© Prof. Dr. Bernhard Badura • Universität Bielefeld • Fakultät für Gesundheitswissenschaften
8. Österreichische Gesundheitsförderungs-
Konferenz in Bregenz
19. Mai 2006
Entstehungsgeschichte der Ottawa Charta
Prof. Dr. Bernhard Badura, Fakultät für Gesundheits-
wissenschaften der Universität Bielefeld,
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1. Gesundheitspolitische Ausgangslage am Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre
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• Nachwirkungen der 68er Bewegung, z.B. in der
Frauenbewegung, Selbsthilfebewegung
• Gibt es eine Alternative zur anbietergesteuerten, d.h. von der Akutmedizin beherrschten Gesundheitspolitik?
• Welche Bedeutung haben soziale und politische Bedingungen auf Gesundheit, Krankheitsentstehung und Krankenversorgung?
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Situation in der Wissenschaft
Pathogenetische (= pessimistische)Weltsicht:
Die Welt ist voller „Stressoren“ und „Risikofaktoren“
• Wo bleibt da die Gesundheit?• Was sind „gesundheitsförderliche“ Einflüsse?• Wie lässt sich der starke Anstieg der Lebenserwartung in
Westeuropa, Japan und den USA erklären?
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Situation innerhalb der WHO
Einerseits: Sehr fortschrittliche Gesundheitsdefinition
Andererseits: Konzentration auf Umsetzung der Alma Ata
Deklaration und das Konzept der „Primary health
Care“ Prävention = Gesundheitserziehung
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Medikalisierung und Privatisierungder Prävention
Königsweg: Kontrolle biomedizinischer „Risikofaktoren“
durch Änderung individuellen Verhaltens.
Wer krank wird, z.B. eine koronare Herzkrankheit erleidet,
ist selbst schuld, weil er/sie keine „compliance“ gezeigt,
vulgo: nicht auf den Arzt gehört hat!
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2. Wissenschaftliche Ausgangslage
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„The Role of Medicine“
Thomas McKeown (1979; deutsch 1982):
„Man muss erkennen, dass Verbesserungen der Volks-
Gesundheit wahrscheinlich auch in der Zukunft eher
durch eine Veränderung der Bedingungen, die zur
Krankheit führen, erreicht werden als durch nachträg-
liche Intervention in Krankheitsprozesse.“ (S. 263)
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Was erklärt den dramatischen Anstieg der Lebens-erwartung in Westeuropa, den USA und Japan in den letzten 150 Jahren?
1. Die These der verbesserten materiellen/physischen Lebensbedingungen (z.B. Lebensmittelangebot)
2. Die Hygiene-These (z.B. Kontrolle/Beseitigung von Infektionsmöglichkeiten)
3. Die These vom medizinisch-technischen Fortschritt (z.B. Antibiotika)
4. Die Verhaltensmedizinische These (Kontrolle von „Risikofaktoren“)
5. Die Psychsoziale These (Rückgang psychischer und sozialer Risiken, Verbreitung salutogener Einflüsse)
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„Effectiveness and Efficiency“
Archibald Cochrane (1972):
„… the experimental approach (RCT) … opened up a
new world of evaluation and control which will, I think, be
the key to a rational health service.“ (p. 11)
„All effective treatment must be free.“ (p.1.)
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„Medical Menesis“
Ivan Illich (1977):
„Das gesundheitliche Niveau wird … dort am höchsten
sein, wo die Umwelt die Menschen zu persönlicher,
autonomer, verantwortlicher Lebensbewältigung be-
fähigt. (S. 13)
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3. Die Projektgruppe „Selbsthilfe und Gesund-heitssicherung“ an der Universität Konstanz(1978-79)
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Eine kleine Gruppe von 68ern versammelte sich 1978 im Projekt „Selbsthilfe und Gesundheits-sicherung“
Projektbericht: „Grundlagen einer konsumenten-
zentrierten Gesundheitspolitik“ (Januar 1979)
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Forschungsfragen
1. Was sind die Potentiale des Laiensystems: in der Gesundheitsförderung, Prävention, Kuration und Rehabilitation
2. Der Patient/die Patientin als Kodiagnostiker und Kotherapeut
3. Mitbestimmung der Laien und Patienten bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens
4. Ursachen dehumanisierender Tendenzen in der stationären Versorgung von Frauen
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5. Was sind die Ursachen für die wachsende Beliebtheit und Wirksamkeit von Selbsthilfegruppen?
6. Warum sind die Anonymen Alkoholiker erfolgreicher bei der Bekämpfung von Rückfällen als alle anderen damals bekannten Programme und Therapien?
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„Soziale Unterstützung undchronische Krankheit“ (1981)
„Im Umfang und in der Qualität sozialer Unterstützung,
die der einzelne durch soziale Bindungen oder in Form
psychosozialer oder praktischer Hilfe aus seiner Umwelt
erhält, sehen wir einen wichtigen Faktor zur Verhütung
oder Bewältigung chronische Leiden“ (S. 7).
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„Soziale Unterstürzung und chronische Krankheit“ (1981)
Gesundheitsbewusste Gestaltung von Bildungswesen und
Arbeitswelt, Humanisierung der medizinischen Versorgung
sowie Ermutigung und Erleichterung einer aktiven Rolle der
Bevölkerung bei der Erhaltung von Gesundheit auch bei der
Bewältigung von Krankheit bilden erfolgversprechende
Ergänzungen und Alternativen zur bisherigen, naturwissen-
schaftlich orientierten und anbietergesteuerten Gesund-
heitspolitik“ (S. 8).
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Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel von einer nachsorgenden zur investiven Sozial- und Gesundheitspolitik
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Es besteht eine ständig grösser werdende Präventionslücke bei psychosozialen Risiken
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Wachsende Beanspruchung der Mitarbeiter
Quelle: NRW Arbeitswelt 2004: Belastungsfaktoren – Bewältigungsformen - Arbeitszufriedenheit
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Veränderung des AU-Volumens 2004 in Relation zu 1997 nach Diagnosekapiteln bzw. Hauptgruppen
-17,2%
-12,8%
-4,3%
-1,2%
1,0%
10,2%
17,9%
21,4%
24,6%
68,7%
5,0%
-30% -20% -10% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70%
Psychische Erkrankungen
Infektionen
Muskel-Skelett-System
Nervensystem, Auge, Ohr
Symptome
AU-Tage insgesamt
Verletzungen
Neubildungen
Verdauungssystem
Atmungssystem
Kreislaufsystem
Quelle: DAK AU-Daten 2004
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Das heraufgesetzte Rentenalter konfrontiert uns mit dem Thema soziale Ungleichheit und Gesundheit
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Krankenstand nach Alter und ausgewählten Berufsgruppen, AOK-Mitglieder 2001
0
5
10
15
20
25
15 - 19 20 - 24 25 - 29 30 - 34 35 - 39 40 - 44 45 - 49 50 - 54 55 - 59 60 - 64
Metallkleber und übrige Metallverbinder
Gerüstbauer
Fliesenleger
Behälterbauer, Kupfer-schmiede und verwandteBerufe
Zahnärzte
Chemiker, Chemieingenieure
Wirtschafts- und Sozial-wissenschaftler, Statistiker
Apotheker
Altersgruppen
Krankenstand in %
Quelle: WIdO 2003
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Rentenzugänge nach ausgewählten Berufen vor Rentenbeginn
6,0
7,0
7,4
8,7
9,5
10,3
10,5
11,9
12,4
13,9
46,6
47,3
47,3
48,2
48,6
49,8
51,7
52,5
53,4
97,8
94,0
93,0
92,6
91,3
90,5
89,7
89,5
88,1
87,6
86,1
53,4
52,7
52,7
51,8
51,4
50,2
48,3
47,5
46,6
2,2
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Ärzte
Hochschullehrer
Rechtsberater
Ingenieure
Architekten
Verwaltungsfachleute
Maschinenbauingenieure
Techniker
Unternehmer
Lehrer
Kellner
Hilfsarbeiter
Bauschlosser
Metallarbeiter
Maler, Lackierer
Zimmerer
Rohrinstallateure
Schweißer
Maurer
Arbeiter im Bergbau
Renten wegen verminderter Leistungsfähigkeit Renten wegen Alters
Anteil in %Quelle: Fehlzeiten-Report 2002, S. 62