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Sachsen Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus

Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus Sachsen€¦ · Eigenschaften wie Rachsucht erklärt werden, so handelt es sich bei diesem Rekurs zusätzlich um eine traditio-nelle

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Sachsen

Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus

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Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf derGrundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Herausgeber:

Amadeu Antonio Stiftung Postfach 310801 04211 Leipzig

ladungsfähige Adresse: Novalisstraße 12, 10115 Berlin

[email protected] www.amadeu-antonio-stiftung.de

Redaktion: Lukas Steinbrenner, Florian Eisheuer Lektorat: Britta Kollberg

Grafik: D. Kahane Gestaltung: Wigwam eG, Berlin Druck: Druckzone, Cottbus

Gedruckt auf Envirotop Recycling 100% Altpapier

Unserer Umwelt zuliebe wurde dieses Buch auf umweltfreund-lichem Recyclingpapier gedruckt, ausgezeichnet mit dem FSC®-Zertifikat für Papier aus Recyclingmaterial, dem Blauen Engel und dem EU-Ecolabel.

© Amadeu Antonio Stiftung, 2019

Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ bzw. des BAFzA sowie des Freistaates Sachsen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor/die Autorin bzw. tragen die Autoren/die Autorinnen die Verantwortung.

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Inhalt

4 Vorwort

6 Antisemitismus als gesellschaftliche Herausforderung

10 Eine Heimat für jüdisches Leben

14 Antisemitischen Ver schwörungstheorien, Hass und Gewalt vernetzt entgegenwirken

17 Gespräch „Die jüdische Gemeinde erfährt viel Solidarität in der Stadt“

20 Antisemitismus und Rechtsextremismus

24 Gespräch „Ich wünsche mir, dass Sachsen der bundesweite Vorreiter im Kampf gegen Antisemitismus wird“

26 Antisemitismus und Verschwörungsideologien

30 Gespräch „Einen beherzten Schulterschluss mit den jüdischen Gemeinden“

33 Anhang:ArbeitsdefinitionvonAntisemitismus

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VorwortAntisemitismus, so heißt es, sei eine komplizierte Sache. Was als Antisemi-tismus bezeichnet werden kann und was nicht, sei sehr umstritten. Beson-ders wenn es sich um den Streitpunkt Israel handle. Deshalb, meinen viele, müsse man mit dem Begriff und der Bezeichnung sehr vorsichtig umgehen. Denn es könne sonst schnell geschehen, dass man jemanden als Antisemi-ten beleidigen würde, der gar keiner ist, und das wiederum ist das Aller-schlimmste, was einem Deutschen nachgesagt werden könne. Gerade wegen der Geschichte des Holocausts.

Diese Sensibilität im Umgang mit dem Begriff Antisemitismus wünschen sich Jüdinnen und Juden in Deutschland, wenn es um das geht, was sie selbst jeden Tag erleben müssen. Antisemitismus im Alltag durch Stereotype, durch Beschimpfungen, Angriffe und durch Wertungen in der allgemeinen Öffentlichkeit. Ganz zu schweigen von den Sozialen Netzwerken und den Anfeindungen, die Juden dort erfahren. Für sie ist Antisemitismus nicht kompliziert. Sie erleben ihn, und in sehr vielen Fällen erfahren sie weder Schutz noch Beistand, wenn sie darüber berichten.

Die Bekämpfung des Antisemitismus, von der in Deutschland besonders nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle so viel gesprochen wird, braucht jedoch genau das: die Wahrnehmung von Antisemitismus – denn ohne diese kann man nichts dagegen tun – und Schutz und Beistand für all diejenigen, die er trifft.

Antisemitismus ist nicht kompliziert. Im Grunde lässt er sich leicht beschrei-ben. Wenn jemand grundsätzliche Aussagen über Juden macht, ist das anti-semitisch. „Juden haben, Juden sind, Juden wollen“ – das sind die drei Bau-steine des Antisemitismus. Sie unterstellen Juden einen bestimmten Besitz, Eigenschaften und Intentionen. Der kulturellen und historischen Narration entsprechend, sind diese drei Dinge meist negativ belegt. Und selbst wenn sie positiv gemeint sind, bestehen sie aus Stereotypen.

Dabei ist es vollkommen egal, wer sich dieser drei Bausteine bedient und in welcher Form sie daherkommen. Es sind und bleiben Unterstellungen, Ver-schwörungstheorien und Mythen. Sie können auch kryptisch erscheinen, als Symbole oder Chiffren. Jüdische Namen anstelle von Kapitalismus, Orte wie Hollywood oder die Ostküste als Chiffren für vermeintlichen Einfluss oder Macht von Juden. Symbole des Bösen als Karikaturen von Kraken, Strippen-ziehern, Kindermördern oder Goldschefflern. Die Welt des Guten gegen die des teuflisch Bösen – auch in der Gestalt des Staates Israel, der im Zweifel immer als Symbol oder Ersatz für den Juden herhalten muss. Gerade hier findet die Legende von den zutiefst böswilligen Absichten der Juden eine moderne Renaissance. Israel als das Unglück der Welt – diese Vorstellung ist wie das Bild des Stürmers, der die Juden in Deutschland als ihr Unglück beschimpft hat. So unverrückbar und im Stakkato wiederholt, bildet es die Grundlage für Judenhass aller Art. Sogar für den, der sagt, die Juden hätten aus dem Holocaust nichts oder zu wenig gelernt. Sie würden davon nur pro-fitieren wollen. Und deshalb ständig übertreiben.

© Amadeu Antonio Stiftung

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Ganz gleich, wer sich dieser Bausteine bedient, sie sind und bleiben das Fundament des Antisemitismus. Der rechtsradikale Geschichtsrevisionist ist ebenso antisemitisch wie der Linke in einer vulgären Form der Kapitalis-muskritik, der Israeldämonisierer sowieso, egal ob von rechts oder links. Die Grenzen der politischen Herkunft verschwimmen, wenn es um Antisemitis-mus geht. Es gibt auch rechtsradikale Kapitalismuskritiker, die damit Juden meinen, und linke Revisionisten, wenn sie die Einzigartigkeit der Shoah verleugnen. Oder wenn beide behaupten, die neuen Nazis wären die Juden. Besonders wenn es um Israel geht.

Dem ist nichts hinzuzufügen, hier muss nicht ein Satz über irgendeine „legi-time Kritik“ gesagt werden. Zu oft hat dieser Satz wiederum ein Stereotyp bedient, das den Juden Zensurmacht unterstellt. Nein, es ist ganz einfach. Und gar nicht kompliziert. Antisemitismus ist das Gerücht über Juden und die älteste Verschwörungstheorie der Welt.

Antisemitismus ist ein bundesweites Problem. Er zeigt sich in Sachsen ebenso wie in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg. Antisemitismus ist eine alte gesellschaftliche Krankheit mit spezifischen Symptomen. Wenn Antisemitismus gut beschrieben und seine Funktionen erklärt sind, ist es einfacher zu sagen, wer sich nicht antisemitisch äußert und wer doch. Der politische, kulturelle oder religiöse Hintergrund spielt dann keine Rolle mehr. Denn Antisemitismus betrifft jeden.

Anetta Kahane Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung

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Antisemitismus als gesellschaftliche HerausforderungFlorian Eisheuer Amadeu Antonio Stiftung

Jüdinnen und Juden stehen seit Jahrhunderten unter Verdacht, für sämtli-che Übel auf der Welt verantwortlich zu sein. Ob Krankheiten und Seuchen, Kapitalismus und Kommunismus, Krisen aller Art: Sämtliche Schattenseiten des menschlichen Zusammenseins werden ihnen angelastet. Der Wille zur Vernichtung dieses vermeintlichen Ursprungs alles Bösen und Schlechten lauert dabei als beständige Möglichkeit im Hintergrund.

Antisemitismus ist auch mehr als 70 Jahre nach der Ermordung von 6 Millio-nen Jüdinnen und Juden eine zentrale und gesamtgesellschaftliche Heraus-forderung unserer Zeit. Grundsätzlich unterscheiden wir traditionelle von modernen Formen des Antisemitismus. Die traditionellen Erscheinungs-formen haben ihren Ursprung u. a. in christlichen Überlieferungen, nach denen Jüdinnen und Juden die Schuld am Tod Christi gegeben wurde („Got-tesmörder“). In der Spätantike und im Hochmittelalter schlossen sich die weit verbreiteten Legenden von den „Brunnenvergiftern“ und „Ritualmör-dern“ an. Besonders während der Verbreitung der Pest (1347–1350) wurden Jüdinnen und Juden bezichtigt, die Seuche durch eine Brunnenvergiftung verursacht zu haben. Die „Ritualmordlegende“ besagt, Jüdinnen und Juden würden das Blut von Christenkindern für religiöse Zwecke benötigen. Diese beiden Legenden endeten mit der Tötung von hunderttausenden Menschen jüdischen Glaubens bei den Pestpogromen. Doch der traditionelle Antise-mitismus hat viele Gesichter und gibt seinem Objekt seinerseits verschie-dene Züge. Er beschreibt Jüdinnen und Juden als geizige, gierige Geldver-leiher, als heimtückische, hinterlistige Händler, als weise, wohlhabende Weltenherrscher.

In modernen Erscheinungsformen des Antisemitismus spiegeln sich tradi-tionelle Mythen zwar wider, doch hat er in modernen, säkularen, bürger-lichen Gesellschaften eine fundamental andere Form angenommen. Die im kollektiven Gedächtnis verankerten antisemitischen Mythen werden heute vielfach über Umwege kommuniziert, sodass sie nicht unmittelbar erkenn-bar sind. Der Kern der Mythen wird an den Zeitgeist angepasst und lebt im scheinbar harmlosen Gewand fort. Die antisemitische Botschaft ist dieselbe.

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Eine moderne Form ist der strukturelle Antisemi-tismus im Sinne einer verkürzten Kapitalismuskritik. Ihre Grundlage ist die simple Unterscheidung zwischen „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital. Eine kleine, einflussreiche Elite, die gierig nach Geld und der Welt-herrschaft strebt, ist das fiktive Objekt dieses personifi-zierten Verschwörungsdenkens. Die antisemitische Prä-gung wird deutlich, wenn jüdischen Einzelpersonen (wie George Soros) und Familien (wie Rothschild) der Hang zur Geld- und Machtgier nachgesagt wird. Alte Stereo- type sind dabei omnipräsent. Im Kapitel „Antisemitis-mus und Verschwörungsideologien“ gibt Benjamin Winkler einen detailreichen Überblick dazu, welche Rolle solche antisemitischen Verschwörungsideologien im Freistaat Sachsen spielen.

Eine zweite moderne Variante ist der sekundäre Anti-semitismus. Es handelt sich dabei um eine Form des Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, die in der gesellschaftlichen Debatte um die Schuld der Deutschen an der Shoah auftritt. Jüdinnen und Juden wird dabei unterstellt, sie nutzten die Shoah, um die nationale Identität der Deutschen kleinzuhalten sowie Entschädigungszahlungen an Shoah-Überlebende und Wiedergutmachungszahlungen an die israelische Regie-rung zu sichern. Der sekundäre Antisemitismus ist geprägt von einer Schlussstrichmentalität, also einer Erinnerungsabwehr, die sich der Auseinandersetzung mit der Geschichte zu verweigern sucht. Wir finden diese Form des Antisemitismus in weiten Teilen der Gesellschaft. Beispielhaft sei an die Rede des AfD-Politi-kers Jens Maier erinnert, der am 17. Januar 2017 im Rah-men der „Dresdner Gespräche“ rief: „Ich erkläre hiermit diesen Schuldkult für beendet!“

Eine dritte Form des modernen Antisemitismus ist der israelbezogene Antisemitismus. Mit der Gründung des Staates Israel wandelte sich die Vorstellung von kosmopolitischen, staatenlosen Jüdinnen und Juden in ein national und staatlich identifizierbares Feindbild. Die vermeintliche „Kritik an Israel“ ist sehr häufig ein kommunikativer Umweg zur Verbreitung antisemiti-scher Stereotype und reproduziert diese zugleich auf geopolitischer Ebene. Der jüdische Staat Israel wird so zum Alleinschuldigen an allen regionalen Konflikten im Nahen Osten, zum „Juden unter den Staaten“ gemacht, wie es Léon Poliakov ausdrückt. Es handelt sich um die bedeutendste Modernisierung des Antisemitismus nach 1945.

Die genannten Kategorien sind nicht exklusiv, sondern sie überlappen sich und sind an den Rändern unscharf. Wenn beispielsweise der Staat Israel mit dem natio-nalsozialistischen Deutschland gleichgesetzt wird, so werden gleich mindestens zwei Formen des Antisemi-tismus bedient. Der Versuch, Israel zum nationalsozia-listischen Gebilde zu erklären, ist einerseits ein Mecha-nismus der Schuldabwehr. Ausgerechnet dem einzigen jüdischen Staat der Welt, dessen Entstehungsgeschichte zudem eng mit der Shoah verbunden ist, faschistische Tendenzen zu unterstellen, hat eine Art moralischer Umschuldung zum Ziel: Wenn der Staat der Juden heute genauso schlimm handle wie Deutschland vor Jahrzehn-ten, dann sei man in gewisser Weise quitt. Eine solche Gleichsetzung ist aber zudem auch als weit verbreitete Form des israelbezogenen Antisemitismus einzuordnen (vgl. IHRA-Definition, S. 33). Sollte die dämoni sierte Politik Israels auch noch mit bestimmten jüdischen Eigenschaften wie Rachsucht erklärt werden, so handelt es sich bei diesem Rekurs zusätzlich um eine traditio-nelle Form des Antisemitismus.

Antisemitisches, teils kodifiziertes Wissen dient als ideo-logisches Repertoire, das für unterschiedliche Anlässe bereitgehalten wird. Rechtsextreme mögen eher auf Verschwörungslegenden über jüdische gesteuerte welt-weite Migrationsbewegungen setzen, während gerade in der radikalen Linken strukturell antisemitische For-men einer personalisierten Kapitalismuskritik bedient werden.

Trotz dieses Facettenreichtums fungiert Antisemitismus als Kitt. Er ist der ideologiegewordene kleinste gemein-same Nenner, auf den sich auch politische Milieus eini-gen können, die sich sonst befeinden. Antirassistische Milieus bieten ihm ebenso eine Heimat wie beispiels-weise PEGIDA, queere Communities ebenso wie funda-mentalistische Christ*innen, Besserverdienende ebenso wie sozial Schwache. Antisemitismus findet sich in allen Schichten und hat so das Potential zur Bildung ideologi-scher Querfronten, die es im Einzelfall möglich machen, dass an antiisraelischen Demonstrationen neben Perso-nen aus dem radikalen islamistischen Umfeld zugleich auch Rechtsextreme und antiimperialistische Linke teilnehmen.

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Gemein ist allen Formen, dass die Träger*innen anti-semitischer Weltbilder sich grundsätzlich moralisch berechtigt fühlen, notfalls auch Gewalt auszuüben, da ihnen diese als Notwehr erscheint: Notwehr gegen die Brunnenvergifter*innen, Notwehr gegen die Kriegsver-ursacher*innen, Notwehr gegen die Kapitalist*innen. Ein eigenes positives Selbstbild kann durch diese Nar-ration erhalten bleiben, unangetastet von der Erkennt-nis, selbst der*die Aggressor*in zu sein. Selbst in der nationalsozialistischen Propaganda wurden der Ver-nichtungswunsch und -plan als Widerstand gegen den angeblichen Antigojismus – einen vermeintlichen jüdi-schen Hass auf alles Nichtjüdische – und durch Legen-den über jüdische Pläne zur Vernichtung des „deutschen Volks“ und der „arischen Rasse“ legitimiert. Aktuell erle-ben diese antisemitisch-verschwörungsideologischen Erzählungen eine Neuauflage in Narrativen über einen jüdischerseits geplanten „großen Austausch“ oder eine „Umvolkung“. Die Anschläge in Pittsburgh (Oktober 2018), Poway (April 2019) und Halle (Oktober 2019) wur-den allesamt mit verschwörungsideologisch-antisemiti-schen Notwehrkonstruktionen legitimiert. Es ist davon auszugehen, dass der Höhepunkt dieser antisemitischen Radikalisierung noch vor uns liegt.

Auch in Sachsen existieren sämtliche Erscheinungsfor-men des Antisemitismus. Die größte Gefahr für jüdi-sches Leben geht aktuell aber zweifelsohne vom Rechts-extremismus aus. Das jüdische Restaurant „Schalom“ in Chemnitz etwa ist seit seiner Eröffnung regelmäßig Ziel antisemitischer Anfeindungen und Angriffe. 2018 wurde es am Rande rechtsextremer, rassistischer Aus-schreitungen, die sich nach einem tödlichen Messeran-griff in der Stadt formten, attackiert. Die Angreifenden standen mit Eisenstangen bewaffnet vor dem Restau-rant und skandierten antisemitische Parolen. Als der Eigentümer Uwe Dziuballa vor die Türe trat, wurde er mit einem Stein verletzt.

Antisemitismus ist als Ideologie zwar eine antidemo-kratische, antimoderne Weltanschauung, die die demo-kratische Gesellschaft bedroht; die unmittelbar Betrof-fenen sind aber Jüdinnen und Juden. Sie sind es, die konkreten Anfeindungen, Bedrohungen und Gewalt ausgesetzt sind. Für sie ist die Lage, so wissen wir aus Gesprächen, aber auch aus Studien, absolut prekär. Eine 2017 durchgeführte Befragung der Universität Bielefeld unter Jüdinnen und Juden zeichnete ein erschüttern-des Bild. Eine deutliche Mehrheit berichtet, regelmäßig

Antisemitismus zu erfahren. 78 % sind der Meinung, dass Antisemitismus in den letzten fünf Jahren zuge-nommen hat. 60 % der Befragten dachten in diesem Zeitraum darüber nach, Deutschland den Rücken zu kehren. Die Befragung ergab auch, dass 81 % der teil-nehmenden Jüdinnen und Juden davon ausgehen, dass der Antisemitismus, den sie erleben, von muslimischen Menschen ausgehe. Wer die Perspektive der Betroffe-nen ernst nehmen möchte, muss sich ebenfalls dieser Zahl stellen und in politische Bildungsarbeit in diesem Bereich investieren.

Den Betroffenen zuzuhören muss für unsere Arbeit zentral sein. Aber es reicht nicht, ihnen das Ohr zu lei-hen und warme Worte zu spenden, sondern es müssen konkrete Taten folgen, im Großen wie im Kleinen, in der Politik ebenso wie im privaten Umfeld, am Arbeits-platz und in der Schule. Dass die Pläne für den antise-mitischen Massenmord in Halle nicht wie vorgesehen umgesetzt werden konnten, ist letztlich der Stabilität einer Türe zu verdanken. Die Radikalisierung des Täters wurde nicht etwa durch einen aufmerksamen Freun-deskreis, Klassenkamerad*innen oder Arbeitskolleg*in-nen wahrgenommen und verhindert, sondern es war ein Hoftor, das Schlimmeres verhütete. Die nichtjüdi-sche Mehrheitsgesellschaft hat hier versagt. Sie hat es nicht geschafft, die Sicherheit des jüdischen Lebens in Deutschland zu gewährleisten. Dies sollte Grund genug sein für ein radikales Umdenken und eine schonungs-lose kritische Selbstreflexion.

Am 28. Oktober 2019 veranstaltete die Amadeu Antonio Stiftung in Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde Chemnitz und unter Schirmherrschaft des Beauftrag-ten der Sächsischen Staatsregierung für das Jüdische Leben und gegen Antisemitismus, Dr. Thomas Feist, ein landesweites Netzwerktreffen gegen Antisemitismus für Sachsen. Ziel des Treffens in den Räumlichkeiten der Jüdischen Gemeinde Chemnitz war eine gemein-same Bestandsaufnahme zum Antisemitismus in Sach-sen – unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen Perspektive. In diesem Rahmen konnten Akteur*innen gestärkt und vernetzt werden, die von Antisemitis-mus betroffen sind und/oder sich mit Antisemitismus beschäftigen.

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Die Leitfragen des Treffens lauteten: Welche spezifischen Probleme finden wir vor? Welche Aktivitäten gegen Antisemitismus existieren, und welche sind geplant? Welche Rahmenbedingungen benötigen wir, um die Arbeit gegen Antisemitismus effizienter gestalten zu können? Im Mittelpunkt des Treffens stand ein Podiumsgespräch mit Küf Kaufmann (Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig K.d.ö.R. und Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland) und Lars Ariel Dziuballa (Vor-standsmitglied der Jüdischen Gemeinde Chemnitz K.d.ö.R.), die wichtige Ein-blicke in jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Sachsen vermittelten.

Die Ergebnisse des Netzwerktreffens und die zahlreichen Gespräche, die vor, während und nach der Veranstaltung mit den Teilnehmenden geführt wurden, bilden die Grundlage für die vorliegende Broschüre. Die einzelnen Beiträge werden durch Forderungen aus der Zivilgesellschaft ergänzt, die in den Diskussionen des Netzwerktreffens deutlich wurden.

Für die antisemitismuskritische Arbeit ergeben sich fünf Schluss-folgerungen bzw. Forderungen aus den Ereignissen in Halle:

• Engagement gegen Antisemitismus fördern Die Arbeit antisemitismuskritischer Projekte und Initiativen muss verstetigt und ausgebaut werden. Bezüge zum Vereinsleben des Bundeslandes (z. B. Sport- und Jugendvereine) müssen hergestellt werden.

• Frühwarnsysteme aufbauen Ein Monitoring antisemitischer Aktivitäten und Narrative kann Hinweise auf zukünftige Gefahren frühzeitig bereitstellen. Vor allem die jüdische Perspektive muss hier von zentraler Bedeutung sein.

• Forschung ausbauen Um die Kompetenzen aller antisemitismuskritisch Aktiven stär-ken, aber auch um politische Entscheidungen auf eine solide Begründungsbasis stellen zu können, muss in Forschung inves-tiert werden, die Erkenntnislücken zu schließen vermag.

• Solidarität mit den jüdischen Communities Von der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft müssen Impulse und deutliche Signal ausgehen, dass sie die von Antisemitismus Betroffenen nicht alleine lässt.

• Sicherheit des jüdischen Lebens gewährleisten Teil der praktischen Solidarität mit den Betroffenen muss es sein, Maßnahmen zu ergreifen, die ein Sicherheitsgefühl wiederher-stellen und die konkrete Sicherheit gewährleisten.

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Eine Heimat für jüdisches LebenDr. Thomas Feist Beauftragter der Sächsischen Staatsregierung für das Jüdische Leben und gegen Antisemitismus

In den letzten Jahren sind die Fälle von Antisemitismus im Freistaat Sachsen tendenziell gestiegen. Demgegenüber ist vielen Bürgern nicht bewusst, dass es überhaupt jüdisches Leben in Sachsen gibt. Daraus entsteht Handlungs-bedarf für den Freistaat und die Zivilgesellschaft. Es gibt bereits positive Beispiele, die zeigen, dass sich die Menschen in Sachsen schon seit vielen Jahren mit dem Thema Judentum befassen und gegen Antisemitismus aktiv sind. Die Unterstützung dieser meist ehrenamtlichen Arbeit und der jüdi-schen Gemeinden im Freistaat ist eine der Hauptaufgaben und -anliegen des Beauftragten der Sächsischen Staatsregierung für das Jüdische Leben und gegen Antisemitismus. Ebenso setzt er sich aktiv dafür ein, dass die Anliegen der jüdischen Gemeinden in Sachsen einerseits und staatliche Handlungsop-tionen sowie politische Diskurse des Parlaments andererseits miteinander in Bezug gebracht werden.

Ob verbale oder körperliche Angriffe, ob im öffentlichen Raum oder im Inter-net – die registrierten Zahlen nehmen auch im Freistaat zu. Der Anschlag in Halle, Sachsen-Anhalt, (am 9.10.2019) hat zwar hinsichtlich seiner Härte und Brutalität überrascht, kam allerdings nicht ohne deutliche Vorzeichen. Anti-semitismus – selbst in der Mitte der Gesellschaft – ist kein neues Phänomen, er tritt in den letzten Jahren nur deutlicher hervor. Die Hemmschwelle für judenfeindliche Äußerungen, verbale und körperliche Angriffe nimmt kon-tinuierlich ab, gleichzeitig wird antisemitisches Gedankengut immer offener vertreten. Der Antisemitismus der heutigen Zeit ist in allen Generationen verbreitet und stellt – beinahe 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Welt-krieges – eine Gefahr für die grundlegenden Werte unserer Demokratie dar.

Das Landeskriminalamt (LKA) in Sachsen hat folgende Zahlen antisemi-tischer Straftaten erfasst: 85 im Jahr 2016, 103 im Jahr 2017, 136 im Jahr 2018 (basierend auf dem statistischen Jahresabschluss) und 107 im Jahr 2019 (Stand vom 12. November 2019 mit vorläufigem Charakter). Als Tat-hintergrund werden hauptsächlich rechtsextreme Einstellungsmuster ver-zeichnet. Die in einigen anderen Bundesländern zu beobachtende Zunahme antijüdischer Hetze mit muslimischem bzw. islamistischem Hintergrund spielt in Sachsen glücklicherweise bislang eine untergeordnete Rolle. Anti-semitische Straftaten kommen in allen Landkreisen und kreisfreien Städten vor, die meisten in Dresden und Leipzig. Größtenteils handelt es sich um Schmierereien und das Rufen von Parolen im öffentlichen Raum sowie um Einträge und Kommentare im Internet.

Am 7. März 2019 wurde Dr. Thomas Feist zum Beauftragten der Sächsischen Staatsregierung für das Jüdische Leben und gegen Antisemitismus ernannt. © Staatsministerium für Kultus

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Eine zentrale Herausforderung für Staat und Gesell-schaft ist die gezielte Bekämpfung von Antisemitis-mus. Seiner Ausbreitung ist entschlossen präventiv entgegenzuwirken.

Dies muss zum einen auf der Bildungsebene in allen Stufen der schulischen und außerschulischen Bildung geschehen. Wichtig ist weiterhin natürlich die Aus-einandersetzung mit der NS-Zeit. Klassenfahrten zu Gedenkstätten und Zeitzeugengespräche sind – solange letztere noch stattfinden können – eine beeindruckende Erfahrung für Schüler und ein geeignetes Medium, um die grausamen Geschehen der Geschichte zu veran-schaulichen und die entsprechenden Lehren aus dem „Nie wieder!“ zu ziehen. Daneben ist die Auseinander-setzung mit dem gegenwärtig erlebbaren Judentum und jüdischer Gegenwartskultur als festem Bestandteil unse-rer Gesellschaft zu fördern. Hier bieten sich geführte Besuche in Synagogen und Gespräche mit jüdischen Bürgern an.

Antisemitische Haltungen und daraus resultierende Vor-fälle sind sehr oft aus religiös- geschichtlicher Unkennt-nis und diffusen Vorurteilen – oft im Verbund mit Ver-schwörungstheorien – erwachsen. Aus diesem Grund müssen verstärkt Möglichkeiten angeboten werden, die ein lebendiges und differenziertes Bild des jüdischen Lebens in der Vergangenheit und Gegenwart vermit-teln. Es hat sich – auch in meiner früheren Tätigkeit in der evangelischen Jugendarbeit – bewährt, Begegnun-gen zu ermöglichen und dadurch das Verständnis für den Anderen fördern. In der Begegnung muss sich mit dem Gegenüber auseinandergesetzt werden, es wird das Gemeinsame auch im Trennenden erfahren, und Barrie-ren werden abgebaut. Ein großes Potential bieten Schü-lerfahrten und -austausche nach Israel, wo jüdische Kultur hautnah erlebt werden kann. Diese Fahrten gilt es vermehrt anzubieten und zu unterstützen. Vor allem Schülern aus Ober-, Förder-, und Berufsschulen sind sol-che Reisen in größerem Maße als bisher zu ermöglichen, da sie in der Zielgruppe der durch Bildungs- und Begeg-nungsfahrten nach Israel erreichten Personen momen-tan erheblich unterrepräsentiert sind. Ein Ziel meiner Tätigkeit ist es daher, Fahrten für diese Schüler künftig intensiv zu fördern und zu unterstützen.

Gleichzeitig sollte die Behandlung des Themas Judentum in der Schule nicht auf den Holocaust reduziert werden, sondern unbedingt das gegenwärtig im Freistaat erleb-bare jüdische Leben einbeziehen. Daneben benötigt es gute pädagogische Formate, um die Gefahren des Anti-semitismus adäquat zu adressieren. Dies setzt voraus, dass Lehrpersonen Wissen über diese Themenbereiche besitzen. Außerdem ist es dringend notwendig, dass die Lehrenden intensiver geschult und dafür sensibilisiert werden, antisemitische Vorfälle zu erkennen und ange-messen auf antisemitische Äußerungen und Handlun-gen im Schulalltag reagieren zu können.

Ein wichtiger Beitrag ist das seit Oktober 2019 zugäng-liche Online-Portal „Schulische Qualitätsentwicklung“ vom Landesamt für Schule und Bildung (LASuB), in dem Schulen Angebote von Vereinen, Initiativen und Pri-vatpersonen unter anderem zum Judentum und gegen Antisemitismus einsehen können. Durch den Hinweis auf das Portal beim ersten Netzwerktreffen „Jüdisches Leben in Sachsen“ der Akteure mit dem Beauftragten für das Jüdische Leben kann nun eine Vielzahl von Angebo-ten abgerufen und in Anspruch genommen werden. Ins-gesamt ist es wünschenswert, dass die angesprochenen Themen altersgerecht in allen Bildungsbereichen von der Grundschule bis zur Ausbildung in Berufsschule oder Universität sowie in der Erwachsenenbildung behandelt werden. Gleichzeitig müssen die Mitarbeiter verschiedenster staatlicher Behörden geschult und sen-sibilisiert werden. Es wird von Betroffenen immer wie-der erwähnt, dass wenig bis keine Kenntnisse zum jüdi-schen Leben in Sachsen und im Umgang mit der Gefahr des Antisemitismus vorliegen.

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Es ist wichtig, nicht nur die jüngsten Generationen, sondern auch deren Eltern und Großeltern zu sensibilisieren. Vor allem die Elterngenerationen sind schwer über Bildungsangebote zu erreichen, sie ist jedoch zum gro-ßen Teil an der Meinungsbildung ihrer Kinder beteiligt. Etwas besser gelingt dies bei der Großelterngeneration. Hier unterstützt der Beauftragte die in Sachsen vorhandenen Strukturen von spezifisch angelegten Bildungsan-geboten zum Thema Judentum und Antisemitismus. Auf diese Weise kann es langfristig und nachhaltig gelingen, alte Denkmuster und Vorurteile zu beseitigen.

Es ist anzustreben, dass die sächsischen Bürger aller Generationen mehr für andere Lebensweisen und Religionen sensibilisiert werden. Davon könn-ten nicht zuletzt auch die Mitglieder der jüdischen Gemeinden im Freistaat profitieren.

Es ist ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft, dass viele Juden im Freistaat ihre Religionszugehörigkeit aus Angst vor antisemitischen Übergriffen ver-stecken. Um diesem Phänomen entschlossen entgegenzuwirken und um ein klareres Bild antisemitischer Vorfälle zeichnen und dies bewerten zu kön-nen, ist es notwendig, dass die Arbeit des LKA von einer Meldestelle ergänzt wird, die auch niederschwellige und nicht strafrelevante Taten abbildet. Dafür soll eine Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Sachsen eingerichtet werden. Hier werden Mitarbeiter, die mit derartigen Vorfällen und im Umgang mit Betroffenen Erfahrung haben, Meldungen entgegennehmen. Gleichzeitig ist es notwendig, Opfern von Antisemitismus eine Anlaufstelle zur Beratung zur Verfügung zu stellen. Hier soll in Sach-sen ebenfalls eine Institution angesiedelt werden, welche die psychosoziale Betreuung übernimmt.

Alle genannten Ambitionen und Ziele können wir nur gemeinsam, durch vorausschauendes und verantwortliches Handeln des Staates im Zusam-menwirken mit der Zivilgesellschaft erreichen. Gemeinsam sind wir dafür verantwortlich, dass der aufkeimende Antisemitismus nicht weiter um sich greift. Unterstützt wird diese Arbeit durch die vielen Initiativen, Ver-eine und Privatpersonen, die zum Teil seit Jahren und Jahrzehnten gegen Antisemitismus tätig sind und sich um die Vermittlung von Wissen über das Judentum bemühen. Das bereits erwähnte erste Netzwerktreffen „Jüdisches Leben in Sachsen“ Ende Oktober 2019 war ein großer Erfolg. Daran sollten sich unbedingt weitere Treffen anschließen, um die Akteure stetig in Kon-takt zu bringen und einen regen Austausch zu fördern. In vielen Regionen Sachsens gibt es auch kleine Vereine und allein wirkende Privatpersonen, die große Mengen an Wissen zusammengetragen haben, von welchem alle profitieren können. Die Unterstützung ehrenamtlicher Arbeit gegen Anti-semitismus und zur Verbreitung grundlegender Informationen über das Judentum durch die Schaffung stabiler und tragfähiger Netzwerke ist ein wichtiges Anliegen des Beauftragten.

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Neben Aufklärungsarbeit und Dialog sind Haltung und Courage im Alltag wichtig. Dazu ist eine wache und engagierte Zivilgesellschaft notwendig. Menschen, die sich trauen, für eine tolerante und demokratische Gesell-schaft einzustehen und Solidarität zu zeigen, müssen unterstützt und geför-dert werden. Antisemitismus darf in Sachsen und Deutschland kein Raum gegeben werden. Jüdisches Leben in seiner Vielfalt ist ein genuiner Teil unserer Gemeinschaft.

Um die genannten Ziele zu erreichen, habe ich als Beauftragter strukturell-thematische und haushaltsrelevante Anregungen in die Koalitionsverhand-lungen der 7. Wahlperiode des Sächsischen Landtags eingebracht. Hier sind beispielhaft die Einrichtung einer niedrigschwelligen Recherche- und Infor-mationsstelle Antisemitismus, die Einrichtung psychosozialer Beratungs-stellen für Betroffene von Antisemitismus und eine stärkere Förderung deutsch-israelischer Jugendbegegnungen zu nennen.

Des Weiteren gibt es einen regelmäßigen Austausch zwischen den Beauf-tragten der einzelnen Bundesländer und dem Beauftragen des Bundes, z. B. beim Zusammenkommen der Bund-Länder-Kommission.

Die Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Sachsen betonen immer wieder, dass sie sich als offene und der Gesellschaft zugewandte Gemeinden ver-stehen und diese Offenheit nach Möglichkeit und im Zusammenspiel mit sicherheitsrelevanten Prämissen fortführen möchten. Fraglos gibt es nach dem Anschlag in Halle auch in Sachsen eine neue Bewertung der Sicher-heitsstandards für die jüdischen Gemeinden und Kulturzentren. Es liegt allerdings nicht allein an der Umsetzung neuer Sicherheitsstandards, son-dern vielmehr an uns allen, an unserem erfolgreichen und couragierten Vorgehen gegen jeden Antisemitismus, diesem den Nährboden zu entziehen und jüdisches Leben im Freistaat auch zukünftig in großer Selbstverständ-lichkeit zu ermöglichen und zu fördern.

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Antisemitischen Ver schwörungstheorien, Hass und Gewalt vernetzt entgegenwirkenKathleen Markwardt und Ulrike Stansch Demokratie-Zentrum Sachsen

Aktuelle Studien und Befragungen zeigen, dass antisemitische Vorurteile und Ressentiments in der Mitte der sächsischen Gesellschaft weiterhin vorhanden sind. So stimmten im „Sachsen-Monitor 2018“ 21 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Juden versuchen heute Vorteile daraus zu zie-hen, dass sie während der Nazi-Zeit die Opfer gewesen sind“, und 11 Prozent der Befragten gaben ihre Zustimmung zu den Aussagen, dass Juden „etwas Besonderes und Eigentümliches an sich (haben)“ und „nicht so recht zu uns passen“.

Das Sächsische Staatsministerium des Innern registrierte im Jahr 2018 für Sachsen 136 antisemitische Straftaten. Das waren 33 mehr als 2017 und eine Steigerung um 50 Straftaten gegenüber dem Jahr 2016. Bei den meisten Fäl-len handelte es sich um „Volksverhetzung“ und das Rufen antisemitischer Parolen, bei 20 Fällen um Sachbeschädigung und bei sieben Fällen um Belei-digung und Bedrohung. Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer deut-lich höher liegt. In Gesprächen u. a. mit Mitgliedern jüdischer Gemeinden wird deutlich, dass Vorkommnisse des Öfteren nicht zur Anzeige gebracht werden.

Moderne Formen des Antisemitismus sind im Gegensatz zu den tradi-tionellen Formen häufig schwerer zu erkennen und gleichzeitig deutlich populärer. Oft sind sie Bestandteil von Verschwörungstheorien und finden Anknüpfungspunkte bei verschiedenen Weltbildern und Erklärungsmodel-len. Häufig fehlen hierzu Informationen und Kenntnisse oder auch Kompe-tenzen und Ansätze für ein entschiedenes Entgegenwirken.

Um antisemitischen Einstellungen etwas entgegensetzen zu können, braucht es vielfältige Angebote für unterschiedliche Zielgruppen und neben inno-vativen, projektbezogenen Maßnahmen langfristig angelegtes Engagement zur Stärkung und Förderung einer demokratischen und menschenrechts-orientierten Kultur in ganz Sachsen. Denn eine aktive Zivilgesellschaft ist eine wesentliche Voraussetzung für ein demokratisches Miteinander, das Rassismus, Antisemitismus, Hass und Gewalt entgegenwirkt. In Sachsen engagieren sich seit Jahren zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Antisemi-tismus – an dieser Stelle seien exemplarisch folgende genannt:

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Hatikva, die Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e.V., ist seit ihrer Grün-dung im September 1992 dem Anliegen verpflichtet, über jüdische Geschichte und Kultur in Vergangenheit und Gegenwart in großer Breite zu informieren. Mit ihrem ab 2020 geplanten Modellprojekt „ ‚Gibt’s doch gar nicht…‘ – Sensibilisierung für antisemitische Einstellungen und Diskriminierungen in der Gegenwart“ stellt sie Qualifi-zierungsangebote und Unterrichtsmaterialien zu moder- nen Formen des Antisemitismus für Multiplikator*in-nen der Jugendbildung, der öffentlichen Schulen und der Erwachsenenbildung zur Verfügung, um Kompeten-zen für die Auseinandersetzung mit diesen Formen zu stärken.

Das Zentrum jüdischer Kultur Ariowitsch-Haus e.V. in Leipzig ist seit 2009 nicht nur ein Ort für die Jüdische Gemeinde, sondern ein Veranstaltungsort, der mit Kon-zert- und Lesereihen, Ausstellungen und Vorträgen Begegnungsangebote schafft, die über die Stadt hinaus-wirken. Neben Projekten zur Geschichte der Jüdinnen und Juden in Leipzig und der Vielfalt ihrer kulturellen Traditionen klärt der Verein über Antisemitismus und Rassismus auf. Als Mehrgenerationenhaus ist das Ario-witsch-Haus mit Tanz-, Mal- und Zeichenkursen, Schach, Theater, Literatur sowie Sprach- und Computerkursen ein Begegnungsort für alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Religion und Kultur.

Auch die Ephraim Carlebach Stiftung widmet sich auf vielfältige Weise der Erforschung und Darstellung der Vergangenheit und Gegenwart der Leipziger Jüdinnen und Juden. Mit Schulprojekten wie „LOOKING BACK FOR FUTURE“ bearbeiten Schüler*innen nicht nur Geschichte und Gegenwart von Jüdinnen und Juden in Leipzig, sondern konzipieren zeitgemäße Präsentatio-nen historischer Themen. Das Projekt „Im Dialog. Gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in unserer Mitte“ zielt auf den Austausch zum Holocaust in multi-kulturell zusammengesetzten Gruppen.

Der Treibhaus e.V. in Döbeln bietet über das Projekt „FAIR – Fit gegen Antisemitismus, Intoleranz und Rassis-mus“ Workshops und Seminare an, dokumentiert aber auch rechte Aktivitäten und Übergriffe mit antisemiti-schem oder rassistischen Hintergründen in der Region und veröffentlicht diese in einer regelmäßig erscheinen-den Chronik.

Die zivilgesellschaftliche Initiative BuntmacherInnen aus Chemnitz ruft nicht nur am 9. November zum Stadt-rundgang „Lichterwege“ auf, um an die Novemberpog-rome und den darauffolgenden Völkermord an Millio-nen von Jüdinnen und Juden zu erinnern, sondern greift in ihren Aktionsformen immer wieder aktuelle gesell-schaftspolitische Ereignisse auf, um Dialoge in der Stadt-gesellschaft anzuregen.

Gedenkstätten- und Bildungsfahrten zu ehemaligen Konzentrationslagern oder in das jüdische Viertel in Krakau gehören zu den weiteren Angeboten, die u. a. von der Brücke/Most-Stiftung zur Förderung der deutsch- tschechischen Verständigung und Zusammenarbeit oder der Aktion Zivilcourage e.V. durchgeführt werden.

Viele dieser Initiativen und Vereine sind durch ehren-amtliches Engagement entstanden oder werden zum Großteil durch ehrenamtliche Arbeit von Bürger*innen getragen und unterstützt. Menschen jüdischen Glaubens sind hier seit Jahren selbst aktiv und bieten Informatio-nen, Austausch und Qualifizierung an. Mit der Ernen-nung des Beauftragten der Sächsischen Staatsregie-rung für das jüdische Leben und gegen Antisemitismus, Dr. Thomas Feist, wird dieses Engagement gebündelt. Zugleich werden einzelne Akteure in ihrer Arbeit stär-ker sichtbar.

Auch die Landeskoordinierungsstelle des Demokratie-Zentrums Sachsen unterstützt mit ihren Beratungs-, Bil-dungs- und Veranstaltungsangeboten zivilgesellschaftli-ches Engagement gegen Antisemitismus. Gefördert durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundes-ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vereint das Demokratie-Zentrum staatliche und nicht-staatliche Akteure, die sich für die Stärkung der Demo-kratie und gegen extremistische und menschenfeind-liche Bewegungen im Freistaat Sachsen engagieren.

Die Landeskoordinierungsstelle des Demokratie-Zentrums Sachsen, angesiedelt im Geschäftsbereich des Sächsi-schen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaft-lichen Zusammenhalt, organisiert über Gremien, Netz-werke und Fachveranstaltungen die Vernetzung dieser zahlreichen Akteure, bietet für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zielgruppenspezifische Austauschmög-lichkeiten an und koordiniert das Beratungsnetzwerk Sachsen. Um den aktuellen Entwicklungen Rechnung

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zu tragen, unterstützte die Landeskoordinierungsstelle 2019 zehn Projekte, die insbesondere Sensibilisierungs-, Informations- und Vernetzungsangebote in Sachsen umsetzten. In enger Kooperation mit dem Beauftragten der Sächsischen Staatsregierung für das jüdische Leben und gegen Antisemitismus wurden hier auch viele klei-nere Ehrenamtsinitiativen, wie der Verein Sächsische Israelfreunde, der TheatervereinK e.V. oder die Evan-gelisch-Lutherische Kirchgemeinde Annaberg-Buch-holz gefördert. Im Rahmen dieser Förderung entwi-ckelte die Sächsische Bibliotheksgemeinschaft e.V. ein digitalisiertes Format des Stolperstein-Projekts. Ebenso ermöglichte die Förderung das von der Amadeu Anto-nio Stiftung organisierte Netzwerktreffen gegen Anti-semitismus, das den Austausch und die Vernetzung der sächsischen zivilgesellschaftlichen Akteure gemeinsam mit Vertreter*innen der schulischen und außerschuli-schen Bildungs- und Jugendarbeit sowie mit politischen Entscheidungsträger*innen möglich machte und die Gelegenheit gab, Potenziale der zukünftigen Zusam-menarbeit auszuloten.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist ein bundesweit bekannter Akteur, der sich im Themenfeld Antisemi-tismus in Sachsen vor allem mit den Bildungsangebo-ten des Projekts „Intervention gegen Verschwörungs-theorien und Reichsideologie in Sachsen“ engagiert. Die Handreichungen der Stiftung wie „Man wird ja wohl Israel noch kritisieren dürfen?“ bieten Akteur*in-nen hilfreiche Informationen, Handlungsansätze und Kontaktmöglichkeiten.

Das Thema Antisemitismus steht auch in eigenen Ver-anstaltungen der Landeskoordinierungsstelle des Demo-kratie-Zentrums im Fokus. 2018 fand mit dem ehemali-gen israelischen Botschafter in Deutschland, Avi Primor, und der Staatsministerin Petra Köpping das Expertenge-spräch „Notwendiger denn je!? Wirkungsvolle Bekämp-fung des Antisemitismus in Deutschland und Sachsen“ unter Beteiligung von Vertreter*innen jüdischer Gemein- den und engagierten Projektakteuren in Leipzig statt.

Als Teil des Beratungsnetzwerks des Demokratie-Zen-trums Sachsen setzt der RAA Sachsen e.V. das Projekt „Support“ seit vielen Jahren erfolgreich um, in dessen Rahmen er auch Betroffene antisemitischer Gewalt, deren Angehörige sowie Zeug*innen von Vorfällen unterstützt. Die Berater*innen geben Orientierungshil-fen und entwickeln gemeinsam individuelle Lösungen. Beratungsstellen des RAA Sachsen e.V. gibt es in Dres-den, Leipzig und Chemnitz. Außerdem besteht die Mög-lichkeit der Onlineberatung.

Mit den Angeboten der Mobilen Beratung des Kultur-büros Sachsen e.V. und des Instituts für Beratung, Begleitung und Bildung e.V. stehen Einzelpersonen, Initiativen und Vereinen sowie Mitarbeitenden von Ver-waltung und Unternehmen kostenfreie Beratungsan-gebote auch im Bereich Engagement gegen Antisemitis-mus zur Verfügung.

Für Schulen unterhält das Demokratie-Zentrum Sachsen mit dem Schulbera tungsprojekt der Courage-Werk-statt für demokratische Bildungsarbeit e.V. ein spe-zielles Angebot für Schulleitungen, Lehrkräfte, Sozial-arbeiter*innen, Schüler*innen und Jugendgruppen zu Fragen der Prävention von menschenverachtenden Ein-stellungen und der Entwicklung einer Gesamtstrategie im Kontext Schule.

Für Fragen und Informationen zum Themenfeld Anti-semitismus und für die Vermittlung von Ansprechpart-ner*innen stehen die Landeskoordinator*innen des Demokratie-Zentrums Sachsen gern zur Verfügung:

Telefon 0351. 564 549-46 E-Mail: [email protected]

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„Die jüdische Gemeinde erfährt viel Solidarität in der Stadt“Gespräch mit Dr. Ruth Röcher Jüdische Gemeinde Chemnitz

Florian Eisheuer Der antisemitisch motivierte Anschlag des 27-jährigen Mannes in Halle/Saale, Sachsen-Anhalt, löste eine wichtige Debatte zum Ausmaß des Problems in Deutschland aus. Die Zahlen antisemitischer Vorfälle sind alarmierend. Hat Antisemitismus Ihrer Einschätzung nach in den vergangenen Jahren zugenommen? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Dr. Ruth Röcher Wenn wir uns die Fülle an Studien anschauen, die Antisemitismus im Land untersuchen, stellen wir fest: Sie belegen weitgehend übereinstimmend, dass Antisemitismus nach Ende des Zweiten Weltkrieges nie verschwunden ist. Ein latenter Antisemitismus in der Größenordnung von rund 20 Prozent ist stets in der Bevölkerung vorhanden gewesen. Ich persönlich glaube nicht, dass Antisemitismus zugenommen hat. Aber ich nehme wahr, dass die Hemmschwelle, sich in der Öffentlichkeit anti-semitisch zu äußern, in den vergangenen Jahren deutlich geringer geworden ist. Das beobachten wir auch in der Jüdischen Gemeinde Chemnitz. In den letzten Jahren haben uns einige anonym verfasste Briefe mit Beschimpfungen erreicht. Kürzlich fanden wir nach dem Besuch einer Schulklasse ein kleines Hakenkreuz an der Wand.

Wie zeigt sich Antisemitismus im Allgemeinen in Chemnitz?

Bisher blieb die Stadt zum Glück von schweren Vorfällen, die Leib und Leben von Jüdinnen und Juden gefährdeten, verschont. In mehreren Stadtteilen tauch-ten Schmierereien mit Davidsternen auf. Zudem wurde das Schild der nach dem langjährigen Gemeinderabbiner, Hugo Fuchs, benannten Straße mehr-fach beschädigt oder gestohlen. Während einer Kundgebung vor der Synagoge nach den schrecklichen Ereignissen in Halle wurde aus einer vorbeifahrenden Tram der Hitlergruß gezeigt. Dennoch denke ich, dass sich die Problemlage nicht grundsätzlich von der Situation in anderen Bundesländern und Städten unterscheidet. Abseits der Drohungen weiß ich, dass die jüdische Gemeinde in der Stadt viele Freund*innen hat und viel Solidarität erfährt – und das gibt uns Kraft.

Dr. Ruth Röcher ist die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz. Die Neue Synagoge der Gemeinde befindet sich in der Stollberger Straße. © Sandro Schmalfuß | CC BY-SA 3.0 | https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0

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Das zivilgesellschaftliche Aktionsbündnis „Chemnitz ist weder grau noch braun“ protestiert am Karl-Marx-Denkmal in Chem-nitz gegen die extreme Rechte. © Dr. Bernd Gross | CC BY-SA 3.0 | https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Wie gehen Sie und Ihre Gemeindemitglieder mit antisemitischen Vorfällen um? Hat sich Ihr Umgang damit im Laufe der vergangenen Jahre verändert?

Grundsätzlich melden wir antisemitische Vorfälle den Sicherheitsbehörden. Wir gehen nur selten mit solchen Vorfällen an die Öffentlichkeit oder geben sie der Presse. Wenn uns Vorfälle bekannt werden, besprechen wir sie zunächst innerhalb der Gemeinde und überlegen je nach Fall, welche Maßnahmen ergrif-fen werden sollten. Generell ist das Thema Antisemitismus in der medialen wie politischen Öffentlichkeit deutlich präsenter geworden. So wurden beispiels-weise Beauftragte für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus ins Leben gerufen. In Sachsen besetzt Dr. Thomas Feist den Posten seit Anfang 2019. Es gibt viele Bildungsinitiativen und wunderbare Projekte gegen Antisemitismus.

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Welcher Rahmen ist aus Ihrer Sicht notwendig, um Antisemitismus in all seinen Facetten wirkungsvoll zu begegnen?

Mit der Wahl des Ministerpräsidenten Michael Kretsch-mer ist ein neues Bewusstsein für die Problemlage in die sächsische Staatsregierung eingezogen. Ich begrüße die vielen Maßnahmen, denn wir dürfen nichts unversucht lassen, um Antisemitismus zu bekämpfen. Einen wesent-lichen Ansatzpunkt sehe ich in meiner Rolle als gelernte Pädagogin in der Schule. Allerdings weiß ich aus meiner Erfahrung allzu gut, dass Lehrkräfte oftmals nicht aus-reichend vorbereitet sind; hier gibt es sicherlich noch Nachholbedarf. Das Elternhaus ist ein kritischer Punkt, schließlich wird Antisemitismus häufig am Küchentisch weitergereicht; hier ist unser Einfluss gering.

Nach den Ereignissen von Halle ist eine Debatte um Sicherheit und Polizeischutz vor jüdischen Einrich-tungen entbrannt. Wo sehen Sie Nachholbedarf bei den Sicherheitsbehörden? Was sollte Ihrer Meinung nach auf den Anschlag folgen?

Die jüdischen Gemeinden müssen ohne Zweifel besser geschützt werden. Es sind sowohl baulich-technische als auch sicherheitstechnische Maßnahmen erforder-lich. Besonders wichtig ist geschultes und sensibilisiertes Sicherheitspersonal; diesbezüglich laufen erste Gesprä-che mit den entsprechenden Ministerien der sächsischen Staatsregierung. Auch die Arbeit an neuen Sicherheits-konzepten läuft, die Umsetzung erfolgt so schnell wie möglich. Eine zentrale Herausforderung wird die Suche nach einem vernünftigen Kompromiss zwischen Sicher-heit und offener Gemeinde sein.

Was erhoffen und wünschen Sie sich als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz von der nicht-jüdischen Zivilgesellschaft? Wie kann Ihrer Meinung nach praktische Solidarität aussehen?

In der Stadt Chemnitz sind viele Gruppen gegen Rechts-radikalismus aktiv und machen dies durch Demonstra-tionen öffentlich. Ich schätze deren Arbeit sehr. Von der Breite der Zivilgesellschaft wünsche ich mir eine stärkere Beteiligung an den Demonstrationen, um ein klares Zei-chen zu setzen, dass Antisemitismus und Rechtsradikalis-mus in unserer Stadt keinen Platz haben. Zudem würden wir uns freuen, wenn mehr Bürger*innen der Stadt unse-ren Einladungen zu Konzerten und Kulturveranstaltun-gen im Haus folgen. Die Begegnung und das Miteinander sind uns ein Herzensanliegen.

Das Gespräch wurde im Kontext des Netzwerk-treffens gegen Antisemitismus für Sachsen am 28. Oktober 2019 geführt, das in Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde Chemnitz K.d.ö.R. stattfand. Dr. Ruth Röcher war Mitorganisatorin und Rednerin auf diesem Treffen.

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Antisemitismus und RechtsextremismusTimo Büchner und Frank Schubert Engagierte Wissenschaft e.V., Leipzig

Ein Hinweis vorneweg: Antisemitismus ist keinesfalls auf die extreme Rechte beschränkt, das Phänomen lässt sich in großen Anteilen der Bevölkerung beobachten. Das belegen zahlreiche Studien (u. a. die „Mitte“-Studien der Universität Leipzig) seit Jahren. Aber ein Blick in die Netzwerke und inhaltli-chen Positionen des rechten bis extrem rechten Spektrums, das mittlerweile einen erheblichen Anteil der Wählerschaft repräsentiert, zeigt: Gerade in der politischen Rechten findet Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Facetten immer wieder und in erschreckendem Ausmaß ein Zuhause.

Im Folgenden soll der Fokus auf die Neonazi-Szene in Sachsen gerichtet wer-den. Antisemitismus ist ein zentraler Bestandteil eines extrem rechten Welt-bildes – das verdeutlichen die Partei „Der III. Weg“, einschlägig bekannte Rechtsrock-Bands wie „Blutzeugen“ und die extrem rechte Fanszene des Chemnitzer FC. Unterschiedliche Formen des modernen Antisemitismus tre-ten in der Neonazi-Szene offen zu Tage; sie sind u. a. anschlussfähig an die AfD und deren Wählerumfeld.

Antisemitismus und extrem rechte Parteien Beispiel: „Der III. Weg“

Die Partei „Der III. Weg“ ist die bedeutendste offen neonazistische Partei in Sachsen. Der Freistaat ist in ihrem 2016 gegründeten „Gebietsverband Mitte“ (Vorsitzender: Matthias Fischer) verortet, der die Bundesländer Ber-lin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit insgesamt zehn „Stützpunkten“ umfasst. Mehrere dieser „Stützpunkte“ befinden sich in Sachsen. Der „Stützpunkt Vogtland“ unterhält in der sächsischen Stadt Plauen ein „Partei- und Bürgerbüro“, das am 7. Januar 2017 eröffnet wurde. Plauen ist der Dreh- und Angelpunkt zahlreicher Aktivitäten der Partei, wie etwa der jährlich stattfindenden Demonstrationen zum 1. Mai. So führte „Der III. Weg“ am 1. Mai 2019 in der Stadt eine martialisch wirkende Demonstra-tion mit Fackeln, Pyrotechnik und Uniform durch, an der sich mehrere hun-dert Neonazis beteiligten.

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Die extrem rechte Partei „Der III. Weg“, die ein „Partei- und Bürgerbüro“ im sächsischen Plauen unterhält, dämonisiert den Staat Israel als „Terrorstaat“. Der israelbezogene Antisemitismus ist eine tragende Säule der offen NS-verherrlichenden Partei. © Lucius Teidelbaum

Ideologisch orientiert sich „Der III. Weg“ am historischen Nationalsozialis-mus. So propagiert die Partei in ihrem „Zehn-Punkte-Programm“ und in der 2017 herausgegebenen Broschüre „NATIONAL.REVOLUTIONÄR.SOZIA-LISTISCH.“ die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie. In der Bro-schüre heißt es: „Das Blut ist der Schlüssel zum Verständnis der volkseige-nen Kultur und der Seele des völkischen Lebens. […] Die Verbindung aus Blut und Boden sorgt für die Entfaltung des größtmöglichen Verteidigungs-willens.“ (S. 14–15)

Die Partei fällt durch einen stark ausgeprägten Antise-mitismus auf. Das verdeutlicht eine Reihe an Aussagen der Partei auf ihrer Website: Sie beklagt eine „insze-nierte“ Debatte über einen wachsenden Antisemitismus in Deutschland. Zugleich hofft sie mit der wachsenden Angst unter den Menschen jüdischen Glaubens, „daß von den Freunden Zions hierzulande nun immer mehr Koffer gepackt werden“. Dies zeigt: „Der III. Weg“ pocht auf die größtmögliche Ausreise jüdischer Menschen aus der Bundesrepublik. Ein häufiges Thema ist das „zionis-tische Geschwür im Nahen Osten“ und der vermeintli-che „Genozid am palästinensischen Volk“. Die extrem rechte Partei fordert den vollständigen Boykott israeli-scher Waren, schließlich sei „jeder Euro, der nicht mehr im zionistischen Gebilde ankommt, gleichzeitig ein Euro für den Frieden und die Freiheit des palästinensischen Volkes“. Gelegentlich beklagt sie sich darüber, dass sich „Israels 5. Kolonne in Form des internationalen Judentums“ in die Debatte um den Boykott einmische. Zudem wirft sie Jüdinnen und Juden vor, sie instrumentalisierten die Shoah, um von den Ereignissen im Nahen Osten abzulenken: „Während in jeder Debatte um das Judentum stets die ewige Opferrolle des Juden im Fokus steht, wurde im Schatten dieser Endlosdiskussionen […] ein ganzes Volk nahezu ausgelöscht.“

Antisemitismus und extrem rechte Musik Beispiel: „Blutzeugen“

Die Dresdner Rechtsrock-Band „Blutzeugen“, die beispielsweise beim extrem rechten Konzert „Rock gegen Überfremdung II“ im Juli 2017 vor 6.000 Neo-nazis im thüringischen Themar auftrat, vertont die Hetze gegen den „Terror-staat“. Im Lied „Kriegstreiber“ greift die Band auf antisemitische Bilder und Stereotype zurück: „Imperialisten, Mörder und Sadisten, Terroristen – Israel! Kriegstreiber und Völkerfeinde, ihr wisst, wen ich meine – Israel!“ (Album: „Blutzeugen“, Jahr: 2011)

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Sachsen spielt eine bedeutende Rolle in der extrem rechten Musikszene. Im Freistaat sind neben „Blutzeugen“ zahlreiche Rechtsrock-Bands wie „Brain-wash“ und „Sachsonia“ (beide Dresden) sowie extrem rechte Liedermacher wie „FreilichFrei“ (Zwickau) und „Oiram“ (Weißwasser) aktiv. Der antise-mitische Hass ist ein zentrales Element des Rechtsrock und zieht sich durch eine Vielzahl an Liedtexten sächsischer Bands. So antworten die Musiker des Rechtsrock-Gemeinschaftsprojekts „Killuminati“ aus Baden-Württem-berg, Sachsen und Thüringen im Lied „Dass die Sonne wieder scheint“ auf die Frage „Wer mordet im Palästinagebiet?“: „Ich kenne diese Lumpen. Ich kenne die Antwort auf die Fragen. Nur leider darf, ja darf ich sie in dieser BRD nicht sagen.“ (Album: „Jetzt sind wir da“, Jahr: 2014)

Neben Rechtsrock-Bands stammen eine Reihe einschlägig bekannter Rechtsrock-Labels aus Sachsen. Das 2000 gegründete Musiklabel „PC-Records“ mit Sitz in Chem-nitz ist nach Einschätzung des sächsischen Verfassungsschutzes „einer der bundes-weit bedeutendsten rechtsextremistischen Vertriebe in Sachsen“ (Sächsischer Verfas-sungsschutzbericht 2018, S. 72). Neben „PC-Records“ sind extrem rechte Musiklabels wie „Front Records“ (Lossatal/Landkreis Leipzig), „Nationales Versandhaus“ (Goh-risch/Landkreis Sächsische Schweiz-Ost-erzgebirge) und „Hermannsland-Versand“ (Leipzig) in Sachsen ansässig. „PC-Records“, das über ein „hohes Ansehen“ (S. 112) in der Neonazi-Szene verfügt und eine „bun-

desweite Szenerelevanz“ besitzt, verkauft die Musik weitestgehend online. Zusätzlich betreibt das Label ein Ladengeschäft in der Chemnitzer Südstadt.

Eine größere Anzahl der Tonträger, die „PC-Records“ über die Jahre hin-weg produzierte, wurde von der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ wegen antisemitischer Hasspropaganda indiziert. So veröffent-lichte das Label die indizierten Studioalben „Politischer Soldat“ (2002), „Ger-mania über alles“ (2003) und „Auftrag Deutsches Reich“ (2006) der Rechts-rock-Band „Stahlgewitter“. Antisemitismus tritt teilweise offen, teilweise verschlüsselt in Erscheinung. Im Lied „Weltherrschaft“ singt Daniel „Gigi“ Giese: „ZOG – die Macht des Antimenschen, / die geheime Macht, die die Welt regiert. / Bekämpft den ewigen Feind, bevor das letzte freie Volk krepiert!“ (Album: „Germania über alles“). Die Abkürzung „ZOG“ steht in extrem rech-ten Kreisen für „Zionist Occupied Government“ (übersetzt: „zionistisch besetzte Regierung“). Der antisemitische Attentäter von Halle/Saale, der am 9. Oktober 2019 versuchte, am höchsten jüdischen Feiertag die Synagoge zu stürmen und die versammelte Gemeinde zu töten, benutzte die aus den USA stammende Abkürzung in seinem Manifest.

Das „Schild & Schwert“-Festival, das neben Kampfsport und Redebeiträgen den Auftritt einschlägig bekannter Rechts-rock-Bands enthält, fand bereits mehrfach in der Kleinstadt Ostritz nahe der polnischen Grenze statt. © Recherche Nord

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Antisemitismus und die extreme Rechte im Fußball Beispiel: „Chemnitzer FC“

Antisemitische Schmährufe nehmen teilweise in unte-ren Fußballligen eine bedeutende Rolle ein. In Leip-zig lässt sich dies besonders stark beobachten: Beim Stadtderby der 1. FC Lokomotive Leipzig gegen die BSG Chemie Leipzig Ende November 2017 im Bruno-Pla-che-Stadion riefen Lok-Fans mehrfach antisemitische und rassistische Sprechchöre. In der ersten Halbzeit tönte laut „chronik.LE“ der Ruf „Türken, Zigeuner und Juden – Ultras Chemie“ durch das Stadion. Zudem wurde „Judenschweine“, „Juden Chemie“ und „Kommunisten-schweine“ gerufen. Bereits Wochen vor Austragung des Stadtderbys waren antisemitische Sticker in Umlauf gebracht worden. Auf diesen war Anne Frank im Trikot des BSG Chemie Leipzig mit der Auf-schrift „JDN CHM“ (ausgeschrieben: „Juden Chemie“) zu sehen. Das Wort „Jude“ wird in weiten Teilen der Leipziger Fanszene zur Abwertung gegnerischer Spieler*innen und Fans gebraucht.

Über antisemitische Schmährufe hinaus tritt die ext-reme Rechte insbesondere im Umfeld des Chemnitzer FC in Erscheinung. In der zweiten Halbzeit des Dritt-liga-Spiels zwischen dem Chemnitzer FC und dem FC Bayern II Ende August 2019 wurde der Geschäftsführer Thomas Sobotzik von Fans des eigenen Clubs als „Juden-sau“ beschimpft. Zuvor hatte Sobotzik den Kapitän Daniel Frahn entlassen, weil er während eines Spiels ein T-Shirt mit der Aufschrift „Support your local Hools“ hochgehalten hatte und bei einem Auswärtsspiel neben stadtbekannten Neonazis der Gruppe „Kaotic Chem-nitz“ im Fanblock stand. Die extreme Rechte um die beiden Hooligan-Gruppen „Kaotic Chemnitz“ und „NS Boys“ war bereits Anfang März 2019 in die Schlagzei-len geraten, weil Fans vor dem Heimspiel gegen die VSG Altglienicke eine Trauerfeier samt aufwendiger Choreo-graphie für den verstorbenen Neonazi Thomas Haller abgehalten hatten. Haller gilt als Gründer der Hooligan-Gruppe „HooNaRa“ (ausgeschrieben: „Hooligans, Nazis, Rassisten“).

Die folgenden Forderungen zur Stärkung der zivilgesellschaftlichen Strukturen im Kampf gegen Antisemitismus wurden im Rahmen des Netzwerktreffens gegen Antisemitismus für Sachsen diskutiert:

Der Antisemitismus der extremen Rechten ist eine konkrete Bedrohung für das jüdische Leben in Sachsen. Insbesondere in Städten wie Chemnitz und Plauen ist eine finanzielle Unterstüt­zung der antisemitismuskritischen Bündnisse und Initiativen aus der Zivilgesellschaft erforderlich. Zudem ist ein turnus­mäßiger Erfahrungsaustausch zwischen den Bündnissen und Initiativen und dem Beauftragten gegen Antisemitismus, dem Demokratie­Zentrum und den jüdischen Gemeinden nötig. Lang ­ fristiges Ziel muss das Austrocknen extrem rechter Strukturen sein, indem Rechtsrock­Konzerte und ­vertriebe unter Ausschöp­fung sämtlicher Mittel des Rechtsstaats eingedämmt werden.

Quellen

„chronik.LE“ (22.11.2017): „Rassistische und

antisemitische Sprechchöre bei Derby in

Leipzig“ (URL: www.chronikle.org/ereignis/

rassistische-antisemitische-sprechchöre-

derby-leipzig, zuletzt aufgerufen am

10.11.2019)

„Der III. Weg“ (24.07.2014: „Israel-Boykott:

Was jeder gegen den zionistischen Völker-

mord tun kann“ (URL: https://der-dritte-weg.

info/2014/07/israel-boykott-was-jeder-gegen-

den-zionistischen-voelkermord-tun-kann,

zuletzt aufgerufen am 10.11.2019)

„Der III. Weg“ (21.08.2014): „Wie sicher sind

die Juden in Deutschland?“ (URL: https://der-

dritte-weg.info/2014/08/wie-sicher-sind-die-

juden-in-deutschland, zuletzt aufgerufen am

10.11.2019)

„Der III. Weg“ (10.06.2015: „Internationale

Boykottbewegung setzt Israel unter Druck“

(URL: https://der-dritte-weg.info/2015/06/

internationale-boykottbewegung-setzt-

israel-unter-druck, zuletzt aufgerufen am

10.11.2019)

„Der III. Weg“ (16.03.2019): „Tage der Jüdi-

schen Kultur in Chemnitz eröffnet“ (URL:

https://der-dritte-weg.info/2019/03/tage-der-

juedischen-kultur-in-chemnitz-eroeffnet,

zuletzt aufgerufen am 10.11.2019)

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„Ich wünsche mir, dass Sachsen der bundesweite Vorreiter im Kampf gegen Antisemitismus wird“Gespräch mit Küf Kaufmann Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig

Florian Eisheuer Herr Kaufmann, Sie leben seit Anfang der 1990er Jahre in Leipzig und sind seit 2005 Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig und sitzen im Präsidium des Landesver-bands der Jüdischen Gemeinden in Sachsen. Seit 2010 sind Sie außer-dem Mitglied im Präsidium des Zentralrats der Juden in Deutschland. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Küf Kaufmann Bisher habe ich glücklicherweise noch keine persönlichen Erfahrungen mit Antisemitismus sammeln müssen. Aber ich gehöre der jüdi-schen Gemeinde an, weshalb ich jeden Widerhall antisemitischer Vorfälle spüre. Der tragische Fall in Halle/Saale sollte die Vernünftigen in der Gesell-schaft aufwecken. Der Attentäter und sein furchtbares Weltbild sollten uns verdeutlichen, dass wir – und zwar: die gesamte Gesellschaft – uns in einer erheblichen Gefahr befinden.

Wie reagieren Sie und die Mitglieder der Gemeinde auf solch schreck-liche Vorfälle wie in Halle/Saale?

Wir beten …

Der Freistaat Sachsen gerät häufig in die Schlagzeilen, wenn über Neonazis und deren Antisemitismus berichtet wird. Ich erinnere mich, wie Neonazis 2017 vor laufender Kamera den Hitlergruß zeigten, während der Shoah-Überlebende Rolf Isaacson interviewt wurde. Sehen Sie in Sachsen eine besondere Problemlage?

Ich persönlich wünsche mir, dass der Freistaat Sachsen der bun-desweite Vorreiter im Kampf gegen Antisemitismus wird. Wir fin-den Antisemitismus länderübergreifend vor. Insofern glaube ich nicht, dass Sachsen ein besonderes Problem mit Antisemitismus hat. Allgemein mache ich mir Sorgen, dass das bösartige Geschwür des Judenhasses im Körper der Gesellschaft wächst, unabhängig vom Bundesland. Im Übrigen ist mir die Form des Judenhasses egal. Natürlich spielt der Antisemitismus der Neonazis in Sachsen

eine herausragende Rolle. Immer wieder finden extrem rechte Demonstratio-nen, Konzerte und Geheimtreffen statt, in denen sie sich vernetzen und ihren Antisemitismus ausleben. Wenn wir uns allerdings die antisemitischen Bilder und Stereotype vor Augen führen, die über die Neonazi-Szene hinaus in einem

Am 01. Mai 2019 demonstrierte „Der III. Weg“ mit Fah-nen, Pyrotechnik und Uniform in Plauen. An der mar-tialisch wirkenden Demonstration nahmen mehrere hundert Neonazis teil. © Grischa Stanjek | JFDA e.V.

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beachtlichen Teil der Gesellschaft vorhanden sind, bleibt die erschreckende Tatsache, dass der Antisemitismus in weiten Teilen der Gesellschaft nicht besiegt werden konnte.

Nach Halle/Saale entbrannte zwischenzeitlich eine heftige Debatte um die Bedrohungs- bzw. Sicher-heitslage der jüdischen Gemeinden. Wie stehen Sie zur Sicherung der jüdischen Einrichtungen? Was wünschen Sie sich von den Sicherheitsbehörden?

Meiner Einschätzung nach wurden für den Schutz der jüdischen Einrichtungen die nötigen Schritte unternom-men, um die Sicherheit der Gemeindemitglieder soweit wie möglich zu gewährleisten. Wichtig finde ich nun, dass die Belange der Sicherheit auf der Agenda der politisch und sicherheitstechnisch Verantwortlichen bleiben und sie nicht im Laufe der Zeit abebben.

Was wünschen Sie sich als Vorsitzender der Israeli-tischen Religionsgemeinde zu Leipzig von der nicht-jüdischen Zivilgesellschaft?

In den vergangenen Monaten wird viel und häufig über die Gefahr des Antisemitismus gesprochen. Das ist grund-sätzlich eine positive Entwicklung. Denn jedes ausgesprochene Wort der Soli-darität ist uns wichtig. Die Zivilgesellschaft ist aus meiner Sicht ein Stück weit in Sachen Bildung gefordert: Jeder Schritt, der das Gesamtbild vom Judentum im Kopf unserer Jugend erhellt und den Blick für die jüdische Geschichte, Kul-tur und Religion schärft, ist von enormer Bedeutung. Schließlich sollte das Wissen über das Judentum früh vermittelt werden, damit antisemitische Kli-schees rasch hinterfragt und im Keim erstickt werden. Das ist ein langer, müh-samer Weg. Es sind bei weitem nicht nur das Elternhaus und die Lehrkräfte, sondern auch die Zivilgesellschaft dabei gefordert. Der Beauftragte der Säch-sischen Staatsregierung für das Jüdische Leben und gegen Antisemitismus, Dr. Thomas Feist, ist meiner Einschätzung nach ein hervorragender Partner, der uns auf diesem Weg verlässlich begleiten wird.

Wie kann Ihrer Meinung nach praktische Solidarität aussehen?

Es geht in erster Linie um die Bekämpfung einer gesellschaftlichen Krankheit, gegen die wir uns gemeinsam wenden müssen: Menschenhass. Ich finde, wir alle – unabhängig von Herkunft und Religion – sollten ein starkes Immunsystem gegen diese entwickeln. Das erfor-dert reichlich Ausdauer und Zeit. Nur gemeinsam, Schritt für Schritt und Schulter an Schulter, können wir die bös-artige Krankheit besiegen.

Das Gespräch wurde im Kontext des Netzwerk-treffens gegen Antisemitismus für Sachsen am 28. Oktober 2019 geführt. Küf Kaufmann betei-ligte sich dort an einer Podiumsdiskussion, die sich jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus widmete.

Am 09. Oktober 2019 versuchte ein 27-Jähriger am höchsten jüdischen Feiertag „Jom Kippur“, die Synagoge in Halle/Saale (Sachsen-Anhalt) mit Waffengewalt zu stürmen und über 50 Jüdinnen und Juden zu töten. Der Täter scheiterte an der Eingangstür zur Synagoge. © Allexkoch | CC BY-SA 4.0 | https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=42881121

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26 Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus Sachsen

Der Glaube an „Chemtrails“, die versprüht würden, um zum Beispiel die Bevölkerung zu dezimieren, findet eine erhebliche Verbreitung in verschwörungsideologischen Kreisen.

Antisemitismus und Verschwörungsideologien Benjamin Winkler Amadeu Antonio Stiftung

Das Projekt „Entschwörung Jetzt“ der Amadeu Antonio Stiftung beschäftigt sich seit 2018 mit Reichs- und Verschwörungsideologie in Sachsen und bietet Schulungen für Multiplikator*innen an. Aus den Erfahrungen der rund 30 Seminare und entsprechenden Vorfeldrecherchen ist es dem Projekt inzwi-schen möglich, ein eigenes Lagebild der Problematik in Sachsen zu bilden. Dies soll im Folgenden in Form von drei Thesen geschehen.

1. Die Reichsideologie ist in Sachsen auf einem konstant hohen Niveau

Seit 2016 werden in Sachsen die Aktivitäten und das Personenpotenzial der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ durch den Verfassungsschutz erfasst. In einem Gutachten aus dem Herbst 2018 wird das Milieu auf rund 1.600 Personen geschätzt (vgl. Sächsisches Landesamt für Verfassungsschutz 2018: 8). Beim Blick auf die Pro-Kopf-Verteilung nimmt Sachsen im Bundesländer-vergleich den dritten Platz nach Thüringen und Bayern ein. Als regionale Schwerpunkte führen die Landkreise Zwickau, Vogtland, Mittelsachsen und

Bautzen die stärksten Zahlen. Dresden ist die Großstadt, die am meis-ten betroffen ist.

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Der Inlandsgeheimdienst geht davon aus, dass ein erheblicher Teil der 1.600 Personen als Einzelaktivist*innen agieren. Daneben gibt es drei nennens-werte, über Sachsen hinaus auftretende Gruppierungen: „Bundesstaat Sachsen“, „Einiges Deutschland“ und „staatenlos“. Insbesondere die Grup-pierungen betreiben in der Regel eigene Internetpräsenzen, über die zahl-reiche Propagandamaterialien vertrieben wird. Jedoch haben auch viele der Einzelaktivist*innen eigene Blogs, YouTube-Kanäle, Zeitungsprojekte oder Radio-Stationen.

Die Teilnehmenden unserer Seminare berichten, dass vor allem Drohschrei-ben oder Drohbesuche bei den Verwaltungen und Behörden der Land-kreise und Kommunen zu den typischen Aktivitäten des Milieus gehören. Insbesondere für die Mitarbeitenden des Außendiensts wie Gerichtsvollzie-her*innen besteht Gefahr, wenn sie auf das Territorium eines Szene-Ange-hörigen gelangen. So gab es zum Beispiel im Oktober 2018 einen Übergriff eines Reichsbürgers auf eine Finanzbeamtin im Landkreis Bautzen.

Obgleich das Milieu keine einheitliche Ideologie besitzt, gibt es Überzeugun-gen, die nahezu alle Szene-Angehörigen teilen. Dazu gehören Geschichts-revisionismus und Antisemitismus. Letzterer erscheint in der Regel als Vorstellung einer „jüdischen Weltverschwörung“, propagiert über den Roth-schild-Mythos in Publikationen oder auf Internetseiten. Indem man sugge-riert, dass wohlhabende Juden die Strippenzieher im Hintergrund seien, will man zugleich die bestehende staatliche Ordnung als nicht-souverän brandmarken. Eine Strategie, die durchaus Anklang in verschiedenen Mili-eus findet.

2. Verschwörungsideologie ist beliebt bei Jung und Alt

In Sachsen tauchen seit einigen Jahren Akteure auf, die weder klar als Reichsbürger noch als Rechtsextreme zu identifizieren sind. Es handelt sich um Personen und Gruppen, die seit 2014 im Zuge des Konflikts zwi-schen Russland und der Ukraine agieren („Friedensmahnwachen“) oder die seit 2015 Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung äußern. Erklärtes Ziel der Gruppierungen ist es, weder eindeutig das linke noch das rechte Lager anzusprechen. Die Gruppierung „Wir sind Deutschland“, die zunächst in Plauen und später auch in Bautzen auftauchte, warb mit dem Slogan „Nicht ganz Rechts, Nicht ganz Links, Nicht ganz Gutmensch, Nicht ganz Pack“. Bei Kundgebungen in Plauen und Bautzen traten anfangs vor allem lokale Redner*innen auf, die verschiedene Sachverhalte anspra-chen. Im weiteren Verlauf sprachen Personen wie Jürgen Elsässer („Com-pact-Magazin für Souveränität“) oder Ken Jebsen („Ken FM“), die aus der bundesdeutschen verschwörungsideologischen Szene stammen. In Bautzen sprach zudem Donatus Schmidt von der Montagsdemo in Halle. Diese drei Namen sind verbunden mit Aussagen, die eine vermeintliche Verschwörung bestimmter Mächte gegen das deutsche Volk anprangern und das Volk auf-klären wollen.

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„Wir sind Deutschland“ ist keine Ausnahme in Sachsen. In verschiedenen Städten organisiert sich das Milieu in Stammtischen, verbreitet Inhalte über „Alternative Medien“ off- und online und geriert sich gern als Bür-gerbewegung. Die Gruppierungen entstehen sowohl aus dem Umfeld der radikalen Rechten sowie aus dem Umfeld von Personen, die bislang eher politisch unauf-fällig waren. Mancherorts suggerieren sie eine Wieder-betätigung von DDR-Oppositionsgruppen wie im Fall des „Neuen Forum Wurzen“. Beeinflusst werden diese Grup-pierungen durch die bundesweite bzw. internationale Szene der Verschwörungsideolog*innen. So werden oft Inhalte geteilt, die zuvor auf einschlägigen Portalen wie „Kla.TV“ (Betreiber: Ivo Sasek), „RT Deutsch“ (russisches Staatsfernsehen) oder „Bewusst.TV“ (Jo Conrad) aufge-taucht sind. Auch Texte aus dem „Compact“ oder „KOPP Verlag“ tauchen besonders oft auf. Die AfD ist zumindest in einem Fall sehr eng mit dem lokalen Milieu verknüpft, in anderen Fällen versuchen die Protagonist*innen eher auf Distanz zu politischen Parteien zu gehen.

Im Herbst 2019 tauchte ein bemerkenswerter Text im Internet auf, der Anzeichen einer sich abzeichnenden „Querfront“ aufweist. Im verschwörungsideologischen Milieu meint „Querfront“ die Verbindung verschiede-ner politischer Kräfte gegen „die da oben“. Unabhängig vom Label „links“, „rechts“ sowie „Mitte“ werden Leute gesucht, die davon überzeugt sind, dass letztendlich alles Schlechte und Böse auf der Welt durch eine kleine (weitgehend) im geheimen agierende Elite kontrolliert wird. Bereits in der Weimarer Republik wollte man sich unter dem Titel „Querfront“ gegen das „internationale Finanzkapital“ verbinden. In der „Gemeinsamen Erklä-rung 2019“ nun veröffentlichten rund 15 Organisatio-nen und einige Einzelpersonen eine Art Rückschau auf 30 Jahre Wende. Neben zahlreichen unproblematischen Stellen heißt es dort:

„Viele existenzielle Probleme der Bürgerinnen und Bür-ger können von den Herrschenden gar nicht mehr nach-vollzogen werden und werden ignoriert. Ihre Entschei-dungen werden stattdessen von mächtigen Kreisen aus Wirtschaft und Finanzkapital beeinflusst. […] Die grund-sätzliche Linie der Politik ist nach dem Prinzip ‚teile und herrsche‘ darauf ausgerichtet, die Bevölkerung in rivalisierende Gruppen einzuteilen und sich befehden zu lassen. Dieses Gegeneinander-Ausspielen der unter-schiedlichen Interessen schwächt das demokratische Miteinander in der Gesellschaft.“ (vgl. „Neue Richtung“ 2019) Insbesondere der zweite Teil des Zitats bedient ein typisch antisemitisches Ressentiment: den Strippenzie-her, der im Hintergrund wirkt und die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausspielt. Zwar werden viele der Unterzeichner*innen dabei nicht bewusst an Juden gedacht haben (andere vielleicht schon), jedoch kultivie-ren und eröffnen sie damit ein Resonanzboden, der sich antisemitisch aufladen kann und zur weiteren Radikali-sierung beiträgt.

Aus Gesprächen mit Lehrer*innen und Pädagog*innen erfuhr das Projektteam, dass sich Verschwörungsideolo-gie auch unter Schüler*innen und Jugendlichen verbrei-tet. Songtexte aus dem Rap, die eine Verschwörung der „Freimaurer“, „Illuminaten“ oder „Zionisten“ beschrei-ben, gehen nicht spürbar an der Schule vorbei. Der Name „Rothschild“ fiel in den Gesprächen immer wie-der. Viele Lehrer*innen beklagen jedoch, sich mit dieser Seite des Antisemitismus nicht oder nur sehr wenig aus-zukennen, so dass antisemitische Äußerungen häufig gar nicht als solche erkannt werden. Die Pädagog*innen wünschten sich hier mehr Aufklärung.

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3. Viele Personen sind verunsichert, wie sie auf Reichs- und Verschwörungsideologie reagieren sollen

Werden Menschen on- wie offline mit Verschwörungsideologie konfron-tiert, zeigen sich viele verunsichert, ob sie reagieren sollen oder nicht. Eine Seminarteilnehmerin sagte, sie habe die Befürchtung, dass eine Entgegnung nichts bringen würde. Ein anderer Teilnehmer entgegnete, dass man doch etwas sagen müsse, um das Gesagte nicht unkommentiert stehen zu lassen. Die Klärung dieser Frage ist zentral, da nahezu alle Seminarteilnehmenden Berührung mit dem Thema haben. Am häufigsten werden Personen in der Familie oder im Freundeskreis damit konfrontiert, aber auch das Internet spielt eine Rolle. Immer wieder genannt werden „Chemtrails“, der vermeint-liche Plan hinter der Migration, das Thema Impfen sowie der Klimawandel. Damit sind diese sächsischen Rückmeldungen durchaus vergleichbar mit den Themen, die anderswo besprochen werden.

Verunsicherte Personen, die mit der einen oder anderen Verschwörungsthe-orie konfrontiert sind, fragen in den Seminaren häufig nach einwandfreien seriösen Quellen, in denen man sich informieren könne. Letzteres berührt einen interessanten Punkt. Viele Verschwörungstheorien erscheinen in der Regel absurd, andere wecken unser Interesse und wirken zunächst durchaus glaubwürdig. In den Seminaren galt es genau diesen Spagat zwischen natür-lichem Abwehrreflex und Neugier zu bearbeiten. Zen-tral für die Bearbeitung ist weniger das Sammeln von Fakten zur Entgegnung als vielmehr die Festigung einer demokratischen und humanistischen Orientierung der Seminarteilnehmenden. Damit in Sachsen bei vielen Menschen eine Grundimmunität gegen Verschwörungs-ideologien erzeugt werden kann, ist es nötig, sich die eigenen Grundüberzeugungen bewusst zu machen und verschiedene Strategien im Umgang mit der Problema-tik anzueignen.

Quellen

Sächsisches Landesamt für Verfassungsschutz: „Reichsbürger und

Selbstverwalter in Sachsen“ (URL: www.verfassungsschutz.sachsen.

de/download/Lagebild_RB_30092018.pdf, zuletzt aufgerufen am

18.11.2019)

„Neue Ordnung“ (2019): „Gemeinsame Erklärung 2019“ (URL: http://

neuerichtung.de/service/038289aae21335b02/index.html, zuletzt auf-

gerufen am 18.11.2019)

Die folgenden Forderungen zur Stärkung der zivilgesellschaftlichen Strukturen im Kampf gegen Antisemitismus wurden im Rahmen des Netzwerktreffens gegen Antisemitismus für Sachsen diskutiert:

In Bildungseinrichtungen ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Verschwörungsideologie gezielt zu the­matisieren. Um dies sicherzustellen, sind ent sprechende Angebote in der Aus­ und Fortbildung der Lehrer*innen sowie Präven­tions­ und Bildungskonzepte notwendig, die Kinder und Jugendlichen einen kritischen Umgang mit den Sozialen Netzwerken ermög­lichen. Zudem ist ein intensiver Austausch zwischen antisemitismuskritischen Initia­tiven aus der Zivilgesellschaft und kommu­nalen/städtischen Behörden zum adäquaten Umgang mit Akteur*innen des verschwö­rungstheoretischen Milieus erforderlich.

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„Einen beherzten Schulterschluss mit den jüdischen Gemeinden“Gespräch mit Dirk Münster Leitender Kriminaldirektor Polizeilicher Staatsschutz, LKA Sachsen

Florian Eisheuer Der 27-jährige Attentäter, der am 9. Oktober 2019 versuchte, die Synagoge der jüdischen Gemeinde in Halle/Saale, Sachsen-Anhalt, mit Waffengewalt zu stürmen und die Mitglieder der Gemeinde zu ermorden, macht fassungslos. Wie schätzen Sie die Tat im Kontext des wachsenden Antisemitismus ein?

Dirk Münster Der versuchte Massenmord in der Synagoge von Halle war für mich bis zum 9. Oktober 2019 eine Straftat, die ich mir in der Form und diesem Ausmaß von Hass gegen die jüdische Gemeinde in Mitteldeutschland in der heutigen Zeit kaum vorstellen konnte. Diese ganz klar antisemitische Straftat muss man als Seismograf für den wachsenden Antisemitismus und Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft sehr ernst nehmen. Wenn man dar-über hinaus feststellt, dass der Hass auf Juden auch ein Bestandteil des aktuell zunehmenden Islamismus in Deutschland ist und sich ebenfalls in bestimmten Teilen des Linksextremismus abzeichnet, muss allen Menschen in diesem Land deutlich werden, wie sehr es gerade heute auf klare Signale der Zusammen-gehörigkeit und einen beherzten Schulterschluss mit den jüdischen Gemeinden ankommt.

Nach der Tat wurde rasch die Kritik laut, die Polizei habe die jüdische Gemeinde und die Synagoge unzureichend geschützt. Welche Maß-nahmen ergreift die sächsische Polizei, um die jüdischen Gemeinden und deren Räumlichkeiten zu schützen?

Natürlich muss man solche Kritik sehr ernst nehmen und genau analysieren, welche Lageeinschätzungen und Überlegungen dazu geführt haben, dass die betroffene Gemeinde an diesem wichtigen jüdischen Feiertag schutzlos geblie-ben ist. Meine Kolleg*innen in Sachsen-Anhalt arbeiten nach meiner Informa-tion bereits mit Hochdruck an genau dieser Untersuchung, und ich kann den Ergebnissen als Außenstehender nicht vorgreifen. Selbstverständlich werden wir auch in Sachsen diesen Bericht genau prüfen und sicher daraus lernen. Vielleicht kommt dabei auch die Feststellung zum Tragen, dass die aktuelle Kriminalitäts- und Sicherheitslage alle Polizeien der Länder vor große Heraus-forderungen stellt und inzwischen zu dem Eingeständnis zwingt, dass die Poli-zei mit den vorhandenen Ressourcen nicht immer und überall gleichermaßen so präsent sein kann, wie es fachlich wünschenswert ist.

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Im Freistaat hat der aktive polizeiliche Schutz des jüdischen Lebens und der dazugehörigen Einrichtungen eine sehr lange Tradition und wird mit großem Kräfte- und Mitteleinsatz durchgeführt. Aber auch unsere Kräftesituation ist seit Jahren angespannt, und es wurden in der Vergangenheit bauliche Maßnah-men genauso unterstützt wie der verstärkte Einsatz von Sicherungstechnik umgesetzt. Ziel der Anstrengungen war es, einen effizienten Schutz bei spar-samem Personaleinsatz zu erreichen. Unmittelbar nach dem Anschlag von Halle ging die sächsische Polizei wieder dazu über, alle Synagogen rund um die Uhr mit uniformierten Kräften zu schützen. Dieser Einsatz wird solange fortgesetzt, bis der geänderten Situation durch angepasste Bau- und Siche-rungsmaßnahmen Rechnung getragen wurde.

Wie schätzt die sächsische Polizei die Bedrohungs- bzw. die Sicherheits- lage der jüdischen Gemeinden in Sachsen ein? Welchen Stellenwert nimmt das extrem rechte Spektrum in der Bedrohungsskala ein?

Der Modus Operandi des Täters von Halle und die dabei eingesetzten Waffen bzw. Sprengmittel wurden genau analysiert; die Ergebnisse finden inzwischen ihren Nieder-schlag in der überarbeiteten Gefährdungsbewertung für die jüdischen Einrichtungen in Sachsen. Eine unmittelbare Folge sind die durch das sächsische Staatsministerium des Innern gerade angehobenen Schutzmaßnahmen für alle Synagogen im gesamten Freistaat. Diese angepasste Lagebewertung wird sich in deutlich erhöhten sicher-heitstechnischen Empfehlungen widerspiegeln, und der Freistaat Sachsen wird die Gemeinden bei der Umsetzung und Finanzierung angemessen unterstützen.

Die größten Bedrohungen für das jüdische Leben in Sach-sen gehen von Rechtsextremisten aus. Das belegen die Ermittlungsergebnisse und Fallzahlen der Polizei sehr deutlich. Diesem Umstand trägt die interne Ausrichtung der Polizei durch-aus Rechnung, das wurde zuletzt durch die Neugründung der „Soko Rex“ im Landeskriminalamt Sachsen deutlich unterstrichen. Wir gehen aktiv gegen die rechte Szene vor und versuchen auf diesem Wege unseren Beitrag zum Schutz jüdischen Lebens in Sachsen zu leisten.

Nachdem der antisemitische Attentäter von Halle/Saale ver-sucht hatte, in die Synagoge der jüdischen Gemeinde einzu-dringen, wurde der Polizeischutz vor der Neuen Synagoge in Dresden erhöht. © picture alliance/dpa | Robert Michael

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Jüdische Gemeinden fühlen sich, wie der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Halle/Saale in Sachsen-Anhalt, von der Polizei teilweise nicht ernstgenommen. Was kann die Polizei tun, um an Vertrauen in den jüdischen Gemeinden zu gewinnen?

Der vermutlich wichtigste Punkt dafür ist eine stets offene, ehrliche und sach-liche Diskussion auf Augenhöhe. Nur so kann Vertrauen und gegenseitiges Verständnis wachsen. Obwohl die sächsische Polizei in Umfragen stets sehr hohe Vertrauenswerte aus der Bevölkerung attestiert bekommt, dürfen wir uns darauf nicht ausruhen. Wir müssen jeden Tag mit einer professionellen Polizeiarbeit für Vertrauen sorgen oder werben. Wenn die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Sachsen einen ähnlichen Eindruck hätten wie der oben beschriebene Vertreter aus unserem Nachbarland, wäre dies sehr bedauerlich und sollte in einem ersten Schritt offen angesprochen werden.

Welche Rolle spielt der Kampf gegen Antisemitismus in der Aus- und Fortbildung der Polizei?

Die politische Bildung nimmt innerhalb der Aus- und Fortbildung in der säch-sischen Polizei einen hohen Stellenwert ein und schließt sich nahtlos an die inzwischen verbesserte politische Bildung in der Schule an. Daneben nimmt die polizeiliche Bearbeitung und Verfolgung von jeder Art von Hasskriminali-tät ebenfalls einen großen Raum in der polizeilichen Bildung ein. Wenn dar-über hinaus zusätzliche Anforderungen von außen auf die Polizei einwirken, reagieren wir mit umfassenden internen Fortbildungsprogrammen für alle Kolleginnen und Kollegen. Zuletzt war dies der Fall, als die Polizei erhöhte Anforderungen im Bereich der interkulturellen Kompetenz beim Umgang mit Muslimen meistern musste. Ansonsten gehe ich davon aus, dass der Kampf gegen Antisemitismus nach dem Anschlag von Halle eine stärkere Beachtung in der gesamten Bildungsarbeit der Polizei finden wird.

Was wünschen Sie sich persönlich von der demokratischen Zivilgesell-schaft im Kampf gegen den erstarkenden Antisemitismus?

Ich wünsche mir, dass die Zivilgesellschaft in Sachsen es nicht nur bei den Lichterketten und Mahnwachen unmittelbar nach dem Anschlag von Halle bewenden lässt, sondern ganz klar jeden Tag lebt und kommuniziert, dass Antisemitismus nicht geduldet oder stillschweigend hingenommen wird.

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Anhang: Arbeitsdefinition von AntisemitismusInternational Holocaust Remembrance Alliance

Im Geiste der Stockholmer Erklärung, die ausführt: „Da die Menschheit noch immer von … Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit gezeichnet ist, trägt die Völkergemeinschaft eine hehre Verantwortung für die Bekämpfung dieser Übel“, hat der Ausschuss für Antisemitismus und Holocaustleugnung das IHRA-Plenum in Budapest 2015 aufgefordert, die nachstehende Arbeits-definition von Antisemitismus anzunehmen.

Am 26. Mai 2016 beschloss das Plenum in Bukarest die Annahme der nach-stehenden nicht rechtsverbindlichen Arbeitsdefinition von Antisemitismus:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht­jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.”

Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen:

Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht rich-tig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.

Der Bundestag beschloss im September 2017, sich der internatio-na len Definition von Anti semitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) anzuschließen. Die Verabschiedung der Arbeitsdefinition – die zwar keine rechtliche Bindungskraft, aber einen starken symbolischen Charakter hat – geht auf eine deutsch-rumänische Initiative zurück. Die Arbeitsdefinition soll u.a. ein Vorbild für entsprechende Bildungsinhalte in der Erwachsenen- sowie in der Kinder- und Jugendbildung sein.

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• den Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremis-tischen Religionsanschauung; die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung

• falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder ste-reotype Anschuldigungen gegen Juden oder die Macht der Juden als Kollektiv – insbesondere, aber nicht aus-schließlich Mythen über eine jüdische Weltverschwö-rung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutio-nen durch die Juden

• das Verantwortlichmachen der Juden als Volk für tat-sächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-Juden

• das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z. B. der Gaskammern) oder der Vor-sätzlichkeit des Völkermords an den Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unter-stützer und Komplizen während des Zweiten Welt-kriegs (Holocaust)

• den Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrie-ben darzustellen

• den Vorwurf gegenüber Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblichen weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer

• die Aberkennung des Rechts des jüdischen Volks auf Selbstbestimmung, z. B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen

• die Anwendung doppelter Standards, indem von Israel ein Verhalten gefordert wird, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird

• die Verwendung von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung ste-hen (z. B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben

• Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten

• das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel

Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berück-sichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne dar-auf beschränkt zu sein:

Antisemitische Taten sind Straftaten, wenn sie als solche vom Gesetz defi-niert sind (z. B. in einigen Ländern die Leugnung des Holocausts oder die Verbreitung antisemitischer Materialien).

Straftaten sind antisemitisch, wenn die Angriffsziele, seien es Personen oder Sachen – wie Gebäude, Schulen, Gebetsräume und Friedhöfe – deshalb aus-gewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Juden in Verbindung gebracht werden.

Antisemitische Diskriminierung besteht darin, dass Juden Möglichkeiten oder Leistungen vorenthalten werden, die anderen Menschen zur Verfü-gung stehen. Eine solche Diskriminierung ist in vielen Ländern verboten.

Mehr Informationen unter:

https://www.holocaustremembrance.com

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Unterstützen Sie Projekte gegen Antisemitismus und für Demokratie!

Die Amadeu Antonio Stiftung setzt sich für eine demokratische Zivilgesell-schaft ein, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Anti-semitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wendet. Hierfür fördert sie Initiativen überall in Deutschland, die sich in Jugendarbeit und Schule, im Opferschutz und der Opferhilfe, in kommunalen Netzwerken und anderen Bereichen engagieren.

Zu den mehr als 1.400 bereits unterstützten Projekten gehören zum Beispiel:

• das vom IIBSA e.V. organisierte bundesweite Arbeitstreffen zur Antisemi­tismusbekämpfung 2019, bei dem sich verschiedenste Akteursgruppen zur Erarbeitung gemeinsamer Strategien austauschten, u. a. mit Blick auf BDS, Hate Speech und antisemitische Veranstaltungen

• der Aufbau der Recherche­ und Informationsstelle Antisemitismus des vom RIAS e.V. neu gegründeten Bundesverbands

• das Projekt des Rabulo e.V. zur Erarbeitung pädagogischer Konzepte zur Prävention von Antisemitismus im 21. Jahrhundert für Projektwochen in Schulen und andere Bildungsorte

Die Stiftung ist nach Amadeu Antonio benannt, der 1990 von rechtsextremen Jugendlichen im brandenburgischen Eberswalde zu Tode geprügelt wurde, weil er schwarz war. Er war eines der ersten von heute fast 200 Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit dem Fall der Mauer.

Die Amadeu Antonio Stiftung wird unter anderem von der Freudenberg Stif-tung unterstützt und arbeitet eng mit ihr zusammen. Sie ist Mitglied im Bun-desverband Deutscher Stiftungen und hat die Selbstverpflichtung der Initia-tive Transparente Zivilgesellschaft unterzeichnet.

Kontakt

Amadeu Antonio StiftungNovalisstraße 12 10115 Berlin

Telefon: 030. 240 886 10 [email protected] www.amadeu-antonio-stiftung.de

facebook/AmadeuAntonioStiftung twitter.com/AmadeuAntonio

Spendenkonto

GLS Gemeinschaftsbank eG IBAN: DE32 4306 0967 6005 0000 00 SWIFT-BIC: GENODEM1GLS

Bitte geben Sie bei der Überweisung eine Adresse an, damit wir Ihnen eine Spenden- bescheinigung zuschicken können.

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Bundesweit nehmen antisemitische Vorfälle im Laufe der vergange-nen Jahre deutlich zu. Der Versuch des Attentäters vom 9. Oktober 2019, die Synagoge der jüdischen Gemeinde in Halle/Saale mit Waffen - gewalt zu stürmen und die Mitglieder der Gemeinde zu ermorden, markiert einen traurigen Höhepunkt der antisemitisch motivierten Gewalt. Der Vorfall zeigt: Antisemitismus ist auch mehr als 70 Jahre nach der Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden eine zen-trale Herausforderung unserer Gesellschaft.

Das vorliegende zivilgesellschaftliche Lagebild gibt exemplarische Einblicke in unterschiedliche Facetten des Antisemitismus im Bun-desland Sachsen. Im Fokus des Lagebildes stehen zivilgesellschaft-liche und explizit jüdische Perspektiven auf Antisemitismus – und Forderungen, die sich daraus für den Kampf gegen den erstarken-den Antisemitismus ableiten.