktion (‚Dekonstruktivismus’,

‚Relativismus‘) und sozialer und psychosozialer Fragmentierung (‚Pluralismus‘,

1 https://www.nytimes.com/books/first/j/jacoby-utopia.html

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‚Multikulturalität‘) bleibt rätselhaft. Der polnische Philosoph Zygmunt Baumann drückt sich,

was die inneren Widersprüche des ‚postmodernen Lebens‘ angeht, in drastischen Metaphern

aus: „Ich muss Ihnen gestehen, dass ich neulich einen Alptraum hatte. Ich wachte

schweißgebadet auf. In meinem Alptraum war ich ein Supervisor. Ich sah mich einem

unglaublichen Widerspruch ausgesetzt zwischen meinen Vorsätzen und den tatsächlichen

Umständen, einer Ambivalenz, die ich nicht einfach auflösen konnte. In einer ähnlichen Lage

befand ich mich bereits mehrere Male, als ich meine Studenten an der Universität Leeds und

zuvor an der Universität Warschau unterrichtete. Ich stand vor einem Dilemma, weil ich, wie

Sie, eine Vorstellung von einer idealen Persönlichkeit hatte, einem Ideal, dem meine

Studenten entsprechen sollten. Ich wollte, dass sie begeistert und kreativ sind, auf ihren

eigenen Füßen stehen, anstatt sich buchstabengetreu an Anweisungen zu halten. Andererseits

wusste ich sehr wohl, dass die Studenten, wenn sie so würden, wie ich es Ihnen nahegelegt

hatte, wahrscheinlich bei ihrer Doktorprüfung durchfielen. Denn irgendjemand im

Prüfungsausschuss würde befinden, dass diese Studenten zu originell, zu kreativ und zu

ungewöhnlich seien...“**

Alles Gerede von ‚Postmoderne als künftige Lebensform‘ scheint damit nur ein weiteres

Symptom für einen endgültig gewordenen ‚utopischen Stillstand‘ zu sein, als das Ergebnis

einer Entwicklung, welche der Grazer Philosoph Peter Strasser ‚Immanenzverdichtung‘

nennt:

„Strassers Denken kreist um ein Phänomen, das er als ontologischen Überschuss bezeichnet.

Laut Strasser stellt sich dieser das eine Mal als die erkenntnisleitende Überzeugung dar, es

müsse der Wissenschaft möglich sein, uns die Welt so zu zeigen, wie sie objektiv beschaffen

ist; das andere Mal als die metaphysische Sehnsucht, die Wahrheit als den Sinn zu

realisieren, der dem Ganzen innewohnt.

Den dehumanisierenden Zug der Moderne erblickt Strasser in einer zunehmenden

Immanenzverdichtung, welche das Über-uns-selbst-Hinaussein als irrational anprangert.

Deshalb verteidigt Strasser einen Primat des Geistes, räumt aber zugleich ein, dass sich

dieser nicht positiv darstellen lässt – etwa als alternative wissenschaftliche Theorie.“*

Damit hieße die Devise: zurück an den Start!

Was bedeutet ‚persönliche Freiheit‘, wenn man sie nicht mehr auf die liberale Definition eines

‚autonomen Subjekts‘ beziehen kann, aber auch nicht mehr auf interaktionelle und

dialektisch-materialistische Modelle oder radikal subjektiv-kognitivistische? All diese

Vorschläge sind noch weit mehr Teile der zu lösenden Problematik, als eines (er-) lösenden

‚utopischen Überschusses‘.

Peter Strasser sagt: wenn wir einem Menschen die Willensfreiheit absprechen (d.h. ein ‚erster

Beweger zu sein, der inhärenten Werten folgt‘), dann sprechen wir ihm sein Menschsein ab,

weil wir ihm jede Verantwortlichkeit absprechen.

**

Zygmunt Bauman, Vortrag auf der ANSE-Konferenz 2004 "Die Werteproblematik als Herausforderung für

Praxis und Konzept von Supervision und Coaching" am 07. Mai 2004 in Leiden/Niederlande * http://lexikon.freenet.de/Peter_Strasser_%28Philosoph%29

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Mensch sein, hieße dann also: Verantwortung wahr- und ‚auf sich nehmen‘ können, d.h.

wissen, was und wie das in einer gegebenen Situation zu Tuende zu tun ist, was von einem in

diesem Augenblick gefordert sei.

Der Mensch als mit Bewusstsein und Selbstbewusstsein ausgestattetes Mängelwesen ist

strukturell ein ständig ‚intendierendes‘ Wesen. Er erlebt sich dabei als einen in der Welt

‚Handelnden‘. Wobei ‚Handeln‘ wiederum von ‚Verhalten‘ (als objektiviertes Ergebnis von

Fremdbeobachtung) zu unterscheiden ist: ‚Handeln‘ ist immer eine Funktion subjektiv

fundierten Selbst- und Welterlebens.

Dabei ist von der Tatsache auszugehen, dass wir weder zuerst uns wahrnehmen und dann die

Welt, noch zunächst die Welt und dann uns, sondern uns immer schon in der Welt

gleichursprünglich erfahren. Diese Komplementarität von Welt und Bewusstsein beschreibt

die Struktur der Intentionalität. Indem ich die Welt und die Dinge als objektiv intendiere

(vermeine), erhalten sie ihre Unabhängigkeit vom Bewusstsein. Ausschlaggebend ist dabei

der Ansatz, perspektivisch von der ersten Person (vom subjektiven Erleben) für die

Untersuchung von Intentionalität und phänomenaler Qualität von Bewusstseinszuständen

auszugehen. So vermeiden wir vorschnelle Objektivierung und Entsubjektivierung. Es geht

also um das ernste Abarbeiten an der Differenz von intendierter Handlung und

Handlungsergebnis. Seine Absichten ernst nehmen, ernsthaft wollen, und sich dann dem

Ergebnis seiner Handlungen stellen, wissen wollen, woher die Differenz kommt, wenn es eine

gibt. Das ist Lernen, das ist die ‚selbstaufklärende‘ Arbeit eines ‚autonomen Subjekts‘.

Eine vielleicht irritierende Sicht auf das, was man herkömmlich ‚freien Willen‘ zu nennen

pflegt, und was einleitend philosophisch ausgedruckt wurde mit ‚ein erster Beweger sein, der

inhärenten Werten folgt‘. - Jetzt macht diese anfänglich absurd anmutende Formulierung

plötzlich Sinn. Und all die überlieferten philosophischen Antworten machen ebenfalls Sinn:

als Antwortversuche, als immer nur vorläufig gültige Ausdrucksbewegungen einer

notwendigen Suche, welche bis heute kein befriedigendes Ende gefunden hat und – welche

als solche – auch keines finden kann und wird: denn die Suchbewegung als solche, das

ernsthafte Erkunden, ist die Antwort. Jeder spezifische Antwortversuch, jeder Versuch, die

Suchbewegung zu einem definitiven Abschluss zu bringen (jede ‚Wahrheitsfiktion‘), muss

scheitern, die Suchbewegung weiter vorantreiben.

Es ist also klar, dass jeder für sich selber diese gesamte Bewegung erfahren, erleben muss.

Billiger gelangt man zur Einsicht in die Bedeutung dessen, was wir so locker und flockig

‚Willensfreiheit‘ nennen, nicht. Ohne diese fiktive Willensfreiheit würde unsere bürgerliche

Rechtsordnung augenblicklich zusammen brechen. Sie wird aber auch so zusammen brechen

(und dies passiert ja bereits, wenn man genau hinsieht, da muss man nicht erst Foucault zu

Rate gezogen haben), wenn wir gedankenlos bei dieser Fiktion stehen bleiben und im

alltäglichen und wissenschaftlichen Leben immer mehr Ausnahmen davon machen und

zulassen; wenn wir uns an dieser Fiktion nicht mehr ernsthaft abarbeiten, sondern stattdessen

postmodernen ‚Wertepluralismus‘ in willkürlicher Beliebigkeit angelegen sein lassen.

Das befördert nur Anarchie, Willkür, Fundamentalismus und Desorientierung. Alles Aspekte,

welche heute immer stärker in den Vordergrund drängen, ob uns das nun lieb ist oder nicht.

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Zusammenfassend kann also zum ‚aktuellen Stand der Dinge‘ gesagt werden:

Die Zukunft ist ‚an und für sich‘ offen, niemand weiß genau, wohin wir als Menschheit

tatsächlich gehen werden. Unverhofft kommt oft. Die Zukunft ist aber nur dann auch ‚für uns‘

(und nicht ‚gegen uns‘) offen, wenn wir unsere derzeit ideologisch verwirrten, ausgehöhlten

und mental geschlossenen Sichtweisen auf uns und die Welt (Ideologien) wieder öffnen, d.h.

uns klar machen, dass wir immer noch sehr vieles ‚ungeprüft glauben‘. Je komplexer die

moderne Welt wird, desto stärker wird der Zwang, sog. ‚Sachzwänge‘ ungeprüft hinnehmen

zu müssen, d.h. desto mehr ungeprüft zu glauben.

Diesen Zumutungen kann und muss man sich widersetzen, sofern man bereit ist, alle

Überzeugungen mal für eine Weile einzuklammern und die eignen Erfahrungen und das

eigene Denken ernst zu nehmen. Das heißt aber auch, die Mühen der Selbstprüfung auf sich

zu nehmen, Eigenverantwortung ernst zu nehmen:

„Für die Moralität, für die sich früher auch im Wesentlichen Institutionen (vor allem

religiöse) zuständig fühlten, wurde das Gewissen, die Person, das Ich relevant gemacht. Es

geht nicht mehr um Heteronomie (Fremdgesetzgebung), sondern Autonomie...... Damit tritt

die Person – und das sogar noch als einzelne – in Konkurrenz zu anderen Fundamenten der

Moralbegründung, und diese verlieren damit ihren Ausschließlichkeitsanspruch.... Von

seinem „Gewissen“ Gebrauch zu machen, heißt bei sich selbst nachzufragen, seine Motive

und Handlungen vor den „Inneren Gerichtshof“ zu stellen, wie I. Kant das Gewissen nennt.

Diese „Befreiung zu sich selbst“, ich nenne sie „Autonomiezumutung“, formuliert sowohl

einen hohen Anspruch, wie auch Nachfragen nach dem „Wie“. Und hier mutiert die Wendung

zur Fokussierung eines Geschehens, eines Prozesses. Könnte man etwas verkürzt sagen, dass

es bei Fremd- und Außenbestimmungen gleichsam um ein deduktives Verfahren geht –

individuelles Handeln ist aus geltender Moral ableitbar – schreibt Autonomie ein anderes

vor: hier ist Überprüfung, Beurteilung, Entscheidung angefragt, es müssen Prozesse

stattfinden.“ 2

Die Utopie eines miteinander gestalteten selbstbestimmten Lebens – Demokratie -warum

erscheint sie uns Heutigen so unrealistisch? Ist es vielleicht gerade diese ‚geistige Ermattung‘,

die Ausdruck ‚satter Bequemlichkeit‘, aber wahrscheinlich noch stärker Ausdruck von

‚Erschöpfung‘ ist, die unser wirkliches Problem ausmacht? Wir werden unseres erreichten

Wohlstands und unserer erworbenen Güter nicht mehr so recht froh.... Der Preis, den wir für

unsere Lebensweise zu zahlen haben, er dürfte für uns zu hoch geworden sein. Und die

Zukunft, sie erscheint uns unsicherer als je zuvor. Dass es allen immer ‚besser‘ gehen wird,

das können wir nicht mehr glauben. Aber an Lebensqualität verlieren wollen wir auch nicht,

wobei wir diese primäre als ‚Erhalten von Erreichtem‘ definieren. Damit steigt Angst vor

möglichem Verlust, welche bekanntlich das rationale Denken stark beeinträchtigt.

Darf es daher wieder ein bisserl weniger Hetze und mehr Lebensqualität sein?

2 Peter Heintel, DAS „KLAGENFURTER PROZESSETHISCHE BERATUNGSMODELL“, S. 52f

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Und schon wieder fällt die Antwort auf diese Frage wieder ganz auf uns selber zurück, denn

es gibt bekanntlich ‚nichts Gutes, außer man tut es‘. Was hindert mich und Dich, dieses, und

zwar genau jetzt, zu tun?

Das scheint die erste und die letzte Frage auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben

inmitten von selbstbestimmten Leben zu sein. Der Preis, den wir für unsere ‚autonome‘

Antwort zu zahlen haben, auch er dürfte hoch sein, ja. Aber gibt es dazu wirklich eine

verantwortbare Alternative?