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ORIENTIERUNGEN 118 ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK Der Staat als Retter Neu aufkeimende Staatsgläubigkeit? Sachverständigenrat Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken Ethisches Investment Ein Plädoyer Soziale Marktwirtschaft Gebrochenes Politikversprechen Europäische Union Agrar- und Handelspolitik Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik 2008 LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN Dezember 2008

ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK 118 · 2016-06-29 · Der Keynesianismus hat die von ihm geweckten Erwartungen nie erfüllen können. Es ist eben kein Verlass auf einen

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Page 1: ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK 118 · 2016-06-29 · Der Keynesianismus hat die von ihm geweckten Erwartungen nie erfüllen können. Es ist eben kein Verlass auf einen

ORIENTIERUNGEN

118ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK

Der Staat als RetterNeu aufkeimende Staatsgläubigkeit?

SachverständigenratFinanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken

Ethisches InvestmentEin Plädoyer

Soziale MarktwirtschaftGebrochenes Politikversprechen

Europäische UnionAgrar- und Handelspolitik

Ludwig-Erhard-Preisfür Wirtschaftspublizistik 2008

LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN

D e z e m b e r 2 0 0 8

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Ordnungspolitische Positionen � Der Staat als Retter

Juergen B. Donges Zuflucht beim Staat: Der falsche Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Michael von Prollius Der Staat nährt den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Max Otte Für einen starken, schlanken Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Hubertus Schmoldt Aus der Krise lernen: Plädoyer für eine sinnvolle Regulierung . . . . . . . . 11

Bernhard Emunds Wenn er stark ist, ist er schwach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Markus Stahl/Joachim Starbatty Nebenwirkungen von Rettungspaketen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Roland Vaubel Die Finanzmarktkrise beruht nicht auf einem Systemfehler . . . . . . . . . . 21

Otto Fricke Wie viel Staat ist gut für einen guten Staat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Aktuelle Wirtschaftspolitik �

Peter Westerheide Jahresgutachten des Sachverständigenrates:„Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken“ . . . . . . . . . . . . . . 26

Matthias Leder Auswege aus der Finanzkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Fragen der Wirtschaftsordnung �

Gerhard Scherhorn Ein Plädoyer für die Berücksichtigung ethischer Aspekte bei der Geldanlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

Manfred E. Streit Soziale Marktwirtschaft: Ein gebrochenes Politikversprechen . . . . . . . . . 47

Europäische Perspektiven �

Dieter Kirschke/ Agrarpolitik in der Europäischen Union:Astrid Häger Abkehr vom Protektionismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Bianka Dettmer/Fredrik Eine neue Verhandlungsbasis Erixon/Andreas Freytag für die europäisch-chinesische Handelsbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Buchbesprechung �

Horst Friedrich Wünsche Zu einem Buch von Reinhard Marx:Das Kapital – Post für Karl Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik 2008 �

Peter Gillies Laudationes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II

Thomas Schmid Das Unbehagen an der Freiheit – Warum die beste aller Welten als eine schlechte Welt gilt . . . . . . . . . . . . VI

Roland Tichy Wer oder was zwingt Journalisten in den Meinungs-Mainstream? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XII

Dem Heft liegt das Register für die Orientierungen 115 –118 bei.

� Inhalt

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Editorial

1Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Keynes bleibt in der Bibliothek der Ökonomen

Sind wir nun wieder „alle Keynesianer“? In den fünfziger und sechziger Jah-ren des vorigen Jahrhunderts haben sich nicht wenige Ökonomen – sich undihre Disziplin wohl auch absichtsvoll ein wenig karikierend – so in die damalsjüngste Dogmengeschichte eingeordnet. Und der Einfluss von John MaynardKeynes war in der Tat mit Händen zu greifen. Ist jetzt unter dem Eindruck desSchockerlebnisses der Finanzkrise mit anschließender Weltrezession eine Re-naissance des Keynesianismus fällig? Das ist nicht zu erwarten. Und bei allenVerdiensten, die sich für die Ausbildung von Ökonomen eine makroökono-misch fundierte Kreislauftheorie an ihre Gleichungen heften kann: Es wäreauch nicht zu hoffen.

In der Version „Wir sind alle ein wenig auch Keynesianer“ wäre der Bedeu-tung des britischen Ökonomen heute noch durchaus Rechnung zu tragen.Kreislauftheorie als formale Disziplin hat noch keinem jungen Ökonomen ge-schadet. Aber die politische Rolle des Staates im keynesianischen System istnicht nur tendenziell anti-liberal. Sie ist auch irreführend. Der Keynesianismushat die von ihm geweckten Erwartungen nie erfüllen können. Es ist eben keinVerlass auf einen Wohlfahrtsgewinn aus der Dominanz des Staates in der Ge-staltung des Wirtschaftskreislaufs. Schon die Idee, ökonomische Wohlfahrtlasse sich im Kreislaufschema gewinnen, ist irreführend. Sie lässt sich im Kreis-laufschema darstellen. Aber sie kommt aus den Bemühungen der Arbeit undaus der Kraft des Kapitals. Daraus kommt sie aber nur, wenn sich beide Pro-duktionsfaktoren am Markt im Wettbewerb zueinander und jeweils unterei -nander zu bewähren haben. Der Kreislauf schafft nichts; er stellt dar.

Das ist zu bedenken, wenn jetzt dafür geworben wird, sich des keynesianischenParadigmas zu erinnern, um die von der Finanzkrise ramponierte Realwirt-schaft wieder in Schwung zu bringen. Von einem negativen Haushaltssaldofür sich genommen geht noch keine Kraft aus. Es kommt darauf an, wofür derHaushaltssaldo steht: für allerlei spezifische „Förderungen“ beginnend beimabgasarmen Auto und noch nicht endend beim wärmedämmenden Bunga-lowdach oder für allgemeine Steuersenkungen zur Ermunterung von Investi-tionen und Käufen der Firmen und Bürger je nach ihren individuellen Wün-schen und Markteinschätzungen.

Ja, es liegt bis in diese Tage hinein ein Hauch von Keynesianismus über einerFiskalpolitik, die höhere Defizite in Kauf nimmt. Für die Dynamik der Wirt-schaft bewirkt ein Defizit aber nur dann etwas, wenn es Unternehmen und Bür-gern überlassen bleibt, einen durch Steuersenkung gewonnenen Spielraumnach ihren eigenen Wünschen und Erwartungen zu nutzen. Nur dann eröff-net sich der Ausblick auf höhere Wachstumsraten, aus denen sich die Chanceder baldigen Rückkehr zum Haushaltsausgleich aus dann wieder höherenSteuereinnahmen ergeben mag. Das macht den Unterschied aus zwischen ei-nem keynesianischen Defizit des bis in die Einkommensverwendung planen-den Staates und einem neoklassischen Defizit als Gegenbuchung der Ausga-bensouveränität des Bürgers.

Hans D. Barbier

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Ordnungspolitische Positionen

2 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Zuflucht beim Staat:Der falsche WegProf. Dr. Juergen B. DongesInstitut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln

� Die weltweite Finanzmarktkrise, die auch Deutschland seit dem Beinahe-Zu-sammenbruch der Industriebank IKB im Herbst 2007 in Atem hält, hat das Ver-trauen der Menschen in die marktwirtschaftliche Ordnung untergraben. Land-auf, landab ist von Marktversagen die Rede. Die Selbstheilungskräfte im Wirt-schaftssystem gelten als zu schwach, um die Probleme an den Finanzmärktenzu beheben und um auf Dauer eine hohe gesamtwirtschaftliche Dynamik zu si-chern. Die Hoffnung vieler Bürger ist jetzt, dass ein starker Staat als der besse-re Sachwalter ihrer Interessen künftig wieder mehr in das Wirtschaftsgesche-hen eingreifen werde. Dass dies gesamtwirtschaftliche Kosten hat, die alles an-dere als unerheblich sind, interessiert kaum jemanden.

Die Finanzkrise – Wasser auf die Mühlen der Marktgegner

Das passt zum Zeitgeist. Schon seit geraumer Zeit bekunden repräsentativeUmfragen, dass die Zustimmung der Bevölkerung zur Sozialen Marktwirtschaftzurückgegangen ist und inzwischen nur noch bei knapp über 50 Prozent liegt.Neuerdings spricht sich eine Mehrheit der Deutschen für die Teilverstaatli-chung strategisch wichtiger Unternehmen aus, um sich vor Übernahmendurch ausländische Investoren zu schützen; unerwünscht sind insbesonderedie Staatsfonds aus den Schwellenländern, die durch die jüngste Novellierungdes Außenwirtschaftsgesetzes vom deutschen Markt ferngehalten werden sol-len. Die Kritiker der Marktwirtschaft lasten dem System an, dass zu viel Ar-beitslosigkeit besteht, zu viel Inflation, zu viel Einkommensungleichheit, zu vielArmut. Gezielt wird von den eigentlichen – in zahlreichen empirischen Unter-suchungen aufgedeckten – Ursachen für diese Probleme abgelenkt.

Das Debakel an der Wall Street ist Wasser auf die Mühlen der Marktgegner. DieBefürworter von branchenweiten gesetzlichen Mindestlöhnen tragen ihr An-liegen jetzt nachhaltiger vor, die Gegner der Teilprivatisierung der DeutschenBahn ebenfalls. Oberwasser haben auch diejenigen Politiker und Gewerk-schaftsvertreter, die mit der Agenda 2010 von Anfang an über Kreuz lagen; siefühlen sich darin bestätigt, dass sie schon seit Längerem ein Ende der Struk-turreformen – besser: ein Zurückdrehen derselben – für geboten gehalten ha-

Der Staat als Retter

Die Bürgschaften und Kapitalhilfen der Bundesregierung zur Rettung angeschlagener Banken

scheinen den Boden für neu aufkeimende Staatsgläubigkeit bereitet zu haben. Ist das

Schwarzmalerei, oder ist wirklich damit zu rechnen, dass sich Unternehmen und Bürger künf-

tig stärker auf den Staat als Nothelfer verlassen? Wissenschaftler, Politiker und Praktiker neh-

men zu dieser Frage Stellung.

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Der Staat als Retter

3Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

ben, zum Beispiel bei den Hartz-IV-Leistungen, beim Kündigungsschutz aufdem Arbeitsmarkt, bei der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung oder beider Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Zudem werden jetzt alleMöglichkeiten ausgeschöpft, um Arbeitskräften aus mittel- und osteuropäi-schen EU-Ländern die Zuwanderung nach Deutschland zu verbauen.

Dass gleichzeitig einer aktiven staatlichen Konjunkturpolitik das Wort geredetwird, verwundert dann auch nicht mehr. Die Bundesregierung findet es gut,die Binnennachfrage mit verschiedenen branchenspezifischen Maßnahmenanzustoßen; ungeprüft geblieben ist, ob solche Maßnahmen überhaupt die an-gestrebten Anstoßeffekte entfalten werden und ob es nicht ausgereicht hätte,die Wirtschaftsaktivität durch Hinnahme konjunkturbedingter Haushaltsdefi-zite zu stützen („automatische Stabilisatoren“).

Regulierungsversagen: Nachlässige Bankenaufsicht

Bei der neuen Staatsgläubigkeit wird allzu schnell verdrängt, dass der Staat sel-ber der Finanzmarktkrise den Boden bereitet hat. Speziell in den VereinigtenStaaten ist es zu einem Staatsversagen gekommen, weil die Notenbank eineüberzogene Niedrigzinspolitik betrieben hat und die Regierung an der jahr-zehntelangen Tradition festhielt, einkommensschwachen Bürgern zu Wohnei-gentum zu verhelfen und dazu faktisch für deren Hypotheken zu bürgen.

Außerdem hat es in den meisten Industrieländern, auch hierzulande, ein Re-gulierungsversagen gegeben: durch Nachlässigkeiten in der praktiziertenBankenaufsicht. In Deutschland hat sich dies auch und gerade bei verschiede-nen öffentlichen Banken negativ bemerkbar gemacht – in Verbindung mit ei-ner offenkundig fehlenden Finanzkompetenz einzelner Aufsichtsräte (Politi-ker, Ministerialbeamte, Verbandsvertreter). Dass Staatsversagen die Menschennicht erzürnt, trägt etwas vom Irrationalen in sich.

Besonders gut kommt der Staat als „Retter in der Not“ an. Die Staatsgarantiefür Spareinlagen, von der Bundeskanzlerin öffentlich am 5. Oktober diesesJahres abgegeben, und das anschließend vom Gesetzgeber auf Vorschlag derBundesregierung verabschiedete staatliche Rettungspaket mit Garantie-, Li-quiditäts- und Kapitalhilfen für das Bankensystem sind auf breite Zustimmunggestoßen. Reflexionen über etwaige Schwachstellen gelten als kleinlich.

Und dennoch sind sie nötig: Der Staat könnte im Ernstfall gar nicht alle Spar-einlagen der Privaten garantieren; das würde bis zu 1,2 Billionen Euro kostenkönnen, sprich 49,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 2007. Und auchwenn der Staat nur mit einem geringeren Betrag ins Obligo geriete, müsste erdie Steuern kräftig erhöhen oder Ausgaben merklich senken. Infolgedessenwürden die privaten Sparer selber für ihre Einlagen geradestehen. Die Garan-tiezusage, die rechtlich unverbindlich ist, mag das geeignete Mittel gewesensein, um verängstigte Bürger zu beruhigen. Aber glauben sollte man dem Staatnicht alles, was er verspricht.

Offene Märkte und Wettbewerb:Leitbild in einer freien Gesellschaft

Das 500 Milliarden Euro schwere Rettungspaket für den Bankenbereich warwohl notwendig, um Schlimmeres zu verhindern. In anderen Ländern wurdeähnlich verfahren, nachdem die Vereinigten Staaten mit dem nach dem US-Fi-

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Ordnungspolitische Positionen

4 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

nanzminister Henry Paulson benannten Paulson-Plan den Anfang gemacht hat-ten. Mit dem Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers am 15. Septem-ber dieses Jahres war das systemische Risiko nochmals sprunghaft gestiegen. Al-lein mit kräftigen Liquiditätsspritzen der Notenbanken samt Leitzinssenkun-gen hatten sich, so die über ein Jahr lang gemachte Erfahrung, der Interbanken -markt – auf dem Geschäfte des Geld- und Kreditverkehrs zwischen Banken ge-tätigt werden – und die Kreditversorgung der Wirtschaft nicht normalisierenlassen.

Doch auch dieser Staatseingriff wirft ernste Fragen auf: Wird der Staat die Ban-ken, deren Eigenkapital er jetzt aufbessert, später sobald wie möglich repriva-tisieren? Wie intensiv und nach welchen Kriterien wird der Staat in die Ge-schäftspolitik der unterstützten Banken eingreifen? Welche Risiken bestehen,dass in Zukunft Banken und Anleger sich fehlverhalten und im Schadensfallauf öffentliche Hilfen setzen? Was wird aus dem einstigen haushaltspolitischenZiel der Bundesregierung, ab dem Jahr 2011 ohne Neuverschuldung auskom-men zu wollen?

Jede Krise geht einmal zu Ende, auch diese. Dann wird sich zeigen, ob beimStaat die ordnungspolitische Vernunft obsiegt oder ob sich ein Neointerven-tionismus breitmacht. Fatal wäre Nachgiebigkeit gegenüber partikularen Inte -ressengruppen, wenn die einen Importschutz vor Anbietern aus Niedriglohn-ländern fordern, die anderen neue Subventionen herausholen wollen undwiederum andere spezielle staatliche Marktregulierungen zu ihren Gunsten zuerwirken trachten. Dadurch würde der wachstumsnotwendige Strukturwandelbehindert und das Entstehen neuer, rentabler Arbeitsplätze erschwert. Offen-heit der Märkte (auch der Kapitalmärkte) und Wettbewerb (auch der Wettbe-werb aus dem Ausland) sind in einer freien Gesellschaft das bessere Leitbild.Dem Staat die Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung anzuvertrauen, dasmüsste schon wegen des Hayekschen Informationsproblems – Anmaßung vonWissen – in die Irre führen. �

Der Staat nährt den StaatDr. Michael von ProlliusPublizist und Referent für Wirtschaftspolitik

� „Der Staat ist die große Fiktion, durch die jedermann auf Kosten von jeder-mann leben möchte.“ So lautet das Diktum des französischen PublizistenFrédéric Bastiat Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Erkenntnis ist zu Beginn des21. Jahrhunderts brandaktuell, beschreibt sie doch das Wesen des demokrati-schen Wohlfahrtsstaates und die Perspektive der aktuellen Wirtschaftskrise.

Noch 2003 schienen Umfrageergebnisse mit einigem Wohlwollen die Progno-se zu erlauben, der Wert der Freiheit werde im Verhältnis zur Gleichheit in dennächsten Jahrzehnten erhebliches Gewicht gewinnen. Tatsächlich ist das Anse-hen der Marktwirtschaft unübersehbar beschädigt. Einer weiteren Umfragedes Allensbacher Instituts vom Juni 2008 zufolge bilden die Befürworter derMarktwirtschaft eine Minderheit, während Sozialismus als konkurrenzfähigeAlternative wahrgenommen wird. Nur 25 Prozent sind der Ansicht, Märktekönnten die Wirtschaft besser steuern als der Staat, während 50 Prozent glau-ben, in der Wirtschaft regiere nur noch der Markt und der soziale Ausgleich

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Der Staat als Retter

5Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

bleibe auf der Strecke. Der Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel hat denverbreiteten Wunsch nach Sicherheit, Versorgung und mehr Freizeit zur The-se des „programmierten Stillstands“ zugespitzt.

Sehnsucht nach Stabilität und Überschaubarkeit

Selbst „alte Medien“ wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die NeueZürcher Zeitung reden massiv dem Staat als Retter in der Krise das Wort. An-geblich würden die Märkte den Staat herbeisehnen, der den Banker „gebenmüsse“. Zugleich protestierten aber Zehntausende US-Amerikaner bei ihrenAbgeordneten gegen die als Rettungsplan bezeichnete Umverteilung in Höhevon 700 Milliarden US-Dollar. Wie bereits in der Weltwirtschaftskrise der1930er Jahre wird die Legende vom Versagen des Kapitalismus gestrickt. Fürviele Beobachter konnten die Regierungen Europas und der USA überra-schend schnell ihr Terrain ausweiten, indem sie Finanzinstitute sozialisiert undeine Umverteilung vom Steuerzahler zu am Markt gescheiterten Unterneh-men in Höhe von Hunderten Milliarden Euro organisiert haben. Nun werdenKonjunkturprogramme aufgelegt. Sie treiben die Politisierung der Wirtschaftweiter. Ihre Urheber ignorieren erneut, dass nicht Konsum, sondern Sparenund Investitionen, also Kapital, Quelle von Wohlstand und Wachstum sind.

Politik und Medien müssen sich fragen lassen: Wie kann es sein, dass eine der-artige Asymmetrie zwischen vermeintlich destabilisierender Wirtschaft und an-geblich stabilisierender Politik besteht? Wer argumentiert, Politiker seien all-wissend und handelten Gemeinwohl fördernd, muss dies auch den Marktak-teuren unterstellen. Indes kommt die aktuelle Sehnsucht nach Stabilität undÜberschaubarkeit nicht von ungefähr: Die Unsicherheit der Märkte durch ei-nen zentralen Plan zu ersetzen, ist ein wichtiges Anliegen des Sozialismus. Andie Stelle von Spekulation und dem ewigen Erraten der Konsumentenwünschesowie der Irritationen durch das Verhalten der Wettbewerber soll jeder seineRolle gemäß einem Regierungsplan spielen, geleitet von der sichtbaren Handdes Staates. Auf diese Weise könnten zugleich das konjunkturelle Auf und Absowie die ungerechte ungleiche Einkommensverteilung beseitigt werden.

Die Erfahrung lehrt, dass infolge derartiger Umwälzungen die Individuennicht nur ihre Freiheit verlieren, sondern vielfach auch ihr Leben (Don Bou-dreaux). Heute vertritt zwar kaum eine ernsthafte Gruppe einen echten Sozia-lismus. Gleichwohl hat dessen milde Variante in weiten Teilen Europas unter-nehmerische Energien ausgetrocknet und die Freiheit der Bürger im Namendes bürokratischen Wohlfahrtsstaates erheblich beschnitten.

Ein Beamtenstaat ist das Gegenmodell zur freien Gesellschaft

Seit Jahren begegnet uns in Politik und Gesellschaft das Ideal des fürsorglichenStaates. Der Staat, das sind Politiker, Bürokraten und organisierte Interessen-gruppen, die häufig ihre persönlichen Ziele auch oder gerade auf Kosten an-derer verfolgen. Mangels Erfolg auf Märkten mobilisieren sie die Staatsmacht.Erneut leitet Politikmanager und Mainstream-Medien ein Gedanke: Wirtschaftund Gesellschaft seien eine Sozialmaschine, die man steuern könne, um be-stimmte Ziele und ununterbrochenes Wachstum zu erreichen. Diese Ideologieist die Ursache nahezu aller unserer Ordnungsprobleme. Der Versuch, dieSteuerung des Marktes durch Politik und Bürokratie zu ersetzen, ist von A bisZ gescheitert, beispielsweise auf dem Agrarmarkt, dem Arbeitsmarkt, im Bil-

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Ordnungspolitische Positionen

6 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

dungswesen und im Gesundheitswesen. Propagiert wird häufig das äußerst sel-tene Marktversagen.

Die Umverteilung des Staates nährt den Wunsch nach weiterer Umverteilung.Wen wundert es, dass die Einkommensverwendung sozialisiert wird, wenn jede„Leistung“ des Staates auf einem Verzicht des Volkes beruht? Steuern, Abgabenund Gebühren lassen in der Regel weniger als die Hälfte des Arbeitsentgeltsbeim Bürger. Wilhelm Röpke nannte dies den „Taschengeldstaat“ mit dem Bürgerals Bittsteller. Nicht nur das Privateigentum, sondern auch die Vertragsfreiheitwird immer weiter eingeschränkt, zuletzt durch eine euphemistisch als „Allge-meines Gleichbehandlungsgesetz“ bezeichnete ideologische Regulierung. Zu-gleich sozialisiert die Familienpolitik die Kosten und zerstört den Generatio-nenvertrag der Familie. Das vermeintliche Familienministerium entpuppt sichbereits bei einem Blick auf die Homepage als „Gender-Ministerium“. Leider bil-den die Medien den Transmissionsriemen zur Masse der Transferempfänger.

Die stetig zunehmende politische Regelung unseres Lebens ist Ausdruck derordnungspolitischen Logik des demokratischen Wohlfahrtsstaates. Der Wohl-fahrtsstaat ist eine geniale Idee, die Bürger mit ihrem eigenen Geld vom Staatabhängig zu machen. Das Ideal der Gleichheit, das hinter dem Wohlfahrtsstaatsteht, kann letztlich nur durch einen totalen Zugriff auf das Vermögen des Vol-kes und seine Verteilung erreicht werden. Bereits jetzt erstreckt sich der Ein-griff des Staates auf alle Lebensgebiete – von der Säuglingsanfangsnahrung biszur Friedhofssatzung – und spart nicht einmal mehr das Bankgeheimnis aus.Deutschland befindet sich im „Paragraphenrausch“ (Wieland Kurzka): EinDurchschnittsbürger muss heute über 80 000 Bestimmungen beachten. Bereits1944 zeigte Ludwig von Mises, dass wachsende Bürokratie und staatliche Um-verteilung unauflösbar miteinander verbunden sind. Der Beamtenstaat ist dasGegenmodell einer freien Gesellschaft und mit dieser unvereinbar. Für Frei-heit, Markt und Selbstverantwortung ist hier kein Platz.

Banker, Versicherer und Autobauer: Politisch geschützte Subventionsempfänger

Angesichts der Fülle hausgemachter ordnungspolitischer Probleme, von den so-zialen Sicherungssystemen über die Massenarbeitslosigkeit bis zur überborden-den Staatsverschuldung, hat der Staat eine schlechte Bewerbung für die Lösungder aktuellen Wirtschaftskrise abgegeben. Überdies hat erst das staatliche Geld-monopol mit der behördlichen Festsetzung des Preises für Geld über den Zent -ralbankzins sowie dem Bruchteilreservesystem für die privaten Geschäftsbankendie Spekulationen und einen möglichen Dominoeffekt zusammenbrechenderFinanzinstitute ermöglicht. Ein Ansturm auf die Banken stellt nur eine Gefahrfür Währungen dar, die nicht knapp sind oder denen eine hundertprozentigeWarendeckung etwa durch Gold fehlt. Ist es nicht befremdlich, ausgerechnetbei einem derart zentralen Gut wie Geld selbstverständlich einer Zentralplan-behörde die Produktion und Steuerung zu überlassen?

Tatsächlich hat die Politik des billigen Geldes insbesondere der US-NotenbankFed einen künstlichen, rein geldpolitischen Boom geschaffen. Daraus entstan-den Vermögenspreisblasen. Ihr Platzen ermöglichte teils heftige Marktkorrek-turen, die durch massive Eingriffe in die ohnehin stark regulierten Finanz-märkte seit August 2007 konterkariert werden sollen. Angesichts der Tatsache,dass niemand exakt weiß, was derzeit in der Wirtschaft passiert, warum geradejetzt und wohin die Entwicklung gehen wird, dürften die weitreichenden politi-schen Lösungen eine schwere Belastung für die Marktwirtschaft bedeuten.

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Der Staat als Retter

7Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Die aktuellen „Rettungspakete“ und „Regenschirme“ retten wirtschaftliche Ak-tivitäten, die die Konsumenten und Kapitaleigner nicht wünschen. Nach Bau-ern, Steinkohlekumpeln und vielen anderen mehr gehören nun auch Banker,Versicherer und Autobauer zu den politisch geschützten Subventionsempfän-gern. Dies sollte angesichts der Verflechtungen zwischen Politik und „Big Busi-ness“ nicht überraschen. Allerdings ist die Marktwirtschaft nun einmal ein Ge-winn- und Verlustsystem. Sie kann ohne diese Doppelfunktion nicht bestehen.Die Systemprobleme auf den Finanzmärkten und in der Wirtschaft werdendurch weitere Interventionen nicht gelöst, alternativlose Marktbereinigungenlediglich aufgeschoben. Dies behindert das rasche Einschwenken auf einenneuen Wachstumspfad, sorgt für neue Konjunkturkrisen, dehnt das Kollektivezulasten des Individuums aus und schwächt das Vertrauen in funktionsfähigefreie Finanzmärkte.

Gesetzgebung als schnelles Mittel gegen alle möglichen Übel?

Was tun? Angesichts der verbreiteten Schwierigkeit, die Funktionsweise einerMarktwirtschaft als spontane Ordnung wirklich zu begreifen, ist Aufklärungdas Gebot der Stunde. Für das Verhältnis zwischen Individuum und Staat be-sitzt die nachfolgende Erkenntnis weitreichende Bedeutung: Regeln undRecht sind Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlicher Absicht.Friedrich August von Hayek schrieb in „Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irr-tümer des Sozialismus“: „Regeln der Moral sind nicht die Schlussfolgerungenunseres Verstandes.“ Zur Moral gehören insbesondere Regeln, die das Eigen-tum, die Freiheit und die Gerechtigkeit betreffen. Diese sind in einem Evolu-tionsprozess als erfolgreiche Institutionen selektiert worden und damit Teil ei-nes gesellschaftlichen Wissensbestandes zur Lösung von sozialen Problemen.Dies ist der Kern einer durch den Staat gesetzten Rahmenordnung.

Heute ist die Auffassung weit verbreitet, allein der Gesetzgeber setze Recht. Ge-setzgebung gilt als schnelles Mittel zur Abwehr von allen möglichen Übeln. „In-flationäre Gesetzgebung“ hat der italienische Rechtsphilosoph Bruno Leoni der-artiges Regierungshandeln genannt. Hier nutzen die Herrschenden die Ge-setzgebung vorrangig zur Ausübung und Sicherung ihrer Herrschaft. Und vonMises spitzte dies zu: „Ein Staat, in dem die Träger des Staatsapparates nur eineRegel befolgen, nämlich die, das durchzuführen, was ihnen gerade als zweck-mäßig erscheint, ist ein Staat ohne Recht. Man nennt ihn, je nach der subjekti-ven Wertung, entweder reine Despotie oder Wohlfahrtsstaat.“ Hintergrund die-ses harsch anmutenden Urteils ist die Erkenntnis, dass die etatistische Ethikdem Einzelnen die Fähigkeit abspricht, selbst zu erkennen, selbst zu entschei-den und selbst Verantwortung zu tragen. Was nützlich und schädlich ist, wirdvielmehr von der Staatsführung bestimmt.

Der Staat bedroht aber nicht nur eine freie Gesellschaft, er kann sie auch ga-rantieren. Wenn die Regierung auf den Schutz von Eigentum und Leben kon-zentriert ist, die Menschen die Früchte ihrer Arbeit genießen dürfen und dieRisiken für Verluste tragen, wird Kapital effizient verwendet, können sichschöpferische Unternehmer in Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln, ent-steht Wohlstand für alle. Ein solcher Staat ist ein starker Staat, weil er sich aufdie Durchsetzung allgemeiner Regeln konzentriert und nicht zur Beute vonSonderinteressen wird. Nur ein Staat, der die Grundlagen einer freien, spon-tanen Gesellschaftsordnung als Voraussetzung des täglichen Lebens sichert,verdient den Gehorsam seiner Bürger. �

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Ordnungspolitische Positionen

8 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Für einen starken, schlanken StaatProf. Dr. Max OtteGeschäftsführer des Instituts für Vermögensentwicklung (IFVE), Köln

� Als ich 1998 verantwortlicher Projektleiter einer Unternehmensberatungwar, die zusammen mit einem internen Projektteam Vorschläge zur Reorgani-sation des Bundesministeriums für Wirtschaft ausarbeiten sollte, sagte mir einalt gedienter Ministerialbeamter im Dienstzimmer Ludwig Erhards: „Früherstanden die Vorstandsvorsitzenden hier Schlange, um einen Termin beim Mi-nister zu bekommen. Heute stehen die Politiker Schlange, um nach ihrem Aus-scheiden einen Job in der Wirtschaft zu bekommen.“

Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Ludwig Erhard hätten sicher zugestimmt,dass wir starke Ministerien brauchen, um Partikularinteressen abzuwehren undden Staat nicht zur Beute werden zu lassen. Heute, wo ganze Gesetze von derLobby geschrieben werden, scheint dieser Kampf fast verloren gegangen zusein. Wenn die Börse Frankfurt eine von ihr bezahlte Mitarbeiterin an das hes-sische Wirtschaftsministerium ausleiht und eben diese Mitarbeiterin dann inder Börsenaufsicht tätig ist, ist das grotesk.1 Wenn Bankenrettungspakete ent-scheidend durch die Banken gestaltet werden, die vorher nach allen Maßstä-ben versagt haben, ist das ebenfalls grotesk.

Warum insbesondere Finanzmärkte reguliert werden müssen

Wenn auch die Rettungsaktionen im Großen und Ganzen richtig waren, um ei-nen Zusammenbruch des Systems zu vermeiden, so hätte der Staat den Bankengerade in Deutschland wesentlich höhere Kosten für seine Bürgschaften aufle-gen können, wie in den USA geschehen. So wird das deutsche Programm, wiezum Beispiel im Falle der Commerzbank, zu einem öffentlich subventioniertenKapitalbeschaffungsprogramm, das die Wettbewerbsbedingungen gegenüberden noch solide und nicht subventioniert operierenden Banken, zum Beispielden Volks- und Raiffeisenbanken, verzerrt.

Es ist an der Zeit, dass wir uns wieder auf unsere ökonomische Tradition unddas Denken in Wirtschaftsordnungen rückbesinnen. Produktion, Handel undFinanzen haben unterschiedliche Spielregeln und Gesetzmäßigkeiten. Es gilt,dies zu erkennen, genauso wie die Nationalökonomen des 18. und 19. Jahr-hunderts zwischen Unternehmereinkommen (Gewinne), Kapitalbesitzerein-kommen (Renten) und Arbeitseinkommen (Löhne) unterschieden haben. Da-bei geht es auch um Verteilungsaspekte. Heute, wo das finanzwirtschaftlicheDenken oft dominiert, wäre auch auf die Unterschiede der drei Bereiche ein-zugehen.

Der Finanzsektor ist einer der sensibelsten Bereiche der Wirtschaftsordnung.Hier muss es zunächst um Risikovermeidung und eine solide Basis für den gü-terwirtschaftlichen Bereich gehen. Moderne Finanztechniken erlauben es, Ri-siken zu verstecken oder in die Zukunft zu verschieben und so das System mitRisiken zu belasten, die zunächst nicht erkennbar sind. Märkte sind für Bil-dung spekulativer Blasen anfällig, und in nicht regulierten Finanzmärkten fin-den Euphorie und Panik regelmäßig statt. Finanzmärkte sollten also konserva-

1 Vgl. Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), Schwarzbuch Börse 2007, München 2008.

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Der Staat als Retter

9Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

tiv reguliert und mit „Bremsen“ ausgestattet werden. Im Zweifelsfall sollte mander langweiligen, aber überschaubaren, risikovermeidenden und transparen-ten Lösung den Vorzug geben.

Elf Punkte für eine umfassende und marktkonforme Regulierung

� Tobin-Steuer einführen: Eine Steuer von einem Prozent auf alle internatio-nalen Kapitaltransaktionen ist keinesfalls das sozialistische Übel, als das siegern gebrandmarkt wird, sondern ein marktkonformer Eingriff. Diese Steuerwürde auf einen Schlag viele spekulative Kapitalbewegungen unterbinden.Aber kaum eine internationale Produktionsstätte würde ungebaut bleiben, nurweil sie ein Prozent teurer wäre.

� Eigenkapital stärken: Zwar wurden mit dem Basel-II-Abkommen von 1992schärfere Eigenkapitalrichtlinien geschaffen – Banken sollen acht Prozent Ei-genkapital hinterlegen –, aber offensichtlich ist damit das systemische Risikonicht berücksichtigt. Eine Eigenkapitalquote von zehn Prozent – und zwargrundsätzlich und nicht risikogewichtet wie bei Basel II – erscheint sinnvoll.Insgesamt ist Basel II zu hinterfragen. Ratings und Risikogewichtungen sind inder Theorie gut, in der Praxis führen sie zu mehr Bürokratie sowie Hemmnis-sen gerade für den Mittelstand. Hier wird zusätzliche Bürokratie aufgebaut, diegroße Unternehmen bevorzugt. Zudem wird das Risiko oftmals hinter mathe-matischen Modellen versteckt und ist damit weniger transparent als bei einereinfachen Eigenkapitalregel.

� Bilanzierungsvorschriften verschärfen: Regulierungsbehörden und Bankenreagieren auf die Krise mit einer Lockerung der Bilanzierungsvorschriften.Kern des Anstoßes ist die Bilanzierung zum „fairen Wert“. In der Theorie istdies eine gute Sache, aber die Praxis sieht anders aus. Für viele Produkte gibtes keinen Markt, dann muss der Wert durch mathematische Modelle ermitteltwerden. Und diese Modelle werden oft gerade dann erhebliche Wertminde-rungen ausweisen, wenn sich die Wirtschaft in einem Abwärtszyklus befindet.Im Resultat handelt es sich also um eine zyklenverstärkende Bilanzierung. Diekonservative und einfache Regelung des Niederstwertprinzips des deutschenHandelsgesetzbuches (HGB), die wir mit den International Accounting Stan-dards (IAS) zunehmend über Bord werfen, sind einen Blick wert: Hier werdenBilanzpositionen zum Anschaffungs- oder zum Marktwert bilanziert, je nach-dem, welcher Wert der niedrigere ist. Somit war bei deutschen Unternehmen,die nach HGB bilanzierten, immer sichergestellt, dass Werte konservativ undvorsichtig erfasst wurden.

� Hedgefonds und Private Equity regulieren: Sie unterliegen keinerlei Regu-lierung, müssen aber zum Beispiel hinsichtlich Eigenkapitalanforderungen ge-nauso reguliert werden wie alle anderen Anlagevehikel.

� Derivate für Privatanleger verbieten: Nicht alle Finanzinnovationen sindsinnvoll. Aus guten Gründen waren solche Produkte bis ungefähr 1970 für Pri-vatanleger weitgehend verboten.

� Verbriefung von Hypotheken und Konsumentenschulden stark einschrän-ken: Die amerikanische Regierung gibt die Richtung vor, indem sie verbriefteProdukte in Zukunft auf Kosten des Emittenten versichern will. Wichtig ist,dass die Versicherung das Risiko abdeckt und zu Marktpreisen erfolgt. Dannwird sich die Verbriefung schnell auf ein wirtschaftlich gesundes Normalmaßeinpendeln.

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Ordnungspolitische Positionen

10 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

� Regulierungsbehörden auf Augenhöhe mit den Banken: Es kann nicht sein,dass Länder sich einen Wettlauf um ein Minimum an Regulierung liefern unddass zum Beispiel die Depfa-Bank, die als irische Tochtergesellschaft der iri-schen Regulierung unterliegt, die Muttergesellschaft Hypo Real Estate inDeutschland zu Fall bringen kann. Europäische Banken agieren im gesamtenEuropa; ihnen stehen lediglich nationale Regulierungsbehörden gegenüber.Anstatt dass sich die Banken den kleinsten gemeinsamen Nenner aussuchenkönnen, sollten sie internationalen Regulierungsbehörden gegenüberstehen.

� Rechtsfreie Räume beseitigen: Steueroasen wie die Kanalinseln, die CaymanIslands oder Liechtenstein müssen sich den Regeln der Transparenz unter-werfen. Die Realisierung wäre einfach: Jedes Bankinstitut, das dort Tochterge-sellschaften unterhält, muss voll transparent sein oder bekommt im Heimat-land die Lizenz entzogen.

� Haftung für Vorstände konsequent anwenden: Die Gesetze der meistenLänder sehen Haftungsregelungen vor, die ausreichen würden, wenn man sieanwenden würde. Das ist auch im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) der Fall.Vorstände können sich derzeit sogar gegen den Tatbestand der „groben Fahr-lässigkeit“ versichern. Es würde ausreichen, derartige Versicherungen zu ver-bieten und auch schon im Fall der einfachen Fahrlässigkeit eine erheblicheHaftung von Vorständen einzufordern. Vorstände sind Kaufleute und habenbesonders sorgsam zu handeln.

� Vergütungssystem ändern: Es würde ausreichen, das System der Jahresboniin ein System von Belegschaftsaktien zu verwandeln, die frühestens fünf Jahrenach Ausscheiden veräußert werden können. Mit einem Schlag würden dieVorstände langfristig denken und handeln.

� Weniger, aber mit mehr Kompetenzen ausgestattete Beamte: Der Beamteauf Lebenszeit preußischer Prägung, der unbestechliche Staatsdiener, ist heu-te leider sehr selten geworden. Das liegt auch daran, dass es in Deutschland zuviele Beamte gibt. Aus meiner Praxis bei den Ministerien weiß ich, dass man de-ren Personal und das vieler Behörden ohne Weiteres um 50 bis 70 Prozent re-duzieren könnte. Die verbliebenen Regierungsbeamten sollten aber gut be-zahlte Spitzenkräfte sein, denen Nebenverdienste in der Wirtschaft verbotensein sollten – wenn sie zum Beispiel Aufsichtsratsmandate bekleiden –, und diesich auf die hoheitlichen staatlichen Aufgaben konzentrieren. Wichtig wäre, sieweniger beeinflussbar durch Lobbyisten zu machen. �

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Aus der Krise lernen: Plädoyer für eine sinnvolle RegulierungHubertus SchmoldtVorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE)

� Es ist wieder einmal so weit. Ein neues Gespenst geht um in Deutschland:Das Gespenst der weltweiten Finanzmarktkrise. Von zahlreichen Kommentato-ren werden Vergleiche mit der Weltwirtschaftskrise und der großen Depressionin der Zwischenkriegszeit zur Illustration herangezogen. Diese historischenVergleiche mögen aus heutiger Sicht stark übertrieben sein, sowohl was die Na-tur der Krise betrifft als auch hinsichtlich ihrer realwirtschaftlichen und ganzsicher ihrer politischen sowie gesellschaftlichen Auswirkungen. Fernab jeg-licher Katastrophenszenarien sind wir jedoch zweifellos mit einer ausgespro-chen schweren globalen Krise der Finanzmärkte und einem schmerzhaftenkonjunkturellen Einbruch der realen Weltwirtschaft konfrontiert.

Ein aktives Eingreifen der Staaten und Notenbanken ist deshalb weltweit zwin-gend notwendig. Der Zusammenbruch der US-amerikanischen Investment-bank Lehman Brothers hat in der Praxis vorgeführt, was ein „systemisches Risi-ko“ bedeutet. Und mit etwas Phantasie haben wir eine Ahnung davon, welchedramatischen Folgen ein weltweiter Zusammenbruch von Finanzinstituten undFinanzmärkten haben dürfte.

Marktversagen, Politikversagen und individuelles Versagen

In weitgehend globalisierten Volkswirtschaften mit voneinander abhängigenMärkten greifen monokausale Erklärungsansätze zwangsläufig zu kurz. Die Fi-nanzmarktkrise ist nicht auf ein schlichtes Versagen der Märkte zurückzufüh-ren. Wir haben es parallel auch mit einem Politikversagen und einem indivi-duellen Versagen vieler Akteure der Finanzbranche zu tun.

Das Versagen der Märkte bzw. speziell der Finanzmärkte zeigt sich seit Beginnder Krise, dem Entstehen der gigantischen Immobilienblase in den USA. Undauch die Konzentration der Kreditinstitute aus aller Welt auf hochgradig risi-kobehaftete sogenannte Subprime-Kredite und die Etablierung von Finanzin-novationen, die der US-Finanzinvestor Warren Buffett als „finanzielle Massen-vernichtungswaffen“ bezeichnete, verweisen mehr auf die Selbstmordgefähr-dung der Finanzmärkte als auf deren langfristig orientierte Funktionsfähigkeit.Schließlich sprechen auch das klägliche Scheitern der Ratingagenturen sowiedas Versagen der Finanzmärkte und ihrer zentralen Akteure bei der Beseiti-gung der Krise gegen die Selbstheilungskräfte des Marktes.

Die Märkte haben versagt, doch leider kann der Politik auch kein besseresZeugnis ausgestellt werden. Die Liste der Fehler und Versäumnisse ist lang. Ei-nen wichtigen Beitrag zum Entstehen der Krise hat das politische Versprechenin den USA geleistet, dass möglichst jeder US-Bürger ein eigenes Haus habensoll, auch wenn sein Vermögen bzw. sein Einkommen dies nicht zulassen. Da-neben war die Geldpolitik der US-amerikanischen Notenbank zu lange zu ex-pansiv. Vor allem aber hat die Politik weltweit bei der Regulierung der Finanz-märkte versagt. Die Risiken der Finanzinnovationen wurden unterschätzt unddie Leistungsfähigkeit der Ratingagenturen überschätzt. Der Aufbau von Ver-schuldungs- und Umschuldungskaskaden, die auf zweifelhaften Hypotheken

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Ordnungspolitische Positionen

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basierten, wurde ebenso wenig verhindert wie die Auslagerung von riskantenGeschäften auf außerbilanzielle Zweckgesellschaften.

Neben Markt- und Politikversagen ist die aktuelle Finanzkrise das Ergebnis ei-nes eklatanten Mangels an Verantwortungsbewusstsein, moralischen Maßstä-ben und Kompetenz vieler Bankmanager. Natürlich müssen Unternehmenund Banken Gewinne erwirtschaften, und eine Orientierung an Renditezielenist legitim und notwendig. Es ist aber unfassbar, in welchem auch für das eige-ne Institut lebensbedrohlichen Ausmaß Banker Risiken eingegangen sind.Wurden diese Risiken wirklich nicht wahrgenommen, haben wir es also mitmassiver Inkompetenz zu tun? Oder wurden diese Risiken bewusst ignoriert,waren hier also profitgierige Hasardeure am Werk? In der realen Wirtschaft, inder Industrie wie im Dienstleistungsbereich, sind für die Führung eines Unter-nehmens neben unternehmerischen Fähigkeiten soziale, politische und ge-sellschaftliche Kompetenzen und ein hohes Maß an Verantwortungsbewusst-sein unabdingbar. Den Führungseliten in der Finanzbranche scheinen flä-chendeckend diese Kompetenzen abhanden gekommen zu sein.

Bessere Regulierung für ein stabiles Finanzsystem

Aus den komplexen Krisenursachen die richtigen Schlüsse zu ziehen, ist dieschwierige Aufgabe, vor der die Politik auf nationaler, europäischer und inter-nationaler Ebene steht. Im Mittelpunkt muss zweifellos eine bessere Regulie-rung der Finanzmärkte stehen. Nahezu intransparente Finanzprodukte, kaumregulierte Marktsegmente, eine unzureichende globale Finanzmarktaufsichtund eine nicht funktionierende Risikobewertung durch Ratingagenturen müs-sen der Vergangenheit angehören. Sicherlich muss auch darüber nachgedachtwerden, wie die Anreize in den Vergütungssystemen stärker auf den mittel- undlangfristigen Erfolg der Unternehmen ausgerichtet werden können.

Eine bessere Regulierung wird in vielen Fällen aber auch mehr Regulierungbedeuten. Die aktuelle Krise hat deutlich gezeigt, dass es hierzu keine sinnvol-le Alternative gibt. Nur mit besserer und verstärkter politischer Regulierungkönnen die Risiken zukünftiger Finanzmarktkrisen verringert werden.

Natürlich muss dabei auch berücksichtigt werden, dass eine stärkere Regulie-rung mit Kosten verbunden ist. Das Finanzsystem und die verschiedenen Fi-nanzinnovationen gelten als Wachstumsmotoren, weil sie eine effizientere Al-lokation der Ressourcen und Risiken ermöglichen. Ein restriktiv reguliertes Fi-nanzsystem reduziert deshalb tendenziell Effizienzgewinne und führt bei-spielsweise zu weniger kreditfinanzierten Investitionen. Deshalb muss einesinnvolle Balance zwischen Regulierung und Deregulierung bzw. zwischenMarkt und Staat gefunden werden. Denn eine dynamische Realwirtschaft istnicht nur auf ein effizientes, sondern auch auf ein stabiles Finanzsystem ange-wiesen.

Die Aussage von Karl Schiller – „So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nö-tig.“ – kann als grobe Orientierung helfen. Auch der Finanzmarkt darf nichtsich selbst überlassen bleiben. Er muss – wie in der Sozialen Marktwirtschaft üb-lich – zum Wohle des gesellschaftlichen Gesamtinteresses gesteuert werden. Fi-nanzmarktstabilität ist ein öffentliches Gut. Befürchtungen einiger Wirt-schaftshistoriker, dass es nun wie nach der Krise der 1930er Jahre zu einerÜberreglementierung des Finanzsektors kommen könnte, erscheinen mitBlick auf das gerade gescheiterte Experiment weitgehend unregulierter Fi-

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13Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

nanzmärkte nicht plausibel. Der Spielraum für politische Regulierungen ist imglobalen Finanzsektor groß.

Keine Gefahr der Überregulierung

Wie wenig wir beispielsweise mit der Gefahr einer Überregulierung der globa-len Finanzmärkte konfrontiert sind, zeigen die Ergebnisse des Weltfinanzgip-fels der G-20-Staaten in Washington Mitte November 2008. Hier wurden vor al-lem erste Schritte zur Neuordnung des globalen Finanzsystems beschlossenund ein Arbeitsprogramm für eine bessere Regulierung von Banken und an-deren Finanzinstituten verabschiedet. Weitergehende Forderungen, wie bei-spielsweise der von der Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeschlagene Ausbaudes Internationalen Währungsfonds (IWF) zu einer Art globaler Super-Auf-sichtsbehörde, konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Zudem haben sichauch die Gipfelteilnehmer klar zu den Prinzipien eines freien Marktes be-kannt. So wichtig und sinnvoll diese Beschlüsse für einen ersten Weltfinanz-gipfel in der aktuellen Finanzkrise sind, so wenig wahrscheinlich ist, dass sie zueiner Überregulierung der Weltfinanzmärkte führen.

Natürlich kommen in der politischen Debatte auch Stimmen zu Wort, die zwei-fellos überziehen. Hierzu zählt in Deutschland beispielsweise die Forderungder Linkspartei nach einer dauerhaften Verstaatlichung von Banken. Wie einedauerhafte Verstaatlichung deutscher Banken mehr Stabilität in den globalenFinanzsektor bringen kann, bleibt dabei schleierhaft. In Deutschland waren esvor allem auch Banken mit staatlicher Beteiligung – von der IKB bis hin zu Lan-desbanken –, die sich von der Gier getrieben auf hochspekulativen Märktentummelten und nun in Schwierigkeiten sind. Der Staat sollte als aktiver Mit-spieler allenfalls kurzfristig zum Einsatz kommen.

Selbstverständlich wird eine bessere und verstärkte Regulierung dazu führen,dass viele Akteure nach neuen Möglichkeiten und Wegen zu deren Umge-hung suchen. So haben die Banken auch als Antwort auf die höheren Eigen-kapitalanforderungen (Basel II) ihre Risikogeschäfte auf Zweckgesellschaftenausgelagert. Eine solche Zweckgesellschaft schont das Eigenkapital, tauchtnicht in der Bilanz der Banken auf und bleibt von der Bankenaufsicht unbe-helligt.

Die Lösung kann allerdings nicht darin liegen, dass es die Staaten gar nichterst mit einer stärkeren Regulierung versuchen. Die politische Regulierungder Märkte ist vielmehr eine permanente Aufgabe. Weil sich die Finanzmärk-te ständig weiterentwickeln, muss auch die politische Regulierung ständig an-gepasst werden.

Der Staat kann sich nicht auf Einsicht und Moral verlassen

Freiwillige Selbstbeschränkungen oder Ehrenkodizes zur Managermoral kön-nen die staatliche Regulierung sicherlich ergänzen und sollten in ihrer Wir-kung keinesfalls unterschätzt werden. Sie können durchaus in der Lage sein,öffentlichen Druck auszuüben, sodass diese Vorschriften auch eingehalten wer-den. Ersetzen können sie die staatliche Regulierung jedoch nicht. Der Staatkann nicht darauf vertrauen, dass die Jagd nach immer höheren Renditen unddie Selbstbedienungsmentalität vieler Manager durch Einsicht oder „Grup-penzwang“ beseitigt werden. Gier wird es vermutlich immer geben. Der Staatkann und muss aber Rahmenbedingungen setzen. So können beispielweise

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mehr Risikovorsorge über strengere Eigenkapitalerfordernisse im Finanzsek-tor und verschärfte Haftungsregeln die Jagd nach einer höheren Rendite umjeden Preis einschränken. Das Gleiche gilt für Vergütungsregeln für Manager,die sich am längerfristigen Erfolg orientieren und die neben Bonuszahlungenauch Abschläge für schlechte Leistungen enthalten.

Sicherlich wird es auch mit einer besseren und stärkeren politischen Regulie-rung weiterhin Finanzmarktkrisen geben. Die Häufigkeit solcher Krisen könn-te jedoch verringert und die Ausschläge der Finanzzyklen eingedämmt wer-den. Die zukünftigen Gespenster könnten damit für die Menschen weniger be-drohlich daherkommen. �

Wenn er stark ist, ist er schwachProf. Dr. Bernhard EmundsLeiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik

� Die Weltfinanzkrise ist auch eine Krise des Wirtschaftsliberalismus. Seit überdreißig Jahren haben wirtschaftsliberale Politikberater die Regierungen in al-ler Welt gedrängelt, den Staatssektor zu beschneiden, Märkte aus dem engenKorsett bürokratischer Regulierung zu befreien, in allen LebensbereichenWettbewerb zu entfachen und die Aufgabe der Wohlfahrtssteigerung weitge-hend der Privatwirtschaft zu überlassen. Aufgrund des langfristigen Gewinnin-teresses ihrer Akteure stabilisiere und reguliere sich die Wirtschaft am bestenselbst. Über Jahrzehnte wurden die Regierungen vieler Entwicklungs- undTransformationsländer mithilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF)und der Weltbank zu einer Politik des schlanken Staates, des knappen Geldes,der vorbehaltlosen Öffnung für die Weltwirtschaft und der entfesselten Märk-te gezwungen – zumeist mit einer negativen gesellschaftlichen Gesamtbilanz.

In den meisten Industrieländern ließ sich die wirtschaftsliberale Agenda nurmit erheblichen Abstrichen durchsetzen – ein Umstand, der dann von den Ver-tretern der Agenda als korporatistische Verkrustung gegeißelt wurde. Trotz-dem kam es auch in den Ländern des weltwirtschaftlichen Nordens zu Privati-sierungswellen sowie zum Abbau sozialstaatlicher Leistungen und rechtlicherRegeln. Vor allem wurden unter wirtschaftsliberaler Anleitung zwei Großversu-che gestartet, einer auf den Arbeits-, der andere auf den Finanzmärkten der In-dustrieländer.

Beide zielten darauf, die Kosten für Unternehmen, vor allem für Großunter-nehmen zu senken, um auf diesem Wege Wohlfahrtssteigerungen zu errei-chen. Auf den Arbeitsmärkten förderten die Regierungen eine Entwicklung,dass neben der regulären Beschäftigung auch ein Sektor schlecht gesicherterund schlecht bezahlter Erwerbsarbeit entstand und immer weiter wuchs. In derFolge gab und gibt es in vielen Industrieländern immer mehr „working poor“– gerade auch in Deutschland, obwohl die Soziale Marktwirtschaft doch Wohl-stand für alle durch Beteiligung an der Erwerbsarbeit verspricht.

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Vom engen Regulierungskorsett zum innovativen Kapitalmarkt

Die reguläre – in Deutschland: die sozialversicherungspflichtige – Beschäfti-gung ist ein stark regulierter und vergleichsweise gut abgesicherter Sektor desArbeitsmarkts. Ihm entspricht in der Finanzwirtschaft der traditionelle, auf dasKredit- und Einlagengeschäft spezialisierte Bankensektor. Der Bankensektorwar nach der Weltwirtschaftskrise durch die „lender of last resort“-Funktion derZentralbank, bei der den soliden Geschäftsbanken ein unbeschränkter Zugangzum Bargeld garantiert wird, sowie durch quasi-staatliche Einlagensicherungengegen Zusammenbrüche abgesichert worden. Ein enges Korsett der umsichti-gen Regulierung wirkte der Übernahme zu hoher Risiken durch eine zu dyna-mische Ausdehnung der Geschäfte, insbesondere der Kreditvergabe entgegen.Und die Zentralbank ging zinspolitisch gegen zu starke Kredit- und Einlagen-expansionen der Geschäftsbanken vor.

Mit diesem engen Korsett für die Bankwirtschaft gelang es über Jahrzehnte, Fi-nanzkrisen in den Industrieländern zu verhindern. Solche Krisen warenwiederholt aufgetreten, seit sich die Geldversorgung vom Wert des zirkulieren-den Edelmetalls entkoppelt hatte und vor allem seit es den Geschäftsbankenmöglich wurde, eigenständig neues Geld zu schaffen. Aber Sicherheit hat ih-ren Preis, und so verursachte das enge Regulierungskorsett den Banken er-hebliche Kosten – vor allem in Form jener Gewinne, die den Instituten auf-grund der Beschränkung ihrer Geschäftsexpansion entgingen.

Seit Anfang der 1980er Jahre steht mit der neuen kapitalmarktdominierten Fi-nanzwirtschaft eine Alternative zu der hoch regulierten und damit auch relativteuren Bankwirtschaft zur Verfügung. Entstanden war diese neue Form der Fi-nanzwirtschaft in den USA und Großbritannien durch den Strukturwandelweg vom direkten hin zum indirekten, über institutionelle Anleger vermittel-ten Wertpapierbesitz. Zugleich war es im Bereich des Investmentbanking zu ei-ner enormen Dynamik der Finanzinnovationen gekommen. Die Regierungender Industrieländer folgten wirtschaftsliberalen Empfehlungen und beschleu-nigten gezielt das Wachstum dieser neuen Form der Finanzwirtschaft in ihrennationalen Finanzsystemen: Verbesserung des Anlegerschutzes und zugleichAbbau anderer nationalstaatlicher Regelungen, Liberalisierung des Kapital-verkehrs, erhebliche Steuererleichterungen sowie Förderung der privaten Vor-sorge bei gleichzeitigem Abbau sozialstaatlicher Leistungen.

Auf diese Weise erschlossen die Regierungen einerseits den Großunterneh-men mit der Wertpapierfinanzierung eine günstige Alternative zur Bankkre-ditfinanzierung und andererseits den Finanzinstituten ihres Landes – inDeutschland vor allem den großen Universalbanken – neue überaus einträgli-che Geschäftsfelder. Die Hoffnung vieler Berater und Politiker, nicht nur inden USA, war: Wenn man diese neue Form der Finanzwirtschaft nicht staatlichgängele und wenn man zugleich zulasse, dass die bestehenden Regulierungendurch Finanzinnovationen geschickt umgangen werden, dann könne sich dieFinanzwirtschaft sehr dynamisch entwickeln und zu einem Wachstumsmotorfür die jeweilige Volkswirtschaft werden.

Rückkehr des Staates

Mit dem Zerplatzen der großen Preisblase auf den Immobilienmärkten einigerLänder und auf vielen internationalen Finanzmärkten sind diese Träume nunausgeträumt. Damit die globale Rezession nicht doch noch in einen vollständi-gen Kollaps mündet, sehen sich die Regierungen gezwungen, die finanzwirt-

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schaftlichen Akteure ihrer Länder mit dreistelligen Milliardenbeträgen abzusi-chern. Weil die Sozialisierung der Verluste, die nun nach atemberaubendenprivaten Gewinnen eintreten, einem ordnungspolitischen Offenbarungseidgleichkommen und weil ein Ausbluten staatlicher Haushalte auf die Dauer vorallem den Armen schaden wird, bedarf die Finanzwirtschaft dringend einesneuen institutionellen Rahmens, der verhindert, dass es in Zukunft noch ein-mal in diesem Ausmaß zu einem finanzwirtschaftlichen „Boom and bust“kommt.

Dabei ist entscheidend, dass die neue kapitalmarktdominierte Finanzwirtschaft– vergleichbar der traditionellen Bankwirtschaft – in ein enges Korsett ge-zwängt wird. Dieses muss ihr den Freiraum lassen, den sie für das Erfüllen wich-tiger gesamtwirtschaftlicher Aufgaben, wie zum Beispiel für die Finanzinter-mediation und das Risikomanagement, benötigt. Sie muss sie aber doch so ein-engen, dass es in Zukunft nicht wieder zu einer vergleichbaren Akkumulationvon Risiken kommen kann. Darüber hinaus wäre über eine grundlegendeWeiterentwicklung des geldpolitischen Instrumentariums nachzudenken, da-mit die Zentralbank künftig eine starke Expansion der Kreditfinanzierung vonFinanztransaktionen bremsen kann, ohne zugleich auch die Kreditvergabe fürrealwirtschaftliche Investitionen einschränken zu müssen.

Vor dem Hintergrund der wirtschaftsliberalen Konzepte der letzten drei Jahr-zehnte, insbesondere der beiden fehlgeschlagenen Strategien, ungesicherteund weniger regulierte Billigsegmente auf den Arbeits- und Finanzmärkten derIndustrieländer zu etablieren, ist die Rückkehr des Staates in der Krise, vor al-lem die neu entstandene Regulierungsbereitschaft zuerst einmal als Wieder-herstellung einer verloren gegangenen Balance zu deuten.

Ein starker Staat ist für Lobbyismus anfällig

„Wenn ich schwach bin, bin ich stark“, schrieb der Apostel Paulus im zweitenBrief an die Korinther. Auf den Staat in der Weltfinanzkrise bezogen, machtumgekehrt Sinn: Wenn er stark ist, ist er schwach. Die Gefahr ist groß, dass diePolitiker jetzt, da sie endlich einmal wieder zum Zuge kommen und durch dieSchwächung der marktradikalen Positionen über verschiedene Handlungsop-tionen verfügen, die Macht des Staates überschätzen und sich vor den Karrenrein-partikularer Interessen spannen lassen. So ist keineswegs ausgeschlossen,dass die nationalstaatlichen Regierungen bei ihren Rettungsaktionen für Fi-nanzinstitute in einen Wettbewerb darüber geraten, wer den Instituten seinesLandes die günstigsten Konditionen gewährt.

Statt ein ausreichend großes Konjunkturprogramm zu verabschieden, das zumBeispiel alle Haushalte mit geringem Einkommen unterstützt und Unterneh-men durch außerordentlich günstige Abschreibungsbedingungen zu Investi-tionen animiert, stellt die Bundesregierung Einzelmaßnahmen zusammen.Kein Wunder, dass verschiedene Branchen nun auf Sonderhilfen drängen –mit großem Erfolg tut dies in Deutschland bereits die immer lobbyistisch sehrgut aufgestellte Autoindustrie. Der nächste Schritt ist, dass Rettungsschirme füreinzelne Großunternehmen aufgespannt werden. Massive Wettbewerbsverzer-rungen stehen zu befürchten. Werden die Unternehmenssubventionen nichtan allgemeine Regeln gebunden, die für alle Branchen und erst recht für alleUnternehmen einer Branche gleichermaßen gelten, wird man sie weder als ef-fizient noch als gerecht einschätzen können.

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Ordoliberales Denken als Lösung

Für eine verlässliche Orientierung der Wirtschaftspolitik in diesen Fragen wä-re von Vorteil, wenn es jetzt überzeugende und glaubhafte Wortmeldungenvon Autoren gäbe, die sich um die Rezeption, Aktualisierung und Weiterfüh-rung der ordoliberalen Einsichten Walter Euckens, Alexander Rüstows, WilhelmRöpkes und Alfred Müller-Armacks bemühen. Leider wurde in der deutschspra-chigen Ökonomie der letzten Jahrzehnte die ordoliberale Betonung der staat-lichen Rahmensetzung häufig infrage gestellt, indem man die Konstruktivis-muskritik Friedrich August von Hayeks übernahm. Oder die ordoliberale Einsichtin die Bedeutung von Markt und Wettbewerb wurde mit den anti-etatistischenArgumentationsketten Hayeks, Milton Friedmans oder der Libertären vermengt,die allein auf die Entfesselung des Wettbewerbs zielen. Und alles zusammenwurde als ein Neoliberalismus etikettiert, wie er angeblich auch schon vonEucken, Müller-Armack und Ludwig Erhard vertreten worden sei.

In der aktuellen Situation, da das Gespür für die unverzichtbare Rolle der Wirt-schaftspolitik wiedererstarkt ist, diese aber orientierungslos wirkt, würden or-doliberale Autoren mehr Gehör finden, wenn sie auf das Versteckspiel mit demBegriff des Neoliberalismus verzichteten und sich von marktradikalen Positio-nen überzeugend und glaubhaft absetzten. Gelänge ihnen dies, würde die glo-bale Finanzkrise vielleicht doch nicht den Wirtschaftsliberalismus insgesamt indie Krise führen, sondern lediglich dessen marktradikale Strömungen. �

Nebenwirkungen von RettungspaketenDr. Markus Stahl/Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim StarbattyGeschäftsführer der Steinhart & Stahl Vermögensverwaltung, Stuttgart / UniversitätTübingen und Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft e.V.

� Kurt Tucholsky schrieb unter dem Pseudonym Peter Panter im Jahr 1931: „Je-de Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen An-nahme, der andere werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, soerfolgt eine sogenannte Stützungsaktion, bei der alle, bis auf den Staat, gut ver-dienen. Solche Pleiten erkennt man daran, dass die Bevölkerung aufgefordertwird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr.“

Rettungspaket für Banken, aber nicht für Sparer

Die derzeitigen „Rettungspakete“ bzw. das „Finanzmarktstabilisierungsgesetz“und der „Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung“ der Bundesregierung erin-nern an Tucholskys Bonmot. Die Politik hat auf dünner Datenlage über Struk-tur, Größenordnung und Dynamik der Verluste im Bankensystem in einem not-standsähnlichen Verfahren in kürzester Zeit Bürgschaften und Eigenkapital-hilfen in noch nie da gewesener Größenordnung beschlossen. Es geht umBürgschaften in Höhe von 400 Milliarden Euro und Kapitalhilfen – zum Bei-spiel zum Ankauf von „Problemaktiva“ oder zur Stellung von „stillen Einlagen“– in Höhe von weiteren 80 Milliarden Euro. Der Finanzminister kalkuliert eineInanspruchnahme der ausgesprochenen Bürgschaften in Höhe von fünf Pro-zent; er unterstellt damit eine tatsächliche Belastung von 20 Milliarden Euro.

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Ordnungspolitische Positionen

18 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Insgesamt errechnet sich so eine Kreditermächtigung für den Bundeshaushaltin Höhe von 100 Milliarden Euro. Anders als es das Wort der Kanzlerin, dassdie Spareinlagen der Bevölkerung gesichert seien, vermuten lässt, adressiertdas Rettungspaket nicht den Sparer, sondern lediglich die Banken.

Die Bürgschaften und Eigenkapitalhilfen werden den Banken allerdings nichtohne Nebenbedingungen und Auflagen gewährt: Auflagen zur Begrenzungvon Managergehältern und Bonuszahlungen, hinsichtlich der geschäftspoliti-schen Ausrichtung des Instituts und der Kreditvergabe sowie Bedingungen hin-sichtlich der Teilhabe an den Erträgen der Finanzinstitute. Damit ist die Türfür staatlich-dirigistische Maßnahmen im Kreditwesen und – aufgrund derSteuerungsfunktion der Kreditversorgung für die übrige Industrie – auch inder gesamten Wirtschaft weit geöffnet. Dieser Einfluss verstärkt sich in demMaße, wie es politisch gelingt, den Bankern die Schuld für diese Fehlentwick-lungen zu geben und vom Versagen des Marktmodells zu sprechen.

Vom Staatsversagen zur Staatshilfe

Dabei ist kaum zu übersehen, dass Fehler in den verschiedenen Politikberei-chen gerade zu den Problemen geführt haben. Genannt sei hier vor allem dielaxe Geldpolitik, die über viele Jahre Geldmengenwachstum tolerierte, dasmarkant über dem Pfad der verschiedenen realen Bruttoinlandsprodukte lag.Hier zeigt sich ein kollektives Versagen der amerikanischen Notenbank Fedund der Bank of Japan, aber auch der Europäischen Zentralbank (EZB). Beider EZB lag der tiefere Grund für die zu expansive Geldpolitik in einer Kons -truktionsschwäche des Euro-Währungssystems und der – politisch motivierten– Definition des optimalen Währungsraums. Die Geldpolitik war mit Blick aufdie schwache Konjunktur in Deutschland und Frankreich zu expansiv für Ir-land und den gesamten Südgürtel Europas; sie ließ dort erhebliche Immobi-lienblasen entstehen, die nun platzen. Erst jetzt erkennt man, dass das ThemaSubprime-Immobilien auch in Europa virulent ist.

Große Fehler wurden auch in der Regulierungspolitik gemacht, die zu geringeEigenkapitalanforderungen stellte und Positionen außerhalb der Bilanz er-laubte. Auch die Bankenaufsicht hat ihren Auftrag nicht erfüllt. Unter ihrenAugen wurden Zweckgesellschaften gegründet, die Regulierungsarbitrage be-trieben. Schließlich muss man nach der Rolle der deutschen Landesbankenfragen, deren Geschäftsmodelle neuerdings von der Politik auf ihre Tragfähig-keit hin hinterfragt werden, obgleich sie immer politisch protegierte Organi-sationen waren. Manager wie Verwaltungsräte rekrutierten sich überwiegendaus der Politik. Insgesamt sollte man deshalb auch über Staatsversagen disku-tieren, statt immer nur vom Marktversagen zu reden.

Gerade aus diesem Grund ist das staatliche Rettungspaket mit besonderer Vor-sicht zu genießen. Das Rettungspaket verabreicht dem Patienten viel Medizin,ob aber die versprochene Wirkung erzielt wird, ist offen. Als erstes sind das ge-naue Krankheitsbild der Banken und die Dynamik des Krankheitsverlaufsschwer einzuschätzen. Vielleicht sind die Verluste bei einigen systemrelevantenAdressen größer als angenommen, sodass die verabreichte Medizin allenfallszu einem Zeitgewinn führt, am Ereignis der drohenden Insolvenz jedochnichts ändert. Die Steuermilliarden wären dann für „schwarze Bilanzlöcher“verschwendet worden. Sollte den Banken vor allem US-Dollar-Liquidität feh-len, so würden Euro-Injektionen am Problem vorbeiführen. Sie würden in die-sem Fall die Euro-Stabilität noch weiter unterminieren und das Problem ver-größern. Dass sich die Politik vor ihrem großzügigen Engagement keinen tie-

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Der Staat als Retter

19Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

feren Einblick in die Krankenakten der jeweiligen Patienten verschafft hat,zeugt einmal mehr vom Versagen des Staates. Die Mehrzahl der Parlamentarierhat das Rettungspaket ohne genaue Hintergrundanalyse und Fachkompetenzabgesegnet.

Risiken und Nebenwirkungen der „Rettungsmedizin“

Neben diesen grundsätzlichen Fragen nach Anwendungsbereich und Dosie-rung der „Rettungsmedizin“ sind erhebliche schädliche Nebenwirkungen zubefürchten: Verlust von Glaubwürdigkeit, Anreiz zu „moral hazard“-Verhalten,Störung der Signalfunktion von Märkten und das Mitschleppen verzerrter Pro-duktionsstrukturen:

� Die Wettrennen um die höchsten Bürgschaftsversprechen könnten derenGlaubwürdigkeit unterminieren. Ein 400-Milliarden-Versprechen sollte auch fi-nanziell kalkuliert und budgetiert sein, um hinreichend glaubwürdig zu sein.Die „Rettungsschirme“ mindern möglicherweise auch die Glaubwürdigkeit bis-heriger Sicherungssysteme, wie zum Beispiel der verschiedenen Einlagensi-cherungsfonds. Wozu bedarf es eines weiteren Rettungssystems, wenn doch ausder bisherigen Beurteilung des Kleinsparers die Einlagensicherung einenRundumschutz bietet? Und schließlich könnten die Bürgschaften in vollemUmfang, das heißt im Volumen von 400 Milliarden Euro, gezogen werden. Indiesem Fall müsste der Finanzminister seine umfangreichen Bürgschaftsver-sprechen relativieren, was die Glaubwürdigkeit seiner Bürgschaften auf Null re-duzieren würde. Oder der Finanzminister ist gezwungen, seine Etat- und Ver-schuldungsziele erheblich zu relativieren, was am Markt für Staatsanleihen undam Währungsmarkt negativ wahrgenommen werden würde.

� Die Lektionen der jetzigen Krise könnten wie folgt interpretiert werden: Jegrößer das Rad, desto größer die Hilfe. Errichte Bankimperien, die zu groß füreinen Zusammenbruch sind („too big to fail“); wenn es zum Zusammenbruchkommt, dann erhöhe die Dramatik und steigere das Tempo, sodass die Hilfenauch ohne die sonst übliche Prüfung und Sorgfalt gewährt werden. Die Aus-schaltung des zentralen Prinzips der Haftung führt zu einem Anreizsystem, dasgenau in die falsche Richtung wirkt. Industriekapitäne aus der Automobil-branche haben von den Bankern gelernt und werden ebenfalls vorstellig. Es istnur eine Frage der Zeit, bis weitere Branchen und Unternehmen „Rettungs-schirme“ fordern. Auch auf der Ebene der Sparer verstärkt sich das „moral ha-zard“-Verhalten. Schon die Vorstellung, Banken und Bankgeschäfte einschließ-lich der Spareinlagen seien sicher, ist eine von der Politik begünstigte Illusion,die an der Realität vorbeigeht und nicht erfüllbar ist. Wirtschaften bedeutetimmer auch Risiko. Diese Risiken werden durch das Bankensystem transfor-miert. Somit geht es um das Managen von Risiken und vor allem um die Über-nahme eigener Verantwortung. Das aktuelle Signal der Politik ist aber, dass Ein-legern bei erkennbar kritischen Banken (zum Beispiel isländischen Instituten)geholfen wird und das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit ausgehebelt bleibt.Man braucht auch künftig nicht genauer hinzuschauen, wem man sein Geldanvertraut.

� Unabhängig von der Frage, ob Marktversagen oder Staatsversagen vorlag,wird der Zugriff der Politik auf die Banken und daraus abgeleitet auf die Wirt-schaft zunehmen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Verunsicherung an denMärkten für Eigen- und Fremdkapital so groß ist, weil der Staat sich so stark en-gagiert. Womöglich werden Bankaktien und entsprechende Schuldverschrei-bungen abgestraft, weil künftig der Staat als zweiter Einflussfaktor auf die Be-

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Ordnungspolitische Positionen

20 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

lange von Arbeitnehmern, Kunden und seine eigenen industriepolitischenVorstellungen abstellt und damit die Kalkulation verzerrt. Aufgrund der be-kannten Politikprobleme – zum Beispiel im Zusammenhang mit Wahlzyklen –droht eine erhöhte Volatilität. Politische Instabilitäten oder Blockaden könn-ten noch stärker auf Banken und Unternehmen ausstrahlen, als dies ohnehinschon der Fall ist. Auch dies erhöht die Risikoprämien des Marktes. Dass auchkünftig nicht überlebensfähige Banken durch subventionierende Hilfspaketeam Leben gehalten werden, wirkt sich negativ auf die wettbewerbsfähigen Ins -titute aus. Wenn deswegen der Markt auch wettbewerbsfähige Institute abstraft,wird die Informationsfunktion für die Differenzierung von Starken und Schwa-chen gestört. Dies erhöht die Risikoprämien im Markt insgesamt und lässt Kur-se verfallen. Die durch die technische Revolution in der Informationstechno-logie ausgelösten dramatischen Veränderungen haben das deutsche Bankwe-sen, das seit geraumer Zeit unter Überkapazitäten leidet, erheblichen Heraus-forderungen ausgesetzt. Werden diese Strukturen aufrechterhalten, steigendie Kosten für die Gemeinschaft.

� Im Zuge der Blasen in der Geld- und Realwirtschaft ist es zu erheblichenFehlentwicklungen gekommen. Wenn vermutet wird, dass die jetzige Situationdurch übermäßigen Pessimismus gekennzeichnet sei, so gilt dies umgekehrtfür die vergangene lang andauernde weltwirtschaftliche Boom-Phase. In sol-chen Situationen gilt, dass oft investiert und fusioniert wird, nicht weil es sichaufgrund genauer Kalkulationen rechnet, sondern weil es auch die anderentun. Dann lautet die Devise: „Es wird schon gut gehen.“ Diese Einstellung hatdie Verschuldung der US-amerikanischen Immobilienbesitzer und der Kredit-karteninhaber weitgehend geprägt. Die hiervon ausgehende Sogwirkung hatin aller Welt Kapazitäten entstehen lassen, die nun nach Platzen dieser BlasenVerwendung suchen. Die makroökonomische Annahme, man könne die weg-brechende Nachfrage aus den USA durch Ankurbelung des jeweiligen natio-nalen Konsums kompensieren, ist absurd: Die Chinesen werden nicht auf ein-mal Sportschuhe und Spielzeug kaufen, weil die Amerikaner darauf verzichtenmüssen. Bei jedem Boom gibt es zu groß Gewordenes, das in der Rezession aufNormalmaß zurückgestutzt wird. Joseph Schumpeter spricht von der „schöpferi-schen Zerstörung“, weil sich in der Rezession die Spreu vom Weizen trenne so-wie Ressourcen durch Kapazitätsabbau und Konkurse für neue Verwendungenfrei würden. Eine Überschwemmung mit Liquidität und großvolumigen Kon-junkturpaketen überspielte bloß diese Fehlentwicklungen, sodass dauerhaftBillig-Geld-Politik und wachsende Staatsverschuldung notwendig wären, umden befürchteten Beschäftigungseinbruch zu vermeiden. Japan betreibt diesePolitik seit dem Platzen der Immobilien- und Aktienblase um die Jahreswende1989/90: Der Refinanzierungssatz der Bank of Japan bewegt sich seitdemknapp über der Null-Linie, die offen ausgewiesene Staatsverschuldung ist indieser Zeit von circa 60 auf 160 Prozent hochgeschnellt, ohne dass sich die In-dustrie nachhaltig erholt hätte. Japan tut sich immer noch schwer mit dem Mit-schleppen des nicht Angepassten. Wenn nun überall die Politik Japans nach-gebildet wird, ist nicht auszuschließen, dass sich auch die Ergebnisse dieser Po-litik entsprechen.

Unsere unbequeme Schlussfolgerung könnte dann bedeuten: Es ist möglich,dass den Rettungspaketen damit dasselbe Schicksal blüht wie so manchem Feu-erwehreinsatz – der Wasserschaden übersteigt den Feuerschaden. �

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Der Staat als Retter

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Die Finanzmarktkrise beruht nichtauf einem SystemfehlerProf. Dr. Roland VaubelLehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim

� Die Finanzmarktkrise hat bei vielen Menschen Zweifel an der Funktionsfä-higkeit der Marktwirtschaft aufkommen lassen. Diese Zweifel werden von man-chen geschürt. Die SPD – allen voran Finanzminister Peer Steinbrück – hat dieDeutungshoheit an sich gerissen. In der CDU fehlt ein Ludwig Erhard – mankann sich inzwischen kaum noch vorstellen, dass er dort einmal Wirtschaftsmi-nister war –, der der wieder aufkeimenden Fundamentalkritik an der Markt-wirtschaft inhaltlich entgegentreten und die schlimmsten Fehler der sozialde-mokratischen Finanzpolitik abblocken könnte.

Die Marktwirtschaft ist ein hocheffizienter und herrschaftsfreier Koordina-tionsmechanismus. Aber sie kann natürlich nichts daran ändern, dass die Zu-kunft ungewiss ist. Sie funktioniert nach dem Prinzip des „trial and error“ (KarlPopper), denn der Wettbewerb bietet maximale Anreize zur Innovation. Der Irr-tum ist unvermeidlich. Wer von der Marktwirtschaft vollkommene Voraussichtfordert, verlangt Unmögliches. Der Staat – die Politiker und Beamten – wissenes auch nicht besser. Im Gegenteil, diejenigen, die die besten Prognosen ma-chen, zieht es eher in den gut bezahlten Bankvorstand als in den engen Rockdes Beamten. Die Vorstellung, dass der Staat zum Beispiel in die Kreditvergabeder Banken eingreifen müsse, wie sie im Finanzmarktstabilisierungsgesetz ih-ren Ausdruck findet, ist daher völlig verfehlt.

Bundesfinanzminister Steinbrück geht von einer falschen Ursachenanalyse aus.Nach seiner Meinung sind nicht falsche Erwartungen, sondern falsche Anrei-ze für die Krise verantwortlich. So schreibt auch Hans-Werner Sinn im Ifo-Stand-punkt vom 28. Oktober 2008: „Die Wechselwirkung zwischen dem Anreiz, dasEigenkapital zu minimieren, und dem Anreiz zum Glücksspielen verursachtedie amerikanische Krise. (…) Die Krise breitete sich aus, weil das amerikani-sche Bankensystem nicht in ausreichendem Maß risikoscheu war, ja in vielenFällen das Risiko geradezu suchte.“ In der Wirtschaftswoche vom 13. Oktober2008 bezeichnet Sinn die großen amerikanischen Investment-Banken gar als„Glücksritter“ und „hemmungslos“ in der Ausnutzung ihrer Haftungsbe-schränkungen. Die sozialdemokratische Botschaft lautet also: Zur Krise ist esgekommen, weil die Marktwirtschaft die Anreize falsch setzt; es handelt sichum einen Systemfehler, deshalb müssen die Banken jetzt umfassend vom Staatreguliert werden.

Falsche Einschätzungen, nicht fehlende Haftung der Manager

Die Haftungsbeschränkungen des Konkursrechts sind nichts Neues. Dass Ma-nager einen kürzeren Planungshorizont besitzen als Eigentümer, war auchschon immer so. Dass Manager auch zunehmend über Aktienoptionen amUnternehmenserfolg beteiligt werden, hat daran nichts geändert. Außerdemhaben sich die neuen Formen der Erfolgsbeteiligung nicht nur bei den Ban-ken, sondern in allen Wirtschaftszweigen durchgesetzt. Sind jetzt alle Managerzu „Glücksrittern“ geworden? Das ist die Welt der Abenteuerfilme, nicht dieRealität.

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Ordnungspolitische Positionen

22 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Aus den Haftungsbeschränkungen der Manager und der Eigentümer – zumBeispiel der Aktionäre – folgt nicht, dass sie den Konkurs leichtfertig in Kaufnehmen. Ein Bild kann dies verdeutlichen. Betrachten wir den Piloten einesvollbesetzten Passagierflugzeugs. Er haftet nicht für den gesamten Schaden,der entsteht, wenn er einen schweren Fehler macht, das Flugzeug abstürzt undalle Insassen umkommen. Da er selbst nur einen Teil des Schadens trägt, müss teer nach Sinns Argumentation zu risikofreudig sein. In Wirklichkeit ist er es abernicht, denn der Absturz würde ihn sein Leben kosten. Das ist ein hinreichen-der Anreiz, den Absturz zu vermeiden. Ein Konkurs ist ein Absturz.

Ob die Banken die Risiken „gesucht“ oder unterschätzt haben, kann man auchan der Entwicklung der relativen Risikoprämien ablesen. Wie eine Analyse deramerikanischen Ökonomen Yuliya Demyanyk und Otto Van Hemert aus dem Jahr2008 zeigt, waren die Risikoprämien für Hypotheken geringer Bonität in denJahren vor der Krise niedrig, sie sind ab 2001 sogar gefallen. War dies eine Fol-ge abnehmender Risikoscheu, oder hat der Markt die Risiken zunehmendunterschätzt? Wenn die Risikoscheu der Banken aufgrund von Anreizproble-men – zum Beispiel wegen der neuen Formen der Erfolgsbeteiligung von Ma-nagern – abgenommen hätte, hätten die Risikoprämien auch für andere Anla-geobjekte – also im gesamten Finanzmarkt – abnehmen müssen. Das war nichtder Fall. Der Rückgang der Risikoprämien nur für Hypotheken geringer Bo-nität zeigt daher an, dass die zunehmenden Risiken in diesem Markt nicht er-kannt wurden.

Die Banker haben nicht wider besseres Wissen die Krise riskiert. Sie haben dieRisiken nicht gesucht, sondern falsch eingeschätzt und sich damit in eine sehrunangenehme Lage gebracht, die sie auf jeden Fall gerne vermieden hätten.

Strenge Finanzierungsregeln statt mächtiger Aufsichtsbehörde

Wenn aus der Krise Lehren gezogen werden sollen, ist es müßig, über Mana-gergehälter und die Haftungsbeschränkungen des Konkursrechts nachzuden-ken. Auch sollte der Staat den Banken nicht vorschreiben, was für Forderun-gen sie erwerben dürfen oder sollen und in welchem Umfang, denn davon ver-steht er nichts. Ganz falsch wäre es, wie von vielen gefordert, durch staatlicheRegulierungen die Spekulation zu unterdrücken oder zu erschweren. Die Spe-kulation erfüllt eine nützliche Funktion. Die Preise, die die Spekulanten bietenoder fordern, zeigen ihre Erwartungen an. Sie sind wichtige Informationenauch für andere, die sich ein eigenes Urteil nicht zutrauen. Insofern stellen dieSpekulanten – ohne es zu wollen – ein öffentliches Gut bereit. Man kann nichtdadurch, dass man das Thermometer (die Spekulation) zerstört, die Krankheit(den Irrtum) oder das Fieber (die Krise) bekämpfen.

Richtig sind dagegen Reformen, die verhindern, dass das Platzen einer Speku-lationsblase zu Bankenkonkursen und einer Finanzmarktpanik führt. Da solcheFehleinschätzungen die ganze Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen, ist es durch-aus gerechtfertigt, von den Banken eine Verstärkung ihrer Risikopuffer, dasheißt eine Erhöhung ihres Eigenkapitals zu verlangen. Notwendig ist also einestrengere gesetzliche Finanzierungsregel, nicht eine mächtigere staatliche Auf-sichtsbehörde, die nach eigenem Ermessen in die Dispositionsfreiheit der Ban-ken eingreift; und die Begründung für die Verschärfung der Eigenkapitalvor-schriften ist eben nicht – wie bei Sinn –, dass sonst die Anreize nicht stimmenwürden, sondern die Tatsache, dass das Irrtumspotenzial der Banker offen-sichtlich größer ist, als wir bisher gedacht haben. Der Grundsatz muss lauten:Regulierung ja, wenn es darum geht, sich besser auf den Irrtum vorzubereiten;

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Der Staat als Retter

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Regulierung nein, wenn sich der Staat anmaßt, kraft besseren Wissens Irrtümerverhindern zu wollen. Unproblematisch sind auch Vorschriften, die mehrTransparenz herstellen und damit den Marktteilnehmern helfen, Irrtümer zuvermeiden – zum Beispiel Offenlegungspflichten für die außerbilanziellen Po-sitionen der Banken und die Beratungsaufträge der Rating-Agenturen.

Verfehlt sind nicht nur die sozialdemokratischen Reformvorstellungen, son-dern auch die bereits ergriffenen Maßnahmen der akuten Krisenbekämpfung.Selbstverständlich muss der Staat eingreifen, wenn eine Panik ausbricht. Nurer hat aufgrund seiner Steuerhoheit, das heißt seines Zwangsmonopols, dieMöglichkeit, die notwendigen Garantien zu geben. Aber die Hilfe muss auf die-jenigen Banken beschränkt bleiben, die tatsächlich vor dem Konkurs stehen.Wenn der Staat dagegen wie in Deutschland allen Banken – auch den solven-ten – bestimmte Einlagen und Kredite garantiert oder faule Kredite abkauftoder eine staatliche Kapitalbeteiligung anbietet, dann erzeugt er Mitnahmeef-fekte, die nicht nur seine Hilfsprogramme verteuern, sondern auch uner-wünschte Anreizwirkungen haben. Diese Fehlanreize sind voll wirksam, dennsie laden nicht dazu ein, den Konkurs zu riskieren, sondern ganz im Gegenteilstaatliche Subventionen zu erhalten. Es hätte völlig genügt, eine befristete Ga-rantie abzugeben, dass jede „systemrelevante“ Bank, die vor dem Konkurssteht, von einer staatlichen Auffanggesellschaft rekapitalisiert und dann wiederprivatisiert wird. Das ist die Lösung, die die bürgerliche Regierung Schwedens1992 mit Erfolg praktiziert hat.

Wirtschaftspolitik sollte vor Ort gemacht werden

Sind jetzt internationale Lösungen notwendig? Die Finanzmärkte sind inter-national integriert – das macht sie so effizient. Aber daraus folgt nicht, dassauch die Finanzmarktpolitik international integriert sein sollte. Auch bei inter-nationaler Interdependenz der Märkte ist dezentrale Wirtschaftspolitik effi-zient, wenn jeder einzelne Staat jedem seiner wirtschaftspolitischen Ziele einInstrument zuordnet – das Instrument, das für das jeweilige Ziel am besten ge-eignet ist. Das ist die sogenannte Zuordnungslösung (Assignment Solution),für die Robert Mundell den Nobelpreis erhalten hat. Wenn jede Regierung da -rauf achtet, was die anderen Regierungen tun, ergibt sich ein stabiles und effi-zientes Gleichgewicht.

Jeder Staat hat einen hinreichenden Anreiz zu verhindern, dass sein Banken-system zusammenbricht. Es ist auch nicht sinnvoll, dass alle das Gleiche tun,denn niemand weiß, wie sehr die Risikopuffer verstärkt und die Offenlegungs-pflichten erweitert werden müssen. Um dies herauszufinden, bedarf es zahl-reicher Experimente – nicht eines Weltregimes oder europäischer Richtlinien.

Leider wird immer wieder behauptet, dass Regulierungen auf internationalerEbene zentralisiert sein müssten, weil sonst ein Wettlauf zum regulatorischenNullpunkt ausbreche. Diese Behauptung ist falsch, denn eine sinnvolle Regu-lierung verursacht nicht nur Kosten, sondern auch volkswirtschaftlichen Nut-zen: Finanzmarktstabilität. Kein Staat ist daran interessiert, durch Verzicht aufRegulierung Banken anzulocken, wenn er befürchten muss, dadurch eine Fi-nanzmarktkrise auszulösen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn die Re-gierungen ein internationales Regulierungskartell errichten, werden sie ihreMacht missbrauchen, denn niemand kann ihnen entkommen. Das geht zulas-ten der Freiheit. Wirtschaftspolitik sollte vor Ort gemacht werden, denn dortsind die notwendigen Informationen am ehesten vorhanden, und dort funk-tioniert die demokratische Kontrolle am besten. �

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Ordnungspolitische Positionen

24 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Wie viel Staat ist gut für einen guten Staat?Otto Fricke MdBVorsitzender des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages

� Angesichts der Entwicklung auf den Kapitalmärkten und den sich daraus er-gebenden Negativimplikationen für die Wirtschaft und somit letztlich auch fürden Arbeitsmarkt werden die Rufe nach einem starken Staat, der die Dinge re-geln muss, immer lauter. In Zeiten des global grassierenden Misstrauens unterden Banken scheint einzig der Staat in der Lage zu sein, Vertrauen stiftend zuwirken. Hierin zeigt sich vermeintlich für einige Beobachter das Scheitern desMarktes und damit auch, dass das Modell der Sozialen Marktwirtschaft insge -samt am Ende ist. Jedenfalls wird dies von den ewig Ges trigen, die immer nochan das Funktionieren des Sozialismus glauben, in dieser Zeit propagiert. Dasbisherige System soll damit in Misskredit gebracht werden. Umso mehr mussdieser auf populistischen Argumenten basierenden Kampagne widersprochenwerden. Die Soziale Marktwirtschaft ist keinesfalls am Ende – im Gegenteil: Sieist das einzige System, das imstande ist, die aktuelle Krise zu meistern.

Der Staat zwischen richtigem Maß und Selbstüberforderung

Gerade in der Verbindung des Marktes mit dem Sozialen, also der Frage, wieder Markt sozialdienlich eingerichtet werden kann, ohne dass er dabei seine Ei-genschaft als „freier Markt“ verliert, liegt der Kern dieses Systems. Es ist der Ge-danke, dass nur verteilt werden kann, was vorher erwirtschaftet worden ist. Die-ser Gedanke ist in seiner Logik bestechend, wurde jedoch von vielen nicht ver-standen oder will nicht verstanden werden.

Wie viel Staat sollte es sein, damit es ein guter, ein im besten Sinne starker Staatist? Der Staat ist wichtig dafür, dass bestimmte Regeln auf dem Markt geltenund eingehalten werden. Er bildet den Rahmen eines Bildes, dessen Inhaltfreier Gestaltung der Marktkräfte obliegt. Aber dass es den Staat überhauptbraucht, heißt mitnichten, dass jedwede Regulierung richtig sei. Im Verbundmit einem verfehlten, das Individuum wohlwollend entmündigenden Gerech-tigkeitskonzept fördert das fatale Vertrauen in staatliche Regulierung Wohl-standsverluste, Freiheitseinbußen und neue Ungerechtigkeiten. Deutschlandist noch ein Modell einer solch verfehlten Hypertrophie von Regulierung: Dasind leider immer noch zuhauf Regeln, die wirtschaftliche Aktivität und unter-nehmerische Risikobereitschaft hemmen – letztlich zu unser aller Schaden.

Die Reichweite staatlichen Eingriffs ist auch immer die Funktion staatlichenHandlungsspielraums. Der Staat aber – so heißt es oft – sei „klamm“. Insofernmüsste schon allein die staatliche Finanzlage einem übergroßen Staatsengage-ment einen Riegel vorschieben und dabei vor allem jene populistischen Stim-men dämpfen, die überall „mehr von allem für jeden“ fordern, ohne an die Fi-nanzierung all dessen nur einen Gedanken zu verschwenden.

Indes, dass der Staat klamm sei, ist kaum mehr als ein Gerücht. Einerseits sinddie Steuereinnahmen des Staates historisch hoch. Auch der wohl trainierte Ge-wichtheber, der gleich einen ganzen Jumbojet heben will, ist nicht schwach, son-dern lediglich vermessen. So liegt es beim Staat: Er überhebt sich. Es ist nicht zuwenig Geld da, es wird nur zu viel ausgegeben. Andererseits erhält eben jener an

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Der Staat als Retter

25Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

sich reiche, aber sich völlig überfordernde und sich deshalb überschuldendeStaat auf allen seinen Ebenen weiter Finanzmittel zur Verfügung gestellt. Das Ver-trauen in den Staat ist nirgendwo größer als auf dem Kapitalmarkt, mit gutemGrund: Wer dem Staat Geld leiht, hat kein Insolvenzrisiko zu befürchten. Dasführt zu Fehlallokationen und bedarf der Kompensation im Recht des Staatesselbst: Nur wenn der Mechanismus eines unbegrenzten Mittelzuflusses an denStaat durchbrochen wird, kann die Frage nach dem rechten Maß des Staates ei-ne praktisch belastbare Antwort finden. So könnte ein Neuverschuldungsverbotden staatlichen Finanzrahmen, bei einer Restflexibilität, a priori begrenzen.

Soziale Marktwirtschaft als beispielloses Erfolgsmodell

Wenn die Finanzierung von Mehrausgaben nur durch die Erhöhung von Steu-ern oder aber alternativ durch einen wachsenden Schuldenberg des Staates ge-sichert wird, nützt dies mittelfristig niemand. Im Gegenteil, ein „bankrotter“Staat schadet vordringlich denjenigen, die sich nicht helfen können. Der Staat,der funktionieren will, muss sich zunächst disziplinieren.

„Leistung muss sich wieder lohnen“ – eine häufig ausgesprochene Forderung.Genau da liegt die Herausforderung für den Staat: Hält er sich zurück und lässtden Dingen freien Lauf, gerade in einer immer komplizierter werdenden Welt,erdrückt der Starke, oft auch nur der Geschickte, den Schwachen. So kommtes zu sozialen Ungerechtigkeiten, die wir in unserer Gesellschaft vermeidenmüssen. Reguliert er hingegen zu stark, erhöht die Steuern ins Unerträgliche,unterwirft wirtschaftliches Handeln und sozialstaatliche Leistungen Tausen-den von Regeln und möglichst noch vielen Behörden auf vielen staatlichenEbenen, schreckt er einen Großteil der Bürger davon ab, Leistung zu erbrin-gen, und der Anreiz wird immer größer, das System auszunutzen, statt es zustärken. Das gilt im Steuerrecht übrigens in glei cher Weise wie im Sozialrecht.

Der Staat muss dort aktiv sein, wo wir ihn brauchen. Unsere Gesellschaftsidee istdie einer Verantwortungsgemeinschaft, zu der jeder nach seinen Möglichkeitenbeiträgt. Dies wird niemand ernsthaft infrage stellen. Dement sprechend geht esauch niemandem darum, diejenigen Ausgaben zu kürzen, die zweckmäßig sind,weil sie den Schwachen zugute kommen, aber eben nicht den Findigen oder garFaulen. Nicht ohne Grund gibt es das Wort Eigenverantwortung, während „Ei-gensolidarität“ sich sehr nach Einbahnstraße anhört. Nur wer sich, obgleich eres will, eigenverantwortlich nicht ausreichend helfen kann, dem hilft der Staat– darin liegt der Kerngedanke des Erhardschen Modells.

So sehe ich die zukünftige Rolle des Staates: Nachvollziehbare, vernünftigeund auf allen Ebenen transparente Leistungsmechanismen, die sich unter an-derem durch eine Reform des Steuersystems und eine strenge Ausgabendiszi-plin der öffentlichen Hand realisieren lassen, gehören dazu ebenso wie Re-geln, die den Marktteilnehmern die Freiheit geben, sich verantwortungsvoll ei-nem gesamtgesellschaftlich optimalen Ergebnis anzunähern. Ebenso gilt, dassderjenige, der die Regeln verletzt, konsequent und effektiv für die Verletzungzur Verantwortung gezogen wird. Gefragt sind letztlich alle.

Wem die Tragweite dieser Diskussion nicht bewusst ist: Es geht um unser Staats-system im Ganzen, das in den vergangenen 60 Jahren die Grundlage für Wohl-stand und sozialen Frieden in unserem Land bildete. Es ist ein beispielloses Er-folgsmodell, das Deutschland zu dem gemacht hat, was es heute ist. Einigemüssen offensichtlich daran erinnert werden, dass die Deutsche Einheit ohnedas System der Sozialen Marktwirtschaft nicht möglich gewesen wäre. �

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Aktuelle Wirtschaftspolitik

26 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Der Sachverständigenrat prognostiziert für daskommende Jahr im Jahresdurchschnitt ein Null-wachstum, für das Jahr 2008 erwartet er noch eineWachstumsrate von 1,7 Prozent. Allerdings konn-ten in dieser Mitte November abgeschlossenenPrognose die sich weiter eintrübenden Aussichten,insbesondere auch das unerwartet schwacheWachstum im dritten Quartal, nicht mehr berück-sichtigt werden. Nach Aussage von Ratsmitglie-dern nach der Veröffentlichung des Gutachtensergibt sich aufgrund dieses Tatbestandes sowohlfür 2008 als auch für 2009 ein leichter Revisions-bedarf nach unten.

Die Prognose geht davon aus, dass die Maßnah-men zur Stabilisierung der Finanzmärkte im kom-menden Jahr greifen werden und es zu keinermassiven Verknappung des Kreditangebots kom-men wird. Im Jahresverlauf wird es nach einemRückgang des Bruttoinlandsprodukts im erstenQuartal zu einer schwachen Erholung kommen.

Nach den im Gutachten enthaltenen Daten wirdim kommenden Jahr am ehesten noch der privateVerbrauch als Konjunkturstütze wirken können.Zugute kommen dem Privatkonsum zum einendie in der Aufschwungphase vereinbarten Lohn-steigerungen, zum anderen auch die Kaufkraftge-winne aufgrund der sinkenden Rohstoffpreise.Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich auchdie Steuer- und Abgabenbelastung der Arbeitneh-mer durch die Einkommensteuerprogression so-wie steigende Sozialversicherungsbeiträge erhö-hen wird. Auch die Arbeitsmarktsituation wird sichwieder verschlechtern, worunter der private Kon-sum leiden wird. Insgesamt werden die privaten

Konsumausgaben voraussichtlich mit einer Jahres-rate von 0,4 Prozent wachsen.

Den größten Wachstumsbeitrag wird im kommen-den Jahr der Staatsverbrauch liefern: Die staat-lichen Konsumausgaben werden voraussichtlichum 2,2 Prozent wachsen. Erheblichen negativenEinfluss auf das Wachstum werden dagegen dierückläufigen Tendenzen bei den Ausrüstungsin-vestitionen sowie bei den gewerblichen und priva-ten Bauinvestitionen ausüben. Die Ausrüstungsin-vestitionen werden – angesichts des zu erwarten-den Rückgangs in der Kapazitätsauslastung undder enger werdenden Finanzierungsspielräume –um 6,3 Prozent schrumpfen. Den Rückgang beiden Bauinvestitionen schätzt der Sachverständi-genrat mit 0,5 Prozent auf Jahressicht erheblichmoderater ein: Während Wohnungsbau und ge-werblicher Bau Rückgänge um 1,1 bzw. 1,4 Pro-zent verzeichnen werden, werden die öffentlichenBauinvestitionen mit 4,9 Prozent deutlich zuneh-men.

Die Exportkonjunktur wird im kommenden Jahrvollends erlahmen: Die Exporte von Waren undDienstleistungen, die 2008 noch um mehr als vier

Jahresgutachten des Sachverständigenrates:„Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken“Dr. Peter WesterheideWirtschaftswissenschaftler im Forschungsbereich „Internationale Finanzmärkte und Finanzmanagement“am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim

Das Jahresgutachten 2008/09 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung steht

ganz im Zeichen der aktuellen Finanzmarkt- und Konjunkturkrise. Wohl noch nie war die Unsicherheit über die wirt-

schaftliche Entwicklung so groß wie zum Zeitpunkt der Vorstellung des aktuellen Gutachtens. Im Zentrum der Vorschläge

steht eine expansive Fiskalpolitik, die vor allem Investitionen in das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft

beinhaltet.

Mitglieder des Rates

Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup (Vorsitzender)Prof. Dr. Peter BofingerProf. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang FranzProf. Dr. Beatrice Weder di MauroProf. Dr. Wolfgang Wiegard

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Sachverständigenrat

27Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Prozent zulegten, werden nach der Prognose desRates im kommenden Jahr nur noch um 0,4 Pro-zent wachsen. Die Importe werden mit 0,5 Prozentaber noch etwas stärker zunehmen: Vom Außen-beitrag wird daher insgesamt kein positiver Wachs-tumsbeitrag ausgehen.

Trotz der schlechten konjunkturellen Aussichtentrübt sich die Lage am Arbeitsmarkt nur allmäh-lich ein: Nach Ansicht des Rates wird die Quoteder registrierten Arbeitslosen nur marginal von7,8 Prozent im Jahr 2008 auf 7,9 Prozent imDurchschnitt des kommenden Jahres steigen. Die-ser geringe Anstieg ist zum Teil auf die positiveEntwicklung im Vorjahr und den daraus resultie-renden statistischen Unterhang zurückzuführen.Im Jahresverlauf 2009 wird sich die Entwicklungam Arbeitsmarkt aber zusehends verschlechtern.

Kranke Finanzmärkte:Finanzsystem auf der Intensivstation

Erwartungsgemäß befasst sich ein umfangreichesKapitel des Gutachtens mit den Ursachen der Fi-nanzmarktkrise sowie dem daraus erwachsendenReform- und Regulierungsbedarf. Das Gutachtenbeschreibt die Symptomatik der Krise bildhaft alskaskadenartig einsetzenden Verfall von Vermö-genswerten: Erst seien Kreditportfolios minderer,dann solche höherer Qualität entwertet worden.Daraufhin habe es die Aktien von Finanzinstitutio-nen getroffen, schließlich sei der Aktienmarkt ge-nerell unter erheblichen Druck geraten.

Die Ursachen der Krise sind nach Ansicht des Ra-tes vielfältig: Eine wichtige Rolle habe die langeZeit zu expansive Zinspolitik der amerikanischenNotenbank gespielt. Einen weiteren Beitrag habedie zunehmende Verbriefung von Problemkredi-ten und ihr Weiterverkauf am Kapitalmarkt geleis-tet. Von besonderer Bedeutung sei dabei die Ge-nerierung strukturierter Produkte mit vorgeblichhoher Bonität aus minderwertigen Basisanlagengewesen. Bereits im Jahresgutachten 2007 hattesich der Rat ausführlich mit dieser „Alchemie derVerbriefung“ befasst. Dabei hätten insbesonderedie Ratingagenturen eine unrühmliche Rolle ge-spielt, die wohl zum Teil auch auf einen Interes-senkonflikt zwischen der Beratung bei der Gestal-tung strukturierter Produkte und der Bewertungdieser Anlagen zurückzuführen sei. Ein weitererverhängnisvoller Aspekt war die Auslagerung vonriskanten Anlagen in außerbilanzielle Anlagevehi-kel, die längerfristige strukturierte Produkte auf

ihrer Aktivseite mit kurzfristigen Anleihen auf derPassivseite refinanzierten.

Durch den Zusammenbruch der amerikanischenInvestmentbank Lehman Brothers habe die Kri-sendynamik stark zugenommen. Vom Sachverstän-digenrat wird die unterlassene Stützung von Leh-man Brothers als klare Fehleinschätzung der US-Behörden bezeichnet: „Der damit entstandeneVertrauensverlust brachte in der Folge nahezu dasgesamte Kreditgeschäft zwischen den Banken zumErliegen“ (TZ 177).

Fundamentale Faktoren für die Verstärkung derKrise stellten die anhaltenden Wertverluste amamerikanischen Immobilienmarkt sowie die damiteinhergehenden Kreditausfälle und Vermögens-verluste dar. Eine Ursache für die prekäre Situa-tion am amerikanischen Häusermarkt war der zu-nehmende Anteil an variabel verzinsten Hypothe-ken mit anfänglich so niedrigem Schuldendienst,dass der Schuldenstand zunächst anstieg und dieHaushalte selbst bei sinkenden Zinsen bei dermeist nach zwei Jahren fälligen Zinsanpassung stei-gende Belastungen hinnehmen mussten. Bei denBanken führten die Kreditausfälle und andere Ver-mögenswertverluste zu einem überproportionalenRückgang der Bilanzsummen: Insbesondere gerie-ten stark fremdfinanzierte Banken ohne eigeneEinlagenbasis (wie zum Beispiel die Investment-banken) unter erheblichen Druck, Aktiva zu ver-äußern, um ihr ursprüngliches Verhältnis vonFremd- zu Eigenkapital wieder herzustellen. Derdadurch ausgelöste Verkaufsdruck verstärkte denVerfall der Vermögenswerte weiter.

Am Interbankenmarkt kam es – aufgrund massiverVertrauensverluste in das gesamte System – zu Re-finanzierungsproblemen. Dem konnten auch dieStabilisierungsaktionen der Europäischen Zentral-bank und der amerikanischen Notenbank nur be-grenzt entgegenwirken. Grundsätzlich begrüßtder Rat die massiven Interventionen der Zentral-banken, zumal dies nicht mit Inflationsgefahreneinhergehe: „Sofern der Zinssatz für Tagesgeld aufdem Niveau bleibt, (das) die Zentralbanken zurErreichung von Preisstabilität für notwendig er-achten, ist nicht von inflationären Folgen auszuge-hen“ (TZ 207). Erschwerend kam hinzu, dass einRun auf Staatsanleihen als sichere Anlagemöglich-keit einsetzte und sich damit eine inverse Zins-struktur – das heißt die Kurzfristzinsen sind höherals die Langfristzinsen – herausbildete. Dies brach-te Banken, die langfristige Verbindlichkeiten kurz-fristig refinanzieren, in weitere Schwierigkeiten.

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Aktuelle Wirtschaftspolitik

28 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Die mittlerweile in mehreren Ländern geschnür-ten Bankenrettungspakete werden vom Sachver-ständigenrat im Grundsatz begrüßt, da sie eine Ab-kehr von fallweisen Lösungen darstellen. Alsgrundsätzliche Elemente dieser Rettungspaketeerörtert der Sachverständigenrat staatliche Garan-tien für Bankverbindlichkeiten, eine Abkehr vonder zeitnahen Fair-Value-Bewertung von Bankakti-va, die Versorgung der Banken mit zusätzlichemEigenkapital sowie den Ankauf problembehafteterBankaktiva durch den Staat.

Für eine Beurteilung des deutschen Rettungspa-ketes sei es noch zu früh: Das deutsche Paket siehtGarantieermächtigungen bis zu 400 MilliardenEuro sowie die Rekapitalisierung und den Ankaufvon Risikopositionen der Banken in einem Um-fang von insgesamt bis zu 80 Milliarden Euro vor.Der Staat kann – abhängig von den ergriffenenMaßnahmen – in unterschiedlicher Weise Einflussauf das Geschäft der unterstützten Institute neh-men: von der Prüfung der Nachhaltigkeit der Ge-schäftspolitik über die Überprüfung der Anreiz-wirkungen von Vergütungssystemen sowie Gren-zen für die Vergütung von Organmitgliedern undGeschäftsleitern bis zum Verbot von Dividenden-zahlungen und Gewinnausschüttungen währendder Stabilisierungsmaßnahme.

Keine dauerhaften staatlichen Eingriffe!

Grundsätzlich hält der Sachverständigenrat dasEingreifen des Staates für notwendig, er pochtaber auf eine nachhaltige Restrukturierung des Fi-nanzsystems: „Ohne ein klares Konzept zur Re -strukturierung des Finanzsystems wäre nicht ge-währleistet, dass die umfassenden staatlichen Ei-genkapitalhilfen in jedem Fall zu zukunftsfähigenLösungen führen. Großzügige staatliche Mittelzu-führungen können sogar zur Folge haben, dassder Anpassungszwang für in Schwierigkeiten gera-tene Institute zurückgeht. Das größte Risiko desFonds ist deshalb darin zu sehen, dass er sich zu ei-nem Siechenheim für schwache Finanzinstituteentwickelt“ (TZ 243). Explizit warnt der Rat vorder „japanischen Krankheit“ (TZ 256), also demUnterlassen von notwendigen Restrukturierungenbei gleichzeitigem massivem Eingriff des Staates indas Bankensystem. Diese würde zu Lähmungser-scheinungen in der Realwirtschaft wie in der Fi-nanzwirtschaft führen.

Zugleich warnt der Rat aber auch vor zu weitrei-chenden Eingriffen in das operative Geschäft derBanken: Kritisch sieht das Gremium die vorgese-

hene Verpflichtung, bei Inanspruchnahme von Ei-genkapitalhilfen dem Kredit- und Kapitalbedarfder inländischen Wirtschaft, insbesondere demkleiner und mittlerer Unternehmen, Rechnung zutragen. „Eine aktive Rolle des Staates bei der Re -strukturierung sollte nicht mit einer anhaltendenstaatlichen Einflussnahme auf das operative Ge-schäft der Banken gleichgesetzt werden“ (TZ 246).

Nachdrücklich fordert der Rat umfassende Refor-men zur künftigen Krisenprävention, da die Ret-tungsaktionen des Staates auch künftig Anreize zuriskantem Handeln geben könnten: „Die Bedeu-tung des moralischen Risikos ist nach den massi-ven Interventionen, mit denen die Politik auf dieKrise reagieren musste, deutlich angestiegen“ (TZ258). Für die Prävention künftiger Krisen sprichtder Sachverständigenrat ein ganzes Bündel vonMaßnahmen an. Wichtig sei – ansetzend an derNiedrigzinspolitik der Fed als einer Ursache deraktuellen Krise –, dass die Stabilität des Finanzsys-tems in der Politik der Notenbanken stärkere Be-rücksichtigung finde. Auch sollten Bankenaufsichtund Geldpolitik besser verzahnt werden.

Die Finanzmarktaufsicht insgesamt sei reformbe-dürftig: Zu kritisieren sei insbesondere der „Tun-nelblick der Regulatoren“ (TZ 264), der auf dennationalen Fokus der Finanzmarktaufsicht und diefehlende Verknüpfung von Einzeldaten aus Ban-ken mit makroökonomischen Entwicklungen zu-rückzuführen sei. Aus diesem Grund votiert derSachverständigenrat für eine Stärkung der inter-nationalen Aufsicht: „Die erste unverzichtbareKernfunktion einer globalen Finanzaufsicht be-steht in einem Risikoerkennungs- und Frühwarn-system“ (TZ 273), in dem makroökonomische Da-ten und Entwicklungstrends mit einzelwirtschaft-lichen Daten der grenzübergreifend tätigen Kre-ditinstitute verknüpft werden. In diesem Rahmensei die Schaffung einer internationalen Finanzda-tenbank anzustreben (globales Kreditregister).Hohe Priorität hätten auch die Festlegung undSteuerung international anerkannter regulatori-scher Kerngrößen und Mindestnormen.

Ein besonderes Problem stelle die Prozyklizität desFinanzsystems dar: Im Aufschwung würden Risi-ken tendenziell unterschätzt, was bei der betrieb-lichen Finanzierung zum Aufbau zu großerFremdkapital-Anteile führe und im Abschwung zudrastischen Anpassungsreaktionen zwinge. Auchdie Bankenregulierung nach Basel II wirke überdie Risikogewichtung der Vermögensanlagen zurBemessung der regulatorischen Eigenkapital-unterlegung tendenziell prozyklisch. Der Sachver-

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Sachverständigenrat

29Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

ständigenrat spricht sich daher für eine zusätzlichenicht risikogewichtete Eigenkapitalkomponenteaus und diskutiert dafür verschiedene Ausgestal-tungsmöglichkeiten. In diesem Zusammenhangwerden auch die Vor- und Nachteile der am FairValue – also am aktuellen Marktwert – orientiertenUnternehmensbewertung erörtert. Grundsätzlichvotiert der Sachverständigenrat für die Beibehal-tung dieser Bewertungsmethode: „Wegen der un-strittigen Vorteile einer marktorientierten Bewer-tung kommt eine Abkehr von einer Bilanzierungnach dem Fair Value nicht in Frage“ (TZ 299). Essei aber durchaus zu überlegen, ob zumindest gro-ße Banken zu Informationszwecken nicht einezweite, am Handelsgesetzbuch und damit an derBewertung nach dem Vorsichtsprinzip orientierte,Bilanz erstellen sollten.

Angesiedelt werden sollte eine erweiterte Auf-sichtskompetenz vorzugsweise auf internationalerEbene: Am besten wäre eine Übertragung an denInternationalen Währungsfonds, der zu einem„International Monetary and Financial StabilityFund“ ausgebaut werden könnte. Als zweitbesteLösung könnte auf europäischer Ebene ein „Euro-päisches System der Bankenaufsicht“ (TZ 283) eta-bliert werden, das vor allem für die europaweit tä-tigen Banken zuständig sei. In Bezug auf Deutsch-land spricht sich der Rat für eine Zentralisierungder derzeit auf das Bundesamt für Finanzdienst-leistungsaufsicht und Deutsche Bundesbank auf-geteilten Bankenaufsicht unter einem Dach aus:„Nach wie vor erscheint eine solche Arbeitsteilungwenig zweckmäßig“ (TZ 284).

Finanzpolitik:Abkehr vom Konsolidierungskurs?

Im Jahr 2008 haben sich die öffentlichen Haushal-te positiv entwickelt: Das gesamtstaatliche Defizitbelief sich nur noch auf 0,1 Prozent des Bruttoin-landsprodukts. Lediglich auf Bundesebene warnoch ein Haushaltsdefizit zu verzeichnen, die an-deren staatlichen Haushalte konnten im Saldo aufneue Schuldenaufnahmen verzichten. 2003 hattedie Neuverschuldung noch vier Prozent betragen.Auch die Schuldenstandsquote ist im dritten Jahrin Folge auf jetzt 63,4 Prozent des Bruttoinlands-produkts gesunken.

Allerdings zollen die Sachverständigen der Fi-nanzpolitik kein uneingeschränktes Lob: So habedie Finanzpolitik im laufenden Jahr ihren Konsoli-dierungskurs verlassen, das strukturelle, das heißtkonjunkturbereinigte Defizit habe sich nicht wei-

ter verringert. Außerdem sei die Konsolidierungvor allem über Steuererhöhungen erfolgt, unteranderem über die Erhöhung der Umsatz- und Ver-sicherungssteuer sowie die Abschaffung der Pend-lerpauschale. In der besseren Haushaltssituationspiegeln sich zudem konjunkturelle Effekte wider.Langfristig sei dies möglicherweise wenig tragfä-hig: „Haushaltskonsolidierungen über die Einnah-meseite sind in der Regel weniger dauerhaft alsausgabenseitige Konsolidierungsstrategien“ (TZ302). Kritik – nicht nur, aber auch aus haushalts-politischer Sicht – übt der Rat an der außerplan-mäßigen Erhöhung der Renten und an der Ver-längerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengel-des für ältere Arbeitslose.

Im Hinblick auf die 2007 abgeschaffte – und nachdem aktuellen Urteil des Bundesverfassungsge-richtes1 neu zu regelnde – Pendlerpauschalespricht sich der Sachverständigenrat für eine ein-fache Lösung in Form einer reduzierten Pauscha-le für alle Pendler anstatt der bis zum Verfassungs-gerichtsurteil geltenden Härtefallregelung (Ent-fall der Pauschale für die ersten 20 Kilometer zumArbeitsplatz) aus. Grundsätzlich gehörten Fahrt-kosten zu den gemischt – also sowohl beruflich alsauch privat – veranlassten Aufwendungen, der Ge-setzgeber habe entsprechende Gestaltungsspiel-räume. Die Härtefallregelung führe zu Inkonsis-tenzen, zum Beispiel bei berufstätigen Ehegatten,die möglicherweise beide keine Fahrtkosten gel-tend machen können, obwohl in zumindest einemFall von eindeutig beruflich veranlassten und da-mit abzugsfähigen Aufwendungen auszugehen sei.

Neben der zusätzlichen Haushaltsbelastung durchdie Steuerrückerstattung für die wieder eingesetz-te Pendlerpauschale birgt die Erweiterung des Ab-zugs von Aufwendungen für die Krankenversiche-rung weitere Haushaltsrisiken. Hier ist vor allementscheidend, ob die erweiterte Abzugsfähigkeitnur für privat Versicherte gelte oder auch auf ge-setzlich Krankenversicherte ausgedehnt werde.Letzteres sei wahrscheinlich: „Ein Ausschluss dergesetzlich Versicherten wird wohl kaum in Fragekommen, da die Krankenversicherungsbeiträgeder meisten Arbeitnehmer derzeit deutlich denHöchstbetrag des Sonderausgabenabzugs über-schreiten“ (TZ 336).

1 Das Bundesverfassungsgericht hat am 9. Dezember 2008 ent-schieden, dass der Wegfall der Entfernungspauschale für die ersten20 Kilometer verfassungswidrig ist. Bis ein neues Gesetz erlassenist, gilt wieder und auch rückwirkend zum 1. Januar 2007, dass derWeg zur Arbeit ab dem ersten Kilometer steuerlich geltend gemachtwerden kann.

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Aktuelle Wirtschaftspolitik

30 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Hinzu kommen die derzeit noch schwer abschätz-baren Haushaltsbelastungen aus der Finanzmarkt-krise. Die Auswirkungen des Rettungspakets fürdie Banken sind differenziert zu beurteilen: Zumeinen wird es in der Finanzstatistik nicht zu einersofortigen Haushaltsbelastung auf Bundesebenekommen, da der Sonderfonds Finanzmarktstabili-sierung als ein Nebenhaushalt geführt wird. Dienach Abwicklung des Fonds verbleibenden Defizi-te werden anschließend auf Bund und Länder auf-geteilt. Zum anderen werden die Belastungen imRahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrech-nung – die auch für die Maastrichter Schulden-standskriterien relevant ist – einkalkuliert: Auchhier ist aber zu berücksichtigen, dass für die durchden Staat übernommenen Garantiezusagen nurdie erwarteten Ausfälle zu veranschlagen sind. Ei-genkapitalspritzen des Staates für die Banken er-höhen die Schulden zunächst einmal gar nicht, dadem Staat im Gegenzug Anteile an den Bankenübertragen werden. Allerdings: „Ein Beteiligungs-erwerb als rein finanzielle (das heißt im Rahmender Maastricht-Kriterien irrelevante) Transaktionzu beurteilen wäre (…) dann problematisch, wennein alternativer Investor das Geschäft nicht abge-schlossen hätte“ (TZ 341). Die Differenz zwischendem tatsächlichen Kaufpreis der Anteile und ih-rem tatsächlichen Marktwert müsste daher als De-fizit erhöhende Subvention gebucht werden.Immerhin: Angesichts der gegenwärtigen Ausnah-mesituation werden diese Haushaltsbelastungen –selbst wenn sie einen Verstoß gegen die Maast-richt-Kriterien darstellen – kaum zu Sanktionender EU führen.

Pessimistisch äußerst sich der Sachverständigenratzu den Erfolgsaussichten der Föderalismusreform,„eines der letzten großen Reformprojekte der Gro-ßen Koalition in dieser Legislaturperiode“ (TZ343). So seien die Verhandlungen zur Stärkungder Steuerautonomie der Bundesländer – dieauch der Sachverständigenrat im Grundsatz befür-wortet – festgefahren. Auch die Weiterentwicklungder Regelungen zur zulässigen Verschuldung desBundes und der Länder können in dieser Legisla-turperiode voraussichtlich nicht mehr zum Ab-schluss gebracht werden: „Scheitert auch diesesProjekt, hat die Große Koalition eine bedeutendeChance ungenutzt verstreichen lassen“ (TZ 350).

Verkorkste Reform der Erbschaftsteuer,mehr Komplexität durch die Abgeltungsteuer

Hart gehen die Sachverständigen mit der Erb-schaftsteuerreform ins Gericht. Auch wenn die

letzten Modifikationen der Erbschaftsteuerreformnicht mehr Eingang in das Gutachten gefundenhaben, ist die Kritik auf das jetzt von Bundestagund Bundesrat verabschiedete Gesetz übertragbar.Im Grundsatz kritisiert der Rat die Ungleichbe-handlung verschiedener Vermögensarten, insbe-sondere die massive Privilegierung betrieblichenVermögens, das – bei Einhaltung bestimmter Kri-terien – nach künftigem Rechtsstand vollkommenvon der Erbschaftsteuer befreit werden kann, wäh-rend vermietetes Wohneigentum und Geldvermö-gen viel höher belastet werden. Die Bevorzugungvon Betriebsvermögen damit zu rechtfertigen,dass damit Arbeitsplätze im Inland erhalten wür-den, sei schon deshalb verfehlt, weil die Regelungauch auf Unternehmen anzuwenden sei, die ihreProduktion ins europäische Ausland – etwa nachBulgarien oder Rumänien – verlagerten: „InDeutschland würden Arbeitsplätze abgebaut, imEU-Ausland Arbeitsplätze geschaffen“ (TZ 351).

Es wäre besser gewesen, die Erbschaftsteuer ganzzu streichen. Dies sei auch angesichts der geringenBedeutung der Erbschaftsteuer vorstellbar, da ihrjährliches Aufkommen in einer Größenordnungvon weniger als einem Prozent des Gesamtsteuer-aufkommens liege. „Man kann sich abschließendfragen, warum die Bundesregierung trotz anhal-tender Kritik über so lange Zeit an einem derartverkorksten Reformvorhaben festhält“ (TZ 376).

Hinsichtlich der zu Jahresbeginn 2009 eingeführ-ten Abgeltungsteuer erneuert der Rat seine Kritikan der mangelhaften Abstimmung mit der Unter-nehmensbesteuerung. Abermals rügt er die unter-schiedliche Belastung von Eigen- und Fremdfinan-zierung bei Kapitalgesellschaften und die fehlen-de Rechtsformneutralität. Außerdem habe die Re-form das Steuerrecht durch die damit einherge-henden steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten –wie zum Beispiel die neu eingeführte Thesaurie-rungsbegünstigung für Personengesellschaftenoder die Ausnahmen von der Anwendung der Ab-geltungsteuer bei Kapitalgesellschaften – weiterverkompliziert. Alles in allem „kann die Große Ko-alition mit Fug und Recht in Anspruch nehmen,einen der größten Komplexitätsschübe in der jün-geren deutschen Steuergeschichte verursacht zuhaben – und damit auch eines der umfangreichs -ten Arbeitsbeschaffungsprogramme für Steuerbe-rater“ (TZ 382).

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Sachverständigenrat

31Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Die Konjunkturpolitik besteht aus einemSammelsurium von Einzelmaßnahmen

Aus aktuellem Anlass befasst sich das Expertengre-mium ausführlich mit der Notwendigkeit und Aus-gestaltung staatlicher Konjunkturprogramme.Kurzfristige diskretionäre Stützungsmaßnahmenkönnten zwar theoretisch zur Glättung konjunktu-reller Schwankungen beitragen: „Grundsätzlichlassen sich stabilisierungspolitische Maßnahmenim Bereich der Geldpolitik oder der Finanzpolitikalso begründen. Die kritische Frage ist, ob sie ziel-genau ausgestaltet werden können“ (TZ 411). DerSachverständigenrat spricht sich zunächst dafüraus, die automatischen Stabilisatoren – konjunk-turbedingt geringere Steuer- und Beitragseinnah-men und staatliche Mehrausgaben, zum Beispielfür die Arbeitslosensicherung – ungehindert wir-ken zu lassen. Darüber hinausgehende finanzpoli-tische Stützungsmaßnahmen müssten, um vertret-bar zu sein, „schnell in Kraft treten, (…) zielgenausein (…) und (…) nur temporär mit möglichst ge-ringen schädlichen Nebenwirkungen eingesetztwerden“ (TZ 417). Aller Erfahrung nach kann ei-ne diskretionäre Finanzpolitik – insbesonderewegen des Fehlens exakter statistischer Daten zumEndscheidungszeitpunkt und wegen möglicherWirkungsverzögerungen – diese Anforderungennicht erfüllen: „Nimmt man neuere empirischeUntersuchungen zu den Wirkungen diskretionä-rer Finanzpolitik zur Kenntnis und ernst, kannman sich einer tiefen Skepsis gegenüber Versu-chen einer konjunkturstabilisierenden Finanzpoli-tik kaum verschließen“ (TZ 419).

Allerdings dürfe der Staat angesichts des drohen-den Abschwunges nicht untätig bleiben. Der Ratspricht sich aus diesem Grund für ein Konzept derwachstumsorientierten Konjunkturpolitik aus: Diejetzt zu ergreifenden Stützungsmaßnahmen soll-ten einerseits konjunkturstützende Wirkung ent-falten, andererseits aber auch die langfristigenWachstumschancen der deutschen Wirtschaft er-höhen. Auf der Einnahmeseite wäre hier vor alleman weitere Reformen des Unternehmensteuer-rechts, aber auch eine Minderung der Einkom-mensteuerprogression sowie die Einführung vonSteuergutschriften für die Förderung von For-schung und Entwicklung zu denken. Auf der Aus-gabenseite räumt der Sachverständigenrat Infra -strukturinvestitionen in das Straßen- und Schie-nennetz Priorität ein. Darüber hinaus empfiehlt erweitere Investitionen in die frühkindliche Bildung,die sich nach neueren Untersuchungen als be-sonders effektiv erwiesen haben.

Das Maßnahmenpaket der Bundesregierung zur„Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstär-kung“ hält der Sachverständigenrat für unzurei-chend und fehlspezifiziert. Insgesamt handele essich um ein „Sammelsurium von Einzelmaßnah-men“ (TZ 438). Zwar seien einzelne Maßnahmen– so die Verbesserung der Verkehrsinfrastrukturund auch die Verlängerung des Kurzarbeitergel-des – positiv zu bewerten. Grundsätzlich skeptischseien aber Stützungsmaßnahmen für die Automo-bilbranche zu sehen. Einerseits sei zu fragen, wa-rum ausgerechnet diese Branche gestützt werdensollte. Darüber hinaus stelle sich auch die Fragenach dem Sinn einzelner in diesem Kontext ge-planter Maßnahmen: „Warum das Eintreten derBundesregierung für ‚industriefreundliche‘ CO2-Grenzwerte für PKW ab dem Jahr 2012 (!) eine –bezogen auf den aktuellen Abschwung – konjunk-turgerechte Maßnahme darstellen soll, erschließtsich auch nach längerem Nachdenken nicht“ (TZ439). Auch die erhöhte Absetzbarkeit von Ausga-ben für Handwerksleistungen im privaten Haus-halt wird – wegen ihrer Wirkungsverzögerungenund wegen ihrer auf das Handwerk begrenztenAuswirkungen – kritisch gesehen. Für das im Rah-men des Maßnahmenpaketes vorgesehene „Si-cherheitsnetz für Beschäftigte“, das die Schaffungvon 1 000 zusätzlichen Stellen für Arbeitsvermittlervorsieht, hat der Rat schließlich nur Spott übrig:Im Vergleich zum Stabilisierungsfonds für die Ban-ken, der mit 480 Milliarden Euro dotiert sei, wirkedies „dann doch einigermaßen putzig“ (TZ 440).

Kern- und Randbelegschaften: Zwiespältige Entwicklung am Arbeitsmarkt

Insgesamt gesehen ist die Arbeitsmarktbilanz für2008 positiv: Die Zahl der Erwerbstätigen wuchsum 1,3 Prozent (nach 1,7 Prozent im Vorjahr), dieArbeitslosenquote konnte um 1,2 Prozentpunkteauf 7,8 Prozent reduziert werden. Damit ging eineerhebliche Reduzierung der Quote der offenenund verdeckten Arbeitslosigkeit von 11,4 auf 10,1Prozent einher: Dies ist vor allem auch auf das Aus-laufen der Sonderregelung nach § 428 im drittenTeil des Sozialgesetzbuches (Arbeitslosengeld un-ter erleichterten Voraussetzungen an über 58-Jäh-rige) zurückzuführen. Erstmals war im laufendenJahr auch wieder ein Stellenüberhang am Berufs-ausbildungsmarkt zu verzeichnen.

Grundsätzlich kann der Arbeitsmarkterfolg so-wohl auf den konjunkturellen Aufschwung alsauch auf die in den vergangenen Jahren geübteLohnzurückhaltung und die Arbeitsmarktrefor-

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Aktuelle Wirtschaftspolitik

32 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

men zurückgeführt werden. Um den nicht-kon-junkturellen Anteil am Abbau der Arbeitslosigkeitzu bestimmen, untersucht der Rat die Entwicklungder inflationsstabilen Arbeitslosenquote, also derArbeitslosenquote, bei der vom Arbeitsmarkt keinzusätzlicher Lohndruck ausgeht: Wenn diese – un-beobachtbare und nur durch ökonometrischeSchätzungen ermittelbare – Quote abnimmt, dannstellt dies einen Beleg für ein Absinken der nichtkonjunkturell bedingten Arbeitslosigkeit dar. Die-se Quote ist nach den Schätzungen des Rates umknapp zwei Prozentpunkte zwischen dem zweitenQuartal 2005 und dem zweiten Quartal 2008 zu-rückgegangen: Es handele sich um den stärkstenRückgang in den letzten 30 Jahren.

Auch ein Vergleich der letzten drei Aufschwung-phasen zeigt eine besonders ausgeprägte Entwick-lung im letzten, gleichwohl auch besonders langenAufschwung im Hinblick auf den Abbau der Ar-beitslosigkeit. Die rückläufige Entwicklung bei denVollzeitstellen ist zum Stillstand gekommen: „Erst-mals seit der deutschen Vereinigung ist es gelun-gen, den Rückgang der Zahl der vollzeitbeschäf-tigten Arbeitnehmer zu stoppen“ (TZ 484). Be-sonders erfreulich sei der damit einhergehendeZuwachs bei der sozialversicherungspflichtigenBeschäftigung.

Trotz der insgesamt erfreulichen Entwicklung inden letzten Jahren sieht der Sachverständigenratnoch erheblichen Handlungsbedarf in der Flexi-bilisierung des Arbeitsmarktes. Er beklagt eine„ungleiche Verteilung der Chancen und Risiken,konkret: die weitere Ausdifferenzierung in Kern-und Randbelegschaften“ (TZ 422). Das Grund-problem sei, dass Normalarbeitsverhältnisse – etwaim Rahmen des Kündigungsschutzes – überregu-liert seien, die Last der Anpassung an wechselndebetriebliche Auslastungsschwankungen daher inerheblichem Maße von sogenannten Randbeleg-schaften (Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Mi-nijobs) getragen werde. Zu beklagen sei nach wievor auch die Verfestigung der Arbeitslosigkeit:Trotz eines deutlichen Rückgangs der Langzeitar-beitslosigkeit (um drei Prozentpunkte in einemJahr auf 37,4 Prozent im September 2008) ist inDeutschland der Anteil der Langzeitarbeitslosenan allen Arbeitslosen im internationalen Vergleichmit am höchsten.

Aus diesem Grund beklagt der Sachverständigen-rat die aktuellen Entwicklungstendenzen in derLohn- und Arbeitsmarktpolitik. Die Tariflohnpoli-tik hat nach Ansicht des Rates den Pfad der Lohn-zurückhaltung verlassen. Der durch den Produkti-

vitätsfortschritt eröffnete Spielraum betrage 1,3Prozent, die Lohnsteigerungen dagegen imDurchschnitt 2,5 Prozent: „Der Verteilungsspiel-raum wurde mithin überzogen, die Tarifvertrags-parteien sind ihrer lohnpolitischen Verantwortungim Jahr 2008 – im Gegensatz zu den drei vorange-gangenen Jahren – nicht nachgekommen“ (TZ496). Deutliche Kritik üben die Experten auch ander Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslo-sengeldes für ältere Arbeitslose: „Die empirischeLiteratur liefert eindeutige Hinweise, dass die zeit-liche Ausdehnung des Anspruchs auf Arbeitslo-senunterstützung den Verbleib in der Arbeitslosig-keit verlängert“ (TZ 498).

Ursachen für die Zunahme atypischer Beschäftigung

Ausführlich beschäftigt sich das Gutachten mitden Ursachen für die Zunahme der atypischen Be-schäftigungsverhältnisse in den vergangenen Jah-ren: Diese können einerseits zwar den Präferenzender Arbeitnehmer entsprechen (Teilzeitbeschäfti-gung aus familiären Gründen, die zudem steuer-lich und sozialversicherungsrechtlich bevorzugtbehandelt wird), andererseits können sie aberauch auf ein unzureichendes Angebot an Normal-arbeitsverhältnissen zurückzuführen sein: „Selbstbei intensiver Arbeitsplatzsuche, hoher Mobilitäts-bereitschaft und reduziertem Anspruchslohn müs-sen die Arbeitssuchenden auf nicht oder wenigerpräferierte atypische Beschäftigungsformen aus-weichen, wenn es an eigentlich vorgezogenen nor-malen Arbeitsplätzen mangelt“ (TZ 521).

Aus Sicht der Arbeitgeber sind eine Reihe theore-tischer Vorteile aufzulisten: geringere Lohnkosten,keine Kosten für die betriebliche Altersvorsorgeund geringere Anpassungskosten (Vermeidungvon Einstellungskosten regulär Beschäftigter, Ver-meidung von Überstundenzuschlägen, Vermei-dung freigestellter Betriebsräte, kein restriktiverKündigungsschutz). Im Kern macht der Sachver-ständigenrat drei Ursachenkomplexe für die Zu-nahme der Randbeschäftigung aus: Druck durchdie Arbeitsmarktreformen auf die Arbeitssuchen-den und damit einhergehend eine höhere Bereit-schaft, auch weniger präferierte Arbeitsplätze zuakzeptieren, steigende Anforderungen an die Fle-xibilität von Unternehmen und eine zunehmendeAttraktivität der Leiharbeit.

Empirische Belege deuten darauf hin, dass es ei-nen Zusammenhang zwischen der Regulierungs-dichte auf dem Arbeitsmarkt und dem Anteil aty-

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Sachverständigenrat

33Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

pischer Arbeitsverhältnisse gibt. Soweit die Zunah-me der Randarbeitsverhältnisse als eine Reaktionauf die zu rigide Regulierung von Normalarbeits-verhältnissen, etwa im Rahmen des Kündigungs-schutzes, oder als Ausweichreaktionen auf eine zuhohe Belastung mit Steuern und Sozialabgabeninterpretiert werden kann, „muss sich die Wirt-schaftspolitik angesprochen fühlen, weil die Chan-cen und Risiken auf dem Arbeitsmarkt nicht prä-ferenzbedingt einer ungleichen Verteilung unter-liegen“ (TZ 530). Der Rat fordert hier eine Be-kämpfung der Ursache, „um so den atypischen Be-schäftigungsverhältnissen den Boden zu entzie-hen“ (Zf. 530).

Vorgeschlagene Maßnahmen

� Ein erstes Maßnahmenpaket betrifft die Re-form des Kündigungsschutzes und Modifikationenbeim Beitrag zur Arbeitslosenversicherung. So sol-len betriebliche Kündigungen leichter möglichsein, wenn zuvor Abfindungsregelungen zwischenArbeitgeber und Beschäftigten vereinbart wurden.Um die Kosten betriebsbedingter Kündungen da -rüber hinaus zu internalisieren, schlägt der Ratvor, die arbeitgeberseitigen Beiträge zur Arbeitslo-senversicherung in Abhängigkeit von der Belas-tung der Arbeitslosenversicherung durch betriebs-bedingte Kündigungen des einzelnen Unterneh-mens zu staffeln. Zu diesem „experience rating“liegen empirische Studien aus den USA vor, dieauf eine Verringerung von Beschäftigungsschwan-kungen schließen lassen: Diese Empfehlung wirdaber von den Ratsmitgliedern Bert Rürup und PeterBofinger nicht mitgetragen: „Negativ betroffen wür-den (…) in der Summe Arbeitnehmer mit erhöh-ten Entlassungsrisiken wie zum Beispiel Gering-qualifizierte oder Ältere und damit gerade die so-genannten Problemgruppen am Arbeitsmarkt“(TZ 544).

� Darüber hinaus verweist der Rat auf das vonihm auch im Jahresgutachten 2006 schon entwi-ckelte Kombilohnmodell: Er empfiehlt, einerseitsdie Hinzuverdienstmöglichkeiten beim Arbeitslo-sengeld II (ALG II) zu verbessern, um zusätzlicheAnreize zur Arbeitsaufnahme zu geben, und ande-rerseits den Regelsatz zu senken, um das Nichtar-beiten unattraktiver zu machen. Konkret sprichter sich für eine Senkung der Anrechnung von 80auf 50 Prozent aus, allerdings bei einer Vollan-rechnung der ersten 200 Euro und unter Berück-sichtigung einer zusätzlichen Werbungskosten-pauschale von 40 Euro. Im Gegenzug sollte derRegelsatz für erwerbsfähige Angehörige einer Be-

darfsgemeinschaft um 30 Prozent abgesenkt wer-den: Gleichzeitig müsste diesem Personenkreisaber eine ausreichende Anzahl an Arbeitsgelegen-heiten angeboten werden. Parallel dazu sollte dieAttraktivität von Minijobs reduziert werden, indemdie Grenze für geringfügige Beschäftigungsver-hältnisse auf 200 Euro gesenkt wird: Diese Syn-chronisation mit den modifizierten Zuverdienst-grenzen des ALG II würde Minijobs für ALG-II-Be-zieher uninteressant machen.

� Ein dritter Maßnahmenkomplex betrifft dieFlexibilisierung des Tarifvertragsrechts. Hier ver-weist der Rat wiederum auf seine altbekannte For-derung, das Günstigkeitsprinzip auf den Aspektder Arbeitsplatzsicherheit auszudehnen. Dies er-übrige sich auch nicht angesichts der zunehmen-den Bedeutung von Öffnungsklauseln in den Ta-rifverträgen, da vielfach solche Klauseln noch fehl-ten oder ihre Wirksamkeit an das Bestehen einesBetriebsrats geknüpft sei. Dieser Ansicht wider-spricht Bert Rürup in einem Minderheitsvotum: Ersieht die Gefahr einer Aushöhlung der Tarifbin-dung, wenn das Günstigkeitsprinzip in der ange-gebenen Weise ausgedehnt werde. Er verweist aufdie vielfältigen Flexibilisierungen (Härtefallrege-lungen, Öffnungsklauseln), die in der Vergangen-heit bereits Eingang in die Flächentarife gefundenhätten sowie auch Differenzierungen zur Beschäf-tigungssicherung und Verbesserung der Wettbe-werbsfähigkeit erlaubten.

Die Mehrheit des Sachverständigenrates sprichtsich auch weiterhin gegen Mindestlöhne aus: Die-se seien kein geeignetes Instrument zur Beseiti-gung der Diskriminierung von Minderheiten amArbeitsmarkt: „So sehr Diskriminierungen zu be-kämpfen sind, den Diskriminierten nützte es we-nig, wenn ihre Diskriminierung unter Fortfall ih-res Arbeitsplatzes beseitigt würde“ (TZ 577). Auchdiese Empfehlung wird gleichwohl von Bert Rürupnicht mitgetragen, der einen niedrigen Mindest-lohn in Höhe von etwa 4,50 Euro je Stunde als ver-tretbar ansieht: Dies helfe, die staatliche Subven-tionierung der Unternehmen durch die Aufsto-ckung der Löhne im Rahmen von Kombilohnmo-dellen zu vermeiden.

Ein umfassendes Minderheitsvotum zum Arbeits-markt wird von Peter Bofinger abgegeben: Er siehtkeine Belege für die These, dass der beschäfti-gungspolitische Erfolg der letzten Jahre auch aufdie Arbeitsmarktreformen und die Lohnzurück-haltung der Tarifvertragsparteien zurückgeführtwerden kann. Vielmehr verweist er auf das im Ver-gleich zu anderen EU-Ländern und den USA

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Aktuelle Wirtschaftspolitik

34 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

unterdurchschnittliche Wirtschaftswachstum underklärt dies mit einem zu geringen Wachstum derprivaten Konsumnachfrage. Die zurückhaltendeLohnpolitik habe für den Konsum trotz steigenderBeschäftigungschancen wenig gebracht: Die Ein-kommen der neu Beschäftigten seien häufig nichtwesentlich höher gewesen als das Arbeitslosen-geld. Eine zurückhaltende Lohnpolitik sei auchfür die Zukunft nicht zu empfehlen, da der privateVerbrauch neben dem Staatskonsum „die einzigenoch verbleibende Stütze der deutschen Wirt-schaft darstellt“ (TZ 608).

Kaum noch Reformbedarf in der Rentenversicherung

In den verschiedenen Zweigen der Sozialversiche-rung sieht der Rat unterschiedlichen Reformbe-darf. Grundsätzlich am wenigsten reformbedürf-tig ist das System der Rentenversicherung. Hierseien alle wesentlichen Reformen umgesetzt wor-den. Nachdrückliche Kritik übt der Rat aber ander außerplanmäßigen Rentenerhöhung der Jahre2008 und 2009: Zwar seien angesichts der guten Fi-nanzlage in der Rentenversicherung keine Bei-tragserhöhungen erforderlich gewesen, um dieseRentensteigerung zu finanzieren. Dennoch wer-den „die Beitragszahler durch diese außerplanmä-ßige Rentenerhöhung betroffen, da nach Lage derDinge zu erwartende Beitragssatzsenkungen erstspäter vorgenommen werden können“ (TZ 617).Disziplin in der Rentenpolitik sei vor allem auchanzumahnen, weil es Anfang des nächsten Jahr-zehnts (2011 und 2012) zu weiteren sehr geringenRentensteigerungen kommen wird, „die es poli-tisch zu verkraften gilt“ (TZ 623). Sollte diese Dis-ziplin nicht aufgebracht und die unterlassenenAnpassungen nicht nachgeholt werden, wären spä-tere Beitragssatzerhöhungen unvermeidlich.

Darüber hinaus spricht sich der Rat für eine ein-heitliche Berechnung der Rentenansprüche inbeiden Teilen Deutschlands aus. Gegenwärtig sinddie Ost-Rentner noch privilegiert, weil sie für glei-che Entgelte höhere Rentenanwartschaften erwer-ben als Westdeutsche. Eine Beispielrechnungzeigt, dass ein Versicherter in Westdeutschland miteinem Rentenversicherungsbeitrag von 5 790 Eurojährlich eine Rentenanwartschaft von 26,60 Euroim Monat erwirbt. Für einen ostdeutschen Arbeit-nehmer mit gleichem Beitrag ergibt sich dagegeneine um etwa vier Prozent höhere Anwartschaftvon monatlich 27,68 Euro. Aus diesen anfangs ge-ringen Unterschieden können im Laufe der Jahreerhebliche Differenzen bei der Rentenhöhe er-

wachsen. Trotz der gegenwärtig noch bestehen-den Unterschiede in den Durchschnittslöhnenzwischen Ost und West – der Prozess der Lohnan-gleichung ist seit dem Jahr 2005 zum Stillstand ge-kommen – solle die Politik nun den Mut zur An-gleichung der Rentenberechnung in Ost und Westhaben, um dem Prinzip der TeilhabeäquivalenzGeltung zu verschaffen. Dies gelte umso mehr, alses bei regionalisierter Betrachtung „immer mehrLandkreise in Ostdeutschland gibt, die im Ver-gleich zu westdeutschen Kreisen ein ähnliches Ni-veau bei den durchschnittlichen Bruttolöhnenund -gehältern aufweisen“ (TZ 636).

Ausführlich befasst sich der Rat mit dem Problemkünftiger Altersarmut: Auch wenn der Anteil dergegenwärtigen Rentenbezieher, die Leistungenaus der staatlichen Grundsicherung beziehen, mitzwei Prozent gering ist, sei doch für die Zukunftmit größeren Problemen zu rechnen. Insbesonde-re aufgrund der steigenden Anzahl von Selbstän-digen mit unterdurchschnittlichen Einkommen,der ungleichmäßiger werdenden Einkommens-verteilung, der Langzeitarbeitslosigkeit und derunzureichenden Entwicklung der Absicherungbei Erwerbsminderung sei mit künftig höherenAnsprüchen an die Grundsicherung im Alter zurechnen.

In diesem Zusammenhang werden im Gutachteneine Reihe von Maßnahmen diskutiert – zum Bei-spiel eine Ausdehnung der Riester-Förderung aufdie Selbständigen und ihre Einbeziehung in eineobligatorische Altersvorsorge, eine Höherbewer-tung von rentenrechtlichen Zeiten während derArbeitslosigkeit und Rentenaufstockungen fürlangjährig Versicherte. Hier bleiben die konkretenEmpfehlungen recht vage: Der Rat spricht sich da-für aus, an der Ursache anzusetzen und das Entste-hen von Altersarmut im Ansatz – also bereits in derErwerbsphase – zu verhindern: „Eine kluge Politikder Armutsvermeidung sollte sich nicht in vertei-lungspolitischen Korrekturen nach dem Ausschei-den aus dem Erwerbsleben erschöpfen“ (TZ 661).

Erneute Kritik am Gesundheitsfonds

In der Gesundheitspolitik erneuert der Rat seineKritik am nächstes Jahr in Kraft tretenden Ge-sundheitsfonds und verweist abermals auf seineschon in früheren Jahresgutachten erörterten Vor-stellungen einer Bürgerprämie. Er plädiert nach-drücklich für eine Aufhebung der Segmentierungin gesetzlich und privat Versicherte durch eineVersicherungspflichtgrenze sowie für die Entkop-

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Sachverständigenrat

35Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

pelung der Krankenversicherungsbeiträge vonden Löhnen. Die Erfüllung dieser Maximalforde-rung ist indes wenig realistisch: Ein erster Schrittkönnte eine „kleine Bürgerpauschale“ (TZ 686)sein, die nur für die gesetzlich Versicherten einge-führt werde. Im System des 2009 in Kraft treten-den Gesundheitsfonds sollte wenigstens die Über-forderungsregel beseitigt werden, nach der gesetz-lich Versicherten kein Zusatzbeitrag abverlangtwerden kann, der ein Prozent des beitragspflichti-gen Einkommens des Mitgliedes übersteigt. Dieswürde die Preisfunktion der Beiträge besser zurGeltung kommen lassen.

Ausführlich setzt sich der Rat mit der Kranken-hausfinanzierung auseinander: Hier spricht ersich für eine Abschaffung der dualen Finanzie-rung (durch Krankenkassen für die laufendenKosten und durch die Länder für die Investitio-nen) zugunsten einer monistischen Finanzierungaus: „Denn die fehlende Möglichkeit der Kranken-häuser, die Finanzierung von Investitionen undlaufendem Betrieb kohärent zu planen und zu ver-handeln, beeinträchtigt deren betriebswirtschaftli-che Rentabilität“ (TZ 687). Darüber hinaus führedas duale System zu Verzerrungen zwischen ambu-lanter – bisher schon monistisch finanzierter –und stationärer Versorgung.

Die Perspektiven für die Pflegeversicherung siehtder Sachverständigenrat wenig optimistisch: Hiersei die Chance, rechtzeitig auf ein Kapitalde-ckungsverfahren umzustellen, vertan worden. Zu-künftige Beitragssteigerungen werden – etwa abdem Jahr 2015 – unvermeidlich sein. Um die zu-künftigen Belastungen zu mildern, fordert der Ratzum einen eine Ausweitung des Förderrahmensbei der privaten und betrieblichen Vorsorge zu-gunsten eines „Pflege-Riester“. Darüber hinausmüsse man, um die Belastungen für die Erwerbs-tätigen zu senken, über ein Beitragssatz-Splitting,das höhere Beiträge für Rentner implizieren wür-de, nachdenken.

Im Hinblick auf die Arbeitslosenversicherung kri-tisiert der Rat die jüngst beschlossene vorüberge-hende Senkung des Beitragssatzes auf 2,8 Prozent,die die Anhebung der Krankenversicherungsbei-träge teilweise kompensieren soll. Dies sei mit demsogenannten Affektationsprinzip, wonach Belas-tungen in einem Versicherungszweig nicht durchEntlastungen in einem anderen ausgeglichen wer-den dürfen, nicht zu vereinbaren. Darüber hinausstehe die Beitragssenkung potenziell im Konfliktmit den zu erwartenden konjunkturellen Belas-tungen der Arbeitslosenversicherung und bergedie Gefahr, im Abschwung dann die Beiträge wie-der erhöhen zu müssen. �

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Aktuelle Wirtschaftspolitik

36 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Appelle an die Moral sind erfahrungsgemäß wir-kungslos. Die Moral muss in den Regeln steckenund vom Staat durchgesetzt werden. Genau dashat im Finanzsektor gefehlt. Viele Fehler im Re-gelsystem beruhten darauf, dass diejenigen, die Ri-siken eingingen, diese Risiken nicht selbst zu tra-gen hatten. Die Risiken wurden sozialisiert, die Ge-winne aber privatisiert. Dass so etwas in einerMarktwirtschaft schief gehen musste, liegt auf derHand.

Strikte Regelnfür die Geldpolitik

Die Finanzkrise nahm ihren Ausgangspunkt in derlaxen Geldpolitik der Fed, dem US-amerikani-schen Zentralbank-System, noch zu Zeiten des da-maligen Präsidenten Bill Clinton. Die Fed unterAlan Greenspan betrieb um die Jahrtausendwendeeine expansive Geldpolitik, um die Wirtschaft an-zukurbeln. Die Geldmenge wurde in großem Stilausgeweitet, niedrige Zinsen waren das Instru-ment dazu. Klar, dass die Konsumenten und vieleInvestoren sich Geld liehen – zu viel Geld zu Kon-ditionen, die unnatürlich günstig waren.

Die Amerikaner mussten schon seit einigen Jahreneinen Preis dafür zahlen: eine hohe Inflation.Aber erst, als die amerikanischen Zinsen anzogen,offenbarte die Politik des laxen Geldes ihr hässli-ches Gesicht. Die Schuldner hatten nicht mehr ge-nügend Geld, um ihre Schulden zu bezahlen undmussten reihenweise den Offenbarungseid leisten.Die Hypotheken, mit denen die Kredite abgesi-chert wurden, waren von zweifelhafter Natur. DieBanken, die derartige Hypotheken in ihren De-pots hielten, gerieten selbst in Schieflage.

Zum Lawineneffekt und zur jetzigen Finanzkriseist es gekommen, weil die Banken einerseits nichtwissen, wie viele der zweifelhaften Hypotheken sie

selber halten, und weil sie sich andererseits unter-einander kein Geld mehr leihen. War vorher alsozu viel Geld im Kreislauf, so droht der Geldflussauf einmal weltweit auszutrocknen.

Die Europäische Zentralbank hatte die ganzenJahre im Gegensatz zur Fed eine Politik betrieben,die sich strikt an der Bekämpfung der Inflationausrichtet. Das hat dafür gesorgt, dass es in Europanicht zur exzessiven Aufnahme von Krediten kam.Die ordnungspolitische Konsequenz muss also lau-ten, dass man als Aufgabe von Zentralbanken dieGewährleistung eines funktionsfähigen Geld- undKreditmarktes sowie die Bekämpfung von Infla-tion gesetzlich festschreibt. Konjunktur- undWachstumspolitik darf nicht die Aufgabe von Zen -tralbanken sein und muss ihnen vom Gesetzgeberuntersagt werden.

Risiken und Instabilitätendurch Ratingagenturen

Ein Großteil der Finanzkrise wurde ausgelöstdurch falsche Ratings, das heißt falsche Beurtei-lung der wirtschaftlichen Lage und Zahlungsfä-higkeit eines Unternehmens. Reihenweise wurdenWertpapiere von Unternehmen schlechtester Bo-nität mit dem höchsten Gütesiegel bewertet. DieBanken glaubten aufgrund der Ratings, sie hättenausgezeichnete Wertpapiere in ihrem Bestand.Das hat zu einer zu guten Bilanzierung dieserSchuldverschreibungen geführt. Ratingagenturendefinieren nicht nur einen Standard für Kredit-würdigkeit, sondern überprüfen auch die Einhal-tung des Standards. Damit liegen Regelsetzungund Regelüberprüfung in einer Hand. Rating -agenturen kommt hierdurch eine hohe Macht zu,der nahezu keinerlei Verantwortlichkeit gegen-übersteht.

Auswege aus der FinanzkriseDr. Matthias LederHauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Gießen-Friedberg

Die aktuelle Finanzkrise zeigt, dass ein klarer Ordnungsrahmen für den Finanzmarkt nötig ist. Der Staat hat die Auf-

gabe, die Regeln der Marktprozesse, die zur Finanzkrise geführt haben, zu überprüfen. Seine Aufgabe ist nicht, selbst

zum Marktteilnehmer zu werden.

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Finanzkrise

37Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

80 bis 95 Prozent der Einnahmen von Ratingagen-turen sind Zahlungen der Wertpapier-Emittentenfür Erstellung und Überprüfung des jeweiligen Ra-tings. Man spricht auch von „beantragtem Rating“.Das kann zu einem Interessenkonflikt zwischenEmittent und Anleger führen. Ratingagenturenkönnen Emittenten ein besseres Rating gegen hö-heres Entgelt anbieten. Weil Emittenten aufgrundder hohen Tragweite der Ratings vom Urteil derAgenturen abhängig sind, besteht die Möglichkeitzu erpresserischem Verhalten. Aus Emittenten-Sicht besteht umgekehrt der Anreiz, sich von derAgentur bewerten zu lassen, die das beste Boni-tätsurteil anbietet. Das zeigt, dass die Rahmenbe-dingungen für eine korrekte Bewertung falsch ge-setzt sind. Die inflationäre Vergabe trügerischerRatings und eine Abwärtsspirale hinsichtlich derRatingqualität haben zur Finanzkrise beigetragen.

Ärgerlich ist, dass die Ratingagenturen schon inder Vergangenheit Risiken und Instabilitäten anden Finanzmärkten erzeugt haben und der Ge-setzgeber in den Vereinigten Staaten nicht daraufreagiert hat, wie zum Beispiel bei der Asienkriseim Jahr 1997. Hier agierten die Ratingagenturenprozyklisch und wirkten als Verstärker der Krise,indem sie Herdenverhalten der Investoren und ei-nen abrupten Kapitalabfluss auslösten. Auch beimInsolvenzfall des Energieriesen Enron im Jahr2001 und bei der großen Wirtschaftskrise in Ar-gentinien ab dem Jahr 1998 wurden die Rating -agenturen der Rolle eines Frühwarnsystems nichtgerecht.

Bisher werden die transnationalen Ratingagentu-ren weitgehend nicht kontrolliert. Wenn es weiter-hin private Ratingagenturen geben soll, müssenformalisierte Zulassungsverfahren und Qualitäts-standards für Ratingagenturen eingeführt werden.Sollte das nicht gelingen, müssten die Agenturenunabhängigen Institutionen wie dem Internatio-nalen Währungsfonds oder den Zentralbanken zu-geordnet werden.

Anpassung an anglo-amerikanische Methoden

Welcher Erfolg ist in einer Gesellschaft erwünscht:der kurzfristige oder der langfristige? In Konti-nentaleuropa herrschte bis in die 1990er Jahre dieVorstellung, dass der langfristige Erfolg der gesell-schaftlich relevante ist. Im angloamerikanischenRaum hingegen zählt der kurzfristige.

Im Zuge der Globalisierung und der Angleichungvon Normen hat sich die angloamerikanischeSichtweise in vielen Bereichen durchgesetzt. Zudenken ist zum Beispiel an die Pflicht zur quartals-weisen Bilanzierung von Gesellschaften, die anden internationalen Aktienbörsen gelistet seinwollen. Porsche hat dieses Hecheln nach Quartals-bilanzen nicht mitgemacht und ist deshalb kein imDAX gelistetes Unternehmen mehr. Porsche undauch andere Unternehmen, die sich gegen dieQuartalsveröffentlichung wenden, sehen ihr Stre-ben nach Unternehmenskontinuität gestört, wenneine Quartalsdelle an den Aktienmärkten zum Dis-kussionsthema würde.

Das Denken in kurzfristigen Erfolgskategorienunterstellt, dass die Maximierung kurzfristiger Ge-winne dem Ziel der Nachhaltigkeit nicht ent-gegensteht. Dies ist von der Wirklichkeit längstwiderlegt worden. Durch kurzfristiges Denkenwerden Rechtsregeln so gestrickt, dass dem Aus-weis kurzfristiger Erfolge gegenüber der Vermei-dung von Risiken Priorität eingeräumt wird. ImLaufe der Zeit hat man in Deutschland und Euro-pa immer mehr Regeln übernommen, die die Re-alisierung kurzfristiger Gewinne fördern.

Gläubigerschutz ist vorrangig

Bis vor Kurzem war es in Deutschland üblich, dassdie Hauptadressaten von Bilanzen die Gläubigerwaren. Die Gläubiger sollten durch eine „konser-vative“, das heißt vorsichtige Bilanzierung ge-schützt werden. Danach sind Erlöse erst nach ihrerRealisation zu bilanzieren, drohende Verluste aberschon mit ihrem Bekanntwerden. Die vorsichtigeBilanzierung führt zum Aufbau von stillen Reser-ven, die jedoch aus Sicht der Aktionäre eineSchmälerung des Gewinns bedeuten und deshalbeher unerwünscht sind.

Aus Sicht von Aktionären sind die angloamerika-nischen Bilanzierungsvorschriften günstiger, weilsie zu einem höheren kurzfristigen Bilanzgewinnführen. Dreh- und Angelpunkt ist die Ermittlungdes Fair Value, also des „fairen Wertes“. Dieser fai-re Wert stützt sich so weit wie möglich auf Krite-rien wie Markt- oder Anschaffungspreis. Kritikerbemängeln, dass nicht einmal fünf Prozent allerVermögenswerte einen Fair Value im Sinne einesMarktpreises haben, da sie nur unternehmensspe-zifisch eingesetzt werden. Also muss man sich aller-lei Hilfskonstruktionen bedienen, etwa mathema-tischer Modelle auf der Basis von Annahmen überdie zukünftige Entwicklung von Zinsen und Prei-

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Aktuelle Wirtschaftspolitik

38 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

sen. Die Modelle gehen häufig von linearen Fort-schreibungen aus. Die Realität ist aber nichtlinear,wie man an der Finanzkrise sehen kann.

Ein typisches Beispiel für den Unterschied zwi-schen deutschem Handelsrecht und internationa-ler Rechnungslegung ist die Dauer von Abschrei-bungsfristen, die durch die internationalen Stan-dards deutlich verlängert werden. Die Konsequenzist, dass der Gewinn nach internationalem Rechtam Anfang größer ist als nach deutschem Rechtund den Aktionären ausgeschüttet werden kann;das deutsche Recht würde hingegen einen finan-ziellen Puffer für wirtschaftlich schwächere Zeitenermöglichen.

Die Politik muss entscheiden, was wichtiger ist:Förderung des Ausweises von kurzfristigen Erfol-gen und Begünstigung der Aktionäre oder Förde-rung des Ausweises des langfristigen Erfolgs undSchutz von Gläubigern. Der deutsche Gesetzgeberwäre gut beraten, nicht der Entwicklung im anglo-amerikanischen Raum hinterherzulaufen, son-dern das Handelsgesetzbuch auf den bewährtenGrundsätzen zu modernisieren.

Kurzfristig ausgerichteteVergütungsmodelle sind zu prüfen

Auch die Managervergütung war für die Finanz-krise mitverantwortlich. Aus Amerika wurde diePraxis übernommen, ein relativ niedriges Fixge-halt, dafür aber eine hohe variable Vergütung an-zusetzen. Das zugrundeliegende Modell baut auffolgenden Überlegungen auf: Wie bringt man an-gestellte Manager dazu, dass sie im Interesse derEigentümer – sprich: der Aktionäre – handeln?Die Idee ist simpel: Man macht die Manager selbstzu Aktionären, dann handeln sie auch in deren

Interesse. So sind die gigantischen Options- undAktienpakete entstanden, die heute bei den Kon-zernchefs und Investmentbankern oft mehr als 70Prozent ihres Gehalts ausmachen.

Was als gute Idee startete, ist längst pervertiert.Die variablen Vergütungsanteile haben die Mana-ger eher zu kurzfristigen Maßnahmen als zur Er-reichung langfristiger Ziele verleitet. Im Übrigenbelegt die Forschung, was der gesunde Menschen-verstand schon immer nahelegte: Kein Invest-mentbanker arbeitet besser, wenn er zwanzig stattzwei Millionen Euro verdient. Besonders bedenk-lich wird es, wenn die variable Vergütung von derErreichung kurzfristiger Ziele abhängig ist undgleichzeitig keine Pflicht zur Haftung für die Ver-fehlung langfristiger Gewinnziele besteht. Damitsetzt man systematisch Anreize, kurzfristige Ge-winne zulasten nachhaltigen Wirtschaftens zu er-zielen.

Diese Fehlmotivierung war für viele Investment-banker und Fondsmanager Grund ihres gesell-schaftlich schädlichen Handelns, das die Finanz-krise mit ausgelöst hat. Hier ist die Politik gefor-dert, die individuelle Gewinnrealisierung und kol-lektive Risikoübernahme überein zu bringen.Dies bezieht sich sowohl auf die Haftung von Ma-nagern als auch auf die Ausgestaltung der vari ab -len Vergütung, die man ab einem bestimmtenVerhältnis zum Fixgehalt auch als sittenwidrig an-sehen könnte.

Eine Begrenzung der Festgehälter von leitendenBankangestellten – zum Beispiel in Verknüpfungmit der Inanspruchnahme des Rettungspakets derdeutschen Bundesregierung – ist hingegen nichtzielführend. Ziel des staatlichen Rettungspro-gramms ist erstens, eine Kreditklemme zu verhin-dern, indem den Banken staatliches Eigenkapitalvon bis zu 80 Milliarden Euro zur Verfügung ge-stellt wird. Zweitens bietet der Staat den BankenBürgschaften an, um ihnen die Kreditaufnahmezu erleichtern; gleichzeitig ist er bereit, den Ban-ken problematische Wertpapiere abzukaufen. Fürdiese beiden Maßnahmen stehen nochmals 400Milliarden Euro bereit.

Gerade für den Fall, in dem eine Bank ge-schwächt ist, aber noch nicht vor der Pleite steht,wird die staatliche Unterstützung bei gleichzeiti-ger Festgehaltsbegrenzung falsche Anreize set-zen. Wenn ein Bankvorstand vor der Entschei-dung steht: „Soll ich das Geschäftsvolumen imVerhältnis zum – wegen der Finanzkrise – redu-zierten Eigenkapital einschränken, oder soll ich

Auf Seite 24 der letzten Ausgabe der „Orien-tierungen“ (September 2008) ist im Beitrag vonLudger Wößmann, „Bildungsrepublik Deutsch-land“: Mythen und Fakten, der Abdruck folgen-den Literaturhinweises versehentlich unterblie-ben, der als Hauptreferenz für die im Beitragerwähnten Fakten dient: Ludger Wößmann,Letzte Chance für gute Schulen: Die 12 großenIrrtümer und was wir wirklich ändern müssen,München 2007.

Erratum zu Orientierungen 117

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Finanzkrise

39Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

das alte Geschäftsvolumen mit staatlichem Eigen-kapital unterlegen?“, wird sich der Vorstand vor-aussichtlich für die Einschränkung des Geschäfts-volumens entscheiden. Welcher Manager lässtsich freiwillig durch eine Kürzung des eigenenGehaltes bestrafen?

Vertrauen durch Ordnungspolitik

Zu den negativen Überraschungen durch die Fi-nanzkrise kam es auch, weil einige Akteure be-trächtliche Energie zur Verschleierung ihres Han-delns an den Tag legten. Einige Banken haben inden vergangenen Jahren versucht, Basel I und IImit seinen Vorschriften zur Vorhaltung von Eigen-kapital zu umgehen. Dazu lagerten sie Risikoge-schäfte in Zweckgesellschaften aus, die kein Kapi-tal halten mussten. Weil diese Gesellschaften nichtin der Bilanz aufgeführt werden mussten, bliebensie von der Bankenaufsicht unbehelligt. WennBanken solchen Gesellschaften Kreditlinien ge-währten, mussten sie die Kreditlinien nicht mit Ei-genkapital unterlegen, wenn die Laufzeit kürzerals ein Jahr war.

Diese Zweckgesellschaften waren das Finanzie-rungsvehikel, mit dem riskante Kredite verbrieftund gebündelt wurden und als Wertpapiere unter

dem Namen „Asset Backed Securities“ verkauftwurden. Diese Wertpapiere wurden von Zweckge-sellschaften emittiert und von anderen Zweckge-sellschaften gekauft, die den Kauf durch die Emis-sion von kurzfristigen Wertpapieren refinanzier-ten. Derartige Zweckgesellschaften sollten abge-schafft werden.

Die Beispiele machen deutlich: Der Staat bzw. dieinternationale Staatengemeinschaft ist gefordert,die Rahmenbedingungen für Geld- und Finanz-märkte zu verbessern. Dadurch würden die Er-wartungen der Marktteilnehmer stabilisiert undVertrauen geschaffen. Aufgabe des Staates ist hin-gegen nicht, durch Konjunkturprogramme selbstzum Mitspieler des Marktgeschehens zu werden.Die diskutierten Maßnahmen wie CO2-freundli-che Kühlschränke oder Subventionen für Gebäu-de sanierung sorgen für Verunsicherung bei In-vestoren und Bürgern. Die Erfahrungen der1970er Jahre haben gezeigt: Solche Programmesind unwirksam und führen zu höherer Staatsver-schuldung.

Staat und Wirtschaft stehen als Folge der Finanz-krise vor großen Herausforderungen. Die Krisehätte dann etwas Gutes mit sich gebracht, wennkünftig mehr Nachhaltigkeit in das Markthandelneinziehen würde. �

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Fragen der Wirtschaftsordnung

40 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Wie ist der Begriff „ethisches Investment“ abzu-grenzen? Mit dem Wort ethisch ist die Überein-stimmung mit den sittlichen Normen gemeint, diemehr oder weniger streng sein kann. Oft wird eineInvestition als ethisch betrachtet, bei der der Geld-anleger subjektiven Ausschlusskriterien folgt. Erwill beispielsweise keinesfalls Geschäftsfelderunterstützen wie Abtreibung, Alkohol, Embryo-nenforschung, Glücksspiel, Pornografie; er hataber nichts gegen Atomenergie, Biozide, chloror-ganische Massenprodukte, Gentechnik, Rüstung,die einem anderen Anleger ein Gräuel sind. DieseAuffassung von ethischem Investment gerät leichtin den Verdacht, das Ethische in den Bereich desBeliebigen zu verweisen.

Von subjektiven Wertenzu rechtlichen Normen

Ethische Prinzipien sind jedoch nicht frei vonsubjektiven Wertungen, schon gar nicht in einerWelt, in der verschiedene Kulturen zusammen-wachsen und folglich mit der Diversität ihrerWerte zurechtkommen müssen. Doch ist geradedas Zusammenwachsen auf die Überzeugung an-gewiesen, dass es nicht nur individuell unter-schiedliche, sondern auch allgemeingültige ethi-sche Maßstäbe gibt. Die Menschenrechte bildeneinen allgemeinen Maßstab, die Regeln der nach-haltigen Entwicklung einen zweiten. Beide habenobjektiven Charakter, es sind zwei Systeme, diedie gleiche Verbindlichkeit beanspruchen. Siehaben keine allgemeine Geltung, doch dass siebereits verkündet und im Prinzip anerkannt wer-

den, darin deutet sich das künftige Weltethoshoffnungsvoll an.

Übrigens auch darin, dass sie miteinander verbun-den sind: Oft wird zu den Kriterien des nachhalti-gen Investments gezählt, in welchem Maße einUnternehmen die Menschenrechte achtet. Der ge-meinsame Nenner der Menschenrechte und derNachhaltigkeit ist die Gerechtigkeit, hier gegendie soziale, dort gegen die natürliche Umwelt. Bei-de gehören zum ethischen Kanon der globalenGesellschaft. Auch einige Grundregeln der kauf-männischen Ethik und der politischen Fairnesskann man hinzurechnen. Die fundamentalen Re-geln des Umgangs mit Menschen und ihren Wer-ten, wie sie in christlichen Gesellschaften etwadurch die zehn Gebote repräsentiert werden, ge-hören ebenfalls dazu.

Und doch bleiben neben der Anerkennung sol-cher Regelsysteme individuelle ethische Werthal-tungen bestehen. Das ist sinnvoll, solange dieEthik nicht auf das Beliebige reduziert wird. Es er-innert daran, dass es ein für alle Menschen gülti-ges Gesamtethos nicht gibt und in einer nichtdik-tatorischen, toleranten Welt auch nicht gebenkann. Will man bestimmten ethischen Prinzipienabsolute Geltung verschaffen, so müssen sie in Ge-und Verbote gefasst und mit Sanktionen bewehrtwerden.

So liegt in dem Nebeneinander kein Widerspruch,sondern eine Abstufung des Geltungsbereichs, dievon den subjektiven ethischen Überzeugungenüber die objektiven Regelsysteme der Fairness bishin zu den rechtlichen Normen reicht. Das macht

Ein Plädoyer für die Berücksichtigungethischer Aspekte bei der GeldanlageProf. Dr. Gerhard ScherhornProfessor emeritus für Konsumökonomik der Universität Hohenheim, Stuttgart,und Senior Consultant des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie

„Die Freiheit darf also nicht zu einem Götzendienst werden, ohne Verantwortung, ohne Bindung, ohne Wurzel. Die Ver-

bindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf vielmehr der Ordnung. (…) Nur wenn die Freiheit in einer Ord-

nung von der Verantwortung gebändigt ist, dann etwa finden wir den richtigen christlichen und gesellschaftspolitischen

Standort für solche Werte. Ohne Zweifel droht die Freiheit für sich, das heißt ohne Ordnung, im Chaotischen zu entar-

ten“ (Ludwig Erhard, 1961).

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Ethisches Investment

41Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

die Frage unabweisbar, wieweit die Grundsätze desethischen Investments sich auf dem Weg der Ein-sicht durchsetzen und wieweit sie rechtlicher Re-geln bedürfen.

Den Begriff des ethischen Investments sollte manals Oberbegriff für Anlageentscheidungen ver-wenden, die nach ethischen Regeln getroffen wer-den. Er sollte nicht auf die Bevorzugung indivi-dueller Ausschlusskriterien begrenzt sein, auchnicht auf die Befolgung ökologischer Nachhaltig-keitskriterien, auch wenn diese in vielen Bewer-tungssystemen derzeit mit Recht eine zentrale Rol-le spielen. Schließlich geht es darum, die Welt aufeine nachhaltige Entwicklung umzusteuern, waszuerst den pfleglichen Umgang mit der natür-lichen Mitwelt erfordert.1 Darüber hinaus erfor-dert es auch den verantwortlichen Umgang mitder sozialen Mitwelt. Klar ist, dass dazu beispiels-weise auch das Korruptionsverbot oder das Gebotder Transparenz von Kreditrisiken gehören. Nichtzufällig wird die Bezeichnung Corporate SocialResponsibility (CSR) immer häufiger verwendet.In ihr deutet sich an, dass die Verantwortung desUnternehmens gleichermaßen in der ökologi-schen, der sozialen und der kulturellen Dimen-sion liegt. Doch auch sie ist kein Ersatz für den Be-griff des ethischen Investments als Oberbegriff füralle ethisch verantwortbaren Anlageentscheidun-gen und somit als Absage an eine rein finanzielle,nur an der Rendite orientierte Investition.

Ethik und Rendite

Ethische Geldanlage bedeutet keineswegs, dassder Investor nicht auf die finanzielle Leistungsfä-higkeit achtet, sondern dass er seine Wahl aus-schließlich unter Anlageprodukten – Aktien,Fondszertifikaten, Schuldverschreibungen, Sach-werten – trifft, die ethischen Anforderungen ge-nügen; welchen finanziellen Erfolg er erwartet, istbeim ethischen Investment erst die zweite Frage.

Das ist für die meisten Anleger und Anlageberaterneu und ungewohnt. Manche haben das Vorurteil,ethisch anlegen sei gleichbedeutend mit Geld ver-schenken. Manche lassen die Finger davon, weil siesich nicht damit auskennen, anderen ist gar nichtklar, dass sie auch die Möglichkeit hätten, Geldnach ethisch einwandfreien Kriterien anzulegen.Ein weiterer Teil der Anleger lässt den Gedankengar nicht erst zu, es könnte bei der Geldanlage um

mehr als um finanzielle Aspekte gehen. Zwei Hin-dernisse stehen also der ethischen Geldanlage ent-gegen: Unwissenheit und Gleichgültigkeit.

Das erste Hindernis ist überwindbar. Dass es Mög-lichkeiten zur ethischen Geldanlage gibt und dasssie sich oft besser verzinsen als nichtethische, istbekannt. Es braucht allerdings Erfahrungswerteund Zeit, bis sich das Wissen darüber verbreitethat. So gibt es inzwischen im Bereich des Nachhal-tigkeits-Ratings eine Reihe systematischer Beob-achtungen, die darauf hindeuten, dass der Zu-sammenhang zwischen der finanziellen Entwick-lung von Anlageprodukten und ihrem Abschnei-den in der Nachhaltigkeitsbewertung positiv ist.2

Unternehmen, die in punkto Nachhaltigkeit inihren jeweiligen Branchen führend sind, erzielenim Durchschnitt eine deutlich bessere Aktien-kursentwicklung als Unternehmen, die hinterökologischen und sozialen Standards zurückblei-ben. Das braucht niemanden zu verwundern: In-tensiveres Bemühen um nachhaltige Entwicklungsetzt ein moderneres Management voraus, erfor-dert höhere Energie- und Rohstoffeffizienz undbringt die Entwicklung neuer bzw. besserer Pro-dukte mit sich.

Deshalb überstehen nachhaltiger wirtschaftendeUnternehmen auch Finanzkrisen besser. Es istnoch zu früh, diese Aussage für die Immobilien-krise mit belastbaren Zahlen zu belegen, doch werzum Beispiel die jüngste Entwicklung des Naturak-tienindex NAI mit der Entwicklung des Weltaktien -index MSCI vergleicht, wird feststellen, dass derNAI zwar ebenfalls stark gefallen ist, aber immernoch auf relativ höherem Niveau steht.

Ähnliches gilt, soweit sich heute schon überbli-cken lässt, auch für die im NAI nicht enthaltenenUnternehmen, die im Hinblick auf Nachhaltig-keitskriterien in der Spitzengruppe liegen. Auchihre finanzielle Entwicklung ist weniger volatil alsdie der ethisch weniger hoch bewerteten Unter-nehmen. Ihre Gewinne und Kurse sinken in deraktuellen Finanzkrise weniger tief, hatten vorheraber auch keine extremen Ausschläge nach obenwie die der Investmentbanken, die teilweise vonder Vorstellung getrieben waren, eine führendeBank müsse eine Kapitalrendite von wenigstens 25Prozent erzielen. Diese Zielsetzung beruhte aufden mit rein spekulativen Anlageformen wie Devi-

2 Vgl. Robert Hassler/Matthias Bönning/Sylvia Kloberdanz, Nach-haltigkeitsratings als Kern des Nachhaltigen Investments, in: Johan-nes Hoffmann/Gerhard Scherhorn (Hrsg.), Ein Modell für Nachhal-tigkeit, Erkelenz 2008 (im Druck).

1 Der Begriff „natürliche Mitwelt“ nach Klaus Michael Meyer- Abich,Praktische Naturphilosophie, München 1997.

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Fragen der Wirtschaftsordnung

42 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

sen und Derivaten oder extrem hoch kreditfinan-zierten Firmenübernahmen erzielbaren Renditen.

Solche Anlageformen nach Kriterien des ethi-schen Investments zu beurteilen ist müßig, dennsie erfüllen sie nicht. Devisenspekulationen zumBeispiel mögen ethisch gerechtfertigt sein, wennFirmen ihre internationalen Transaktionen gegendas Wechselkursrisiko absichern wollen, aberschwerlich, wenn sie sie ohne realwirtschaftlichenAnlass allein um des Gewinns willen betreiben.Erst recht stellen sie keine Geldanlagen dar, die alsseriöses Produkt an Dritte weiterverkauft werdenkönnen. Mit dubiosen Immobilienkrediten hatman bekanntlich versucht, sie durch Bündelungmit weniger dubiosen handelbar zu machen, dochweil dadurch die Risiken intransparent wurden,konnten solche Anlagen ethischen Kriterien nichtgenügen. Das Finanzrating hat sich daran die Fin-ger verbrannt, das ethische Rating hat sich garnicht erst damit befasst. Auch Zertifikate von In-vestmentbanken, Hedgefonds und Private-Equity-Fonds werden bisher meist gar nicht erst nachethischen Kriterien bewertet, jedenfalls aber nichtpositiv eingestuft.

Kapitaleigentum verpflichtet

Nach ethischen Kriterien zu investieren, heißt al-so nicht, auf Rendite zu verzichten. Es heißt viel -mehr, solche Finanzgeschäfte zu unterlassen, dieethischen Kriterien nicht genügen. Die meistenAnleger haben jedoch gelernt, dass für Geldge-schäfte die einzige Grenze im Strafrecht, die ein-zige Rechtfertigung im Gewinn und das einzigeZiel in der Akkumulation liegt und dass morali-sche Rücksichten in Gelddingen nichts zu suchenhaben. Die Gleichgültigkeit ist das schwierigereHindernis bei der weiteren Verbreitung der ethi-schen Geldanlage. Denn sie lässt den Gedankennicht zu, eine Investition in Finanzprodukte kön-ne auch nach anderen als finanziellen Maßstäbenbeurteilt werden.

Institutionelle Anleger schützen sich vor diesemGedanken doppelt, denn wenn sie das ihnen an-vertraute Kapital vermehren, nützt das nicht nurihnen selbst, sondern auch der Kirche, den Pen-sionären, den Hilfebedürftigen, kurz: einem gu-ten Zweck. Selbst kirchliche Anleger verhalten sichso, als könnte der gute Zweck das ihnen anvertrau-te Kapital von der Sozialpflichtigkeit des Eigen-tums freistellen. Das Anlageverhalten jener Lan-deskirche zum Beispiel, die an Zertifikaten vonLehman Brothers Millionen Euro verloren haben

soll, ist nur so zu erklären. Bei ethischer Geldanla-ge, wie sie von den Kirchen zuallererst erwartetwerden muss, hätte sie solche Geschäfte und folg-lich auch Verluste nicht gemacht.

So besteht die eigentliche Herausforderung desethischen Investment für Anleger darin, zu beher-zigen, dass auch das Kapitaleigentum der Sozial-bindung unterliegt. Das deutsche Grundgesetz hatdas in Artikel 14 Absatz 2 festgeschrieben: „Eigen-tum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich demWohle der Allgemeinheit dienen.“ Der Artikel bin-det nicht den einzelnen Bürger. Er fordert den Ge-setzgeber auf, die Sozialpflichtigkeit in den ver-schiedenen Lebensbereichen zu definieren. DerGesetzgeber ist dieser Aufforderung in manchenBereichen bereits gefolgt, in denen der uneinge-schränkte Gebrauch des Eigentumsrechts sich insozialer oder ökologischer Hinsicht als nicht ge-rechtfertigt erwies. Im Mietrecht und im Arbeits-recht, im Verbraucherschutz und bei der Mitbe-stimmung der Arbeitnehmer, im Naturschutz undim Umweltschutz hat er den beliebigen Gebrauchdes Privateigentums punktuell eingeschränkt.

Doch das sind Ausnahmen. Wo sie nicht greifen,gilt uneingeschränkt die Eigentumsgarantie vonParagraph 903 im Bürgerlichen Gesetzbuch: DerEigentümer kann mit seiner Sache verfahren, wiees ihm beliebt. Diese Ermächtigung entsprichtnoch dem Denken des 19. Jahrhunderts. Heutemüsste ihr der nachdrückliche Generalvorbehalthinzugefügt werden, dass sie dort ihre Grenze hat,wo das freie Belieben des Eigentümers der Allge-meinheit Schaden zufügen kann.

Schaden für die Allgemeinheit entsteht regelmä-ßig daraus, dass Privateigentümer sich an Gemein-gütern bereichern, indem sie im Interesse des pri-vaten Gewinns nicht in die Erhaltung des gemein-samen Eigentums investieren, sondern dessenLeistungskraft überspannen, sodass es schließlichzum Schaden aller zusammenbricht: Das Gemein-gut Erdöl wird beispielsweise durch ersatzlose Ver-schwendung für Heizung und Transport über-nutzt, das Gemeingut Ozeane durch Überfischungund Verseuchung, das Gemeingut Finanzmarktdurch Verschleierung von Risiken, durch nichthinreichend mit Eigenkapital gedeckte Kreditge-schäfte sowie durch unkontrollierte Einführungspekulativer Derivate.

Bei Sozialbindung des Kapitaleigentums sind des-halb Geldanleger verpflichtet, sich nicht zulastenvon Gemeingütern zu bereichern. Gleichzeitig istder Gesetzgeber verpflichtet, ihnen dafür klare

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Ethisches Investment

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Signale zu geben. Weder das eine noch das anderegeschieht bisher, im Gegenteil weisen die Signaleeher in die Gegenrichtung:

� Der Generalvorbehalt im Bürgerlichen Gesetz-buch fehlt.

� Das Wettbewerbsrecht schützt den Wettbewerbschlechthin – es dürfte aber nur den nachhaltigenWettbewerb schützen, müsste also vor allem dasAbwälzen von Kosten auf die natürliche und sozia-le Umwelt verhindern.3

� Das Aktienrecht verpflichtet den Vorstand ei-ner Aktiengesellschaft allein auf das Vermögensin-teresse der Aktionäre. Gemäß der Sozialbindungdes Kapitaleigentums müsste er verpflichtet sein,es so zu fördern, dass es nicht zulasten der natür-lichen und sozialen Umwelt geht.

� Die Geldanlage auf Finanzmärkten steht nir-gendwo unter dem Gebot der Sozialpflichtigkeit.So brauchen sich die Anleger keine Gedanken da-rum zu machen. Im Gegenteil: Wenn sie es täten,würden sie sich selbst schaden. Die Finanzmärktesind seit den 1970er Jahren auf eine Weise liberali-siert worden, die der Lizenz zum Gelddrucken na-he kommt.4 Die nationale Kontrolle der Finanz-märkte wurde im Interesse der weltweiten Mobilitätdes Finanzkapitals großenteils aufgehoben, abernicht durch internationale Aufsicht ersetzt. Das hatden Akteuren unbegrenzte Möglichkeiten eröff-net, sich auf Kosten der Allgemeinheit zu berei-chern. Solange die Situation andauert, ist der Ein-zelne förmlich zur Bereicherung gezwungen, willer nicht im Wettbewerb auf der Strecke bleiben.

Die Souveränitäts-Illusion

Wem nützt die individuelle Bereicherung auf Kos-ten der Allgemeinheit? Sie geschieht auf den Gü-ter- ebenso wie auf den Finanzmärkten, sowohldurch die Abwälzung von Kosten, die individuellzu tragen wären, auf die Gemeingüter, als auchdurch private Aneignung der den Gemeingüternzuzurechnenden Erträge, die allen zustehen.5 Ro-bert Reich zufolge bringt uns das als Verbraucher

billigere Konsumgüter und als Geldanleger höhe-re Renditen ein, schädigt uns aber als Arbeitneh-mer durch Lohnminderung sowie als Bürgerdurch Umweltzerstörung, gesellschaftliche Desin-tegration und Unterwanderung der demokrati-schen Prozesse.6

Das liest sich, als träfen die Nutzen und die Schä-den alle Menschen gleich. Wäre das der Fall, sokönnte die Hinnahme der Schäden, wie es gerngeschieht, mit der Konsumentensouveränität ge-rechtfertigt werden: Konsumenten und Anlegerwollen auf die niedrigeren Preise und höherenGewinne nicht verzichten, denn sie sind ihnen,weil sofort verfügbar, wichtiger als die eher lang-fristigen Schäden. Und da es auf den Märktennach dem Willen der Konsumenten geht, kann diePolitik nicht viel dagegen tun. Tatsächlich ziehenaber die ärmeren Verbraucher den Kürzeren: Sieprofitieren weniger von den Vorteilen und habenstärker unter den Nachteilen zu leiden. Es ist eineIllusion zu glauben, die Idee von der Konsumen-tensouveränität würde die Realität beschreiben.Vielmehr hat sie einen normativen Sinn:7 Die rea-len Märkte sollten so verfasst sein, dass sich dieProduzenten gemäß den Konsumentenwünschenverhalten, die in der Theorie dem Gemeinwohlentsprechen.

Eine ungeahnte Steigerung erfuhr diese Illusiondurch die Vorstellung, die Finanzmärkte regulier-ten sich am besten selbst. Heute, angesichts derProbleme auf den Finanzmärkten, gibt es kaumnoch Zweifel, dass das Gegenteil richtig ist: Die Fi-nanzmärkte sollten so verfasst sein, dass die Akteu-re sich in einer Weise verhalten müssen, dass dasanlagesuchende Kapital in die bestmöglichen Ver-wendungen auf den Gütermärkten gelenkt wird.Dazu braucht man eine andere Politik, zum Bei-spiel internationale Aufsicht über die Finanzmärk-te und ihre Akteure, strengere Regeln für dieTransparenz der Risiken sowie für die Kapital-unterlegung der Bank- und Börsengeschäfte, Aus-trocknung der Steueroasen.8 Nötig ist die Ver-pflichtung des Kapitals auf das Ziel und die Mittelder nachhaltigen Entwicklung sowie die systemati-sche Förderung des ethischen Investments.

Das muss auch noch gelten, wenn die Finanzkriseüberstanden sein wird. Wie hartnäckig das alte3 Vgl. Gerhard Scherhorn, Markt und Wettbewerb unter dem Nach-

haltigkeitsziel, in: Zeitschrift für Umweltpolitik & Umweltrecht 28,Seiten 135–154, und derselbe, Nachhaltige Entwicklung: Die be-sondere Verantwortung des Finanzkapitals, Erkelenz 2008.4 Vgl. Gerhard Scherhorn, Das Finanzkapital zwischen Gier und Ver-antwortung, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 45 (2008),156./157. Folge, Seiten 3–13.5 Vgl. Gerhard Scherhorn, Nachhaltige Entwicklung: Die besondereVerantwortung des Finanzkapitals, Erkelenz 2008, Seiten 36 ff.

6 Vgl. Robert Reich, Superkapitalismus. Wie die Wirtschaft unsereDemokratie untergräbt, Kapitel 3, Frankfurt am Main 2008.7 Literatur dazu bei Gerhard Scherhorn, Markt und Wettbewerb un-ter dem Nachhaltigkeitsziel, a.a.O., Seite 142.8 Vgl. Gerhard Scherhorn, Geld soll dienen, nicht herrschen. Dieaufhaltsame Expansion des Finanzkapitals, Wien 2008 (im Druck).

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Denken sich zu behaupten versucht, sieht manbeispielsweise in der Tendenz, die Prinzipien desethischen Investments nur soweit zu akzeptieren,wie sie sich bei den Unternehmen in finanziellerSicht „materiell“ auswirken.9 Materiell wird es sichwohl – jedenfalls kurzfristig – negativ auf die Er-träge auswirken, wenn die bisherige Abwälzungprivatwirtschaftlicher Kosten auf die Allgemein-heit unterbleibt. So ist die Forderung nach „Mate-rialität“ nichts anderes als die Verneinung der So-zialbindung des Kapitals. Sie richtet sich im Grun-de gegen die für das ethische Investment aufge-stellte Regel, alle Finanzgeschäfte zu unterlassen,die ethischen Kriterien nicht genügen.

Ein Beispiel sind die Mikrokredite. Sie sollen Ar-men helfen, aus eigener Kraft zu leben. Dazu müs-sen die Investoren nicht auf Rendite verzichten,aber sie müssen eine Selbstbindung auf maßvolleRenditen eingehen, denn Mikrokredite brauchenwie vieles andere im Bereich der nachhaltigen Ent-wicklung „geduldiges Kapital“.10

Vor allem dürfen Kapitalanleger nicht längerdurch die Beratung von Banken und die Mediendazu gedrängt werden, die Anlage von Geld alleinunter dem Renditegesichtspunkt zu sehen. Dazumüssen etliche Rahmenbedingungen der Märktesich ändern, beispielsweise:

� Zur Förderung der ethischen Geldanlage mussfür die Anlageberatung die Pflicht gelten, Kundenüber die Kriterien der Nachhaltigkeit von Finanz-produkten aufzuklären und sich dabei auf ethi-sche Bewertung von Unternehmen durch vertrau-enswürdige Agenturen zu stützen.

� Unternehmen müssen dazu angehalten wer-den, über ihre nichtfinanziellen Ergebnisse mitgleicher Intensität zu berichten wie über die fi-nanziellen. Das Bilanzreformgesetz verpflichtetgroße Kapitalgesellschaften seit 2005, „nichtfinan-zielle Leistungsindikatoren“ in die Berichterstat-tung einzubeziehen, allerdings nur, sofern sie „re-levant für den Unternehmenserfolg“ sind. DieseEinschränkung klingt nach Materialität. Sie mussdurch die Pflicht zur Information über den Bei-

trag des Unternehmens zur nachhaltigen Entwick-lung ersetzt werden.

� Wirtschaftsprüfern muss vorgeschrieben wer-den, dass sie die Prüfung auf das Erreichen zu-mindest jener Nachhaltigkeitsziele ausdehnen, diedas Unternehmen sich auferlegt hat oder die ihmauferlegt wurden.

� Fondsmanager müssen verpflichtet werden,sich bei der Zusammenstellung der Portfolios anden Kriterien der Natur- und Sozialverträglichkeitzu orientieren.

� Für Gewinne aus Aktien mit unterdurch-schnittlichen Nachhaltigkeitswerten sollte ein hö-herer Steuersatz gelten.

Klare Kriterien für die Bewertung ethischer Investitionen

Das Fehlen dieser Rahmenbedingungen behin-dert die weitere Verbreitung ethischer Geldanla-gen. Sie brauchen aber Rückenwind, denn gegendie hindernden Rahmenbedingungen kommt nureine starke intrinsische Motivation an, die erfah-rungsgemäß nur von einer Minderheit zu erwar-ten ist.

Die Zahl der Investoren, die sich schon heute anethischen Kriterien orientieren, ist nicht unbe-deutend und nimmt tendenziell zu (siehe Kasten).Aber schon jetzt wird das ethische Investmentnicht mehr allein von ethischen Beweggründenbestimmt, sondern zunehmend auch von der Er-wartung auf hohe Renditen. Das wird problema-tisch, wenn diese Erwartung sich in den Vorder-grund drängt, denn dann unterscheidet sich dieethische nicht mehr von der konventionellenGeldanlage. Auf diesen Unterschied kommt es ge-rade an: Die ethische Geldanlage hat sich ausge-breitet, weil mehr Anleger die Einsicht gewannen,dass das Kapitaleigentum auch der Allgemeinheitdienen muss. Dass die Unternehmen, in die sie in-vestierten, vielfach höhere Renditen erzielten alsder Durchschnitt der anderen – wenn man vonden überhöhten Gewinnen auf den Finanzmärk-ten einmal absieht –, war ein hoch befriedigenderNebeneffekt.

Dieses Verhältnis der Anlagemotive muss erhaltenbleiben, wenn das ethische Investment sich weiterausbreitet. Denn wer ist schon so naiv zu glauben,dass die Renditen der ethischen Geldanlage vonselbst weiter steigen und die der konventionellen

9 Vgl. Christoph Butz/Jean Laville, Nachhaltige Anlagen: Warum die„Materialitätsdiskussion“ in die Irre führt, Ethos Discussion Paper Nr.2, Juni 2007, www.ethosfund.ch; Franziska Jahn-Madell, Develop-ments on the ethical investment market, in: Johannes Hoff-mann/Gerhard Scherhorn (Hrsg.), Ein Modell für Nachhaltigkeit,a.a.O.10 Vgl. Reinhard H. Schmidt, Mikrofinance, Kommerzialisierung undEthik, in: Johannes Hoffmann/Gerhard Scherhorn (Hrsg.), Ein Modellfür Nachhaltigkeit, a.a.O.

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Ethisches Investment

45Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

In den USA und in Großbritannien – den Ländern mit der längsten Tradition im Bereich des „Socially Responsi-

ble Investment“ (SRI) – bilden Nachhaltigkeits-Investments mittlerweile eine feste Größe im gesamten Invest-

mentmarkt, mit jährlich zweistelligen Wachstumsraten. Nach einer Untersuchung des Social Investment Fo-

rum sind in den USA circa elf Prozent des insgesamt verwalteten Volumens (25,1 Billionen US-Dollar) unter

Berücksichtigung ethischer, ökologischer oder sozialer Kriterien investiert. Die enormen Volumina in den USA

sind nicht zuletzt auf Aktivitäten institutioneller Investoren (zum Beispiel kirchliche Anleger und Pensionsfonds)

zurückzuführen, die schon vor Jahrzehnten begonnen haben, ihre Kapitalanlage nach ethischen Kriterien aus-

zurichten und damit als Initiatoren der gesamten SRI-Szene angesehen werden.

In Kontinentaleuropa hat diese Entwicklung erst vor einigen Jahren eingesetzt. Ausgehend von einem bislang

vergleichsweise geringen Marktanteil haben sich die entsprechenden Anlagevolumina innerhalb weniger Jahre

vervielfacht. Die Investments in nachhaltige Geldanlagen durch deutsche, österreichische und schweizerische

Anleger lagen Ende 2006 bei knapp 20 Milliarden Euro. Dies publiziert das Forum Nachhaltige Geldanlagen

(FNG) in seinem „Statusbericht Nachhaltige Geldanlagen 2007“. Nach Angaben der Studie bedeutet das eine

Volumenzunahme von 37 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Für die größten Märkte in Europa hat Eurosif, der

europäische Dachverband für nachhaltiges Investment, im September 2006 aktuelle Zahlen vorgelegt: Auf 24,1

Milliarden Euro schätzt Eurosif das Gesamtvolumen der Ende 2005 unter Nachhaltigkeitskriterien verwalteten

Publikumsfonds in Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Großbritannien, Deutschland, Österreich, der Schweiz,

Italien und Spanien. Legt man eine breitere Definition beim Nachhaltigkeitsverständnis in der Vermögensver-

waltung an und berücksichtigt zudem das Kapital, das in institutionellen Mandaten gebunden ist, kommt man

auf ein Gesamtvolumen von über einer Billion Euro im europäischen Raum. Diese Summe entspricht zehn bis

15 Prozent des Gesamtmarktes, so die Studie.

Gründe für diese Entwicklung liegen primär in der steigenden Bedeutung des Marktes für institutionelle Inves-

toren wie Pensionsfonds, aber auch kirchliche Anleger und Stiftungen, die ihre Kapitalanlage verstärkt in Ein-

klang mit ökologischen und sozialen Kriterien bringen möchten. Es zeigt sich, dass der Bereich des Nachhal-

tigkeits-Investments damit auch zunehmend von Banken und Fondsgesellschaften als interessant und lukrativ

eingeschätzt wird. Dementsprechend konnte im Jahre 2007 die Anzahl der Publikumsfonds, die im deutsch-

sprachigen Raum zum Vertrieb zugelassen sind, auf über 180 erhöht werden – im Vergleich zu 1998 eine Ver-

fünfzehnfachung. Experten gehen davon aus, dass dies nur den Beginn einer langfristigen Aufwärtsentwick-

lung darstellt. So schätzt beispielsweise das Deutsche Aktieninstitut die zukünftige Marktentwicklung mit

jährlichen Wachstumsraten von 30 bis 40 Prozent sehr positiv ein. Ein Marktanteil von fünf bis zehn Prozent

an der gesamten Investmentfonds-Landschaft wird für die nächsten zehn Jahre als erreichbar eingestuft – im

Vergleich zum jetzigen Marktanteil in Höhe von noch unter einem Prozent ein deutlicher Anstieg.

Quelle: Robert Hassler/Matthias Bönning/Sylvia Kloberdanz, Nachhaltigkeitsratings als Kern des Nachhalti-

gen Investments, in: Johannes Hoffmann/Gerhard Scherhorn (Hrsg.), Ein Modell für Nachhaltigkeit, Erkelenz

2008 (im Druck).

Internationale Verbreitung ethischer Geldanlagen

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weiter zurückgehen werden? Das ökonomischeMotiv der Gewinnmaximierung kann – wenn über-haupt – erst wieder Regie führen, wenn die Rah-menbedingungen eines Tages sicherstellen, dassnur noch nach ethischen Kriterien investiert wird.

Dazu muss auch die Weiterentwicklung des ethi-schen oder Nachhaltigkeits-Ratings beitragen.Dass die Institute, die es durchführen, miteinan-der im Wettbewerb stehen, ist zu begrüßen, weil esder Suche nach den besten Lösungen dient. Aberdie Unterschiede in den Bewertungsverfahrenmüssen transparenter werden.11 Der einzelne In-vestor muss leicht durchschauen können, warumbeispielsweise Toyota im Dow Jones SustainabilityIndex auf Rang zwei steht, bei oekom research aufRang sieben und bei Scoris auf Rang neun. Soweitdas daran liegt, dass das eine Institut nur diejeni-gen ethischen Kriterien anlegt, die den materiel-len Geschäftserfolg beeinflussen, die anderenaber eine Auswahl aus allen Kriterien der Natur-und Sozialverträglichkeit, müssen die Urteile ver-gleichbar gemacht werden. Das könnte dadurchgeschehen, dass auch das erste Institut die ethi-

schen Kriterien vollständig anlegt und den Materi-alitäts-Aspekt getrennt ausweist.

Natürlich kann man einem Institut nicht verbie-ten, auch die finanzielle Seite von Investitionen zubewerten. Aber man kann verlangen, dass sie nichtmit der ethischen vermengt wird. So wird es zu ei-ner Standardisierung der ethischen Bewertungkommen müssen. Auch die finanzielle Bewertungsoll ja nach dem Versagen in der Immobilienkrisegenauer beaufsichtigt werden. In beiden Berei-chen darf man sich nicht an einer Durchschnitts-leistung orientieren, sondern man sollte die je-weils beste zur Norm erheben.

Vor allem muss ein Kanon der ethischen Kriterienentwickelt werden, der neben den Nachhaltig-keitskriterien der Natur- und Sozialverträglichkeitauch die Menschenrechte, die kaufmännischeEthik, die politische Fairness und die elementarenMoralvorschriften berücksichtigt – hätte es ihnschon gegeben und wäre er verbindlich gewesen,wäre es weder zur chaotischen Liberalisierung derFinanzmärkte noch zur Finanzkrise gekommen. �

11 Vgl. Franziska Jahn-Madell, a.a.O.

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Nach ökonomischem Sprachgebrauch wird unterder Sozialen Marktwirtschaft eine wirtschaftspoliti-sche Konzeption verstanden, also eine General -linie oder angekündigte Richtschnur für wirt-schaftspolitisches Handeln in einem marktwirt-schaftlichen System. Es ist ein Versprechen der po-litisch Verantwortlichen, die mit der Konzeptionverkündeten Ziele und ordnungspolitischenGrundsätze dauerhaft einzuhalten. Abgegebenwurde das Versprechen von der CDU mit den Düs-seldorfer Grundsätzen am 15. Juni 1949. Im Wahl-kampf 1972 hatten alle politischen Parteien derBundesrepublik die Konzeption Soziale Marktwirt-schaft als für sich verbindlich erklärt. Danach wur-de das mit ihr abgegebene Versprechen in Sonn-tagsreden immer wieder erneuert.

Heute, nach fast sechs Jahrzehnten, muss bedau-ernd festgestellt werden, dass das Versprechen vonAnfang an durch politisches Tun oder Unterlassenmehrfach gebrochen wurde. Einige typische Bei-spiele belegen dies: die Wettbewerbspolitik, dieStrukturpolitik, die Arbeitsmarktpolitik und dieSozialpolitik.

Soziale Marktwirtschaft:Von Anfang an nicht ernst genommen

Beim Bemühen, „den Wettbewerb zur größtenWirksamkeit im Interesse des Verbrauchers zubringen“, so Alfred Müller-Armack, einer der Initia-toren der Konzeption und politischer Weggefähr-te Ludwig Erhards, dauerte es acht Jahre, bis 1957ein entsprechendes Gesetz gegen Wettbewerbsbe-schränkungen (GWB) verabschiedet wurde. Wei-tere 16 Jahre vergingen, bis kaum zu bestreitendeMängel des GWB gegen den zähen Widerstandvon Wirtschaftsverbänden wenigstens teilweise be-

hoben wurden, obgleich sie schon vor der Verab-schiedung des GWB erkannt worden waren.1

In der Strukturpolitik wurde von Beginn an aufDruck der Verbände eine wenig überzeugendeSubventionierung einzelner Wirtschaftszweige vor-genommen. Herausragende Belege hierfür sinddie Landwirtschaft und die Montanindustrie. DerSubventionsbedarf der Landwirtschaft erwies sichaufgrund einer eklatant marktwidrigen Politik alsein Fass ohne Boden und zwar bis heute. Kohleund Stahl wurden mit massiven Subventionen vorunstreitig überlegener Auslandskonkurrenz ge-schützt. In den Subventionsberichten der Bundes-regierung firmieren sie wiederholt unter Erhal-tungssubventionen. Hinsichtlich dieser Subven-tionsart urteilte einer der Befürworter der Kon-zeption, Wilhelm Röpke : „Sie werden umso eher zubilligen sein, je mehr es Ziel ist, lediglich die not-wendige Anpassung eines Wirtschaftszweiges anneue Verhältnisse zu erleichtern (Anpassungsin-tervention).“ Wie wenig erfolgreich die Anpas-sung betrieben wurde, zeigte der Schrumpfungs-prozess in der Montanindustrie.

Der jüngste Bruch des Politikversprechens ist dassogenannte Mindestarbeitsbedingungsgesetz, dasin Branchen gelten soll, in denen keine ausrei-chende tarifvertragliche Bindung besteht. Es istein listig begründeter Schritt hin zu allgemein ver-bindlichen gesetzlichen Mindestlöhnen, also zu ei-ner staatlichen Lohnfestsetzung, die gegen diegrundgesetzlich garantierte Tarifautonomie ver-stößt. Nach vielem Hin und Her wurde das Gesetz,

Soziale Marktwirtschaft: Ein gebrochenes PolitikversprechenProf. Dr. Manfred E. StreitMax-Planck-Institut für Ökonomik, Jena

Nur zu leicht entsteht eine Begriffsverwirrung, die sowohl in Meinungsumfragen als auch in Veröffentlichungen der

Bundesregierung und im ratifikationsbedürftigen EU-Vertrag vorkommt. Darin werden die gegenwärtige Wirtschaftsord-

nung und die Soziale Marktwirtschaft gleichgesetzt.

1 Im Jahr 1973 wurde das Instrument der Fusionskontrolle in dasGWB eingefügt, um dem Entstehen von Marktmacht durch Unter-nehmenszusammenschlüsse von vornherein entgegenzuwirken. Vgl.Ulf Böge, 50 Jahre Bundeskartellamt – 50 Jahre Gesetz gegen Wett-bewerbsbeschränkungen, in: Orientierungen zur Wirtschafts- undGesellschaftspolitik 115 (1/2008), Seite 22.

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Fragen der Wirtschaftsordnung

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die Konzeption ignorierend, von den verantwort-lichen Ministern schönfärbend erläutert.

Herrschaft der Verbände

Für die Konzeption zentral war der Vorschlag vonMüller-Armack, „den sozialen Ausgleich“ mit der„Freiheit auf dem Markte“ zu verbinden. Der sozi-ale Ausgleich erwies sich als politisch attraktive Lo-sung für einen jahrzehntelangen Missbrauch derSozialpolitik zu Wahlkampfzwecken.2 Im Namendes fragwürdigen Ziels der sozialen Gerechtigkeitwurde ein kostspieliges System der sozialen Siche-rung errichtet, das von einer undurchschaubarenund wuchernden Bürokratie verwaltet wird. Teiledes Systems werden finanziell durch Quersubven-tionen des Bundes alimentiert. Das trug zu einemAnwachsen der Staatsverschuldung und einemVerstoß gegen den Konzeptionsgrundsatz der „Sta-bilität des Haushalts“ (Müller-Armack) bei, ohnedass die strukturellen Mängel des praktizierten So-zialstaats behoben wurden. Die wuchernden, sozi-alpolitisch begründeten Transferzahlungen soll-ten vor einigen Jahrzehnten von einer sogenann-ten Transferkommission durchforscht werden. IhrErgebnis war eine Transferillusion: Den Empfän-gern von Transferzahlungen war nicht bewusst,dass sie letztlich die erhaltenen Leistungen selbstzu bezahlen hatten.

Der Missbrauch der Sozialpolitik zu Wahlkampf-zwecken äußert sich in einem unerfreulichen Zu-sammenwirken von Verbandsfunktionären undpolitisch Verantwortlichen zulasten der Allge-meinheit. Die Belastung der Allgemeinheit schlägtsich in einer steigenden Quote an Steuern, Ge-bühren und Beiträgen sowie einer wachsendenRegulierungsdichte nieder, von der nahezu alleLebensbereiche der Gesellschaft erfasst werden.Rund 14 000 Verbände und Dachverbände bietenihre keineswegs uneigennützigen Dienste bei derRegulierung und Gesetzgebung an. Schon 1960

warnte Theodor Eschenburg vor einer „Herrschaftder Verbände“.

Ein Beispiel für diese Herrschaft ist das Gesund-heitswesen. Über Jahrzehnte hinweg entwickeltees sich zu einem mehrstufigen, schwer durch-schaubaren, wettbewerbswidrigen und bürokra-tisch aufgeblasenen Koloss. Auf seinen Stufen, vonden Apotheken über die ärztliche Versorgung biszu den Krankenkassen, wird es durch staatlich to-lerierte Kartelle kontrolliert, die unter dem Ein-fluss von Verbänden stehen. Politische Versuche,die Kostenentwicklung des Systems und mit ihr dieBeitragslasten für seine Nutzer durch Begünsti-gung von Wettbewerb zu steuern, scheiterten amzähen Widerstand der Verbände. Diese mit soge-nannten konzertierten Aktionen in politische Vor-haben einzubinden, führte zu kaum mehr als un-verbindlichen Formelkompromissen, die mit me-dienwirksamem Aufwand von den beteiligten Poli-tikern und Verbandsfunktionären zur Selbstdar-stellung genutzt wurden.

Unbehagen und schwindende Akzeptanz

Das durch Regulierungen und marktwidrige Inter-ventionen verkrustete Wirtschaftssystem muss beivielen Skepsis und Akzeptanzmangel verursachen.Das kann als Reaktion darauf betrachtet werden,dass das mit der Sozialen Marktwirtschaft abgege-bene politische Versprechen vielfach gebrochenwurde. Die ökonomischen Folgen haben alle zutragen. Die verbreitete Politikverdrossenheitkommt also nicht von ungefähr. Was bleibt, ist einverbreitetes Unbehagen an der erfahrenen Wirt-schaftsordnung, die nur zu leicht mit der Konzep-tion der Sozialen Marktwirtschaft verwechseltwird. Schwindende Akzeptanz und Unbehagen ander erfahrenen Wirtschaftsordnung sind die Reak-tion auf die wenig durchschaubaren Folgen einesjahrzehntelangen Bruches des Politikverspre-chens, genannt Soziale Marktwirtschaft. �

2 Vgl. Roland Vaubel, Der Missbrauch der Sozialpolitik in Deutsch-land – Historischer Überblick und Politisch-Ökonomische Erklärung,in: Gerard Radnitzky/Hardy Bouillon (Hrsg.), Ordnungstheorie undOrdnungspolitik, Berlin/Paris/Tokyo 1991, Seiten 173–198.

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Die Geschichte der Agrarpolitik in der Europäi-schen Union (EU) ist eine Geschichte der Refor-men. Auf der Konferenz von Stresa (Italien) imJahr 1958 konzipiert und seit den 1960er Jahrenumgesetzt, enthielt die EU-Agrarpolitik einengrundlegenden Konstruktionsfehler: Durch Markt -ordnungen für landwirtschaftliche Produkte soll-ten die Preise angehoben, die Landwirte geschütztund deren Einkommen verbessert werden. Heutefällt es schwer, einen solchen protektionistischenPolitikansatz nachzuvollziehen. Doch er war einProdukt der Nachkriegszeit und spiegelte die da-maligen Erfahrungen in Europa wider: Krieg undHunger, langfristige reale Preissenkungen fürAgrarprodukte, volkswirtschaftlicher Strukturwan-del und das Problem der Einkommensdisparitätim Agrarbereich.

Die Agrarreformen führten zunächst zu einemmühsamen und bis heute anhaltenden Abbau derprotektionistischen Marktintervention. Mit derUruguay-Runde (1987 – 1994) im Rahmen des All-gemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT)rückte die internationale Kritik an der EU-Agrar-politik in den Vordergrund. Sie ist bis heute in derlaufenden Doha-Runde der Welthandelsorganisa-tion (WTO) ein wesentlicher Motor für den weite-ren Protektionsabbau und die Liberalisierung derEU-Agrarpolitik. Neben der Abkehr von der pro-tektionistischen Marktintervention entwickelt sichdie EU-Agrarpolitik zunehmend von einer sektor-orientierten Politik zu einer Politik für den länd-lichen Raum. Deutliche Zeichen für diese Neu-orientierung wurden mit der Agenda 2000 undmit der Einrichtung des Europäischen Landwirt-schaftsfonds für die Entwicklung ländlicher Räu-me (ELER) für die laufende Finanzierungsperio-de 2007 bis 2013 gesetzt.

Nach der jüngsten Hausse auf den Weltagrarmärk-ten stellt sich die Frage, wie die EU-Agrarpolitikauf neue Herausforderungen reagieren kann: denKlimawandel, steigende Energiepreise und dieNotwendigkeit der globalen Ernährungssiche-rung. EU-Agrarpolitik umfasst heute deshalb dreiPolitikbereiche: die „alte“ protektionistischeMarkt- und Preispolitik, die „neue“ Politik für denländlichen Raum sowie die Agrarpolitik der Zu-kunft in Zeiten neuer Knappheit.

Liberalisierung der EU-Agrarpolitik

Die Agrarreformen führten zunächst nur mühsamzum Abbau protektionistischer Marktinterventio-nen. In den ersten Reformen seit Mitte der 1970erJahre ging es um eine restriktivere Preispolitik so-wie die Förderung des Absatzes und der Vermark-tung von Agrarprodukten. Eingeführt wurdenauch dirigistische Maßnahmen: Seit 1984 gibt esauf dem Milchmarkt eine Mengenquotierung. ImJahr 1987 wurde das Instrument der Flächenstillle-gung bei Ackerfrüchten in die Agrarpolitik einge-führt, zunächst auf freiwilliger Basis und späterobligatorisch.

Im Jahr 1992 kam es mit der nach dem damaligenEU-Agrarkommissar Ray MacSharry benannten Re-form zu einer grundlegenden Änderung des Kon-zepts der EU-Agrarpolitik. Kern der Reform wardie Senkung des Preisniveaus bei Agrarprodukten,verbunden mit einer Kompensation der Einkom-mensverluste für die Erzeuger. Die MacSharry-Re-form von 1992 ist die Geburtsstunde der Direkt-zahlungen, die heute den größten Anteil am EU-Agrarhaushalt ausmachen und ein wesentlicherDiskussionspunkt in der EU-Agrarpolitik sind.

Agrarpolitik in der Europäischen Union:Abkehr vom Protektionismus?Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Kirschke/Dr. Astrid HägerFachgebiet Agrarpolitik am Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbausan der Humboldt-Universität zu Berlin

Geboren aus dem Gedanken, für Verbraucher erschwingliche Lebensmittel und für Landwirte sichere Einkommen zu schaf-

fen, wurde der europäische Agrarsektor in den 1960er Jahren weitgehend protektionistisch organisiert. Politische Be-

kenntnisse und Reformvorstöße zu mehr Wettbewerb gab es schon bald danach, doch von einer marktwirtschaftlichen Ord-

nung kann man noch immer nicht sprechen.

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Europäische Perspektiven

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Den derzeitigen agrarpolitischen Rahmen setzendie Luxemburger Beschlüsse vom Juni 2003. Diedarin beschlossene weitgehende Entkopplungder Direktzahlungen von der Produktion mar-kiert die letzte Etappe in der Abkehr von der pro-tektionistischen Markt- und Preispolitik. Ansprü-che auf Direktzahlungen werden nicht mehr andie Erzeugung bestimmter Agrarprodukte gekop-pelt. Somit können sich die Landwirte in ihrenProduktionsentscheidungen allein am Marktorientieren. Grundvoraussetzung für den Bezugvon Direktzahlungen bleibt aber die Aufrechter-haltung einer definierten ordnungsgemäßenLandbewirtschaftung.

Der Anteil der EU-Agrarausgaben am gesamtenEU-Haushalt ist mit gut 40 Prozent immer nochhoch. Von den Agrarausgaben werden etwa 80Prozent für die Markt- und Preispolitik (erste Säu-le) verwendet, während für die Politik für denländlichen Raum (zweite Säule) circa 20 Prozentzur Verfügung stehen. Bei der ersten Säule han-delt es sich im Wesentlichen um Direktzahlungen;von den traditionellen Ausgaben für Marktinter-ventionen ist nur ein Rest von etwa fünf MilliardenEuro pro Jahr übrig geblieben. Im Jahr 2006 sindin der EU-25 Direktzahlungen in Höhe von 33,1Milliarden Euro an 7,3 Millionen Betriebe – inDeutschland 5,1 Milliarden Euro an 378 000 Be-triebe – gezahlt worden.1

Direktzahlungen als Auslaufmodell

Dass eine protektionistische Markt- und Preispoli-tik wenig geeignet ist, um sektorale Einkommens-probleme zu lösen, wird heute – auch von den be-troffenen Landwirten – nicht mehr infrage ge-stellt. Andererseits ist die Liberalisierung der EU-Agrarpolitik seit ihrer Gründung ein Lehrstücküber politische Ökonomie, konkret über das The-ma des Subventionsabbaus in marktwirtschaft-lichen und demokratischen Systemen. Reste derprotektionistischen „Agrarfestung Europa“ gibt esnoch immer bei Rindfleisch, Zucker und Milch,doch ist auch auf diesen Märkten eine weitere Li-beralisierung absehbar. Das aktuelle Diskussions-thema ist die Legitimation bzw. der Abbau der Di-rektzahlungen.

Die Direktzahlungen werden im Wesentlichen mitdrei Argumenten begründet: Sie werden erstensals notwendig für einen stabilen politischen Rah-men in Anpassungs- und Übergangprozessen nachden Luxemburger Reformbeschlüssen angesehen;sie werden zweitens als eine Art Grundprämie fürdie Bereitstellung öffentlicher Güter durch dieLandwirtschaft, wie die Erhaltung der Kulturland-schaft, angesehen; drittens werden sie angesichtshoher Standards in der EU-Agrarproduktion fürerforderlich gehalten. Diese Argumente erschei-nen einleuchtend, werfen aber auch Fragen auf:

� Zunächst stellt sich die Frage nach dem erfor-derlichen Zeitraum für die Gewährung von Di-rektzahlungen in Anpassungs- und Übergangs-prozessen. Dauern die Prozesse zehn oder auch 15Jahre? Wie stellt sich die Notwendigkeit solcherZahlungen bei stabilen Märkten und steigendenAgrarpreisen dar, bei denen es keiner Anpassung„nach unten“ bedarf? Der Wissenschaftliche Beiratfür Agrarpolitik beim Bundesministerium für Er-nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz(BMELV) hat wiederholt gefordert, eine klare Li-nie für den Abbau der Direktzahlungen festzule-gen, um einen sicheren Planungshorizont für dieLandwirte zu schaffen.2

� Geht es um das Argument der Bereitstellungöffentlicher Güter durch die Landwirtschaft, so istnach der Art dieser Leistungen und nach den Kos-ten zu fragen. Eine Grundprämie für öffentlicheLeistungen von 300 Euro pro Hektar – in etwa diegegenwärtige Höhe der Direktzahlungen inDeutschland – ist wenig nachvollziehbar, wenn diegeforderte minimale Landbewirtschaftung Kostenin der Größenordnung von 50 Euro pro Hektarverursacht. Zudem wäre es zielgerichteter, nachkonkreten Leistungen sowie regional zu differen-zieren. Weiterhin wäre es konsequent, diese gesell-schaftlichen Leistungen der Landwirtschaft in derzweiten Säule, also der Politik für den ländlichenRaum, zu formulieren und zu entlohnen.

� Auch das Argument der hohen Standards istschwach, müssen doch in die EU importierte Pro-dukte denselben Anforderungen genügen wiehier erzeugte. Höhere Prozesskosten, etwa durcheuropäische Gülle-Vorschriften, verteuern die Pro-duktion nur um wenige Prozent.

1 Annex 1 Indicative figures on the distribution of aid, by size-classof aid, received in the context of direct aid paid to the producersaccording to council regulation (EC) No 1259/1999 and council re-gulation (EC) No 1782/2003, Financial year 2006,http://ec.europa.eu/agriculture/fin/directaid/2006/annex1_en.pdf(23. Oktober 2008).

2 Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim BMELV, Vorberei-tung auf den „GAP-Gesundheitscheck“ – Stellungnahme des Wis-senschaftlichen Beirats beim BMELV, 2008.

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Agrarpolitik

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Kurzum: Die Einführung von Direktzahlungenund deren spätere weitgehende Entkopplung vonder Produktion waren richtige Schritte im Libera-lisierungsprozess der EU-Agrarpolitik. Sie sind je-doch künftig kaum noch legitimierbar und wer-den zum Auslaufmodell.

Internationale Folgen der EU-Agrarpolitik

Eine protektionistische Agrarpreispolitik in Indus-trieländern führt zu Produktionsanreizen „imNorden“ und senkt in der Tendenz die Weltagrar-preise. Dadurch werden Exportchancen vonAgrarexportländern wie den USA, Australien undBrasilien, aber auch von Ländern wie Südafrikaoder Thailand geschmälert, während Importe fürDrittländer begünstigt werden. Für die Landwirt-schaft in Drittländern, insbesondere für die Klein-bauern, führt eine solche Politik zu „unfairer Kon-kurrenz“ mit verminderten Markt- und Einkom-menschancen. Zu Recht sind diese internationa-len Konsequenzen einer protektionistischenAgrarpolitik kritisiert worden.

In der Logik der WTO geht es bei der Liberalisie-rung der Agrarpolitik nicht nur um den Abbauvon Zöllen und damit um verbesserten Marktzu-gang, sondern darüber hinaus um den Abbau vonExportsubventionen und von handelsverzerren-den inländischen Subventionen. Erlaubt sind „grü-ne“ Subventionen („Grüne Box“3), wie etwa Agrar-umweltmaßnahmen und Maßnahmen für denTierschutz, die die Produktion und den Handelnicht beeinflussen. Der Einbezug des Agrarbe-reichs in den internationalen Liberalisierungspro-zess hat somit zu neuen Diskussionsfeldern in derWTO geführt.

Tatsächlich hat diese Diskussion in der EU-Agrar-politik zu einem Abbau von Agrarzöllen und vonExportsubventionen sowie zu einer Umstellungder protektionistischen Markt- und Preispolitik aufDirektzahlungen geführt. In der laufenden Doha-Runde geht es um den endgültigen Abbau vonAgrarexportsubventionen, der im Prinzip be-schlossen ist, sowie den weiteren Abbau von Zöl-len, dessen Ausmaß und zeitliche Umsetzung um-stritten sind. Im Laufe der Verhandlungen hat dieEU mit den Luxemburger Beschlüssen im Jahr2003 ihre Direktzahlungen weitgehend entkoppelt

und damit in der WTO-Semantik zu „Grüne Box“-Subventionen umgewandelt. Diese weitere Reformder EU-Agrarpolitik ist im Prinzip internationalunbestritten und WTO-konform; in den Verhand-lungen geht es um den weiteren Abbau handels-verzerrender inländischer Subventionen.

Als Indikator für protektionistische Agrarpolitikdient das „Producer support estimate“ (PSE), dasden schutz- und damit politikbedingten Anteil amProduktionswert im Agrarsektor ausweist. Das PSEumfasst den Preisschutz durch Zölle und Export-subventionen sowie inländische handelsverzerren-de Subventionen, aber eben auch und zuneh-mend „Grüne Box“-Subventionen als Folge vonPolitikänderungen. Die Agrarsubventionen in denOECD-Mitgliedsländern liegen mit knapp 30 Pro-zent deutlich über dem Niveau in ausgewählten„großen“ Agrarländern wie Brasilien, Südafrika,China und der Russischen Föderation. Das Spek-trum in der OECD reicht vom liberalen Neusee-land bis zu hoch protektionistischen Ländern wieder Schweiz, Norwegen und Island; die EU liegtmit gut 30 Prozent etwas über dem Durchschnitt.

Insgesamt beläuft sich der Agrarschutz in OECD-Ländern von 2005 bis 2007 auf die vielfach in derÖffentlichkeit genannte und kritisierte Summevon circa 200 Milliarden Euro. Das mag viel seinoder auch wenig, wenn man diese Zahl mit demderzeitigen Volumen der Entwicklungshilfe oderden avisierten Subventionen in der aktuellenBankenkrise vergleicht. Bei der Interpretation istjedenfalls zu beachten, dass sich für die EU-Agrar-politik dahinter eine grundlegende Politikände-rung weg von der protektionistischen Markt- undPreispolitik hin zu Direktzahlungen und „GrüneBox“-Subventionen sowie einer Neuausrichtungauf eine Politik für den ländlichen Raum verbirgt.

Von der Sektorpolitik zur Politik für den ländlichen Raum

Über den historischen protektionistischen Ansatzhinaus wird Agrarpolitik zunehmend als ein Poli-tikbereich verstanden, in dem es auch um die Be-reitstellung und Förderung öffentlicher Gütergeht. Agrar- und Forstwirtschaft beanspruchen al-lein in Deutschland rund 80 Prozent der Flächeund haben wesentlichen Einfluss auf zentrale Um-weltgüter wie Boden und Wasser. Das Landschafts-bild wird entscheidend geprägt durch die Art derLandbewirtschaftung, was direkten Einfluss aufdie Entwicklung der Biodiversität hat. In Bezug aufden Klimawandel wird deutlich, dass die Landwirt-

3 Die „Grüne Box“ umfasst eine Liste von erlaubten Direktzahlun-gen, unter anderem Direktzahlungen an Erzeuger, wenn diese annichts anderes als an eine feste historische Basisgröße gebundensind (sogenannte entkoppelte Zahlungen).

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Europäische Perspektiven

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schaft Klimaänderungen mit verursacht, aberauch betroffen ist. Weltweit entfallen auf die Land-wirtschaft rund neun Prozent aller Treibhausgase,außerdem ist der Agrarsektor die Hauptquelle derEmissionen von Methan und Lachgas. Anderer-seits werden als Folge des Klimawandels zum Bei-spiel für den ostdeutschen Raum zunehmend Was-serknappheit und Produktivitätsrückgänge erwar-tet. Durch die Landbewirtschaftung werden somitdie Existenz und die Produktion zentraler öffent-licher Güter berührt.

In der EU-Agrarpolitik hat dieser Politikbereichzunehmend an Bedeutung gewonnen. Agrarum-weltmaßnahmen sind seit 1992 fester Bestandteilder EU-Agrarpolitik und wurden kontinuierlichausgebaut. Darüber hinaus gab es immer struktur-politische und zunehmend über den Sektor hi -naus reichende regionalpolitische Bezüge. Zu tra-ditionellen Themen wie Verbesserung von Infra -struktur, wasserwirtschaftliche Maßnahmen undFlurbereinigung sowie Dorferneuerung sind zumBeispiel die Förderung der wirtschaftlichen Diver-sifizierung und von Dienstleistungen für dieGrundversorgung im ländlichen Raum dazuge-kommen.

Politik für den ländlichen Raum auf europäischerEbene gestaltet sich heute mit einem eigenen Fi-nanzierungsfonds, dem ELER. Drei Schwerpunktemarkieren die Politikgestaltung mit diesem Fonds:Im ersten Schwerpunkt geht es mit der Förderungder Wettbewerbsfähigkeit der Land- und Forstwirt-schaft noch um einen sektororientierten Bezug;im zweiten Schwerpunkt sollen Umwelt und Land-schaft verbessert werden; im dritten Schwerpunktwerden explizit Lebensqualität und Diversifizie-rung im ländlichen Raum gefördert. Heute wirdvon der „multifunktionalen Landwirtschaft“ oderdem „Europäischen Agrarmodell“ gesprochen,um diese neue agrarpolitische Perspektive zu be-tonen.

Führt die zunehmende Betonung der Politik fürden ländlichen Raum in der EU-Agrarpolitik indie richtige Richtung, so ist die konzeptionelleAusgestaltung dieser Politikrichtung keineswegsabgeschlossen, und es bleiben wesentliche Fragenoffen. So wird kritisiert, dass der ELER nicht kon-sequent regional und in Teilen noch stark sektor-orientiert ist. Vielfach und zu Recht wird auch ge-fordert, Maßnahmen der Politik für den länd-lichen Raum zielorientierter und effizienter zu ge-stalten – eine Kritik, die zudem generell auf eineVerbesserung der Strukturpolitik auf europäischerEbene abzielt.

Angemahnt werden für den ELER auch bessereKoordination mit den anderen EU-Strukturfondsund stärkere Beachtung des Subsidiaritätsprinzips.Tatsächlich hat die Entwicklung der Politik fürden ländlichen Raum in der EU dazu geführt, dasshier die Kompetenzen von Kommunen, Ländern,Bund und EU gemeinsam wahrgenommen wer-den. Eine solche Mehrebenen-Verflechtung derEntscheidungs- und Finanzierungsstrukturen setztfalsche Anreize und führt in eine „Verflechtungs-falle“. Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpoli-tik beim BMELV empfiehlt deshalb, diese Mehr-ebenen-Beteiligung zu entflechten sowie die Ver-antwortung für die Gestaltung und Finanzierungvon vielen Maßnahmen der Politik für den länd-lichen Raum auf die nationale und regionale Ebe-ne zu verlagern.4

Bisweilen gewinnt man den Eindruck, dass die Po-litik für den ländlichen Raum eher von der Ent-wicklung der alten protektionistischen Markt- undPreispolitik sowie insbesondere von deren Finan-zierung als von einem eigenständigen Konzept ab-hängt. So dient das Instrument der Modulationdazu, Mittel aus der ersten in die zweite Säule zuüberführen und den Ausbau der Politik für denländlichen Raum mitzufinanzieren. Das mag polit -ökonomisch verständlich sein, ist aber eigentlich„Politik verkehrt“: Den Mitteln folgen die Maß-nahmen und nicht den Maßnahmen die Mittel.Auch wenn ein solcher Politikansatz in anderenBereichen nicht fremd ist, verdient die Politik fürden ländlichen Raum ein klares Konzept und ei-nen klaren Finanzrahmen.

Sind die Agrarsubventionen schuldan den hohen Agrarpreisen?

Wir hatten uns daran gewöhnt: Die Preise für Nah-rungsmittel sind seit Langem niedrig und stabil,und der Anteil der Verbraucherausgaben für Nah-rungsmittel ist ständig zurückgegangen, inDeutschland auf heute 14 Prozent. Hinter dieserEntwicklung in den letzten Jahrzehnten stehenstarke Produktivitätssteigerungen im Agrarsektorbei begrenztem Nachfragewachstum. Das hat zumklassischen Bild des Agrarstrukturwandels geführt:Immer weniger Landwirte werden benötigt, umNahrungsmittel zu produzieren und die Bevölke-rung zu ernähren. Heute arbeiten noch 2,2 Pro-zent der Erwerbstätigen in Deutschland im Agrar-

4 Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim BMELV, Weiter-entwicklung der Politik für ländliche Räume – Empfehlungen des Wis-senschaftlichen Beirats für Agrarpolitik beim BMELV, 2006.

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sektor und erwirtschaften 0,9 Prozent des Brutto-sozialprodukts; ein Landwirt ernährt circa 140Menschen.5 Das ist der Hintergrund für die Ent-wicklung der protektionistisch ausgerichtetenAgrarpolitik in der EU und der hohen Agrarsub-ventionen.

Für den Boom auf den Weltagrarmärkten für Ge-treide und bei Milchprodukten Anfang des Jahres2008 waren sicherlich kurzfristige Faktoren, wieextreme Witterungsbedingungen und historischniedrige Lagerbestände, verantwortlich. Auch hates in wichtigen Exportländern Produktionsrück-gänge gegeben. Zudem haben falsche und speku-lative Erwartungen auf einzelnen Terminmärktenzum Preisauftrieb beigetragen. Hinter der neuenEntwicklung stehen aber vor allem strukturelleFaktoren, die seit der Jahrhundertwende deut-licher werden. Fünf Entwicklungen und Bestim-mungsfaktoren sind hervorzuheben:

� Das starke Nachfragewachstum in Schwellen-ländern Asiens – verursacht durch Bevölkerungs-wachstum und Einkommenssteigerungen – heiztdie Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermittelnan.

� Auf der Angebotsseite steht dem ein begrenztesProduktivitätswachstum gegenüber. Zwar steigt dieProduktivität in der Agrarproduktion weltweit im-mer noch, aber im letzten Jahrzehnt deutlich ge-ringer als früher. Hier zeigen sich Versäumnisse,wie geringere Investitionen im Agrarbereich undein Rückgang der Agrarforschung.

� Ein dritter Bestimmungsfaktor sind die hohenEnergiepreise. Ein hoher Energiepreis erhöht dieProduktionskosten und bremst das Angebot. Erführt zu wachsender Nachfrage nach erneuerba-ren Energien und damit nach Bioenergie. Bereitsin der Vergangenheit und auch beim jüngstenPreisboom auf den Energie- und Agrarmärktenwar zu beobachten, dass Energie- und Agrarpreiseeng zusammenhängen.

� Die Nachfrage nach Agrarprodukten zur Ener-giegewinnung wird zudem in Deutschland undder EU, aber auch in anderen Industrieländern,durch die aktuelle Bioenergiepolitik verstärkt. Be-reits heute wird ein Siebtel der landwirtschaft-lichen Fläche in Deutschland für die Energiege-winnung genutzt. Eine Umkehr dieser Entwick-lung ist nicht absehbar.

� Schließlich zeigen sich auf den Weltagrarmärk-ten bereits Konsequenzen des Klimawandels,wenn auch undeutlich. Erwartet wird ein negativerEinfluss auf das Produktivitätswachstum in wichti-gen Produktionsregionen, insbesondere aber dieZunahme von witterungsbedingten Produktions-schwankungen und damit eine steigende Volati-lität auf den Weltagrarmärkten.

Vor dem Hintergrund solcher Entwicklungenkönnte es in der EU-Agrarpolitik künftig um neueThemen gehen. Bei hohen Agrarpreisen in Zeitenneuer Knappheit werden die Perspektive der Ver-braucher und Fragen der Ernährungssicherungan Bedeutung gewinnen, insbesondere wenn esum einkommensschwache Bevölkerungsgruppenund Entwicklungsländer geht. Aus Sicht der Pro-duzenten wird es nicht mehr um Preisstützung,sondern bei instabilen Agrarmärkten um den Um-gang mit Preisschwankungen und Marktrisiken so-wie um Stabilisierungspolitiken gehen. Über sol-che Themen der Zukunft – verfangen im Blick zu-rück auf billige Nahrungsmittel und Überschüssesowie einen schutzbedürftigen Agrarsektor – wirdnoch wenig geredet.

Wenn die Nachfrage stärker steigt als das Angebot,steigen die Preise. Die internationale Kritik an derEU-Agrarpolitik und den Agrarsubventionen zieltdagegen auf den Preisdruck dieser Politik auf denWeltagrarmärkten ab. In der Tat hat die protektio-nistische Agrarpreispolitik in der EU zu einer An-gebotssteigerung und damit zu einem Druck aufdie Weltmarktpreise geführt, und dieser Druckwirkt auf einzelne Agrarmärkte noch heute. DieAgrarsubventionen der EU mögen deshalb an vie-lem schuld sein und sind zu Recht kritisiert wor-den. Sie aber für die hohen Agrarpreise der jüngs -ten Vergangenheit verantwortlich machen zu wol-len, ist zumindest paradox und eine ökonomischrecht verwegene Interpretation. Bestenfalls magman der alten EU-Agrarpolitik vorwerfen, dass siezu verminderten Produktions- und Investitionsan-reizen und damit zu verminderten Produktivitäts-zuwächsen in Drittländern geführt hat. Aber ohneZweifel würden Agrarsubventionen gerade in Zei-ten hoher Agrarpreise den Preisanstieg eherdämpfen als anheizen.

Agrarpolitik vor neuen Aufgaben

Die EU-Kommission spricht in ihren Vorstellun-gen zum „Gesundheitscheck“ der EU-Agrarpolitikexplizit davon, dass sich die Agrarpolitik künftigneuen Herausforderungen stellen muss. Ange-

5 BMELV (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch über Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten, 2007, Seiten 13, 19, 51.

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sprochen werden dabei das Thema Risikomanage-ment angesichts volatiler Weltagrarmärkte sowiedie Themen Klimawandel, Bioenergie, Wasser-wirtschaft und Artenvielfalt.6 Hier handelt es sichum neue Politikfelder, die die Agrarwirtschaft und-politik berühren und die eine Weiterentwicklungdieser Politik bedingen. Die EU schlägt im We-sentlichen eine Ausweitung der Politik in der zwei-ten Säule vor, wobei die konkreten Vorstellungennoch vage sind. So relevant die neuen Herausfor-derungen sind, so wichtig ist es, die richtigen poli-tischen Konzepte zu finden und nicht in wenig ef-fizienten Aktionismus zu verfallen.

Die alte EU-Agrarpolitik ist ein gutes Beispiel da-für, dass eine seinerzeit für gut gehaltene Zielset-zung, die Einkommensstützung in der Landwirt-schaft, nicht immer zu einer guten Politik – in die-sem Fall: der protektionistischen Markt- und Preis-politik – führt. Eine ähnliche Kritik gibt es heutezur aktuellen Bioenergiepolitik in Deutschlandund der EU, die sich als eine stark protektionisti-sche Preis- und Subventionspolitik darstellt.

Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beimBMELV hat diese Bioenergiepolitik grundsätzlichhinterfragt und Änderungen gefordert.7 Kritisiertwird insbesondere, dass die CO2äq-Vermeidungs-kosten für einzelne Bioenergielinien sehr hochausfallen. Referenz für die Vermeidungskosten istder Betrag von 20 bis 30 Euro pro gesparter TonneCO2äq aus fossilen Energieressourcen, den etwa dieWärmedämmung bei Gebäuden kostet. Eine ähn-liche Größenordnung gibt es bei den betrachtetenBioenergielinien nur bei der Strohverbrennungoder bei der Nutzung von Hackschnitzeln. Bei an-deren Bioenergielinien sind die CO2äq-Vermei-dungskosten deutlich und zum Teil exorbitant hö-her, so bei einzelnen Biogaslinien und bei Bio-kraftstoffen.

Man braucht keine ökonomische Ausbildung, umsolche Fakten zu interpretieren. Offensichtlich istdie derzeitige Bioenergiepolitik ineffizient: Mitdem gleichen Mitteleinsatz könnte die klimapoliti-sche Zielsetzung der Reduzierung des CO2äq-Aus-stoßes wesentlich besser erreicht werden. Im Bio-

energiebereich selbst wäre es sinnvoller, auf Ab-fallverwertung oder auf neue Technologien zu set-zen, als mit heutigen Technologien Agrarproduk-te für die Energiegewinnung zu nutzen. Proble-matischer wird diese Fehlentwicklung vor demHintergrund neuer Forschungsergebnisse, die ei-nen positiven Klimaeffekt von Biokraftstoffengänzlich infrage stellen, insbesondere aber ange-sichts der steigenden Nahrungsmittelpreise.

Bereits heute wird kritisiert, dass die Förderungder Energiegewinnung aus Biomasse in Industrie-ländern die Preisentwicklung auf den Weltagrar-märkten verschärft. Dass eine politisch verursach-te erhöhte Nachfrage nach Bioenergie in einemSystem verbundener Märkte die Nahrungspreisenach oben zieht, ist unstrittig, wenngleich die Mei-nungen über die Größenordnung auseinander ge-hen. Bei Fortführung und Verschärfung der ak-tuellen Bioenergiepolitik wird sich dieser Effektnoch deutlicher zeigen.

Die Agrarwirtschaft profitiert von der aktuellenBioenergiepolitik in Deutschland und Europa. Dasist aus Sicht des Sektors positiv zu sehen, obwohldabei nicht alle Produktionsrichtungen gewinnen.Auch mag die neue Nachfrage nach Agrarrohstof-fen für die Energieerzeugung den anstehendenAbbau der Direktzahlungen weniger dramatischerscheinen lassen. Die neue Entwicklung derEnergiegewinnung aus Biomasse ist aber generellkritisch zu sehen: Sie ist wenig effizient, und sieverschärft den Konflikt zwischen Energie- undNahrungsproduktion.

Die Entwicklung der EU-Agrarpolitik ist ein Mus-terbeispiel dafür, dass politisches Handeln in kom-plexen Systemen schwierig ist: Einmal etabliertePolitiken sind schwer zu korrigieren; welche Poli-tik die richtige ist, ist nicht immer eindeutig, wennsich Rahmenbedingungen und Problemlagen än-dern und die Erkenntnisse begrenzt sind. Ob,wann und wie politische Prozesse in die richtigeRichtung führen, ist keine triviale Frage. Vielleichtsind solche Einsichten aus der Agrarpolitik auchfür die Gestaltung anderer Politikfelder wie derEnergie- und Klimapolitik hilfreich. �

6 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an den Ratund das Europäische Parlament. Vorbereitung auf den GAP-Ge-sundheitscheck, KOM(2007)277, in: http://ec.europa.eu/agriculture/healthcheck/index2_de.htm (23. Oktober 2008).7 Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim BMELV, Nutzungvon Biomasse zur Energiegewinnung – Empfehlungen an die Politik,2007.

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Die europäisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehun-gen gehören zu den bedeutendsten bilateralenHandelsbeziehungen der Welt. Der Handel zwi-schen der Europäischen Union (EU) und China,der mittlerweile eine Vielzahl industrieller Sekto-ren erfasst, ist während der letzten zehn Jahre undvor allem nach Chinas Beitritt zur Welthandelsor-ganisation (WTO) im Jahr 2001 stark angestiegen.Die Volumina der Handelsströme zwischen der EUund China haben sich zwischen 2003 und 2007 beieiner jährlichen Wachstumsrate von über 20 Pro-zent mehr als verdoppelt. Im Jahr 2007 überschrittdas bilaterale Handelsvolumen erstmals die Markevon 300 Milliarden Euro.

Dennoch sind die europäisch-chinesischen Wirt-schaftsbeziehungen zunehmend angespannt undvon Wortgefechten geprägt. Europa hat begon-nen, die Vereinigten Staaten zu imitieren, und istzu einer schrillen und provokativen Rhetorik über-gegangen. China wurden Strafmaßnahmen und ei-ne Reihe neuer Klagen vor der WTO angedroht.Die jahrelangen öffentlichen BeschuldigungenChinas durch die USA erreichten ihren Höhe-punkt im Jahr 2005, als der Kongress der USAdrohte, einen Importzoll in Höhe von 27,5 Pro-zent auf alle chinesischen Produkte einzuführen.

Chinas Aufstieg zur Wirtschaftsmacht

Im Zentrum von Europas und Amerikas protektio-nistischer Rhetorik stehen Chinas wirtschaftlicherAufstieg und die damit verbundenen Exporterfol-ge. Die Öffnung der chinesischen Märkte für dieWeltwirtschaft nach einer seit Jahrzehnten auf Au-tarkie ausgerichteten Wirtschaftspolitik ist einesder bedeutendsten Programme wirtschaftlicher Li-beralisierung, das die Welt je gesehen hat. Die ers -

te Reformwelle begann in den 1980er Jahren inFolge der ersten Schritte in Richtung Liberalisie-rung im Jahr 1978. Sie betraf in erster Linie die imRahmen der inländischen Wirtschaftspolitik sozia-listisch ausgerichteten Wirtschaftsinstitutionen.Neue Rahmenbedingungen für quasi-kapitalisti-sche Institutionen wurden geschaffen; Freihan-delszonen in den Küstengebieten und um Hong-kong herum durften auf proto-kapitalistischeWeise wirtschaften.

Die zweite Reformwelle begann um das Jahr 1994und betraf die Außenwirtschaftspolitik des Landes,vor allem die Investitions- und Handelspolitik. Diechinesischen Handelsreformen waren bedeutend,weil sie umfassend und schnell durchgeführt wur-den.1 Kaum ein Entwicklungsland hat in der Ge-schichte ein vergleichbares Programm der Libera-lisierung nach außen durchgeführt. Zölle wurdenvon 40 Prozent im Jahr 1990 auf neun Prozent imJahr 2005 gesenkt. Zudem sind alle Zölle an WTO-Regularien gebunden, was für ein erst vor kurzerZeit beigetretenes Mitglied nicht üblich ist, ganzzu schweigen für ein Entwicklungsland.

Die Reformen führten zu einer verstärkten Inte-gration Chinas in den asiatischen Wirtschaftsraumund anschließend in die internationale Arbeitstei-lung mit dem Rest der Welt. Der chinesische Han-del wächst seit 2001 mit einer Jahresrate von nahe-zu 20 Prozent. Chinas Aufstieg zu einer globalenWirtschaftsmacht wurde auch durch rapide zu-nehmende bilaterale Handelsbilanzdefizite, dasheißt Importüberschüsse der EU und USA mitChina deutlich. Diese Defizite sind der eigentliche

Eine neue Verhandlungsbasisfür die europäisch-chinesische HandelsbeziehungDipl.-Vw. Bianka Dettmer/MPhil. Fredrik Erixon/Prof. Dr. Andreas FreytagWissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der Universität Jena/Direktor des EuropeanCentre for International Political Economy (ECIPE)/Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Jena undSenior Fellow am ECIPE

China erzielt nach der beispiellosen Liberalisierung seines Außenhandels beträchtliche Exportüberschüsse in die Euro-

päische Union. Das lässt in Europa den Ruf nach protektionistischen Maßnahmen laut werden. Ausgeblendet wird dabei,

dass die europäische Handelsbilanz insgesamt ausgeglichen ist. – Ein Lehrstück für die sachgerechte Beurteilung inter-

nationaler Handelsströme.

1 Vgl. zur Entwicklung wirtschaftlicher Liberalisierung seitens derVolksrepublik China Fredrik Erixon/Patrick Messerlin/Razeen Sally,China’s trade policy post-WTO accession: Focus on China-EU rela-tions, Mimeo 2008.

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Europäische Perspektiven

56 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Anlass der neuen protektionistischen Rhetorik,die in Zukunft noch schärfer zu werden droht. Alspolitische Konsequenz der Finanzkrise wird derFokus zunehmend auf Chinas Handels- und Wäh-rungspolitik liegen.

Mehr Protektionismus auf allen Seiten

Peter Mandelson, der kürzlich als Handelskommis-sar der EU zurücktrat, nannte das Handelsbilanz-defizit Europas mit China eine „politische Zeit-bombe“ und verlangte ein Eingreifen der chinesi-schen Regierung zur Reduzierung des Saldos. Derehemalige Handelsbeauftragte der EU unterstütz-te den zunehmenden Einsatz von Antidumping-Zöllen gegen China, falls das Land keine geeigne-ten Maßnahmen unternimmt, um seinen Han-delsbilanzüberschuss mit Europa zu verringern. Erhat zudem angedeutet, dass sich Klagen gegenChina vor der WTO häufen könnten.

Dabei scheint Antidumping bereits Europas „Waf-fe erster Wahl“ in den wirtschaftlichen Beziehun-gen mit China zu sein. China ist, mit mehr als vier-zig Antidumping-Zöllen, die aktuell gegen dasLand verhängt sind, Europas Hauptziel bei derar-tigen Maßnahmen. Zudem ist China der Meinung,dass seine Unternehmen bei den Antidumping-Untersuchungen der EU nicht fair behandelt wer-den. Im Jahr 2007 war China ein wesentlicherAdressat bei Beschränkungen im Handel seitensder EU: Von den sechs Untersuchungen, die zurEinführung neuer provisorischer Zölle führten,standen vier im Zusammenhang mit chinesischenUnternehmen; von den acht Untersuchungen, diemit der Einführung von endgültigen Importzöllenabgeschlossen wurden, waren chinesische Unter-nehmen in sieben Fällen vertreten.

Im Jahr 2008 wurden neue Antidumping-Untersu-chungen bezüglich chinesischer Exporte eröffnet,zum Beispiel bei Kerzen und Stahl. Im Wider-spruch zum Ergebnis einer Abstimmung der Mit-gliedstaaten und entgegen ihrer eigenen Anti-dumping-Einschätzung überstimmte die EU-Kom-mission kürzlich die Empfehlung, keine vorläufi-gen Importzölle auf Druckluftkompressoren, eini-ge davon aus China, einzuführen. Ein neuer Anti-dumping-Zoll wird nun also eingeführt werden.

Auch China hat sich in eine stärker protektionisti-sche und nationalistische Richtung gewandt. Na-tionalistische Reaktionen auf ausländische Kritikund ausländische Investitionen nehmen zu. Derfranzösische Einzelhandelskonzern Carrefour

wurde boykottiert, nachdem die französische Re-gierung Chinas Tibet-Politik im Vorfeld der Olym-pischen Spiele kritisiert hatte. Peking fällt es im-mer schwerer, dem zunehmenden Nationalismuszu begegnen, was auch die chinesischen Bezie-hungen zu anderen Staaten beeinflusst.

In der durch die Finanzkrise geprägten Weltwirt-schaft fühlt sich China bestätigt, dass seine makro -ökonomische Politik der geschlossenen Tür im Fi-nanzbereich richtig war. In den letzten Jahren hatsich auch der Ton der Handelspolitik in China ver-ändert. Es gab keine bedeutenden Rückschläge,aber das Land ist vorsichtiger geworden, sodass kei-ne neuen Liberalisierungsschritte erwartet werden.Der chinesische Dienstleistungssektor bleibt um-fangreich geschützt. Neue Zertifizierungsbestim-mungen, die ausländische Produzenten diskrimi-nieren, wurden kürzlich eingeführt und einige Im-portzölle erhöht. Pekings zunehmende Bereit-schaft, die gigantischen Kapitalreserven des Landesfür industriepolitische Zwecke, also für Unterneh-menssubventionen einzusetzen, haben bisherigeBemühungen nachhaltiger Liberalisierungen ver-wässert. China ist nach einem Jahrzehnt beispiello-ser Reformen vor und nach seinem WTO-Beitritt2001 dabei, ein „normales“ Land zu werden.

Fehlgeleitete Rhetorik und Politik

Europas Handelsbilanzdefizit mit China ist in denletzten Jahren beträchtlich gestiegen. Für das Jahr2002 meldete Europa ein bilaterales Defizit in Hö-he von 55 Milliarden Euro, das sich in den darauffolgenden vier Jahren verdreifachte. Dennoch istdieser rasante Anstieg des Defizits im Handel mitChina, der einer ähnlich starken Ausweitung desgesamten Handels zwischen der EU und Chinaentspricht, weder überraschend noch problema-tisch. Er folgt erstens einem breiten Trend derHandelsumleitung, also der Veränderung derHandelsströme von einem Land zu einem ande-ren, und resultiert zweitens aus sich änderndenProduktionskosten und damit Wettbewerbsvortei-len. Alle künstlichen Maßnahmen, die Handelsbi-lanz zu „korrigieren“, wären teuer für Europa. Esgibt keine ökonomische Gefahr oder Ungleichge-wichte in Europas Beziehung zu China.

Sowohl in Europa als auch in den VereinigtenStaaten ist das Handelsdefizit mit China zu einemStreitpunkt geworden, sodass es die Entschei-dungsträger an einer klaren Sicht auf das wirklicheGeschehen gehindert hat. Rationale Analysen wer-den unterdrückt, wenn Politiker – vom Kongress

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China

57Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

der USA bis zum französischen Präsidenten NicolasSarkozy – im Versuch, die nationale Industrie vorAngriffen des chinesischen Wettbewerbs zu schüt-zen, Schlagzeilen hinterherlaufen. Es gibt vieleUngereimtheiten in ihren Analysen, aber die be-deutendste ist der Glaube, dass Europa durch dasbilaterale Handelsdefizit Schaden nähme.

Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten ist dieeuropäische Handelsbilanz insgesamt im Gleich-gewicht. Sie hat sich während der letzten zehn Jah-re im Rahmen von plus bis minus ein Prozent desBruttoinlandsprodukts stabilisiert. Ein Defizit inder bilateralen Bilanz mit einigen Volkswirtschaf-ten führt durch einen Überschuss in der bilatera-len Bilanz mit anderen Volkswirtschaften zu einemausgeglichenen Handelsbilanzsaldo insgesamt.Das ist bei internationalem Handel selbstverständ-lich. Deutschland hat einen großen globalen Han-delsbilanzüberschuss, und die erfolgreiche Außen-handelsorientierung ist der Grund für das wirt-schaftliche Wachstum des Landes in den letztenJahren. Dennoch hat Deutschland zum Beispiel ei-nen Importüberschuss in der Handelsbeziehungmit den Niederlanden.

Das Defizit mit China ist jedenfalls nicht die größ-te Sorge für die Mehrheit der europäischen Staa-ten. Bulgarien, Frankreich, Rumänien, Großbri-tannien und einige weitere europäische Staatensollten eher um ihr Defizit mit anderen europäi-schen Ländern besorgt sein, das ihr Defizit mitChina in den Schatten stellt. Es zeugt von man-gelndem wirtschaftlichen Verständnis und schlech-ter wirtschaftspolitischer Beratung anzunehmen,dass ein Handelsbilanzdefizit in der Beziehung zueinem einzelnen Land wirtschaftspolitischenHandlungsbedarf zur Korrektur des Ungleichge-wichts rechtfertigt.

Ein zweiter Fehler der Analysen ist der Glaube,dass die Ausweitung des Handels zwischen der EUund China die Entstehung neuen Handels bedeu-tet. Wenn ein Land seine Exporte in ein anderesLand erhöht, muss die Produktion dort sinken.Viele Beobachter glauben irrtümlicherweise, dasseine Veränderung des bilateralen Handelsvolu-mens eine Zunahme oder Abnahme des gesamtenHandels widerspiegelt. Einer der wichtigsten Ein-flussfaktoren auf die Veränderungen der Handels-bilanz einzelner Staaten – sowohl bilateral als auchglobal – ist jedoch die Handelsumleitung.

Zunehmende chinesische Exporte nach Europawurden von rückläufigen Exporten andererSchwellenländer nach Europa begleitet. Ein Bei-

spiel dafür ist der Handel mit China im Bereich„Maschinenbau, elektrotechnische Erzeugnisseund Fahrzeuge“. Das Volumen innerhalb dieserHandelskategorie, die vor allem Laptops, Compu-terteile, Telekommunikationsausrüstung, Mobilte-lefone und andere elektronische Produkte um-fasst, ist während der vergangenen fünf Jahre starkgestiegen. Im Jahr 1999 hatte Europa ein relativgeringes Defizit von vier Milliarden Euro in dieserKategorie, das auf 55 Milliarden Euro im Jahr 2006anstieg. In keiner anderen Handelskategorie gabes in den letzten Jahren einen vergleichbaren An-stieg des Defizits. Zwischen 2002 und 2006 reprä-sentierte das Defizit in der Kategorie „Maschinen-bau, elektrotechnische Erzeugnisse und Fahrzeu-ge“ etwa 50 Prozent des Zuwachses des gesamtenbilateralen Handelsbilanzdefizits.2

Die globale Handelsbilanz im Bereich „Maschi-nenbau, elektrotechnischen Erzeugnissen undFahrzeugen“ hat sich jedoch kaum verändert. DasDefizit mit China ist gestiegen, aber im Handel mitanderen Ländern hat sich ein Defizit von 40 Milli-arden Euro im Jahr 2000 zu einem Überschuss vonfünf Milliarden Euro im Jahr 2006 entwickelt.Auch in anderen Handelskategorien, zum Beispiel„Verschiedene Fertigwaren“, hat sich das bilateraleHandelsbilanzdefizit der EU mit China vergrößert.Zu dieser Kategorie gehören im Wesentlichen Tex-tilien, Möbel, Spielzeug und Videospiele. Auchhier ersetzen die Exporte aus China die Exporteanderer Handelspartner der EU.

China als Drehkreuz für Asiens Handel mit Europa

Während des letzten Jahrzehnts scheint sich Chinaals Drehkreuz für Asiens Handel mit Europa etab -liert zu haben. Ein großer Teil der chinesischenExporte basiert auf Importen von Zwischenpro-dukten aus anderen südostasiatischen Ländern.Die Importe sind für China notwendig, um Pro-dukte hoher Fertigungstiefe zu exportieren. Einzentraler Baustein von Chinas exportorientierterEntwicklungsstrategie ist somit der Weiterverar-beitungs- und Veredelungsverkehr, der vermutlichetwa die Hälfte bis fast zwei Drittel der chinesi-schen Exporte ausmacht. Somit sind die von Chi-na in die EU exportierten Güter nicht zwangsläu-fig „chinesische“ Güter in dem Ausmaß, dass derüberwiegende Anteil der Produktion in China er-

2 Vgl. Andreas Freytag, That Chinese Juggernaut – should Europereally worry about its trade deficit with China?, ECIPE Working Pa-per No. 02/2008.

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Europäische Perspektiven

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folgt ist. Die meisten Produkte werden in Chinanur zusammengebaut, während die zur Fertigungbenötigten Komponenten aus anderen Ländernimportiert werden. Die Behauptung, China habe,wie die asiatischen Tigerstaaten zuvor, seinenReichtum mithilfe hoher Zölle und der strategi-schen Entwicklung junger Industrien geschaffen,ist nicht richtig. Ein Großteil von Chinas Handels-ausweitung kommt aus dem Bereich des Weiter-verarbeitungs- und Veredelungsverkehrs.

Für die Analyse von Außenhandelsbeziehungenund Wettbewerbsvorteilen steht das Konzept derkomparativen Kostenvorteile im Zentrum. Es be-sagt, dass die Vorteilhaftigkeit des Handels zwi-schen zwei Ländern von den relativen Kosten derproduzierten Güter zueinander abhängt. Grund-sätzlich ist der Handel zwischen zwei Ländern vor-teilhaft, wenn bei beiden Handelspartnern unter-schiedliche Kostenstrukturen bei der Produktionexistieren, das heißt das eine Land für ein produ-ziertes Gut auf weniger Einheiten eines anderenGutes verzichten muss als das andere Land. Indem Fall sollte sich jedes Land auf das Gut speziali-sieren, das es relativ güns tiger herstellen kann.

Die Entwicklung des Außenhandels der EU mitChina wird wesentlich durch komparative Kosten-vorteile bestimmt. So hat China einen bedeuten-den komparativen Vorteil gegenüber Europa beiProdukten wie Kleidung, Spielzeug, Möbeln undSchuhen.3 Möbel und Schuhe bilden den größtenTeil des zunehmenden Handelsbilanzüberschussesvon China im Handel mit Europa. Zudem scheintsich der Vorteil Chinas bei der Mehrzahl der Pro-dukte während der letzten fünf Jahre vergrößert zuhaben. Insbesondere bei Telekommunikationsaus-rüstungen und Büromaschinen gibt es eine bedeu-tende Steigerung von Chinas komparativen Kos-tenvorteilen. Diese zwei Gütergruppen erklärenfast die gesamte Zunahme von Europas Handelsbi-lanzdefizit in der Kategorie „Maschinenbau,elektrotechnische Erzeugnisse und Fahrzeuge“.

Würde Europa die eigene Produktion dieser Gü-ter wieder aufnehmen, müsste es einen Teil seinergegenwärtigen Produktion stoppen und Ressour-cen in andere Sektoren umleiten, was mit Wohl-fahrtsverlusten einhergehen würde. Die Folge vonKorrekturmaßnahmen wäre somit weniger durcheine zunehmende Produktion in Europa gekenn-zeichnet. Europäische Unternehmen würden dieWaren bestenfalls aus anderen Ländern beziehen.

Protektionistische Gefahren eindämmen

Europa hätte viel zu verlieren, wenn es Strafmaß-nahmen gegen China einleiten würde, wie ver-schiedene europäische Staatsoberhäupter vorge-schlagen haben. Der aktuelle politische Trendlässt außerdem auf ein härteres Klima für die Han-delspolitik in den kommenden Jahren schließen.Das macht es umso wichtiger für die EU und Chi-na, einen neuen Rahmen für ihre Wirtschaftsbe-ziehungen zu schaffen, der protektionistischenGefahren widerstehen kann und in dem Problemeauf konstruktive Art gelöst werden können.

Derartige Möglichkeiten wurden kürzlich von ei-ner Initiative der europäischen und chinesischenFührung eröffnet, indem ein Wirtschafts- und Han-delsmechanismus auf hoher politischer Ebene ein-gerichtet wurde.4 Dieser Ansatz scheint eine Imita-tion des strategischen ökonomischen Dialogs derUSA mit China zu sein, den der US-FinanzministerHenry Paulson 2006 begründet hat. Er ist eingebet-tet in den Kontext eines neuen Partnerschafts- undKooperationsabkommens. Die beiden Ansätzekönnten Träger dafür werden, protektionistischenGefahren zu widerstehen und die wirtschaftlicheIntegration der EU und Chinas zu vertiefen.

Die Gespräche der EU mit China müssen beiGrundsätzlichem beginnen: Chinas Verpflichtun-gen im Rahmen der WTO. Europa hat legitimewirtschaftliche Bedenken, die zu einem gewissenGrad auf Chinas WTO-Beitritt und die Probleme,die damals gemachten Zugeständnisse einzuhal-ten, zurückgehen. Die Vorbehalte betreffen Chi-nas verbleibende Liberalisierung der Märkte unddie Durchsetzung der geistigen Eigentumsrechte.Die Gespräche der EU mit China dürfen dort je-doch nicht enden. Sollten die Ambitionen nichtgrößer sein als die Umsetzung der Zugeständnisseim Rahmen der WTO, wird die Wahrscheinlich-keit, dass China seine Politik in diesen Gebietenverändert, sicherlich geringer sein. Beide Seitenwürden eine Möglichkeit zur weiteren, über dieWTO-Regelungen hinaus gehende Vertiefung derwirtschaftlichen Beziehungen verstreichen lassen.Daher sollten sich die Verhandlungen auf Gebietekonzentrieren, die Reibungen bei den aktuellenWirtschaftsbeziehungen verursachen. Es gibt Irri-tationen und Wünsche auf beiden Seiten.

Europa strebt erstens besseren Zugang zu ChinasDienstleistungsmärkten an, die stark geschützt sind.

3 Vgl. für die Berechnungen zu den Handelsvorteilen Fredrik Erixon/Razeen Sally/Pierre-Olivier Legault Tremblay, ContextualizingEurope’s trade deficit with China, Mimeo 2008.

4 Vgl. Iana Dreyer/Fredrik Erixon, An EU-China trade dialogue: newpolicy framework to contain deteriorating trade relations, ECIPE Po-licy Brief No. 03/2008.

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China

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China liegt gegenüber anderen asiatischen Staatenhinsichtlich der Offenheit des Dienstleistungshan-dels zurück. Weiterhin bestehende Investitionsbe-schränkungen und zunehmend komplizierte außer-tarifäre Handelshemmnisse haben zusätzliche bü-rokratische Hemmschwellen für ausländischeDienstleistungsunternehmen geschaffen.

Weiterhin fordert Europa bessere Verfahren, umVerletzungen der geistigen Eigentumsrechte inSchlüsselbereichen der innovativen Industrien zuverhindern. Immer mehr europäische Unterneh-men investieren nicht in China aufgrund von Be-stimmungen, die sie verpflichten, Handelsgeheim-nisse preiszugeben, oder aus Angst, ihre geistigenEigentumsrechte im chinesischen Rechtssystemnicht verteidigen zu können. Es ist illusorisch zuglauben, dass alle Verletzungen der geistigen Ei-gentumsrechte in China verhindert werden könn-ten. Musik- und Filmproduzenten sowie die Her-steller bekannter Marken sehen sich in Europa –trotz Versuchen, diese zu bekämpfen – weit ver-breiteten Verletzungen ihrer geistigen Eigentums-rechte gegenüber. Aber effizientere Strategienund die Durchsetzung von europäischen Interes-sen könnten die Situation verbessern.

Liberalisierte Dienstleistungsmärkte und ein bes-serer Schutz geistiger Eigentumsrechte sind mit-einander verknüpft. Da im Zentrum des Ge-schäftsmodells vieler Dienstleistungsunternehmenentscheidende gewerbliche Schutzrechte stehen,ist eine bessere Durchsetzung grundlegender ge-werblicher Schutzrechte für europäische Dienst-leister, die in China investieren oder mit chinesi-schen Dienstleistungszulieferern zusammenarbei-ten möchten, notwendig. Für viele Unternehmenim Bereich unternehmensnaher Dienstleistungen(Finanzdienstleistungen, Telekommunikation,Software usw.) sind Investitionen in China zu ris-kant, da ihre geistigen Eigentumsrechte gefährdetsind. Wenn China entlang der Wertschöpfungsket-te aufsteigen und auch im Dienstleistungshandelein zuverlässiger Partner sein möchte, muss es dierechtliche Infrastruktur zur Durchsetzung gewerb-licher Schutzrechte von Ausländern verbessern.

Chinas Forderungen an die EU

China verlangt eine bessere Disziplin der EU hin-sichtlich der Antidumping-Politik. Es möchte denStatus als Marktwirtschaft erhalten, was die EU da -ran hindern würde, einige der „innovativen“ undextrem dubiosen Techniken zu nutzen, um Anti-dumping-Zölle zu begründen. Verständlicherweise

befürchtet China, dass seine Unternehmen auf-grund europäischer Antidumping-Politik nichtfair behandelt werden. Im Jahr 2007 stand Chinabei Europas Handelsbeschränkungsaktivitätenstark im Fokus. Tatsächlich schien europäischeAntidumping-Politik Chinapolitik zu sein. Darü-ber hinaus verlangt China von der EU, auf ver-steckten Protektionismus in Form von Quotenhinsichtlich chinesischer Exporte und Investitio-nen zu verzichten. Weiterhin ist China besorgtüber Vorschriften für die chinesischen staatlichenInvestmentfonds, die Strukturen ihrer Unterneh-mensführung offenzulegen.

Die Befürchtungen Chinas drehen sich jedoch we-niger um staatliche Investmentfonds, die in derRegel kleine Anteile von Firmen oder Fonds kau-fen. Vielmehr geht es dem Land um seine export -orientierten Unternehmen, von denen viele euro-päische Firmen suchen, die sie übernehmen kön-nen. China weiß, dass europäische Regierungenausländische Unternehmen wachsam beäugen,die europäische Unternehmen – vor allem „Cham-pions“ oder ehemalige Staatsunternehmen – über-nehmen wollen. China erwartet von Europas Re-gierungen mehr Disziplin in der sogenannten Ver-handlungsphase einer Fusion oder Übernahme.Die Phase nach der Akquisition ist in Europa sehrgut geregelt – auch weil die Regierungen dieseAufgaben der Disziplin des gemeinsamen Marktesunterworfen haben. Aber in letzter Zeit haben Re-gierungen mehrmals interveniert, wenn Auslän-der in Fusionen und Übernahmen involviert wa-ren. Außerdem haben einige europäische Regie-rungen Regelungen eingeführt, die eine Über-nahme automatisch verlangsamen, wenn ein aus-ländischer Investor beteiligt ist. Andere Länder,wie Deutschland, spielen mit der Idee, noch weit-reichendere Regelungen einzuführen.

Europas und Chinas zentrale wirtschaftliche Be-denken sind gerechtfertigt. Die Bedenken solltenin bilateralen Verhandlungen abgebaut werden:Kleine Verhandlungserfolge können beim neuenEU-China-Dialog erreicht werden; schwierige As-pekte sollten dagegen in den kommenden Ver-handlungen über Partnerschafts- und Koopera-tionsabkommen angegangen werden.5 Die Voraus-setzung dafür ist jedoch, dass von politischer Seiteein konstruktiver Ansatz verfolgt sowie auf Effekt -hascherei und leere Worte verzichtet wird.6 �

5 Vgl. Patrick Messerlin/Jinghui Wang, Redesigning the EuropeanUnion’s trade policy strategy towards China, ECIPE Working PaperNo. 04/2008.6 Die Autoren danken Nils Laub für die umfangreiche Unterstützungbeim Erstellen des Manuskripts.

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Buchbesprechung

60 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Das Kapital – Post für Karl MarxPlötzlich ist es wieder beliebt, aus marxistischen Schriften zu zitieren. Da werden Passagen ausdem „Manifest der Kommunistischen Partei“ präsentiert, in denen sich Marx und Engels mit Ent-wicklungen auf den Weltmärkten beschäftigen und vorhersagen, wie sich die Kommunikation „un-endlich erleichtert“ und alle Nationen gezwungen werden, die „Produktionsweise der Bourgeoisie“einzuführen. Man erfährt, dass die moderne Industrie dem Hexenmeister gleiche, der gewaltige Pro-duktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert habe, die er nicht zu beherrschen vermag. Im Hinblickauf die aktuelle Finanzkrise wird „Das Kapital“ als aufschlussreich gepriesen, weil es beschreibe, wiesich Kreditinstitute als Förderer des Wirtschaftswachstums in den Wirtschaftsprozess einschleichenund sich dann in „eine neue und furchtbare Waffe im Konkurrenzkampf“ verwandeln.

Sonderlich bewegend sind derlei Zitate nicht. Jeder weiß, dass sich in marxisti-schen Schriften, wie in jeder Prophezeiung, Passagen finden, die den Alltag tref-fend kennzeichnen. Aber jeder weiß auch, dass die marxistischen Analysen fürdie Gestaltung der praktischen Wirtschafts- und Sozialpolitik nichts taugen. Libe-rale haben das schon vor Ende des 19. Jahrhunderts erkannt. Die Marxisten muss -ten vor 20 Jahren einsehen, dass ihre Theoreme nichts zur Verbesserung der Weltbeitragen, sondern in Totalitarismus und wirtschaftlichem wie sozialem Desasterenden. Gegenwärtig ist nun allerdings eine gewisse Unsicherheit entstanden: Wares nicht doch voreilig, den Marxismus für tot zu erklären?

Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, behauptet in einem Briefan seinen Namensvetter Karl, dass die kirchliche Soziallehre ein ähnliches Inte -resse verfolgt habe wie er: Sie habe soziale Ungerechtigkeiten anprangern und denArmen und Ausgebeuteten eine Stimme geben wollen. Reinhard Marx betont da-bei, dass in der Kirche schon vor der Geburt von Karl Marx sozial engagierte Chris-ten tätig gewesen seien.

Seinem Brief folgen neun Kapitel, in denen er für eine „solidarische Weltordnung“ und eine „globaleSoziale Marktwirtschaft“ plädiert. Dabei verzichtet er darauf, die gegenwärtigen wirtschaftlichen undsozialen Probleme zu analysieren und konkrete Lösungen vorzuschlagen. Er begnügt sich mit Be-schreibungen und Bekenntnissen, mit Klagen über bestehende Zustände und Hinweisen vor allemauf die christliche Soziallehre. Sein Stil ist ergreifend: „Wo sind wir eigentlich moralisch hingekom-men, wenn in unserer reichen Gesellschaft Kinder in Not allzu oft im Stich gelassen werden? Ich habefrüher in der Schule gelernt, dass die Sozialhilfe dazu da ist, Armut zu verhindern. Sie war ja immernur als Übergang gedacht, um Menschen bald wieder in die Lage zu versetzen, ihr Leben selbstver-antwortlich zu gestalten, also ,Hilfe zur Selbsthilfe‘. Dieser Grundsatz – eine große soziale Errun-genschaft, wie ich finde – muss weiterhin gelten.“ Er verweist auf die Bibel, auf Sozialenzyklikender Päpste, auf Denkschriften und Verlautbarungen der deutschen Bischöfe, auf Soziallehrer wieGustav Gundlach, Wilhelm von Ketteler, Oswald von Nell-Breuning sowie auf namhafte Wissenschaft-ler und Publizisten aus jüngster Zeit.

Die entscheidende Schwäche des Buchs liegt darin, dass sich alles in allgemeinen Bekenntnissenzum Guten und Besseren erschöpft. Die konkreten Erkenntnisse, Erfahrungen und Entscheidungen,die beim Auf- und Ausbau einer menschenwürdigen Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland,der Sozialen Marktwirtschaft, maßgebend waren, werden mit keinem Wort erwähnt. Überraschen-derweise, denn Erhards Soziale Marktwirtschaft hat sich in kritischer Auseinandersetzung mit dem„Kapital“ entwickelt und die marxistische Überzeugung widerlegt, dass der Kapitalismus in eine „ent-menschlichte Wirklichkeit“ führe. �

Horst Friedrich Wünsche

Zu einem Buch von Reinhard Marx

� Reinhard Marx, Das Kapi-tal. Ein Plädoyer für den Men-schen, Pattloch Verlag, Mün-chen 2008, 320 Seiten.

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I

Am 18. September 2008 wurde der Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik in Berlin verliehen. Die Hauptpreisträ-

ger waren Thomas Schmid, Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt, und Roland Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswo-

che. Die Förderpreise gingen an Bastian Obermayer, Redakteur beim Süddeutsche Zeitung Magazin, und Roman Pletter, Re -

dakteur beim Wirtschaftsmagazin brand eins. Herr Obermayer konnte an der Veranstaltung nicht teilnehmen. Die Lauda-

tiones sprach das Mitglied der Jury des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik Dr. Peter Gillies.

WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 2008LUDWIG-ERHARD-PREIS FÜR

V. l.: Roman Pletter, Thomas Schmid, Roland Tichy, Dr. Hans D. BarbierFotos: Henning Lüders, Berlin

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

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Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)II

Bastian Obermayer, Jahrgang1977, Redakteur beim Ma-gazin der SüddeutschenZeitung, bürstet das ThemaHartz IV einmal gegen denStrich. Er folgt nicht denSpuren im bildungsfernenPrekariat, wie man es vor-nehm formuliert, nichtdem antriebsschwachenJogginghosenträger, nichtdem Bier schlürfendenRTL-2-Zuschauer, nicht

dem Schulabbrecher oder frechen Drückeberger.Reporter Obermayer zerrt ein ungewöhnlichesSchicksal aus der Gegenwelt ins Öffentliche: Aka-demiker, adelig gar, im gediegenen Bankierszwirn,hochgebildet, management-, computer- und welt-erfahren, einst gesuchter und geschätzter Unter-nehmensberater – und nach fünf Jahren Arbeits-losigkeit plötzlich Hartz-IV-Empfänger.

Die Reportage mit dem Titel „Einer von uns“ schil-dert eindringlich den Absturz eines Überqualifi-zierten in das letzte Netz unseres Sozialstaates. Vordem Leser, der ungläubig und ein wenig ratlosden Kopf schüttelt, taucht ein Mann auf, der ei-gentlich alle Geheimnisse wirtschaftlichen Erfol-ges zu enttarnen wusste, aber um den der Auf-schwung einen Bogen machte.

„Ich dachte doch jahrelang, ich wüsste, wie esgeht,“ rätselt der 54-Jährige über seinen Absturz.Hunderte von Bewerbungen schrieb er, aber andie Hunderte von Absagen gewöhnt er sich nie. Er,der im Silicon Valley mit einem Oldsmobile-Acht-zylinder-Schlitten über die amerikanischen High-ways bretterte, der segelte und im Orchester Quer-flöte spielte, der parkettsicher in jeder Gesellschaftglänzte, muss jetzt mit jedem Euro knausern.

Weil es bei einem Regelsatz von 347 Euro imFreundeskreis für ein Glas Rotwein nicht mehrreicht, schützt er Magenprobleme vor und bestelltein Glas Wasser. Will er seine Eltern besuchen, ste-cken die ihm das Fahrgeld und einige Euros zu. Erspürt die Einsamkeit, zieht sich zurück und hat

Probleme damit, seine Motivation zur Jobsucheaufrechtzuerhalten. Der soziale Mindestbedarfzwängt sein Leben in einen Albtraum, den er nichtso recht begreift. Was einst als Übergangsstadiumausschaute, wird plötzlich ein Dauerzustand.

Die Reportage skizziert ein Schicksal, das meist ausder öffentlichen Wahrnehmung ausgeblendetwird. Der Autor schildert mit kühler Distanz, aberumso eindringlicher die Umstände eines sozialenAbsturzes. Auf Belehrungen und Schlaumeiereienverzichtet er, ebenso auf den erhobenen Zeigefin-ger. Die Jury war von diesem Artikel sehr angetan.

Auch Roman Pletter, Jahr-gang 1980, Redakteur beimWirtschaftsmagazin brandeins, wirft in vier Beiträgenungewöhnliche Schlaglich-ter auf ziemlich gewöhnli-che Themen. Er beschreibt,wie nützlich Heuschreckensein können, hinterfragtdas ins Schleudern gera-tene System Siemens, zeich-net eine spannende Ge-schichte über Zahnpastanach und entwirft das Röntgenbild des wanken-den Riesen IG Metall, dem es nicht nur an Mit-gliedern, sondern auch an Perspektive fehlt.

Aus den sehr tiefgründelnden Artikeln – wie im-mer bei brand eins sorgfältig redigiert – greife ichmir die Zahnpasta-Story heraus. Da tritt ein Her-steller mit der ungewöhnlich schlichten undschwer zu widerlegenden Botschaft an: „MorgensAronal, abends Elmex“, und wird damit Marktfüh-rer. Die Konkurrenz von Blend-a-med, angetrie-ben von phantasiereich ausschweifenden Produkt-managern, kontert mit einer Zahnpasta-Orgie, mitKräuterserien, Fruchtcocktailcremes, mit Naturfri-sche und anderen Varianten. Der Erfolg liegt nurdarin, dass sie ihre Marke verramschen.

Der Leser erhält einen spannenden Einblick in dasHaifischbecken der Markenartikler. Medizinischgesehen kann man auch mit Streifenpasta, mit

LaudationesDr. Peter GilliesMitglied der Jury des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik

Roman Pletter

Bastian Obermayer

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III

WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 2008LUDWIG-ERHARD-PREIS FÜR

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Dr. Peter Gillies: Soziale Marktwirtschaft

Die in diesem Land verbreitete Übellaunigkeit findet einen neuen Ankerplatz:die Soziale Marktwirtschaft. Die Segnungen des Wettbewerbs der Märkte weißman wohl zu schätzen und auch zu nutzen, aber das glitschige Adjektiv „so-zial“ erfreut ihre Kritiker, verwirrt die Zweifler und verstört bis weit in bürger-liche Kreise.

Bekenntnisse zur Sozialen Marktwirtschaft, mal mehr, mal weniger beherztausgestoßen, finden sich in den Poesiealben von Politikern aller Parteien. Wieein Klingelton meldet sich die Metapher mehrmals täglich. In Sachen SozialerMarktwirtschaft möchte man sich schließlich nicht übertreffen lassen. DasErbe Ludwig Erhards verfällt bizarren Deutungshoheiten.

Dem folgt das große Aber. Armuts- und Abstiegsängste, Kasinokapitalismus liefern die Stichworte. Obgleichdie Höhe der Sozialleistungen von Rekord zu Rekord wächst und immer mehr Menschen sich an den Tropf vonTransferleistungen hängen, will sich soziale Befriedung nicht einstellen. Mehr noch: Mit den verteiltenMilliarden verringert sich der verbreitete Verdruss nicht, sondern er wächst. Das Soziale und der Markt wer-den nicht als gemeinsamer Quellcode einer leistungsgerechten Ordnungspolitik verstanden, sondern alsGegensätze polarisiert.

Und dahinter lassen sich trefflich immer neue Verteilungswünsche verstecken. Das Soziale als Wieselwort,als Synonym für Kuschelzoo und Wärmestube, finanziert von denen, die noch leisten. Nebenbei bemerkt:Die obere Hälfte der Einkommensbezieher finanziert mehr als 90 Prozent der gesamten Steuerlast.

Wenn die Bürger – was verständlich ist – mehr Netto von ihrem Brutto fordern, machen sie nicht den Staatdafür verantwortlich, sondern das sogenannte System. Manches spricht also dafür, dass die angeblicheIdentitätskrise der Marktwirtschaft keine reale, sondern eine gefühlte ist. Dass die Verteilungsmasse nie aus-reichte, um die Begehrlichkeiten der Verteilungspolitiker zu erfüllen, ist übrigens keine neue Erkenntnis, son-dern ein ständiger Begleiter deutscher Sozialgeschichte. Die Politiker haben ihr altes Beuteschema nur neuangestrichen.

Kurze Rückblende auf 1956: Wachstum und aufblühender Wohlstand spülten dem Staat Milliarden in dieSteuerkassen, der Bundeshaushalt wies kräftige Überschüsse aus. Adenauer wollte die Wahlen 1957 gewin-nen und schlüpfte in die Spendierhosen. Mit allerlei Wahlgeschenken, Subventionen, Bauprojekten,Steuervergünstigungen und Sozialzuschüssen wurde ein Köder gelegt, um das vor Wahlen besonders ge-schätzte Publikum zur CDU zu locken.

Um diese Geschenke möglichst effektiv zu verteilen, hatte die Union 1956 einen speziellen Zirkel geschaf-fen – den „Kuchen-Ausschuss“, wie Abgeordnete und respektlose Journalisten das Gremium tauften. AlleProteste Erhards, der vor dieser Verteilungsorgie gewarnt hatte, halfen nichts. Das Geld wurde unter die Leutegebracht, unter anderem durch massive Rentenerhöhungen. Ein Treppenwitz der Geschichte ist leider, dassAdenauers Kuchenparty aufging. Auch heute tagt der Torten-Ausschuss in Permanenz, aber bitte mit Sahne.

Ich erinnere mich an eine Anekdote von Franz Josef Strauß: Ein Selbstmörder stürzt sich aus dem 50.Stockwerk eines Wolkenkratzers. Als er am 18. Stockwerk vorbeifliegt, beruhigt er sich und ruft freudig aus:„Bis hierher ist doch alles gut gegangen!“ So viel zum Adjektiv des Sozialen.

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IV Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Menthol und anderen Beigaben die Zähne reini-gen – aber die beharrliche Pflege einer schlichtenMarke „morgens blaue Tube, abends rote Tube“zeigte der Konkurrenz eindrucksvoll die Zähne.Eine höchst informative Lektüre.

Das gilt auch für die journalistische Analyse der IGMetall. Deren Weltbild – „die Ausbeuter da oben,wir Geknechteten da unten“ – spricht heute im-mer weniger Arbeitnehmer an. Die größte undeinst erfolgreiche Gewerkschaft gebe sich als Ver-tretung der sozialen Absteiger, so der Autor, undhabe offenbar weder Ideen noch Perspektiven. IhrGründungsmythos ist verschlissen, als Schutz- undTrutzbündnis überzeugt sie immer weniger.

Der Artikel zeichnet auch die Zerreißprobe derGewerkschaften zwischen SPD und Linksparteinach, beschreibt die Realität der abnehmendenTarifbindung und die Entfremdung vom Ange-stelltenmilieu. Pletter unterschlägt die Modernisie-rungsbemühungen nicht, ist aber skeptisch, ob esals Strategie ausreicht, immer nur dagegen zusein. Die Beiträge von Roman Pletter findet die Juryeines Förderpreises für würdig.

Zum Vergnügen der Jury geht der Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik in diesem Jahr anzwei recht unterschiedliche Haudegen unseres Ge-werbes: an Thomas Schmid, den Chefredakteur derWelt und der Welt am Sonntag, sowie an RolandTichy, der kürzlich zum Chefredakteur der Wirt-schaftswoche berufen wurde.

Thomas Schmid, ein Spätbe-rufener des Journalismus,überrascht durch einen –vorsichtig formuliert – ab-wechslungsreichen Lebens-lauf. In der Studentenbewe-gung focht er mit Joschka Fi-scher und Daniel Cohn-Benditden revolutionären Kampfgegen manches und vieles.In den achtziger Jahrenschrieb er Links-Alternativesfür Die Zeit und Die Tages-

zeitung. 1993 wurde er bei der Wochenpost mitdem Feuilleton betraut, wechselte dann zur Ham-burger Morgenpost, dann 1998 auf die Meinungs-seite der Welt. Zwei Jahre später holte ihn dieFrankfurter Allgemeine Zeitung in ihr Politikres-sort, wo er sich um den Aufbau ihrer Sonntagszei-

tung verdient machte. Vor zwei Jahren kehrte er alsChefredakteur zur Tageszeitung Die Welt zurück.Zugleich übernahm er kürzlich das Steuer desSchwesterblattes Welt am Sonntag. Sein Damaskus-erlebnis muss irgendwo in den frühen Neunzigerngelegen haben. Mit seiner revolutionären Vergan-genheit kokettiert Schmid zuweilen heute noch.

Schmids Tintenfluss ist überaus beeindruckend.Seiner Feder entgeht kein Thema: Koalitionsge-würge, Parteien, Doping-Skandal, italienische undsonstige Regierungskrisen, die Post, Mindestlohnund Milchpreis, Bürgergesellschaft und Libera-lismus, Einwanderung und Abwanderung – kurz -um: eine journalistische Mehrzweckwaffe, diegroße Streuung mit Treffsicherheit verbindet.

Journalisten sind Tagesschriftsteller. In den frag-würdigen Adel des Intellektuellen erhoben zu wer-den, widerstrebt vielen. Aber Thomas Schmid ist einIntellektueller mit bewundernswerter Bildung, nieerlöschender Neugier, der hingebungsvoll demRätsel gesellschaftlicher Prozesse nachgeht und siemit Wortwitz und feinsinniger Ironie zu würzenweiß. Was die Jury dazu bewogen hat, Schmid mitdem diesjährigen Ludwig-Erhard-Preis auszuzeich-nen, sind weniger diese Talente, als vielmehr fol-gende selten gewordene Eigenschaft: Instinktsi-cherheit in den ordnungspolitischen Fragen derMarktwirtschaft. Für diese Grundmelodie öffneter auch die Spalten seiner Zeitungen und lädt zumkritischen Diskurs.

Es sei „ein altes deutsches Elend“, schreibt Schmid,„dass die in Anspruch genommene Freiheit, etwaszu unternehmen, in erster Linie als Bedrohungherkömmlicher Sicherheit wahrgenommen wird(…) mit diesem Kleinmut unterfordern sich diefröhlichen Deutschen und missachten das in ih-nen schlummernde Talent zur Freiheit.“ Das ord-nungspolitische Debakel um den Mindestlohnnennt er eine „parteiübergreifende Staatsope-rette“, denn „ordnungspolitische Klarheit gebe esin den beiden sozialdemokratischen ParteienUnion und SPD keineswegs“. Schmid spricht von ei-ner „heillosen ordnungspolitischen Konzeptions-losigkeit der Großen Koalition“.

In der „stumpfen Seelenlage der Deutschenschlummert ein neoliberaler Furor, der freilichnur ein gefühlter Furor“ sei, obgleich das Landmit seinem eingehegten rheinischen Kapitalismus– ein Kapitalismus mit menschlichem Gesicht –

Thomas Schmid

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V

WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 2008LUDWIG-ERHARD-PREIS FÜR

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

stets gut gefahren sei. Kurzum: Ludwig Erhard hätteseine Freude an Schmids Sottisen gehabt.

Auf Roland Tichy ruhte dasgeneigte Auge der Juryschon mehrfach äußerstwohlwollend. Er liebt die et-was kessere Schreibe, legtsich gerne mit Bedenken-trägern aller Schattierun-gen an. Aus dem Planungs-stab des Bundeskanzleram-tes verschlug es ihn in dieBonner Korrespondenz,dann zur Wirtschaftswochesowie zu den Magazinen Ca-

pital und Impulse. Weitere Stationen waren die Te-lebörse, die Zeitschrift Euro und zuletzt das Han-delsblatt. Schließlich dockt er wieder bei der Wirt-schaftswoche an, diesmal als Chefredakteur.

Und wenn Tichy zu einem Fernsehtalk eingeladenist, lässt er es nicht an direkten, an zugespitztenund zuweilen frechen Kommentaren fehlen. Beidiesem kurzweiligen Journalisten hat die Lange-weile keine Chance. Tichy versteht es, marktwirt-schaftliche Prozesse und ihre Folgen unverschnör-kelt an den Leser und den Zuschauer zu bringen.Konflikte scheut er nicht. Zusammen mit seinerFrau legte er 2001 ein bemerkenswertes Buch überdie Altersfalle vor, in die die Deutschen geratenseien. Unter dem Titel „Die Pyramide steht Kopf“skizziert er Wege, wie das Land auch mit einer„grey economy“ leistungsfähig bleiben könnte.

Zitat zur Finanzkrise: „Was Ihnen Ihre Bank ge-rade empfiehlt, kann Sie, Ihr Unternehmen undsogar die Volkswirtschaft ruinieren. Zu Risikenund Nebenwirkungen befragen Sie aber keines-falls Ihre Bank, die hat nämlich keine Ahnung.“Bankgeschäften sollten Beipackzettel über Risikenund Nebenwirkungen angeheftet werden, denndas Verlustrisiko werde allzu gerne sozialisiert.

Zitat zum Staatshaushalt: „Am besten kann mandas Versagen (der Regierenden) an der Haus-haltspolitik ablesen: Von 2011 an will Finanzminis-ter Peer Steinbrück keine neuen Schulden mehr auf-nehmen. Potzblitz! Tolle Leistung. Wenn man be-denkt, dass wir Bürger das größte Steuererhö-hungspaket geschultert haben, die KonjunkturMilliarden in die Staatskassen gespült hat und der

Preisgalopp den Finanzminister zum Inflationsge-winnler macht.“

Tichy geißelt „das Gerede von Konjunkturpro-grammen. Vergessen wird, dass wir heute noch dieHelmut-Schmidt-Gedächtnissteuern für die kon-junkturellen Strohfeuerprogramme der siebzigerJahre zahlen. Schon damals haben sie wenig fürdie Konjunktur, aber viel für die Erhöhung derStaatsverschuldung gebracht. Und glaubt wirklichjemand außer Umweltminister Sigmar Gabriel, dassweitere Subventionen für das Vernageln von Häu-serfassaden mit Styroporplatten den Abschwungbremsen könnten?“ Steuerentlastung sei nötig,scheitere aber stets an der unersättlichen Staats-gier. Trotz der unerträglichen Erhöhungen der So-zialbeiträge verschlechterten sich die Leistungen –„der Sozialversicherungs-Imperialismus stößt anseine Grenze“, beklagt Tichy. „Dieser Sozialstaatwar wohl, und darin liegt sein Ende begründet,nur in den goldenen Jahrzehnten des Wirtschafts-wunders finanzierbar.“

Schließlich ein Zitat zur Mitte, in der sich alle Par-teien auf die Füße treten: „Die bedauerlicheGruppe, die für die Großzügigkeit der Vertei-lungspolitik bluten muss, nennt man meistensMittelschicht. Zu ihr gehören Menschen, die Be-rufen nachgehen, ihre Familien durchbringenund für die Kinder eine bessere Zukunft wollen,weswegen sie sich auch um Bildung kümmern. Essind die, die – angefangen beim Kindergarten –immer die höchste Beitragsstufe zahlen und beidenen steigende Beiträge zur Renten- und Kran-kenversicherung voll durchschlagen. Früher standdiese Gruppe im Mittelpunkt der Politik. GerhardSchröder führte einen Wahlkampf um die ‚neueMitte‘; Angela Merkel steht und stand sowieso im-mer schon in der Mitte. Nur neuerdings, in der fa-talen Großen Koalition, haben beide Parteien dieMitte aus den Augen verloren.“ Mit einem SchussResignation bemerkt Tichy: „Die den Wohlstanderarbeiten, gehen leer aus.“

Meine Damen und Herren, die Preisträger sindein ermunterndes Indiz dafür, dass die Sorge umdas Erbe Ludwig Erhards eine gefühlte ist. Diepreisgekrönten Arbeiten belegen eindrucksvoll,dass uns um die Ordnungspolitik der Freiheitnicht bange zu sein braucht. Schließlich ist dieMarktwirtschaft die schlechteste aller Wirtschafts-ordnungen – ausgenommen alle anderen.

Roland Tichy

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VI Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Im kommenden Jahr werden wir uns inmitten aus-gedehnter Feierlichkeiten befinden. Ein doppel-tes Jubiläum wird zu begehen sein. Erstens wirddie Bundesrepublik Deutschland 60 Jahre alt wer-den, also in die Sphäre des Vorruhestands vorsto-ßen. Und zweitens wird es im kommenden Jahr 20Jahre her sein, dass die DDR ihren unseligen Geistaufgab. Es wird ein prächtiges Feiern werden, zuRecht.

Man wird die Gründung der Bundesrepublik ausdem Geist des Westens feiern und die kühne Tat-kraft Konrad Adenauers loben, der den Grundrissdieser Republik gegen die antiwestliche, antiprag-matische Haltung der Mehrheit der Westdeut-schen durchsetzte, ja durchdrückte: eine Tat, mitder zumindest ein beträchtlicher Teil der Deut-schen vom alten, gefährlichen Pfad macht- undwaffenbewehrter Innerlichkeit abgebracht wurde.Und man wird das glückliche Ende des erstendeutschen Arbeiter- und Bauernstaats, der einStaat gegen Arbeiter, Bauern und Bürger war, alseinen originären deutschen Freiheitsakt werten:als die erste erfolgsgekrönte deutsche Erhebung,die erstens friedlich, also auch zivil, verlief und diezweitens keinen totalitären Unterstrom hatte, son-dern ganz einfach Anschluss an die Tradition west-licher Demokratien suchte.

Schön, dass wir das feiern werden. Doch es könntesein, dass diese Feierlichkeiten etwas einseitig aus-fallen. Insofern nämlich, als es, zumindest auf denersten Blick, in beiden Fällen um reine politischeEreignisse gehen wird – fast möchte man sagen: imSinne Hannah Arendts. Wohl weiß zwar jeder, dassdie Gründung der Bundesrepublik 1949 eine Sta-tion auf dem Weg der Westdeutschen in eine Ge-sellschaft des Wohlstands war; und wohl wissenauch alle, dass die vermurkste DDR nicht zuletztdeswegen zusammenbrach, weil das Regime nichtmehr in der Lage war, die materiellen Bedürfnisse

der Bürger auch nur annähernd zu befriedigen.Doch es mag mit dem großen ideellen Erbe zu tunhaben, das uns tief in den Kleidern sitzt, wenn wirdiese beiden glücklichen Momente deutscher Ge-schichte hauptsächlich als rein politische Willens -akte sehen: als Momente, in denen der Mensch alsedler Akteur tätig war, der die res publica und nursie im Sinne hatte.

Was fehlt da? Es fehlt das Materielle, die Wirt-schaft, das Interesse, der Eigennutz. In ihrem Feh-len kommt eine eigentümliche Verschämtheit zumAusdruck. So als wäre ein Umbruch, hinter demmaterielle Interessen und der Wunsch nach Wohl-ergehen stehen, etwas weniger wert, etwas wenigerglanzvoll, etwas weniger gesellschaftsbegründend.Es liegt auf der Hand: In dieser Haltung klingt deralte Vorbehalt gegen das wirtschaftliche Handelnnach, das als unrein und eben durch Eigennutzkontaminiert gilt. Wo Interessen im materiellenSinne im Spiel sind, hat – so eine deutsche Denk-figur – das Gute keine Chance.

Ich halte das für einen beträchtlichen Konstruk-tionsfehler unseres Geisteslebens, der uns daranhindert, der Wirklichkeit gerecht zu werden sowieWirtschaft und Politik in eine Balance zu bekom-men. Und der uns hindert, ein anderes konstituti-ves deutsches Datum angemessen zu würdigen: ei-nes, das sich in diesem Jahr – und zwar am 20. Juni– zum 60. Mal gejährt hat: Ich meine die Wäh-rungsreform von 1948. Weil sie vor drei Monatennicht annähernd so gewürdigt worden ist, wie esangemessen gewesen wäre, nehme ich mir dieFreiheit, auf ein schon verfallenes Jubiläum zu-rückzukommen und damit auch auf den eigent-lichen Vater der Währungsreform: auf Ludwig Er-hard, der zum Namensgeber des Preises wurde,den ich heute entgegennehmen darf. Von ihm willich erzählen.

Das Unbehagen an der Freiheit – Warum die bestealler Welten als eine schlechte Welt giltThomas SchmidChefredakteur „Die Welt“

„Ludwig Erhards Handeln zeigt: Es gibt Situationen, in denen man ganz alleine ist und in denen man sich dem Druck der

Mehrheit, die alle Evidenz auf ihrer Seite zu haben scheint, nicht beugen sollte.“

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VII

WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 2008LUDWIG-ERHARD-PREIS FÜR

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Erhard war der Revolutionär,nicht Adenauer

Helmut Kohl hat einmal gesagt, er sei zumindest inWahlkampfzeiten entschieden dagegen, dem Pub -likum ordnungspolitisch reinen Wein einzuschen-ken. Denn schließlich wolle er nicht den Ludwig-Erhard-Preis, sondern Wahlen gewinnen. DieserSpott ist bezeichnend. Natürlich spricht aus ihmauch das realitätsgesättigte Überlegenheitsgefühleines Politikers, der wie kaum ein zweiter weiß, dassder Wähler am Ende doch immer der alte Adamist. Doch da ist noch mehr – etwas, das tiefer zu-rückreicht. Denn in Kohls Sottise über die feine,kleine, angeblich aber recht unerhebliche Welt derOrdoliberalen klingt jene Verächtlichkeit nach, dieKonrad Adenauer schon ziemlich früh gegenüberseinem Wirtschaftsminister an den Tag gelegt hat.

Natürlich hatte die auch persönliche Gründe. Diebeiden mochten sich nicht besonders, und dasmag damit zu tun haben, dass der eine Franke undder andere Rheinländer war, oder schlicht damit,dass sie beide schwierig und auf je eigene Weise Ei-genbrötler waren. Und natürlich auch damit, dassAdenauer seinen späteren Nachfolger im Kanz-leramt früh schon für im Grunde unpolitisch ge-halten hat – was er ja ab und an gerne zu Protokollgab, insbesondere in der ersten Hälfte der 1960erJahre, als er zuerst die Kanzlerschaft Erhards ver-hindern wollte und dann den Kanzler Erhard inMisskredit zu bringen versuchte.

Doch es ist mehr. Das eigentümliche Verhältniszwischen Adenauer und Erhard enthält ein Echo aufeine eingeübte Konstellation. Hier der großeStaatsmann und Strippenzieher Adenauer, der allesin sich vereint: strategische Weitsicht, die Fähig-keit, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen,und nicht zuletzt das Erfahrungswissen, dass er-folgreiche Politik immer auch ein Geschäft der Pub-likumstäuschung ist – worin Adenauer, der keinVertrauen in das demokratische Vermögen derDeutschen hatte, zweifellos ein Meister war. Unddort der umtriebige Wirtschaftsminister, der fürden Kleinkram, die materielle Grundlage, zustän-dig ist: dafür also, dass das Volk, Heinrich Heinesgroßer Lümmel, nicht aus der Art schlägt. Dortalso der emsige Wirtschaftsminister, der freilich,aller Mühe um die unspektakuläre Wirtschaft zumTrotz, das Professorale doch nie ganz los wird –und den man daher leicht als eine Art Phantasten,als maßlosen Wirtschaftsradikalen oder eben auch

als weltfremd hinstellen kann: der kleine Ludwig,der sich um unser aller Wohlergehen kümmert.Das alte Modell also: Der wahre Politiker zieht diegroßen Linien, der Wirtschaftsfachmann mögebitte bei seinen unspektakulären Leisten bleiben.

Heute beruft man sich gerne – bis hinein in dieLinkspartei – auf Ludwig Erhard. Meist sehr zu Un-recht. Denn man macht Erhard zum Apostel einersozial eingehegten, ja sozial dominierten Markt-wirtschaft, in der das Soziale groß geschrieben undder Markt allenfalls billigend in Kauf genommenwird. In dieser Sicht, in der allein die überlebens-große Figur Adenauers die frühe Geschichte derBundesrepublik überstrahlt, wird die eigentlicheLeistung Erhards grotesk unterbewertet. Gemein-hin schreibt man allen Gründungsmut der Nach-kriegszeit dem ersten Bundeskanzler zu: Wie imAlleingang schuf er die konfessionsübergreifendePartei, die in beiden christlichen Kirchen Gegnerhatte. Ganz allein setzte er, gegen massive Wider-stände auch im eigenen Lager, die Westbindung,den antikommunistischen Kurs, die Gründungder Bundeswehr und eben auch die Soziale Markt-wirtschaft durch. Während Erhard lange als derleicht beschränkte Wirtschaftsfachmann galt, dererfolgreich für die Butter auf dem Brot zuständigwar, galt Adenauer als der erhabene Visionär, dergegen die eigentliche Stimmung in den Länderndie erste Bundestagswahl gewann. Adenauer, soheißt es, war der größte und kühnste Revolutionärder neueren deutschen Geschichte.

Doch allen Verdiensten zum Trotz: Diesen Titelträgt er zu Unrecht. Denn der Revolutionär warLudwig Erhard. Und Adenauer war, wenn man sowill, der „fellow traveler“. Denn während sich Ade-nauer etwa den aus früherer Zeit stammendenAntibolschewismus der Mehrheit der Deutschenzunutze machen konnte und mit seiner autoritä-ren Art durchaus älteren deutschen Verhaltens-mustern entsprach – während sich also Adenauer ineinigen Punkten auf seine Deutschen durchausverlassen konnte, stand Ludwig Erhard muttersee-lenallein auf weiter Flur. Der spätere Wirtschafts-wunderliebling hatte, als er begann, alle gegensich. Was er visionär wollte, war den Deutschengänzlich unbekannt: eine freie Wirtschaft.

Es ist oft beschrieben worden, etwa in Ralf Dahren-dorfs frühem Meisterwerk „Gesellschaft und De-mokratie in Deutschland“ aus dem Jahr 1965: Diedeutsche Vorliebe für die Gemeinschaft, der die

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VIII Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

kalte und als oberflächlich geltende Gesellschaftgegenüber gestellt wurde, hatte unter anderemauch zur Folge, dass man sich vor den explosivenKräften von Industrie und Wirtschaft fürchteteund lange den alten, angeblich so harmonischenund warmen Zunftordnungen nachtrauerte.Wenn schon Wirtschaft, dann hätte man sie gerneeingehegt, eingebunden, staatlich reguliert undgezähmt gehabt. Dahinter stand die romantisch-nostalgische Furcht, Mensch und Gesellschaftseien im Grunde nicht in der Lage, in der revolu-tionsreichen Moderne zu bestehen, die tagtäglichGegenwart zu Vergangenheit macht und Vertrau-tes entwertet. Es gab und gibt eine große Furchtvor dem Wesen von Modernisierungsprozessen:dass sie nicht nur Kontinuität, sondern Bruchsind, dass sie ungemütlich sind, dass sie nicht nurschaffen, sondern auch kräftig zerstören und imbesten Falle produktive Zerstörungsprozesse sind.

Erhards unerschütterlicher Optimismus

Ihren monströsen Höhepunkt fand diese Zu-kunftsfurcht im Reich der Nazis. Willig begab sicheine sehr große Zahl von Deutschen in die Obhuteiner gelenkten Wirtschaft, die „Kraft durchFreude“ versprach und den Einzelnen zum Gliedeiner großen Volksgemeinschaft zu machenschien. Diese Erwartung, geführt zu werden undnicht für sich selbst verantwortlich zu sein, war mitder Katastrophe von 1933 bis 1945 natürlich nichtverschwunden. Im Gegenteil, sie war nach diesemvollständigen Zusammenbruch, der alles Vorhe-rige delegitimierte, größer denn zuvor. Wie in vie-len der vollmundigen Reden an die Deutschen,die in den Jahren 1945 bis 1948 gehalten wurden,das Volk als Gesamtkörper angesprochen wurde,so dürstete eben auch die Bevölkerung nach Hilfevon außen, nach Führung und nicht zuletzt nacheiner gelenkten Wirtschaft.

Schaut man sich die wirtschafts- und gesellschafts-politischen Publikationen jener Zeit durch, dannfällt sofort auf, dass man sich von ganz links überdie Mitte bis ganz nach rechts ziemlich einig darinwar, dass mit der profitorientierten Wirtschaft einEnde sein müsse und das Wohl der GesamtheitVorrang haben müsse vor dem Gewinnstreben derUnternehmer oder Unternehmen. Vergesellschaf-tung und Gemeinwirtschaft waren, bis weit in dieCDU des Ahlener Programms hinein, die Stich-worte der öffentlichen Debatte. Das wirtschaftli-

che Handeln in seiner Kraft einfach freizusetzen– das wäre jedem wie der reine Irrsinn, wie diereine Verantwortungslosigkeit erschienen.

Dagegen lief Ludwig Erhard, während des Krieges inkleinem Kreis ordnungspolitisch geschult und ge-festigt, Sturm. Von Anfang an und nicht erst in sei-ner Zeit im Frankfurter Wirtschaftsrat warb er mitungeheurer, nicht erschöpfbarer Energie für einefreie Wirtschaft, für ein möglichst schnelles Endeder Zwangswirtschaft, und er scheute sich dabeiauch nicht, der Deregulierung das Wort zu reden.Es ist hier nicht der Ort, der Frage nachzugehen,wie zentral für Erhard die Verbindung von Marktund sozial gewesen war. Ganz offenkundig ist aber,dass er – der immer für ordnungspolitische Leit-planken war – in der Freiheit des wirtschaftlichenHandels das eigentliche Movens sah. Wie revolu-tionär das war, erkennt man an der umfassendenGegnerschaft, die Erhard entgegenschlug – aberauch daran, dass seiner Vision noch jede Erdungfehlte, da sie in Deutschland nie auch nur im Ge-ringsten den Wirklichkeitsbeweis hatte antretenkönnen. Was Erhard vorschwebte, was er vorschlug,war reines Ideal, war revolutionäres Programm, alleWirklichkeit schien er gegen sich zu haben. Wasdas bedeutete und welch geradezu urtümlicherKraft seine unerschütterliche Zuversicht war,macht ein interessantes Tondokument deutlich.

Auf ihm ist eine öffentliche, vom Rundfunk über-tragene Diskussion aufgezeichnet, die kurz vor derWährungsreform in Frankfurt am Main stattfand.Es ging um die Zukunft der Wirtschaft. Einer derTeilnehmer, Erhard, plädierte unverdrossen für dasmöglichst schnelle, in radikalem Schnitt zu voll-ziehende Ende der Zwangs- und Zuteilungswirt-schaft. Er war damit im Saal ganz allein, denn erhatte das lauthals johlende Publikum ebenso ge-gen sich wie das gesamte, ziemlich umfangreichePodium, auf dem neben Wissenschaftlern unter-schiedlicher Couleur alle Parteien vertreten wa-ren. Es war ein bisschen wie in den Hörsälen von1968: von gelassener Diskussion keine Spur. Statt-dessen viel lichterloh brennende Empörung undder geschlossene Wille fast aller Anwesenden, sichnicht auf Erhards Argumente – nämlich: freie Wirt-schaft führt zu Wettbewerb und Preissenkungen,gelenkte Wirtschaft zum Gegenteil – einzulassen.

Der Diskurs war tief und ausschließlich moralis-tisch, und Erhard wurde als einer hingestellt, derim Namen einer obskuren Theorie bereit war, Ar-

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IX

WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 2008LUDWIG-ERHARD-PREIS FÜR

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beiter, Angestellte, Frauen, Kinder, Alte – alsopraktisch das gesamte deutsche Volk – der Ver-elendung zu überantworten. Es fehlte nicht viel,und Erhard wäre als kapitalistischer Volksschädlinghingestellt worden. Hört man sich heute diesesDokument an, kann man nur staunen über die En-gelsgeduld, mit der Erhard nicht müde wurde, seinArgument wieder und wieder in Anschlag zu brin-gen. Und das spürte, aller Ablehnung zum Trotz,auch der Saal. Denn sein Optimismus, der ohnesektiererische Verbohrtheit, aber dennoch uner-schütterlich war, hatte etwas Mitreißendes, Anste-ckendes. Er wusste die große Kraft einer starkenIdee auf seiner Seite. Und er hat in ganz und garvoluntaristischer Weise auf das Unwahrscheinli-che, die Freiheit und das Vermögen der Menschenzur Freiheit, gesetzt.

Erhards Strategie klarer Worte

Erhard hat sich gegen viele Widerstände durchge-setzt. Und zwar mit listiger Realpolitik, sowohl denDeutschen wie den Amerikanern gegenüber auchauf dem Weg der Überrumpelung. Es scherte ihnnicht, dass er – bis fast zur Mitte der 1950er Jahre –trotz allen Respekts, der ihm dann doch entgegen-gebracht wurde, ausweislich der Meinungsumfra-gen außerordentlich unpopulär war. Nur 14 Pro-zent hatten zu Beginn der 1950er Jahre, also zweiJahre nach der Währungsreform, eine gute Mei-nung von ihm; und fast die Hälfte der Westdeut-schen sprach sich ein Jahr nach der Währungsre-form grundsätzlich für die Planwirtschaft aus.

Überrumpelnd war Erhard in seiner Not auchgegenüber den Alliierten, sogar und vor allemgegenüber den eigentlich doch wirtschaftslibera-len Amerikanern, die den Deutschen den Weg indie Wirtschaftsfreiheit nicht zutrauten. Legendärgeworden ist ein Bonmot gegenüber dem ameri-kanischen Oberbefehlshaber Lucius D. Clay, dermit Erhards Ansichten durchaus sympathisierte. Alsder ihm vorhielt: „Alle meine Berater sind gegenIhr Vorgehen“, entgegnete ihm Erhard trocken:„Meine Berater auch.“ Nicht belegt, aber wahr-scheinlich ist eine weitere Antwort Erhards. Als erdie Währungsreform genutzt hatte, mit ihr zu-gleich die Zwangsbewirtschaftung zu beenden unddie Preise freizugeben, fragte ihn Clay besorgt, wa-rum er denn die Preisvorschriften geändert habe.Erhard darauf so lakonisch wie selbstbewusst: „Ichhabe sie nicht geändert, ich habe sie abgeschafft.“

Ludwig Erhards Handeln zeigt: Es gibt Situationen,in denen man ganz alleine ist und in denen mansich dem Druck der Mehrheit, die alle Evidenz aufihrer Seite zu haben scheint, nicht beugen sollte.Genussvoll zitierte er später jene überwältigendeZahl von respektablen, ganz und gar seriösen Sta-tistikern, die nach der Währungsreform voraus-sagten, dass auf alle Deutschen in Zukunft allefünf Jahre ein Teller kommen werde, alle zwölfJahre ein Paar Schuhe und alle fünfzig Jahre einAnzug. Es kam dann anders – und Ludwig ErhardsSchriften liefern Seite um Seite Belege für eineHaltung, die heute unter dem Verdacht der Ver-antwortungslosigkeit steht: für die Freude darüber,dass tatsächlich eine gewaltige Wirtschaftsma-schine ansprang, welche die (West-)Deutschen innie geahnter Fülle mit Gütern des Konsums undbisher unbekannter Daseinserleichterung ver-sorgte. Kurz: Ludwig Erhard freute sich über denFortschritt. Und er, der eigentliche Sieger der ers -ten Bundestagswahl, hat sich mit seiner Strategieder Polarisierung durchgesetzt – also mit einerStrategie klarer Worte und nicht gefällig vernebel-ter Differenzen im Grundsätzlichen. Auch das ent-hält, will mir scheinen, eine aktuelle Lehre.

Schwächen des Wirtschaftsliberalismus

Indes: Ludwig Erhard, der Sieger, ist auch ein Ver-lierer. Einmal im vordergründigen Sinn: Als dietrizonale, dann bundesdeutsche Wirtschaftsma-schine lief, wurde er zwar als deren nun gütiger Va-ter weithin verehrt, seine Lehren zählten aber baldnicht mehr so viel. Um nur ein – freilich sehr wich-tiges – Beispiel zu nennen: Als ab Mitte der 1950erJahre die in der Tat dringend nötige Rentenre-form vorbereitet wurde, warnte Erhard verzweifeltvor der dynamischen Rente, von der er schon da-mals sagte, sie würde die Deutschen noch sehrteuer zu stehen kommen. Adenauer wischte mit derihm eigenen Chuzpe alle Einwände vom Tisch,und er, der wirtschaftspolitisch Unmusikalische,sagte auch klipp und klar, warum: Weil er dieBundestagswahl 1957 gewinnen wollte – was ihmdann ja auch überzeugend gelang. Wenn man will:Kaum zeichnete sich der Wohlstand ab, war dieLehre von der Freiheit, die immer auch anstren-gend ist, nicht mehr gar so wichtig.

Dass sie aber, wie ich befürchte, in Deutschlandnicht so tiefe Wurzeln geschlagen hat, hat jedochnoch einen anderen Grund. Er hat mit der – sagen

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X Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

wir: gesellschaftspolitischen – Schwäche der wirt-schaftsliberalen Freiheitsfreunde in Deutschlandund anderswo zu tun. Von der Individualistin Mar-garet Thatcher ist, wenn auch nicht mit letzter Si-cherheit, der Satz überliefert, so etwas wie Gesell-schaft kenne sie nicht: Sie hielt das Wort für einenlinken Kampf- und Nebelbegriff. Das sah LudwigErhard anders. Seine ganze Soziale Marktwirtschaftwar zu dem Zweck ersonnen worden, den Motordes Eigennutzes und des Wettbewerbs mit demZiel einer Gesellschaft ohne Klassenfriktionen inEinklang zu bringen. Erhard hat intensiv darübernachgedacht – kam aber, wie ich denke, zu Lösun-gen, die zu kurz greifen. Zum einen neigte erdazu, den sozialen Ausgleich als das Abfallprodukteiner stürmischen wirtschaftlichen Entwicklunganzusehen. Darin war er vielleicht jenen Denkernder Nachkriegszeit nahe, die annahmen, die ratio-nalistische Konstruktion der emotional und ideo-logisch unterkühlten Bundesrepublik werde aufDauer ein Gehäuse unpolitischen Funktionierens,ein Gehäuse unerschütterlichen So-Seins sichern.

Und zum anderen stand Erhard – trotz des natio-nalsozialistischen Zivilisationsbruchs – noch zu un-gebrochen, noch zu zutraulich in der Sicherheitder abendländischen Tradition. Grob gesagt: Fürdie Werte, so mag er gedacht haben, wird wohldank Gott und Patrimonium schon gesorgt sein.Am Tag nach der Währungsreform hielt er eineRundfunkansprache, in der er – nach dem Wan-deln am Abgrund der Planwirtschaft – eine auf-kommende Ära der Ehrlichkeit und Wahrhaftig-keit ankündigte. Der Ton der Rede ist altväterlichund ein wenig predigerhaft. Unter anderem fälltder Satz: „Das deutsche Volk ist heute ruhig undbesonnen an seine Arbeit gegangen.“ Da schwingtdoch noch etwas von jenem Anspornkollekti-vismus mit, der zu Zeiten der Nazis aus jedemVolksempfänger zu hören war. Keine Spur hiervom faktisch revolutionären Geist, der ErhardsHandeln beflügelt hat. Keine Spur von Gesell-schaftsfreudigkeit. Eher, wie oft in DeutschlandsVergangenheit: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.Und: Der Bürger solle an die Arbeit gehen.

Rückbesinnung auf Adam Smith

Ich kann das hier nicht vertiefen, denke aber, dassder Wirtschaftsliberalismus – heute sicher ge-wandter und halbwegs polyglott geworden – den-

noch unter dieser frühen Schwäche nach wie vorleidet. Es ist ihm, auch mangels Bemühen, nichtwirklich gelungen, sein Argument in den großenneuzeitlichen Strom des Freiheitsdenkens, das einantiautoritäres Denken ist, einzuspeisen und sichselbst von ihm beflügeln zu lassen. So steht er nurmit einem Bein in der modernen Welt. Als diesesDenken vor mehr als 200 Jahren auf den Weg kam,war es noch zweibeinig. Am sinnfälligsten machtdies vielleicht das Werk des alten Adam Smith. Fastüber Nacht wurde er im Jahre 1776 in ganz Eu-ropa berühmt mit seinem wegweisenden Werküber den „Reichtum der Nationen“. Es ist sehrsachlich geschrieben. Doch aus fast jeder Zeileschlägt einem auch der verwunderte Jubel überdie Entdeckung entgegen, dass die Verbesserungder Arbeitsteilung direkt zu steigendem Wohl-stand der großen Mehrheit beitragen kann. Diesesrationalen Werks wegen gilt der Schotte AdamSmith als ein kühler Denker des Fortschritts, derangeblich der Überzeugung war, dieser mar-schiere allein im Takt des Eigensinns.

Dass dem nicht so war, beweist sein zweites Haupt-werk, die 1759, also 17 Jahre vor der „Inquiry intothe Nature and Causes of the Wealth of Nations“erschienene „Theory of Moral Sentiments“, dasdamals ebenfalls recht berühmt war, heute aberleider fast vergessen ist. Es ist ein Buch über dieKräfte, die Menschen zu moralisch verantwortli-chem Handeln bewegen. Das Werk, in dem derBegriff der „Sympathie“ von zentraler Bedeutungist, beginnt mit dem wunderbaren Satz: „Man magden Menschen für noch so egoistisch halten, es lie-gen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Na-tur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal an-derer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst dieGlückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis ma-chen, obgleich er keinen anderen Vorteil darauszieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.“

Diese Tonlage trifft der heutige Wirtschaftslibera-lismus kaum, diesen geistigen Horizont erreicht erselten. Das ist, um des Zusammenhalts der Gesell-schaft wie um der Freiheit willen, schade. Ich wün-sche der Ludwig-Erhard-Stiftung die Kraft, die bei-den Fäden von Adam Smith munter weiterzustri-cken – und sich dabei von jenen nicht entmutigenzu lassen, die den Menschen im Allgemeinen undden Deutschen im Besonderen für ein Wesen hal-ten, das zur Freiheit nicht fähig und willens ist.

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WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 2008LUDWIG-ERHARD-PREIS FÜR

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008) XI

WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 2004LUDWIG-ERHARD-PREIS FÜR

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 102 (4/2004)

Einsendeschluss: 1. Februar 2009Beiträge und Vorschläge bitte an:

Ludwig-Erhard-StiftungJohanniterstraße 853113 Bonn

Telefon 02 28/5 39 88-0Telefax 02 28/5 39 [email protected]

Die Ludwig-Erhard-Stiftung vergibt alljährlich einen

von Ludwig Erhard gestifteten Preis für Wirtschaftspublizistik. Neben dieser Auszeich-

nung wird ein Förderpreis verliehen.

Dieser Förderpreis wird hiermit öffentlich ausgeschrieben. Er ist für Journalisten, Wissen -

schaftler und Angehörige anderer Berufe bestimmt, die jünger als 35 Jahre sind. Über die

Preisvergabe entscheidet eine unabhängige Jury; das Preisgeld beträgt 5000,– d.

Die Jury berücksichtigt Presseartikel, Arbeiten der wissenschaftlichen Publizistik sowie

Hörfunk- und Fernsehbeiträge, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2008

im In- oder Ausland verbreitet wurden und in enger Beziehung zur Sozialen Marktwirt-

schaft stehen. Bewerbungen oder Vorschläge Dritter müssen der Stiftung zusammen mit

einem kurzen Lebenslauf bis zum 1. Februar 2009 zugehen.

Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik

Ausschre ibung 2009

Der Vorstand der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

Hans D. Barbier

Ulrich Blum • Otmar Franz • Michael Fuchs •

Martin Grüner • Thomas Hertz • Christian Watrin

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XII Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

Ich bedanke mich sehr herzlich für die heutige Eh-rung. Die schönen Worte und mehr noch die Ehrung, die Sie mir schenken, stehen in einemmerkwürdigen Gegensatz zur Tatsache, dass ichnach den heutigen Prinzipen eine Art Asozialer bin,der der staatlichen Hilfe dringend bedürftig ist.

Mein Body-Mass-Index liegt deutlich jenseits derfür mein Alter und meine Größe geltendenGrenze. Nun fühle ich mich körperlich sehr wohl,gesund, glücklich und leistungsfähig. Es gibt keineKlagen über meine Virilität. Wäre da nicht derBody-Mass-Index. Teilen Sie Ihr Gewicht durch dasQuadrat ihrer Körpergröße, und Sie wissen Be-scheid über Ihre Sünden. Die Formel klingt nurkompliziert für meinen Berufsstand, der kaummehr der mathematischen Grundkenntnisse fähigist und daher Division durch das Quadrat der Kör-permaße schon für Zauberwerk hält. Aber natür-lich ist diese Formel Humbug.

Nun ist ja offenkundig, dass eine derart grobeKennzahl keine vernünftige Aussage über so etwasKomplexes wie körperliche Befindlichkeit aussa-gen kann. Aber der Body-Mass-Index ist eineRichtschnur des Regierungshandelns geworden,und ich habe Tausende Artikel gefunden, die sichpositiv dazu äußern, dass die Bundesregierungetwa Fettleibigkeit bei Kindern bekämpfen will.

Es gibt zwar keine empirische Untersuchung überdas tatsächliche Ausmaß von Fettleibigkeit bei Kin-dern. Und wir wissen nichts darüber, inwieweit einpaar Kilo Übergewicht tatsächlich der Gesundheitabträglich sein sollen. Aber wir alle kennen jenefalsche Entscheidung, die uns gehindert hat, dasPummerl von Nebenan anzusprechen, die sich

später zu der wunderschönsten Frau ausgewach-sen hat; und wir alle kennen einen dicken Jungen,der heute ein drahtiger Marathonläufer ist. – Dasalles interessiert nicht. Eine obskure Maßzahlzählt, wertet und gewichtet.

Im Herbst 2007 startete die Gesundheitspolitik ei-nen „nationalen Aktionsplan Bewegung und Er-nährung“; angesichts von 1,9 Millionen überge-wichtiger Kinder sprechen die Medien von „klei-nen Kalorienbomben“, von einer Zeitbombe, dieentschärft werden müsse. Der SystemtheoretikerSwen Körner hat in einem spannenden Buch her-ausgearbeitet, dass es keine empirischen Datengibt, die diese Politik wirklich als notwendig er-achten lassen. Es ist mehr ein Beleg für interesse-gesteuertes Handeln, für einen Hype in Politikund Medien, wie man das heute nennt.

Armut und Klimawandel

Für mich ist das ein Beispiel für eine zunehmendeNormierung unseres Denkens und der Verein-heitlichung der Medien. Obwohl unsere Welt im-mer größer, bunter und vielfältiger wird, beob-achte ich eine Verarmung der Recherche, derAnalyse und der Meinungsvielfalt. Lassen Sie micheinige Beispiele nennen:

Am 19. Mai dieses Jahres verteilte Bundesarbeits-minister Olaf Scholz Vorabexemplare des soge-nannten Armuts- und Reichtumsberichts an Jour-nalisten. Die Schlagzeilen des folgenden Tages lau-teten fast überall identisch: Jeder Achte ist von Ar-mut bedroht. In einigen großen Blättern, etwa derBerliner Zeitung oder der Financial Times und so-

Wer oder was zwingt Journalistenin den Meinungs-Mainstream?Roland TichyChefredakteur „Wirtschaftswoche“

„Noch niemals in der deutschen Geschichte waren und wohl in kaum einem anderen Land sind die Kosten des Widerspruchs

so niedrig wie in Deutschland. Den Bundeskanzler herabzusetzen, einen Politiker zu verleumden, einen Industriellen zu

schmähen, kurz: die allergrößte Gemeinheit oder denkbaren Unsinn zu verzapfen und millionenfach zu verbreiten, bleibt

weitgehend folgenlos.“

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WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 2008LUDWIG-ERHARD-PREIS FÜR

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

gar einer Zeitung, hinter der kluge Köpfe vermu-tet werden, war zu lesen: Jeder achte Deutsche istarm. In der Süddeutschen Zeitung stellte HeribertPrantl sogar eine Verbindung zu „Jessica, Lea-So-phie und Dennis“ her, drei Kinder, die wegen Ver-wahrlosung verhungerten, und machte für ihrenTod die Abgeordneten der großen Parteien ver-antwortlich. Beleg: Der Armutsbericht.

Es ist grober Unfug. Wir wissen es alle, und einGang durch die Fußgängerzone sollte belegen: Indiesem Land gibt es Armut, aber nicht in einemsolchen Ausmaß. Als arm gilt, wer über weniger als60 Prozent des Durchschnittsverdienstes verfügt.Dieser relative Armutsbegriff relativiert die Aussa-gekraft des Armutsbegriffs, nicht aber der Schlag-zeilen.

Ich kann hier nicht auf die vielen weiteren Gründeeingehen, warum der Bericht purer Nonsens ist,eine Art Body-Mass-Index des Bundesarbeitsminis-ters. Die definitiv falsche Aussage hat die Bericht -erstattung aller Mediengattungen, der Zeitungen,des Fernsehens und der Online-Dienste, be-herrscht. Ausnahmen gab es wie immer kaum undwenn, erst Tage später. Aber machen wir unsnichts vor: Relativierungen, Tage nach dem Be-richt, ändern kaum mehr die einmal grundlegendangelegte Einstellung.

Oder doch? – Es blieb der Financial TimesDeutschland vorbehalten, den Unsinn so zu über-steigern, dass die Grenze zum Kabarett überschrit-ten wurde. Sie enthüllte eine Manipulation der zu-grunde liegenden Daten. Eigentlich sei jedervierte Deutsche arm. „Scholz schönt Armutsbe-richt“, heißt es da.

Es war aber leider nicht Kabarett, sondern ernstgemeint. Man könnte sich darüber lustig machen,wäre die Sache nicht so ernst. Denn natürlich wer-den daraus politische Maßnahmen abgeleitet. Erstkürzlich hat mir eine Kollegin der Tageszeitung ineiner Fernsehsendung erklärt, der Erfolg der Par-tei „Die Linke“ sei ja insoweit gerechtfertigt, weilsie als einzige darauf reagiere, dass schließlich je-der vierte Deutsche in Armut leben muss.

Übrigens: Ich bin der festen Überzeugung, dass esmehr Dachdecker gibt, die in deutschen Talk -shows erklären, dass man mit 60 nicht mehr aufden Dachfirst klettern kann, als jene Dachdecker,denen man dieses Schicksal wirklich zumutet. Ent-

deckt man solche Beispiele, erschrickt man. Auchich bin ja Teil des Systems. Auch ich schreibe gele-gentlich dummes Zeug. Trotzdem sollte man sichfragen: „Warum eigentlich?“

Der Armutsbericht ist kein Einzelfall für eine Be-richterstattung, in der falsche Fakten zu falschenSchlussfolgerungen führen. Ein weiteres Beispiel:Der Klimawandel beherrscht die Schlagzeilen. Ichwill nicht darüber diskutieren, ob und warum derKlimawandel eintritt. Ich habe an dieser Stelle dasPrivileg, mich auf einer Metaebene zu bewegen,mich also inhaltlich nicht festlegen zu müssen.Aber folgt man einer Untersuchung von Hans W.Kepplinger, dann ist nur eine Mehrheit von 57 Pro-zent der Klimaforscher davon überzeugt, dass so-wohl die Grundlagen der Berechnungen als auchdie nötigen Konsequenzen ein eindeutiges Bild er-geben.

Von dieser differenzierten Diskussion lesen, hörenoder sehen wir praktisch nichts. Im Gegenteil: EinOnline-Dienst hat die ohnehin schon umstritte-nen Angaben des internationalen Regierungsgre-miums International Panel on Climate Change(IPCC) zur drohenden Erhöhung des Meeresspie-gels einfach erhöht. Statt einiger Dezimeter, diewohl beherrschbar erscheinen, ist plötzlich vonsechs Metern Erhöhung die Rede. Da bliebe vonder norddeutschen Tiefebene wohl nicht mehrviel trocken. Aber es ist erfunden. Selbst das alar-mistische IPCC geht nur von Zentimetern aus. Wirwerden also nicht ertrinken.

Ständig ist auch zu lesen von der bedrohlichen Zu-nahme der Zahl von Hitzetoten. Selbst wenn manannimmt, dass das Klima in Deutschland um ei-nige Grad zunimmt: Die Gefahr zu erfrieren, istdeutlich höher als zu „erschwitzen“. Der Gefahrdes Hitzetodes kann man mit einem Glas Wasserund mit dem Umzug an einen schattigen Platz er-folgreich begegnen. Gegen den Kältetod brauchtman Kleidung, Nahrung, Wohnung, Heizung.

Kaum Fakten, dafür Stereotypen

Jeder Vierte ist arm, der Meeresspiegel steigt umphantastische sechs Meter, die Menschen verküm-mern in der Hitze – die einfachste, nachvollzieh-bare Lebenserfahrung hält deutsche Journalistenoffensichtlich nicht davon ab, Unsinn zu formu-lieren und zu erfinden. Wenn es dann um Situa-

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XIV Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

tionen geht, die nicht mehr aus der Lebenserfah-rung oder Anschauung nachvollziehbar sind, wirdes noch schlimmer.

Die Malariamücke kommt nach Bayern zurück,das wird als Beweis für den Klimawandel ange-führt. Aber die Malariamücke kehrt nur dahin zu-rück, von wo sie vorübergehend im 19. Jahrhun-dert durch die Trockenlegung der Feuchtgebieteund Sümpfe sowie im 20. Jahrhundert durch DDTvertrieben worden war. Sie tut als gehorsames In-sekt das, was sich Ökologen wünschen. Die Mala-riamücke holt sich die feuchten Lebensgebiete zu-rück, die wir ihr neuerdings wieder anbieten, umökologische Nischen für bedrohte Insektenartenzu schaffen.

Nun würde es den Rahmen sprengen, weitere Be-lege dafür zu zitieren, wie gleichförmig die Be-richterstattung, wie wenig sie an Fakten und wiesehr sie an Stereotypen ausgerichtet ist. Kürzlichbrachte ein sogenanntes Nachrichtenmagazineine Titelgeschichte: „Angriff auf den Wohlstand.Wie Spekulanten das Leben immer teurer ma-chen.“ Suggeriert wurde, dass Spekulanten an denTerminmärkten den Erdölmarkt bewegen, denMais verteuern, Reis aufkaufen und die Menschendeshalb verhungern. Den Unterschied zwischenKassa- und Terminmarkt hat den Autoren keinererklärt. Aber haben wir davon gelesen, dass Mais,Getreide, Rohöl auch wieder billiger gewordensind? Ja, diese Geschichte kam auch, klein undverspätet. Da stand drin, dass die Spekulantenjetzt ein falsches Spiel mit uns spielen und allesverdrehen.

Es war aber nicht zu lesen, dass die Spekulantenoffensichtlich auf dem falschen Fuß erwischt wor-den sind und Zigmilliarden verloren haben, diewiederum über Kurssicherungsgeschäfte Landwir-ten und Produzenten von Lebensmitteln zuflie-ßen, genau so, wie es sein soll. Aus einer Story, dieeigentlich das segensreiche Wirken der Marktwirt-schaft belegt, wurde ein Angriff auf freie Märkte.

Ausreden von Journalisten

Wohl zu Recht hat sich der frühere BundeskanzlerGerhard Schröder darüber beschwert, dass die rot-grüne Koalition weggeschrieben wurde. Es ist übri-gens derselbe Mainstream-Mechanismus, der

Schröder und Fischer neun Jahre früher herbeige-schrieben hat.

Manchmal schlägt die Welle auch über diejenigenzusammen, die sich lange als Könner des Wellen-reitens verstanden haben. Eine Studie von ThomasLeif und Nina Faber des Netzwerks Recherche trägtviele Belege für meine Mainstream-Theorie in derBerliner Medienrepublik zusammen. Aber wastreibt oder zwingt die Journalisten in diesen Main-stream? Oder – um den Filmtitel von HerlindeKoelbl zu zitieren: Was macht uns zur Meute?

Unsere Klasse der selbstmitleidigen Angreifernennt meistens den Zeitdruck durch moderneMedien, das Ausdünnen der Redaktionen, die in-tellektuelle Vorherrschaft der Pressestellen, Spin-doktoren und hochgerüsteten PR-Abteilungen.Aber meiner Meinung nach sind das nur Ausre-den. Nichts davon ist ursächlich.

Die Redaktionen sind etwas schlechter personellausgestattet als in der Hochzeit der New Economy,die auch eine Hochzeit der Medienindustrie war.Aber heute arbeiten mehr Redakteure bei dengroßen Tageszeitungen und Magazinen als jemalszuvor. Sie sind in der Regel sehr gut ausgebildet.Ein Hochschulstudium hat fast jeder absolviert,die Eingangsprüfung zu so mancher Journalisten-schule würde ich mit meinem formalen Bildungs-hintergrund wohl nicht mehr schaffen.

Trotzdem wundere ich mich, dass sich diese Kol-legen darüber wundern können, dass Alleinerzie-hende und Arbeitslose einem erhöhten Armutsri-siko unterliegen. Um das zu vermeiden, hat manmal die Ehe erfunden; und es sollte eigentlichnicht überraschen, dass wer arbeitetet, mehr Geldhat als derjenige ohne Arbeit.

Warum schreiben wir so etwas? Auch das Internet,die Rüpelschule für unterbezahlte Neueinsteiger,professionalisiert sich mehr und mehr. Wenn Spie-gel-Online zum Leitmedium aufgeblasen wird, soist es doch ganz einfach, in den Luftballon hinein-zustechen statt hinterherzuschreiben. Fakten sindnoch immer die spitzeste Nadel.

Der Zeitdruck war schon immer enorm; schon seitJahrzehnten sind die Kollegen vom Hörfunk prak-tisch zeitgleich an den Ereignissen dran. Spindok-toren sowie das geheimnisvolle Schalten und Wal-ten von Pressestellen, das hört sich eher nach ei-

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WIRTSCHAFTSPUBLIZISTIK 2008LUDWIG-ERHARD-PREIS FÜR

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

ner Art medialer Dolchstoßlegende an, als derWirklichkeit zu folgen. Denn Quatsch bleibt auchmit Spin Quatsch und für jeden halbwegs Fach-kundigen durchschaubar.

Und über einen Sachverhalt sollten wir auch Ei-nigkeit herstellen können: Noch niemals in derdeutschen Geschichte und wohl in kaum einemanderen Land sind die Kosten des Widerspruchsso niedrig wie in Deutschland. Den Bundeskanzlerherabzusetzen, einen Politiker zu verleumden, ei-nen Industriellen zu schmähen, kurz: die aller-größte Gemeinheit oder denkbaren Unsinn zuverzapfen und millionenfach zu verbreiten, bleibtweitgehend folgenlos.

Wir sind eines der freiesten Länder dieser Welt.Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich hatte ja inder verschwindenden DDR als Stellvertreter desRundfunkbeauftragten für die neuen Länder, Ru-dolf Mühlfenzl, einen tiefen Einblick in Redaktio-nen. In Redaktionen, in denen die Partei des Sta-linismus, die sich heute „Die Linke“ nennt, bis aufsDetail vorgab, was zu schreiben, zu senden und zudenken war. Übrigens: Die Stasi hat sich nur derbesonders hartnäckigen Fälle angenommen, denAlltagsterror haben die Parteigenossen ausgeübt.

Zwang zum Angepasstsein

Wenn wir also über dieses ungeheure Privileg derFreiheit verfügen, materiell gut ausgestattet undgut ausgebildet sind – was hält uns davon ab, kri-tisch zu arbeiten, ungewohnte Argumente vorzu-tragen, neue Sichtweisen einzunehmen, und demNach-Blabla ein Ende zu setzen?

Begeben Sie sich mit mir auf die Spurensuche:Der erste und wichtigste Punkt, glaube ich, ist das,was Elisabeth Noelle-Neumann als Schweigespirale be-zeichnet hat. Wähler, aber auch Journalisten,schließen sich gerne der Mehrheitsmeinung anoder verstummen. Das scheint in der Natur desMenschen zu liegen, der nichts so sehr fürchtetwie Vereinzelung.

Ich glaube, dass der eigentliche Grund, warumsich totalitäre Systeme so lange halten, nicht alleinin Gewaltmaßnahmen der Unterdrückung liegt.Es ist das Unterbinden unterschiedlicher Meinun-gen, die radikale Verengung unterschiedlicherSichtweisen. Mitläufer werden nicht gezwungen,

dem großen Treck zuzugehören – sie sind zuschwach, ihre abweichende Meinung gegen dieMeinungsvorherrschaft von Schule, Betrieb, Kol-legen, Medien und anderen Gruppen durchzu-halten.

Unangepasst zu sein ist ungeheuerlich anstren-gend, die Überschreitung zum Asozialen eine so-ziale Definitionssache. Journalisten leben auch indiesem Zwang zum Angepasstsein, sie sind nichtdie alleinigen Opfer. In einem Bericht über dieUrsachen der Finanzkrise schildern große US-Ban-ken, was wir eigentlich schon immer wussten, näm-lich dass die Hausse die Hausse nährt und dieBaisse die Baisse. Sie zeigen, wie steigende Kursejeden Skeptiker zum Dummkopf degradieren, wieBeschleunigung zum Erfolgsfaktor und zu immerweiterem Kursanstieg führen, zur unvermeid-lichen Blasenbildung. Anschließend verschärfendie Panikreaktionen die Börsenkrise. Wer zögert,nachdenkt, zur Relativierung mahnt, hat verloren.

Mein Kollege Hofmann hat dazu gezeigt, wie sichdas in der Politikberichterstattung auch in Bildernausdrückt. Er entdeckte 2006 die Bildtechnik desAnhimmelns: Allerorten lächelte plötzlich AngelaMerkel von Fotos, Bannern und anderen Bildern,während Gerhard Schröder nur noch griesgrämigund verbittert zu sehen war. Auch Kurt Beck fühltsich, nicht ganz zu Unrecht, von der Meute derBerliner Journalisten verfolgt. Er spricht vomWolfsrudel. The winner takes it all. Loosers don’tsell. Tony Blair hat den Mechanismus kurz vor sei-nem Rücktritt beschrieben: „Aus der Sorge, etwaszu verpassen, jagen die Medien heute, mehr als jezuvor, in einem Rudel. In diesem Modus sind siewie ein wildes Biest, das Menschen und Reputatio-nen einfach in Stücke reißt.“

Journalisten marschieren am liebsten hinter derKapelle, die den Siegesmarsch schmettert. Nen-nen wir es den sozialen Faktor, den Kitt der Ge-sellschaft – aber mit einigen Besonderheiten:

Deutsche Journalisten sind Überzeugungstäter.In ihrer Dissertation von 1985 hat Renate Köcher dieprofessionellen Unterschiede von deutschen undangelsächsischen Journalisten herausgearbeitet.Die Arbeit trägt den programmatischen Titel„Spürhund und Missionar“.

Deutsche Journalisten verstehen sich eher alsVorkämpfer für Ideen, sie wollen überzeugen –

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XVI Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 (4/2008)

und weniger investigativ arbeiten. So hatte ichkürzlich die Gelegenheit, den Antwortbrief einesKollegen zu lesen, der von einem Leser getadeltworden war, weil er zu alarmierend und an allenFakten vorbei über das wachsende Problem derHitzetoten fabuliert hatte. „Warum tun sie das?“,wollte der Leser des Intelligenzblattes wissen, indem mittlerweile auch der Virus des KlimawandelsEinzug gehalten hat, sodass meine vergleichsweisehohe hierarchische Stellung nicht ausreichend ge-nug war, den Unsinn zu stoppen. Die Antwort hates in sich: „Aus globaler Verantwortung für die Na-tur, das Klima und die Zukunft unserer Kinder“,steht da. Größer kann die Last nicht sein, die aufden schmächtigen Schultern eines Schreiberlingsruht: Die Natur, das Klima – alles global natürlich.Bei so viel Verantwortung müssen Fakten, dienicht passen, weichen.

Deutsche Journalisten verstehen sich nicht alsNews-Checker. Sie sind in ihrem SelbstverständnisBeauftragte der Abteilung Agitation und Propa-ganda, diesmal allerdings auf der Seite des Wah-ren, Schönen und Guten, meist auf der Seite desSozialen und immer im Kampf gegen den Klima-wandel, komme er oder komme er nicht.

Auch wenn ich weiter oben die fachliche Ausbil-dung vieler Kollegen gelobt habe – ihre eigentli-che Professionalität, die Bereitschaft, unvoreinge-nommen Fakten zu prüfen und sie nur dann zuverbreiten, diese Professionalität fehlt leider allzuvielen, wenn es um die emotionale Aufladung vonThemen geht.

Für Journalisten sind ihre Kollegen besonderswichtig. Sie messen sich ja nicht an der doch sehramorphen Leser- oder Zuschauermeinung. Jour-nalisten folgen den Alpha-Tieren des Gewerbes,formulieren nach deren Vorbild, Gunst und Aner-kennung. Die Medienberater Stephan Weichert undChristian Zabel haben danach ein Buch benannt,die Alpha-Journalisten. Die Folge ist, dass die überAlpha-Journalismus formulierte veröffentlichteMeinung immer weiter von der öffentlichen Mei-nung abweicht.

Nils Minkmar hat in der Frankfurter AllgemeinenZeitung die SPD als surrealistische Partei Deutsch-lands charakterisiert, weil das, was uns verkauftwird, so eklatant von dem abweicht, was ist. Manmuss René Magritte kennen, um deutsche Nach-richten wirklich würdigen zu können. Immer

mehr Bürger empfinden die vermittelte Als-Ob-Politik aus Berlin, die um sich selbst kreisendeSelbstreferenz, das Metropolen-Getue einer Stadtmit dem transatlantischen Passagieraufkommenvon Bielefeld als abstoßend, befremdlich. Das ist inden Augen der Berliner Journaille allerdings nurdas Problem der Bürger. Nicht ihr eigenes. Sie füh-len sich sicher. Das wird immer weiter verschärftdurch die hohe Konzentration des meinungsbil-denden Journalismus in der fernen Mars-StationAlpha-Berlin.

Freiwillig gleichgeschaltete Presse

In meiner Zeit als Büroleiter einer Tageszeitunghier in Berlin bin ich niemals so weit in denWesten gekommen wie hierher nach Charlotten-burg. Charlottenburg liegt von Berlin-Mitte so weitweg wie München, Stuttgart oder Düsseldorf. Ichhabe niemals ein Fahrrad oder gar Auto benutztwie zu meiner Zeit in Bonn, wo es zu meinen Ver-pflichtungen gehörte, auch mal Verbände in Kölnoder Ministerien in Bad Godesberg zu besuchen,damals immerhin ein Aktionsradius von schät-zungsweise 50 Kilometer. Das politische Berlin istfußläufig erreichbar.

Diese Forderung an die Hauptstadt-Architekturbeschreibt mittlerweile den mentalen Horizont. InBerlin reicht der Horizont vom BrandenburgerTor bis zum Borchardt, mit Abstecher in den GrillRoyal, ins vergleichsweise randständige San Niccioder ins Einstein, wo die Herde aufnehmen darf,was vom Nebentisch der Alpha-Journalisten undBundesminister herüber dringt.

Ich habe mich dabei sehr wohl gefühlt. Dabei seinist nicht anstrengend. Das Leben in sehr über-schaubaren Zusammenhängen ist einfach, dasWeltbild fest gefügt. Evelyn Roll beschreibt das sehrschön in folgender Passage: „Georg meinte, dassin Berlin-Mitte die Gefahr, sich mit Meinungenund Überzeugungen anzustecken, besonders großsei. Wenn Politiker und Hauptstadt-Journalistenimmer nur mit Politikern und Hauptstadt-Journa-listen Kontakt haben, infizieren sie sich unentwegtgegenseitig. Georg nannte das ‚freiwillig gleichge-schaltete Presse‘.“ – Freiwillig gleichgeschaltetePresse. Im Auftrag von Natur, dem Klima, Gottund der Welt. Wir folgen dem Weltgeist, auchwenn er sich nur in Form des Body-Mass-Index unszu offenbaren gedenkt.

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Herausgeber Ludwig-Erhard-Stiftung e. V.Johanniterstraße 8, 53113 Bonn02 28/5 39 88-002 28/5 39 [email protected]

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Redaktion Dipl.-Volksw. Berthold BarthDipl.-Volksw. Natalie FurjanDipl.-Volksw. Lars Vogel

Mitarbeiter dieser Ausgabe Bianka DettmerProf. Dr. Juergen B. DongesProf. Dr. Bernhard EmundsMPhil. Fredrik ErixonProf. Dr. Andreas FreytagOtto Fricke MdBDr. Astrid HägerProf. Dr. Dr. h.c. Dieter KirschkeDr. Matthias LederProf. Dr. Max OtteDr. Michael von ProlliusProf. Dr. Gerhard ScherhornHubertus SchmoldtDr. Markus StahlProf. Dr. Dr. h.c. Joachim StarbattyProf. Dr. Manfred E. StreitProf. Dr. Roland VaubelDr. Peter WesterheideDr. Horst Friedrich Wünsche

Foto von Bastian Obermayer auf Seite II: Marion Blomeyer

Graphische Konzeption Werner Steffens, Düsseldorf

Druck und Herstellung Druckerei Gerhards GmbH, Bonn-Beuel

Vertrieb Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Gerokstraße 51,70184 Stuttgart, Telefax: 0711 / 24 20 88

ISSN 0724-5246Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 118 – Dezember 2008. Die Orientierungen erscheinen vierteljährlich. Alle Beiträge in den Orien tier ungen sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigung bedürfen derGeneh migung der Redaktion. Namensartikel geben nicht unbedingt die Meinungder Redaktion bzw. des Herausgebers wieder.

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