Zur Bedeutung von »Madrigal«: Der Begriff »Madrigal« ist ...za804/PDF/Intro-Villa-Lobos.pdf · Choro-Musiker Villa-Lobos nun „brasilianisierte“. Daher auch die doppelten Bezeichnungen

  • Upload
    lyngoc

  • View
    216

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Einfhrung

    Markus Sotirianos Der Heidelberger Madrigalchor ehrt mit dem heutigen Konzert den brasilianischen Kom-ponisten Heitor Villa-Lobos, der am 17. November 1959 also vor fast genau 50 Jahren im Alter von 72 Jahren verstarb. Villa-Lobos gilt als bedeutendster und erfolgreichster Komponist Lateinamerikas. Diese Stellung erreichte er zum einen durch sein umfangreiches Werk (etwa 2000 Kompositionen), in dem er auf vielfltige Weise europische Kunstmusik mit traditioneller brasilianischer Musik zu verbinden versuchte. Zum anderen wurde er durch seine einflussreiche Arbeit als Musikpdagoge und Direktor der staatlichen Behrde fr Musik-erziehung unter dem Regime von Getlio Vargas in den 30er und 40er Jahren bekannt. In dieser Zeit entwickelte er Konzepte zur musikalischen Bildung von Massen, und Ver-anstaltungen mit Beteiligung mehrerer zehntausend Chorsnger waren keine Seltenheit. Seine zunchst bescheidenen Erfolge waren das Ergebnis rastloser Arbeit, groer schpfer-ischer Energie und Beharrlichkeit. Dazu kam ein ausgeprgter Drang nach Eigenstndigkeit, der darin mndete, dass er seine Ausbildung am Nationalkonservatorium nicht abschloss, weil er sich kompositorischen Regeln nicht unterordnen wollte (Meine Harmonielehre ist die Landkarte Brasiliens). Damit einher ging ein Hang zur Selbstinszenierung, der es ihn mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen lie. So sind etliche angebliche Forschungsreisen zu wilden Indianerstmmen im Amazonasgebiet mit hoher Wahrscheinlichkeit frei erfunden ein Groteil des spter von ihm benutzten Original-Materials stammt aus fremden Forschungen, zu denen er erst bei seinen beiden Paris-Aufenthalten in den 20er Jahren Zugang hatte. Auch bei der Datierung einiger Kompositionen bestehen berechtigte Zweifel an den von Villa-Lobos gemachten Angaben. Als Brasilianer wird Villa-Lobos zum Teil noch heute als Exot innerhalb der abend-lndischen Musikkultur betrachtet. Villa-Lobos bediente dieses Bild zunchst bereitwillig, um sich zu etablieren, seine Wurzeln entsprachen dem Bild des Wilden aus dem Urwald aber nicht: Bereits sein Vater Raul, ein Bibliothekar, war leidenschaftlicher Musiker, fhrte den jungen Heitor in die Welt der italienischen Oper ein und lehrte ihn das Cellospiel. In seiner Geburtsstadt Rio de Janeiro zu dieser Zeit als Paris Sdamerikas bezeichnet kam er in Kontakt mit allen Formen und Epochen europischer Kunstmusik und hatte so Zugang zu Werken von Bach bis Debussy. Nach dem frhen Tod seines Vaters im Jahr 1899 musste er zum Unterhalt der Familie beitragen. Vor allem als Gitarrist in sogenannten Choroes, Ensembles fr Unterhaltungsmusik, verdiente er lange Zeit sein Geld. Hier lernte er die fhrenden brasilianischen Popularmusiker kennen. Seinen ersten groen Erfolg in Brasilien hatte Villa-Lobos im Jahr 1919: Anlsslich der Rckkehr von Staatsprsident Epitcio Pessoa nach der Pariser Konferenz wurde seine Sinfonie Der Krieg aufgefhrt und lste unbeschreiblichen Enthusiasmus im Publikum aus, wie die Kritiken berichten. Sptestens ab diesem Zeitpunkt war er eine etablierte Gre im brasilianischen Konzertbetrieb.

  • Die Woche der modernen Kunst in So Paolo 1922 gilt als die Geburtsstunde des Modernismo der jungen Republik Brasilien, die sich nach den Wirren des 1. Weltkriegs von den Fesseln der Kolonialzeit zu befreien begann. Die brasilianische Gesellschaft besann sich auf ihre ethnischen Wurzeln Indianervlker wie die Tupi, Nachfahren der europischen Kolonialherren und in die Freiheit entlassene ehemalige Sklaven afrikanischer Herkunft bildeten nun eine gemeinsame Nation. Bei diesem Knstlertreffen lernte Villa-Lobos den Schriftsteller Mario de Andrade kennen, mit dem ihn zunchst eine tiefe Freundschaft verband. Lob und Kritik an Villa-Lobos brachte de Andrade so auf den Punkt: Was Villa-Lobos immer wieder Steine auf den Weg legt, ist sein phantastischer Mangel an intellektueller Organisation. Sein Kopf ist vollgestopft mit kaum verdauten Lehrstzen, mit enormen Lcken in der Bildung, sogar in der musikalischen, die ihm eine sichere sthetische Sicht des Augenblicks ebenso unmglich machen, wie den Blick auf sein eigenes Werk. Ohne jeden Zweifel ist er der 'genialste' unserer Musiker, derjenige, der die strksten, originellsten Einflle hat, von einer freien und khnen Brasilianitt, doch erschpfen sich seine Verdienste zumeist in diesen Einfllen. Die Begegnungen mit den franzsischen Komponisten Darius Milhaud (1917) und dem polnischen Pianisten Arthur Rubinstein (1922) sollten ihm schlielich den Weg nach Europa ebnen: Im Jahr 1922 besuchte er zum ersten Mal Paris und lernte durch die Vermittlung Rubinsteins fhrende Knstler wie Jean Cocteau, Erik Satie, Pablo Picasso und Igor Stravinsky kennen. Seine durch brasilianische Freunde und Gnner bereit gestellten finanziellen Mittel gingen jedoch schnell zur Neige, und so musste er bald wieder in seine Heimat zurck. Seinen zweiten Parisaufenthalt 1928 verdankte er erneut Artur Rubinstein. Dieser fand in Carlos Guinle einen Mzen fr Villa-Lobos die Finanzierung fr zwei Jahre in Paris war gesichert. Bei seinem ersten Aufenthalt hatte er noch als ein Komponist unter vielen gegolten, die sich an den franzsischen Impressionisten orientierten. In Rio galten Ravel und Debussy als modern, in Paris wurden sie schon zu den Klassikern gezhlt. Der Durchbruch gelang Villa-Lobos bei seinem zweiten Aufenthalt, indem er den Drang des Pariser Publikums nach neuen exotischen Einflssen bediente. Sein Orchesterwerk Amazonas, in dem eine Vielzahl brasilianischer Perkussionsinstrumente zum Einsatz kommen und neue, dem Publikum unbekannte Klnge zu hren waren, wurde ein groer Erfolg. Von da an war Villa-Lobos im Pariser Musikleben etabliert. Doch trotz seines Erfolges blieb seine finanzielle Lage angespannt. In Brasilien wurden die neuen Kompositionen nach seiner erneuten Rckkehr zunchst mit Skepsis aufgenommen. Rio wirkte auf ihn provinziell und erstarrt vor allem unter dem Eindruck der Groen Depression, die auch ihn erfasste. Die Auswirkungen der Krise auf die Kaffee-Industrie waren fr die Bevlkerung verheerend. In dieser finanziell angespannten Situation unterbreitete er dem Kultursekretariat von So Paolo sein pdagogisches Projekt: Sein Ziel war, eine niveauvolle Musikerziehung im brasilianischen Erziehungssystem einzurichten. Nach dem Putsch von Getlio Vargas wurde dieses Projekt tatschlich bernommen und Villa-Lobos zum Direktor der Superintendncia de Educao Musical e Artstica (Staatliche Behrde fr Musik- und Kunsterziehung) ernannt. Es folgten nun Reisen durch das ganze Land, um den Menschen brasilianisch-nationale Musik

  • nher zu bringen. Die Groveranstaltungen untersttzten die nationalistische Propaganda des Vargas-Regimes. Damit war Villa-Lobos frei von allen finanziellen Sorgen und gleichsam die musikalische berinstanz Brasiliens. Als Botschafter der brasilianischen Kultur bereiste er zu dieser Zeit mehrere europische Stdte und war damit auf dem Hhepunkt seiner Laufbahn angelangt. Mit dem Sturz des Vargas-Regimes im Oktober 1945 endete auch seine Aufgabe als staatlicher Kulturfunktionr. In der Folgezeit nahm Villa-Lobos Einladungen zu mehreren Reisen in die USA und nach Europa an und konzertierte mit fhrenden Orchestern, z.B. in New York. Er blieb bis zu seinem Lebensende der Referenzpunkt fr brasilianische Komponisten und Musik. Im November 1959 erlag er in seiner Heimatstadt seinem langjhrigen Krebsleiden. Villa-Lobos' Leistung ist es, durch europische Einflsse zu brasilianischen Inhalten gekommen zu sein. Er erschuf und vollendete einen brasilianischen Nationalstil, der bezeichnenderweise in Europas Kulturmetropole Paris seinen durchschlagenden Erfolg hatte. Zu den Werken Das AVE MARIA (1938) wurde gemeinsam mit PANIS ANGELICUS und PRAESEPE (1950) in die Sammlung Musica Sacra aufgenommen, die 1952 erschien. Im Original sind diese Werke in portugiesischer Sprache geschrieben, werden aber ebenso mit lateinischem Text aufgefhrt. Die Textvorlage des PANIS ANGELICUS geht auf Thomas von Aquin (1264) zurck. In den solistischen Teilen des PRAESEPE begleitet der Chor den Mezzosopran summend oder auf Vokalisen und bernimmt nur in den Zwischenteilen den Text. In den 40er Jahren schrieb Villa-Lobos die Sammlung der 5 PRELUDES, aus denen im Konzert die ersten vier erklingen. Ein sechstes Prludium soll whrend des spanischen Brgerkriegs verloren gegangen sein, als eine Bombe das Haus des Gitarristen Andrs Segovia traf. Alle Prludien sind Widmungen an bestimmte Charakterfiguren: So ist das erste mit seiner eingngigen lyrischen Melodie als Homenagem ao seranejo brasileiro (Hommage an den brasilianischen Landbewohner) betitelt, das zweite huldigt dem Malandro carioca, dem grostdtisch-schlitzohrigen Lebensknstler. Das dritte zentrale Prludium ist Johann Sebastian Bach gewidmet, der fr Villa-Lobos der Begrnder der Gattung des Prludiums war. Im vierten Prludium, das auf einem einzigen Motiv aufgebaut ist und wie ein Wiegenlied wirkt, wird der brasilianischen Indianer gedacht. In den DUAS LENDAS AMERINDIAS EM NHEENGATU (Zwei indianische Legenden in der Nheengatu-Sprache) werden zwei Geschichten um Iurupari, einen Buschgeist, vertont. Dieser von den Indianern gefrchtete Dmon, der von den christlichen Missionaren dem Teufel gleichgesetzt wurde, verwirrt die menschliche Sinneswahrnehmung. Iurupari soll des Nachts, als eine Mutter mit ihrem Kind in einer Hngematte schlief, das Kind aus ihren Armen neben die Hngematte gesetzt haben. Als das Kind die Mutter weckte, weil der Iurupari da sei, bekam es Prgel, worauf sich der Iurupari zeigte und schelmisch lachend floh mit den Worten: Ich habe euch getuscht Die kurzen Rufe Manha (sprich: Manja) zunchst in den Mnnerstimmen bedeuten Mutter in der Nheengatu-Sprache. In der zweiten Legende begegnen wir einer Tuschung Iuruparis mit tragischem Ausgang: auf seinem Streifzug durch den Dschungel erlegt ein Jger ein Rehkitz und dessen Mutter. Als er sich der Hirschkuh nhert

  • erkennt er seine eigene Mutter, die vom Iurupari verwandelt wurde. Hierin wird die Unterlegenheit des Menschen gegenber den Geistern und Krften der Natur deutlich. Ein frheres Werk die ersten vier Stze wurden in den Jahren 1908 bis 1912 geschrieben ist die SUITE POPULAR BRASILEIRA, die ein Tribut an die europischen Salontnze war und die der Choro-Musiker Villa-Lobos nun brasilianisierte. Daher auch die doppelten Bezeichnungen wie Valsa-Choro (Walzer). Der letzte Satz Chorinho (kleiner Choro) der insgesamt fnfstzigen Sammlung wurde 1923 in Paris hinzugefgt und das Werk als erste Arbeit von Villa-Lobos dem Verleger Max Eschig angeboten. Im Konzert erklingen der Valsa-Choro und der Gavota-Choro. Mit dem CHOROS NR. 1 erffnete Villa-Lobos 1921 eine Serie von unterschiedlich besetzen Werken. In diesen 14 Werken werden alle relevanten Stilelemente und Formen brasilianischer Musik in einer Synthese dargestellt: Eine Kombination aus indianischer Musik (msica amerndia), stdtischer populrer Choro-Musik und klassischer Musik (msica erudita). Das erste Stck ist eine Hommage an seine frheren Choroes-Mitmusiker, vor allem an den Gitarristen Ernesto Nazareth. Es ist das am hufigsten aufgefhrte und eingespielte Werk von Villa-Lobos und existiert auch in mehreren Bearbeitungen fr andere Besetzungen. Mit seinem impressionistischen Beginn wirkt DISTRIBUIO DE FLORES (Verteilung der Blumen) fr Flte und Gitarre von 1937 wie die brasilianische Kammermusik-Version von Debussys Prlude l'aprs-midi d'un faune. Es ist eine Liebeserklrung an Villa-Lobos' zweite Ehefrau Arminda. Die ETDE NR. 8 ist Bestandteil eines zwlfstzigen hoch anspruchsvollen Lehrwerks und entstand 1929 in Paris auf Bitten des Gitarristen Andrs Segovia. Die melancholisch-impressionistische Melodie wird durch chromatische Bewegungen und berraschende harmonische Wendungen angereichert. Als Modinha wird ein lyrisches Lied bezeichnet, das seinen Platz im grostdtischen Umfeld hat und hfischen Ursprungs ist. Meist wird es als Kinder- oder Wiegenlied benutzt. Villa-Lobos bezeichnete einen an Schumanns Kinderszenen angelehnten Zyklus als Modinhas e Canes (Modinhas und Lieder). Das Kunstlied MODINHA aus dem Zyklus Serestas wurde vom Dichter Manuel Bandeira direkt auf die Melodie textiert, ist also keine Vertonung eines vorliegenden lyrischen Texts. Die BACHIANAS BRASILEIRAS NR. 5 sind wohl Villa-Lobos' populrstes Werk berhaupt vor allem wegen des ersten ARIA-Satzes. Das Stck mit seiner ursprnglichen Besetzung Sopran und acht Celli wurde von Villa-Lobos selbst fr Sopran und Gitarre umarrangiert. Die Pizzicati zu Beginn erinnern an den Klang des barocken Cembalos. Der Text von Ruth Valdares Correia mit seinen Vokalisen zu Beginn wird wegen dem Klang der Sprache eher als wegen seiner Aussage verwendet. Das sechsstzige BENDITA SABEDORIA und das MAGNIFICAT-ALLELUIA entstanden im Jahr vor seinem Tod und sind der spirituelle Ausklang seines Werkes. Das erste Werk wurde im Dezember 1958 an der New Yorker Universitt zur Verleihung der Ehrendoktorwrde an Villa-Lobos uraufgefhrt. Das zweite, komponiert fr Solostimme, Chor und Orchester, war

  • eine Auftragskomposition des Erzbischofs von Mailand zum Lourdes-Jahr. Beide Kompositionen sind als reife Alterswerke frei von explizit brasilianischen Effekten. Literatur: Manuel Negwer: Villa-Lobos Der Aufbruch der brasilianischen Musik. Schott 2008.