10

Click here to load reader

Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

1

������������� ����������� ���������

�������������������

Eine Kurzgeschichte zu dem Abenteuer Die lange Nacht des Rowan de Soël- copyright © 2000 by Verlag für F&SF-Spiele -

„Die lange Nacht der Strahlenden Stimme“ ist eine Kurzgeschich-te, die den Hintergrund des Kurzabenteuers Die lange Nacht desRowan de Soël bildet. Abenteuer und Kurzgeschichte ergänzensich, d.h. zu Beginn des Abenteuers wird nur kurz auf die hierbeschriebenen Ereignisse Bezug genommen (insbesondere, um siein einen regeltechnischen Rahmen zu setzen), so daß der Spiellei-ter vor dem Spielen des Abenteuers die Kurzgeschichte gelesenhaben sollte.

������������������������� �����

Gehetzt sah die Frau sich um: keine Spur von ihren Ver-folgern. Noch nicht. Sie humpelte weiter, fast schon schwer-fällig für eine Person ihrer natürlichen Anmut und Beweg-lichkeit, vorbei an einem großen Stein, und lehnte sichschwer atmend gegen einen der wenigen kahlen Bäume,die in diesem Teil des langsam ansteigenden Hochlandswuchsen. Längst hatte sie den Überblick verloren, konntenicht mehr sagen, wo sie war: irgendwo an den Ausläuferneiner kleinen, namenlosen Hügelkette, weit im Norden die-ses Lands, das Teil des Valianischen Imperiums war, weitentfernt von ihrer kleinen Waldsiedlung im schönen Aldam-bar, dem wunderschönen Baum-Heim, das von den Men-schen Wald von Tureliand genannt wurde. Warum nur warsie auch so störrisch gewesen! Den Zug nach Osten undnach Süden hätte sie mitmachen sollen, in den Wald vonBroceliande, in den es mittlerweile die meisten ihrer Brü-dern und Schwestern aus dem Aldambar gezogen hatte.Zwischen den Menschen und den Zwergen im nahen Art-ross bleibt wenig Platz für uns! war die einhellige Meinunggewesen, und die meisten hatten zugestimmt. Auch sie. DieBruderkriege im Broceliande sind vorbei! Unser Platz istdort! Aber dann...

Dann hatte sie Gerüchte gehört, von einem Menschenausgerechnet, aber einem Druiden, einem Angehörigen des

alten Menschenvolkes, das einst hier lebte, vor den Valia-nern, einem Volk, dessen alte Bande mit den Elfen immernoch galten. Der Dûnathe war vertrauenerweckend gewe-sen, und seine Geschichte hatte Valgeana fasziniert: eineGeschichte über Sichtungen seltsamer, anders aussehenderElfen, mit albinofarbener Haut und schwarzen Haaren.Dearcin! Schwarzalben! Der Druide hatte mit diesem Wortnichts anfangen können, aber Valgeana, eine der berühmte-sten und erfahrensten Bardinnen dieses Teils der Elfenwelt,sehr wohl. Und es hatte sie erschreckt, daß der alte Erb-feind nun auch hier aufgetaucht sein sollte, an einem Ort,an dem man ihn nicht vermutet hatte. Deshalb hatte sie esauf sich genommen, das Gerücht selbst auszukundschaf-ten, sich auf Erkundung in diese verlorenen Lande zu bege-ben. Was konnte ihr schon passieren? Sie war mächtig underfahren, und mit Kuinalindale verfügte sie über einen dergrößten Schätze des elfischen Volkes, einen mächtigenGegenstand, der in ihren geschulten Händen zu einer nahe-zu unüberwindlichen Waffe wurde. Was konnten ihr ein paarDearcin schon anhaben?

Eine weitere Welle des Schmerzes durchflutete sie. Wie-der einmal wanderte ihr Blick zum Oberschenkel, und er-neut erschrak sie über das Blut, das sich über ihre leichte,aber haltbare Beinkleidung ausgebreitet hatte. Die Wundewar wieder aufgebrochen, zum dritten Mal. Lange würdesie diese Flucht nicht mehr durchhalten können. Vier nurwaren es gewesen, vier finstere Gestalten, denen man nurmit Mühe ansah, daß einst elfisches Blut in ihren Aderngeflossen sein mußte. Verroht sahen sie aus, verwildert -wahrhaft Vanwa, Verlorene. Johlend und kreischend warensie über sie hergefallen, ohne Rücksicht auf ihr edles We-sen, und nur ihrer überlegenen Intelligenz und ihren schnel-len Reflexen hatte sie es zu verdanken, daß sie hatte ent-kommen können. Dem kleinen Bolzen hatte sie aber nichtausweichen können, dem Bolzen, den einer der Verfolgerihr mit einer kleinen, armbrustähnlichen Waffe nachge-schickt hatte und der sie im linken Oberschenkel getroffenhatte. Unerfahren in den Dingen des Kampfes, hatte sie denBolzen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit heraus-

Page 2: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

2

gerissen, was aufgrund der tückischen Anlage der Waffedie Wunde nur vergrößert hatte. Gedankenverloren folgtenValgeanas Augen der dünnen Blutspur, die sich hinter ihrher zog, den Weg entlang, den sie gekommen war.

Seufzend blickte sie nach oben, gen Himmel. Dämme-rung. Wie passend! Ein Tag dieses wilden, rückständigenLandes geht zu Ende, und mein letzter Tag vielleicht auch.Ich muß das Instrument in Sicherheit bringen; es ist wich-tiger als ich! Wo ist denn nur... Von einer neuen Schmerz-welle gepeinigt, griff sie mit beiden Händen an das juwe-lenbesetzte Halsband, das ihren Hals zierte. Mühsam brachtesie die Kraft auf, sich zu konzentrieren, an den Namen desCilfea zu denken, des treuen Folge-Geistes. Langsam hörtesie, wie aus weiter Ferne kommend, ein leises Maunzen,und plötzlich veränderte sich ihr Blickwinkel: Sie war klei-ner, viel kleiner, bewegte sich fast auf Bodennähe, schnellund agil, behende über Hindernisse springend oder klet-ternd. Der Blickwinkel wirkte nur während der ersten Atem-züge verwirrend, dann hatte sie sich daran gewöhnt; oftgenug hatte sie auf diese Art und Weise bereits mit ihremCilfea Zwiesprache gehalten, sich in ihn versetzt. Beidewußten, worum es ging: einen Unterschlupf zu finden, eineZuflucht, leicht zu verteidigen und noch leichter zu versie-geln. Und schnell mußte es gehen, so schnell wie möglich.Valgeana drängte die eigenen Gedanken zurück, ließ sichvon den Augen des Cilfea führen, immer weiter, immerschneller....

Da! Eine schwarze Öffnung, direkt vor den suchendenAugen, nicht allzu breit, aber hoch, zu hoch für die Augendes Cilfea. Das konnte es sein! Das mußte es sein! Einezweite Chance würde sie nicht mehr erhalten - nicht, wenndie Verfolger schon so nahe waren, höchstens noch Minu-ten entfernt. Ein scharfer gedanklicher Befehl, schärfer wohlals nötig, zwang den Cilfea zum Anhalten, zum Warten aufdie Elfenbardin. Langsam löste sich Valgeana aus der Ver-bindung, ließ sie aber nie ganz abreißen, um das Gefühl fürden Aufenthaltsort des Cilfea nicht zu verlieren. Als siewieder in die Realität zurückgefunden hatte, sah sie, daßder Blutstrom sich verbreitert hatte, daß die Wunde wiederstärker blutete. Mit aller Willenskraft, zu der sie noch fähigwar, kämpfte sie gegen den Schmerz an und bewegte sichin Richtung des geistigen Abdrucks ihres Cilfea, mehr hum-pelnd und stolpernd als rennend. Nach einer unendlich lan-gen Zeit erreichte sie schließlich die gesuchte Öffnung, eindunkles Loch in der Felswand, hoch genug für einen hoch-gewachsenen Menschen und nicht allzu breit. Und in derMitte der Öffnung saß Rainalunde, ihr Cilfea, und putztedas im Licht der untergehenden Sonne schimmernde sil-berfarbene Fell, das ihr den Namen gegeben hatte. Um ih-ren Hals funkelte die verkleinerte Ausgabe des Halsbandsder Bardin.

Mit besorgtem Miauen sprang die Katze an Valgeanahoch, als diese in den kleinen Raum hinter der Höhle tau-melte. Schmerzerfüllt ließ die Elfenbardin sich gegen die

Wand fallen, schloß die Augen und versuchte erneut, denSchmerz zurückzudrängen. Die Liebkosungen ihres Cilfeabemerkte sie kaum, genoß sie aber dennoch. Nach einigerZeit setzte sich der Überlebenswille der Elfin durch, undschwankenden Schritts nahm sie in der Mitte des EingangsAufstellung. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daßRainalunde sich hinter ihr befand, schnallte sie den Ruck-sack ab, in dem sich, eingehüllt in einen Leinenbeutel,Kuinalindale befand, ihre Laute, deren Namen „LebendigeMusik“ bedeutete. Mit zitternden Fingern begann sie, dieSaiten zu zupfen, und mit brüchiger Stimme begann sie zusingen. Schon bald hatten ihr Talent und die Zauberkraftder Laute ihre Schwächung durch die Verwundung über-wunden, und die Stimme der Elfin erklang hell und klar.Für einige Minuten stand sie so, singend und spielend, bissich die Laute mit einem silbrigen Schimmer überzog undunirdisch schöne Klänge den kleinen Raum erfüllten. Kurzdanach flimmerte die Luft vor dem Höhleneingang kurz,und das Schimmern um das Instrument verblaßte. Valgea-na lehnte sich wieder an die Felswand, holte tief Luft, griffnach ihrem Gürtel, zog ihren Dolch aus der Scheide undwarf ihn in Richtung der Öffnung. Mitten in der Luft pralltedie Waffe gegen ein unsichtbares Hindernis. Erleichterungüberkam sie: Der Daroborn, der Halte-Schild, stand!

Als Rainalunde sie schließlich sanft anstieß, mußten meh-rere Minuten vergangen sein. Verständnislos blickte dieBardin um sich, dann verstand sie: die Verfolger waren da.Vier verwildert aussehende ... Gestalten, Vanwa, nur nochmit viel gutem Willen als frühere Elfen zu erkennen, hattenvor dem Höhleneingang Aufstellung genommen und schrienBeleidigungen in ihre Richtung. Manchmal versuchten sie,den Daroborn zu durchbrechen, aber es gelang ihnen nicht,weder mit Körper- noch mit Waffengewalt. Dann sah sie,wie einer der Vanwa ein Stück Kreide aus einer Tasche zogund begann, etwas auf den Boden zu malen. Sie waren zau-berkundig! Das war schlecht. Zwar verhinderte der Daro-born das Eindringen von Magie, doch konnte jeder Daro-born, auch der stärkste, gebrochen werden, wenn man nurwußte wie. Da ahnte Valgeana, daß ihre Flucht noch nichtzu Ende war. Sie raffte sich auf und humpelte vom Eingangweg, den kleinen Gang entlang, der tiefer in die vonRainalunde entdeckte Höhle hineinführte. Die Katze folgteihr getreulich.

* * *

Die Tage vergingen, wurden zu einer Woche, zu zweiWochen. Valgeana und Rainalunde erkundeten das Höh-lensystem, in das es sie verschlagen hatte, und stellten fest,daß es recht klein war und über nur eine einzige Verbin-dung nach draußen verfügte: diejenige, die die Bardin mitdem Daroborn versiegelt hatte. Der Halte-Schild hatte of-fenbar allen Bemühungen der verhaßten Dearcin widerstan-den, denn keiner von ihnen hatte den Weg zu Valgeana ge-funden, die sich in einer kleinen Höhle, die vom Eingang

Page 3: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

3

am weitesten entfernt war, einstweilen häuslich niederge-lassen hatte, so gut ihr das unter diesen Umständen mög-lich war. Natürlich wußte sie, daß der Daroborn nicht ewighalten würde, sondern daß seine Wirkung auf einige Tagebeschränkt war, da sie nicht lange genug gespielt hatte, nichtlange genug hatte spielen können. Ihre einzige Hoffnungwar, daß den Vanwa mittlerweile die Geduld ausgegangenwar, und sie die Höhle wieder verlassen konnte. Langsamwurde dies auch nötig, da ihr die Lebensmittel ausgingen.Zwar wuchsen in einer Nebenhöhle eßbare Pilze, doch schie-nen diese eine unberechenbare Nebenwirkung zu haben, dasich die Bardin nach dem Genuß eines solchen Pilzes im-mer sehr ... entrückt vorkam, ihrer Musik viel näher als derWirklichkeit, in der sie sich befand. Von daher hatte sie nurzweimal von diesen Pilzen gekostet und sich ansonsten aufihre mitgeführten, immer spärlicher werdenden Vorräte ver-lassen. Den Weg zum Eingang der Höhle aber ging sie nie.

Als sich der Tag näherte, an dem der Daroborn zusam-menbrechen mußte, rüstete sich Valgeana für das Unver-meidliche. Die Beinwunde war gut verheilt; zum Glück warder Bolzen nicht vergiftet gewesen. Langsam, fast zurück-haltend, packte sie ihre Waffen zusammen und schlang sichden Leinenbeutel mit Kuinalindale um den Rücken. Erstjetzt, als sie danach suchte, fiel ihr der Dolch wieder ein,den sie nach dem Errichten des Daroborns zurückgelassenhatte. Sie zuckte mit den Schultern, warf einen letzten Blickauf Rainalunde, der sie eingeschärft hatte, unter keinenUmständen die Wohnhöhle zu verlassen, und brach vollerAnspannung auf. Bewußt langsam gehend, erreichte sie denEingang zur Höhle immer noch geraume Zeit vor dem er-warteten Zusammenfallen des Daroborns. Der Dolch lagnoch an dem Platz, an dem er gegen den Halte-Schild ge-prallt war; ein gutes Zeichen. Der Höhleneingang sah freiaus: keine Vanwa, die vor der Öffnung auf die Bardin lau-erten. Mit fast schon rituellen Bewegungen schlug Valgea-na das Leinentuch zurück und nahm Kuinalindale an sich.Mit der Zauberlaute fest in beiden Händen wartete sie, bissich durch ein kurzes, silbriges Flimmern das Ende desDaroborns ankündigte.

Der Halte-Schild fiel, und nichts geschah. Keine bislangverborgenen Vanwa tauchten aus hastig angelegten Verstek-ken auf und fielen über die Bardin her. Kein Zauber wurdegegen sie entfesselt. Kein Bolzen. Kein Bolzen. Valgeanaatmete tief durch und entspannte sich. Sie lockerte den Griffum ihre Laute etwas und tat einen Schritt auf die Öffnungzu. Noch einen. Und noch einen. Dann trat sie ins Freie.Die magische Sigille, die einer der Dearcin hinterlassenhatte, sah sie erst, als es zu spät war: Ein verschlungenesZeichen zu ihrer Linken glühte plötzlich in tiefem Schwarzauf, und ein grauenhafter Schmerz durchzuckte den Kör-per der Elfin. Laut schreiend fiel sie zu Boden, sich inSchmerzen windend. Viele kurze, hektische Atemzüge lagsie so, bis die Schmerzen langsam, unendlich langsam, nach-ließen. Trotzdem dauerte es fast eine Stunde, bis Valgeanasich wieder soweit bewegen konnte, daß sie in ihre Höhle

zurückkehren konnte. An einer erneute Versiegelung desEingangs dachte sie nicht.

In ihrer Wohnhöhle angekommen, fiel ihr Blick zuerstauf den leblosen Körper der Katze. Eine rasche Untersu-chung ergab, daß der Cilfea nur bewußtlos war, wohl auf-grund des Rückschlags des Schmerzes der Bardin durchdie enge Verbindung durch die Halsbänder. Müde und trau-rig, unendlich traurig, immer noch von Schmerzen geschüt-telt, nahm Valgeana die Katze in die Arme und ließ sich aneiner Höhlenwand auf den Boden sinken. Dort saß sie, blick-los ins Nichts starrend, und streichelte die Katze, währendsie mit der anderen Hand Kuinalindale festhielt. Lange saßsie so an der Wand, stundenlang, ihre einzige Bewegungdas Liebkosen der Katze. Und auch diese Bewegungenwurden langsamer und unregelmäßiger, als im Lauf derNacht der Lebenswille die gebrochene Meisterbardin ver-ließ. Am anderen Morgen waren die Lebensgeister aus derElfin gewichen. Rainalunde maunzte traurig. Ein Beobach-ter aber hätte ein sonderbares Bild wahrgenommen: In demMoment, in dem die Elfin verschied und die Katze die Au-gen aufschlug, glühten die beiden Halsbänder grell auf. Undhätte der Beobachter danach die Katze angesehen, hätte erbemerkt, daß ihre Augen plötzlich ein wenig anders aussa-hen. Elfischer, wenn dies möglich gewesen wäre.

��������������������� �!���"��#���

Die Zeichen standen schlecht: Sie würden den Krieg ver-lieren, und das schon bald. Einige hatten es noch nicht ein-gesehen: Zelotys Leukippos war unter ihnen, und selbstRhadamanthus schien noch an den möglichen Sieg zu glau-ben. Andere waren klüger, munkelte man; es war schwer,in diesen Tagen, in denen das Reich zusammenbrach, gesi-cherte Informationen zu erhalten. NueTschin sei endgültigim fernen Osten verschwunden, so hieß es, und selbst Ma-rutukus, der sich wie kaum ein anderer in der Handhabungder überlebenswichtigen Galeeren verstand, war in derUnterstadt verschollen. Auch die Umtriebe von Enumaschienen aufgehört zu haben, was entweder von ihrem Un-tergang oder ihrer Flucht zeugte. Vielleicht war sie auchübergelaufen; ja, das würde zu ihr passen. Das Problem aberwar: Überlaufen lohnte sich nicht. Der Krieg würde nichteinfach zugunsten der einen oder anderen Seite entschie-den, dessen war er sich sicher. Nein, eher würde es einengroßen Kataklysmus geben, in dem die außer Kontrollegeratenen Kreaturen der Elementaren und der UrebenenGraue und Dunkle Meister gleichermaßen hinwegfegenwürden - und das Reich dazu. Nein, jetzt hatte nur nochFlucht einen Sinn, Rückzug in eine möglichst sichere Zu-flucht, weit weg von Candranor. Leben, um später wiederzu herrschen. Nach der Katastrophe.

Page 4: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

4

Deshalb war er hier, in einem der nördlichsten Teile desReichs, zwar auch von den Verfallserscheinungen bedroht,aber weit genug weg vom Kernland, um von den schlimm-sten Auswirkungen verschont zu bleiben. Taurellian hattehier vor etwa vierzig Jahren für Ruhe gesorgt und die Dûna-tha niedergeworfen - ausgerechnet Taurellian, der Verräter,dessen heimtückischer Angriff auf Candranor vor 38 Jah-ren erst den Niedergang eingeleitet hatte! Egal. Der Mannin der dunklen Robe strich sich die blaue Strähne aus demGesicht und beobachtete aufmerksam seine Umgebung. Einenatürliche Höhle wäre schon gut, als Grundlage zumindest.Ausbauen und absichern müßte man sie natürlich immernoch, aber wenn bereits ein Grundstock vorhanden war,konnte er sich einiges an Mühen ersparen. Nicht, daß er sienicht hätte leisten können: Er wußte die Wahren Namender Steine und Felsen, der Hügel und Täler, der Flüsse undSeen. Er konnte die Welt nach seinem Wunsch formen -wenn er die Zeit dazu erhielt. Und Zeit war das, was ergerade nicht hatte. All seine arkane Kraft, all seine Kon-trolle über das Weltenmuster nutzte ihm nichts, wenn erkeine Zeit hatte.

Ruhig schritt er auf die Höhlenöffnung zu, zu der ihn sei-ne Sinne geleitet hatten. Eine schwache Ausstrahlung gingvon ihr aus, interessant genug, um ihr einen Blick zu gön-nen. Vor dem Eingang blieb er stehen. Drei Skelette, zweidavon stark in Mitleidenschaft gezogen, von menschlicherNatur, das dritte, zwergische, in besserem Zustand, umsäum-ten halbkreisförmig den Eingang. Der Magier sprach einpaar arkane Worte, und sofort bildete sich an der rechtenInnenwand ein kleines Zeichen heraus, illuminiert durch denErkennungszauber. Der Mann lächelte amüsiert. Ein Zei-chen des Todes, wirksam zwar für niedere Spezies wieMenschen und Zwerge, aber schlampig und kunstlos ange-legt, Alter etwa zweihundert Jahre, fast erschöpft. Nahezubeiläufig sprach er seinen Bannzauber, und das Zeichenverlosch. Was immer hier sich einst abgespielt hatte, warnun ausgelöscht. Interessiert hätte es ihn ohnehin nicht.

Der Dunkle Meister gestattete sich ein dünnes Lächeln,als er die Höhle betrat. Direkt hinter dem Eingang zog einmetallener Gegenstand, der mitten auf dem Boden lag, sei-ne Aufmerksamkeit an sich: ein Dolch, mit zauberkräftigenZeichen belegt, von Art der Symbole und Stil der Schmie-dearbeit eindeutig als Elfenwerk erkennbar. Ein weiteresTeil des Rätsels, das sich hier in der Vergangenheit abge-spielt haben mochte? Wie auch immer: dafür hatte er jetztkeine Zeit. Nichtsdestotrotz streckte er kurz die Hand aus,und der Dolch erhob sich gehorsam vom Boden. Es wardurchaus möglich, daß er allein über den Besitz der Waffespäter Informationen erhalten konnte, die vielleicht wich-tig waren. Später. Jetzt nicht. Jetzt war die Höhle von Inter-esse. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwen-den, steckte er den Dolch ein.

Er ging weiter, tiefer in die Höhle hinein. Der Komplexwar klein und kaum verzweigt. Sein Zentrum bildete eine

große Höhle, die sehr instabil aussah - zumindest, wennman den zu erwartenden Kataklysmus als Maßstab nahm.Der Dunkle Meister hatte zwar nur eine sehr ungenaue Vor-stellung, wie die Katastrophe, der Untergang des Reiches,aussehen würde, aber da er sich der eingesetzten Kräftebewußt war, rechnete er mit dem Schlimmsten. Er entschiedsich, die Höhle nur noch oberflächlich zu Ende zu inspizie-ren, da er nicht mehr damit rechnete, diesen Ort als für sei-ne Zwecke tauglich einstufen zu können. Und tatsächlichfand er nicht viel mehr, das von Interesse war: Ein die Zau-berkräfte steigernder, aber abhängig machender Pilz in ei-ner der Nebenhöhlen war noch die interessanteste Entdek-kung. Früher hätte er sich hiermit versorgt, wohl auch dieHöhle zu einem Nebenlager gemacht, um damit seine Un-terlinge besser kontrollieren zu können - jetzt aber beschäf-tigten ihn andere Dinge. Wichtigere Dinge. Wenn es nachdem Kataklysmus die Höhle noch gab, konnte er weiterse-hen.

Ganz am Ende seiner kurzen Wanderung durch die Höh-le erreichte er einen kleinen, nahezu kreisrunden Raum, indem etwas seine Aufmerksamkeit doch noch erregte: dasan der linken Wand zusammengesunkene Skelett einer elfi-schen Frau, seit etwa 200 Jahren tot, die eine Laute mitschimmernden Saiten in der linken Knochenhand umklam-mert hielt, von der eine starke Aura ausging, die er durchbloßes Hinsehen erkennen konnte. Die Besitzerin des Dol-ches? Das ließ sich herausfinden. Aber war es wichtig? Wohlkaum. Das Instrument? Schon eher. Zauberkräftige Gegen-stände zu besitzen konnte nie schaden. Der Mann machteeinen weiteren Schritt auf das Skelett zu und wich ebensohastig wieder zurück, als seine hochgezüchteten Sinne ei-nen sprunghaften Anstieg des Magangehalts des Raumswahrnahmen. Im gleichen Moment erhob sich vor ihm, ausden Knochen des Skeletts, einer Erscheinung gleich, dasBild einer Elfin, zeitlos und schön, aber doch von einerumfassenden Traurigkeit geplagt. Der Dunkle Meister bliebgespannt stehen und wartete ab, was sich ereignen würde.

Das leicht durchscheinende Abbild der Elfin wandte sichihm zu und sah ihn mit dunklen, ausdrucksstarken Augenan. Wer bist du, daß du Kuinalindale an dich nehmen willst?klang eine Stimme in seinem Kopf auf. Kuinalindale, dachteder Mann, war ein Wort des Eldalyn und bedeutete „Le-bendige Musik“. Er hatte von dem Instrument gehört: mo-derat zauberkräftig, zwar ein Schatz der Elfen, aber dochin seiner magischen Kraft stark überschätzt. Was sollte erdamit? Wer bist du, daß du Kuinalindale an dich nehmenwillst? wiederholte die geistige Stimme. Der Seemeister riefsich das, was er über das Instrument wußte, ins Gedächtniszurück, und antwortete laut: „Du bist Valgeana?“ Valgea-na, „Strahlende Stimme“ auf Eldalyn, war die letzte ihmbekannte Besitzerin des Instruments gewesen. Da war nochetwas über Valgeana, etwas, das wichtiger war als das In-strument, aber er konnte sich gerade nicht daran erinnern.Ja, kam die Antwort, ich bin Valgeana. Und wer bist du,daß du Kuinalindale an dich nehmen willst?

Page 5: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

5

Der Mann traf seine Entscheidung. „Ich will dein Instru-ment nicht“, erwiderte er mit der Arroganz desjenigen, derauf derlei Gaben nicht angewiesen war. Es hatte keinen Sinn,sich mit Gegenständen zweifelhafter Macht zu belasten.Nicht jetzt. Anderes hatte Vorrang. Sein Überleben bei-spielsweise. Kommentarlos drehte er sich um und verließdie Höhle. So sah er nicht mehr, wie das Abbild der Elfinmit enttäuschtem Gesichtsausdruck verblaßte. In der Mitteder nächsten Höhle blieb er stehen. Auch wenn das Instru-ment für ihn derzeit nutzlos war - für andere Personen moch-te es doch einen Nutzen haben. Da er die - ohnehin nichtbesonders starke - Sicherung am Eingang beseitigt hatte,bestand die Möglichkeit, daß andere den Eingang findenund das Instrument an sich nehmen könnten. Das mußte janicht sein. Der Dunkle Meister konzentrierte sich kurz undsprach dann einigearkane Wörter, gerichtet auf eine derNahen Chaosebenen. Sekunden danach schälte sich ein etwazwei Meter großes, entfernt menschenähnliches, grob-schlächtiges Wesen aus der Luft, das von einem dunkel-grauen Schuppenpanzer überzogen war und eine Hellebar-de mit gezähnter Klinge in beiden Händen hielt. Plötzlichdurchzog ein heller Lichtschein die Höhle, als die Haut desWesens in Flammen ausbrach. Die Luft wurde merklichheißer, ohne daß der Magier dem Bedeutung beigemessenhätte. Was konnte ihm das verhaßte Element schon antun?

Nur kurz dachte der Mann an die absonderliche Flam-menhaut des Wesens, dann zwang er ihm seinen überlege-nen Willen auf und brachte es völlig unter seine Kontrolle.„Du wirst mich als deinen Herrn und Meister anerkennen!“begann er, was das Wesen mit Zähneknirschen bejahte. DerSeemeister grinste freudlos. Wächterdämonen waren un-willig und heimtückisch, aber gegen seinen Willen kam die-ser Dämon nicht an. „Du wirst hier wachen und verhindern,daß jemals jemand den jenseitigen Raum betritt oder ihnwieder verläßt. Ich binde dich für tausend Jahre und einenTag an diese Aufgabe. - Hast du verstanden?“ Immer nochzähneknirschend signalisierte der Wächterdämon sein Ver-ständnis. Der Dunkle Meister sah ihm förmlich an, wie ersich bemühte, sich um diesen Auftrag herumzuwinden, dochwar er dem Befehl des wesentlich stärkeren Magiers wil-lenlos ausgeliefert. Mit einem kurzen Nicken verließ derMann den Raum und strebte zum Ausgang, mittlerweileungehalten über den im Rahmen des derzeitigen Plans sinn-losen Zeitverlust.

Als er den Komplex verlassen hatte und sich gerade Ge-danken über sein nächstes Ziel machte, drang plötzlich einneues Geräusch in seine Gedanken - das Fauchen einerKatze! Der Mann drehte sich in Richtung des Geräuschsum, und tatsächlich: Dort, zwischen den Felsen, saß einesilberhaarige Katze, die ein wertvolles, juwelenbesetztesHalsband trug, und starrte ihn an. Starrte ihn an mit Augen,die nicht wie die Augen einer Katze wirkten, mit Augen,die ihn, ganz entfernt, an die Augen der Erscheinung dertoten Elfin erinnerten. Eine intelligent dreinblickende Kat-ze mit einem wertvollen Halsband, die ihn ansah, konnte

nur eines bedeuten: den Vertrauten eines anderen Magiers -eines feindlichen Magiers, denn jeder, der ihm hierher ge-folgt war, mußte feindlich sein, und jeder, der ihn hier ausZufall gefunden hatte, mußte sterben, bevor er Gelegenheithatte, sein Wissen an den Feind weiterzugeben. Ohne wei-teres Überlegen streckte er der Katze einen Finger entge-gen, sprach das Wort des fliegenden Feuers und sah miteiner gewissen Befriedigung, wie eine feurige Explosiondas Tier verschlang. Direkt danach versetzte er sich in einmagisches Hexagon, das er vor einiger Zeit angelegt hatte,um sich dem nächsten Ziel zuzuwenden.

***

Wenige Tage später fand Saron Neragal ganz in der Nähe,in jenem Gebirge, das die Menschen Pengannion nannten,eine Zuflucht, die es ihm tatsächlich ermöglichte, den Ka-taklysmus, der den Krieg der Magier beendete, zu überle-ben. Er sah nicht, wie die Katze, die er für tot gehalten hat-te, sich in Schmerzen auf dem Boden umherwälzte, schließ-lich torkelnd auf die Beine kam und in einer Seitenkammerdes Eingangs zusammenbrach, wo sich eine erstaunlicheVeränderung anbahnte...

����������$%������������ � ��

Die Aufregung war groß. Größer als sonst. Weitaus grö-ßer. Und doch anders. Es war nicht so wie sonst. Nicht so,wenn ein oder mehrere Zweibeiner in die Höhlen kamen,vor denen sie sich entweder verstecken mußten, oder dienett zu ihnen waren. Doch das war selten. Man wußte niebei Zweibeinern. Zweibeiner waren ... böse. Meist. Böseund dunkel. Dunkel und Zweibeiner gehörten zusammen.Irgendwie. Obwohl die meisten Zweibeiner gar nicht dun-kel waren, und viele die Bewohner der Welt mochten. Undblau. Blau gehörte auch dazu. Warum auch immer. Wasimmer blau war. Manchmal wußte sie es. Manchmal sah siees bei den Zweibeinern. Doch nie dort, wo es hingehörte.Wo sie es zuerst gesehen hatte. Wo es böse war. Doch jetztwar alles anders.

Alle waren sie da: Rotfell-mit-Scharfzahn, Mattseiden-Dreibein, Rotauge-Zweibeinerbiß, Großohr-Vielfachmutter,all die anderen. Unablässig umschweiften sie sie, maunz-ten, miauten, teilten ihre Eindrücke mit. Etwa Fremdes warin dem nahezu unendlich weiten Raum in der Mitte der Weltaufgetaucht, groß und schwerfällig und sehr schwer. Es roch.. anders, etwa so wie die kleinen Echsen, die man in derWelt fand, aber anders, viel stärker. Es schien die Weltbe-wohner gar nicht wahrzunehmen, sondern lag einfach da,bewegte sich kaum, und wenn, dann bebte die Welt. Nie-

Page 6: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

6

mand wußte, wie es in die Welt gekommen war, und was eshier wollte. Und wie man es wieder wegbekam. Sie ließ einkurzes Fauchen hören und richtete sich auf. Das wirkteimmer. Von allen Weltbewohnern war sie die einzige, diesich längere Zeit auf ihre Hinterbeine stellen konnte, ohneumzufallen. Sie war auch die größte. Wenn sie stand, wirk-te sie fast wie ein Zweibeiner. Aber sie war keiner. Sie ro-chen es. Sie wußten es.

Ruhe kehrte ein. Die übrigen Weltbewohner versammel-ten sich um ihre großen Hinterpfoten, denen, auf denen siegerade stand. Füße. Ein Gedanke, flüchtig nur und sofortwieder weg. Sie hatte ab und an diese Gedanken, doch nieblieben sie lange. Immer waren sie kurz, bruchstückhaft undunverständlich. Ruhe war eingekehrt. Mit der bekanntenMischung aus Maunzen, Schnurren, Fauchen und Bewe-gungen der Schnurrhaare teilte sie den anderen Weltbewoh-nern mit, daß sie sich um das ... Wesen kümmern würde.Den Kurzbeiner. Die gigantische Echse, größer als dieWeltbewohner sehen konnten. Sie riet ihnen, das Zentrumder Welt einstweilen zu meiden, bis sie die Lage erkundethabe. Es bestünde kein Grund zur Furcht. Die Weltbewoh-ner glaubten ihr. Sie glaubten ihr immer. Warum sollte sieauch lügen? Sie war eine von ihnen. Sie vertrauten ihr, undsie hatte sie nie enttäuscht. Sie würde es auch nie tun. Allewußten es.

Nach und nach beruhigten sich die Weltbewohner undverließen das Nest. Sie blieb allein zurück und konnte un-gestört überlegen. Die Welt war ein gefährlicher Ort gewe-sen, schon seit ihrer Erschaffung. Noch gut erinnerte siesich daran, wie die ersten Weltbewohner in der Quelle desFeuers gestorben waren, als aus dem Nichts ein Flammen-meer erschienen war und sie verbrannt hatte. Auch die Eß-stengel in der Nähe des Zentrums der Welt waren gefähr-lich und mußten gemieden werden, da mehr als ein Weltbe-wohner daran gestorben war. Giftig. Wieder so ein Gedan-ke. Gedanken. Immer diese Gedanken. Sie griff nach demGegenstand, der in einer Ecke des Nests lag. Sie griff oftnach diesem Gegenstand, wenn die Gedanken kamen. Erwar rund, bestand aus zwei Hälften, die man miteinanderverbinden konnte. Er paßte um ihren Vorderlauf, fühlte sichgut dort an. Er war aus weichem, schmiegsamen Material,besetzt mit harten, funkelnden Gegenständen. Edelsteine.Der Gegenstand war wichtig, das wußte sie. Wichtig undvon früher. Verbunden mit ihrer Geburt. Aber wie?

Sie wußte wenig über ihre Geburt. Eigentlich so gut wienichts. Da war eine Erinnerung ... Schmerzen, großeSchmerzen... und ein Zweibeiner. Ein Zweibeiner mit blau-em Kopffell. Schmerzen. Das Gefühl von ... Wachstum.Größer werden. Ein Geräusch: schnappend. Ein Gegen-stand, der auf den Boden fällt, rund, glitzernd. Und Schmer-zen. Große Schmerzen. Dann: Miauen. Ein Wesen, ähnlichwie sie, nur kleiner, aber genauso riechend. Kein Zweibei-ner. Nicht blau. Sofortiges gegenseitiges Vertrauen. DieAngst vor Zweibeinern: ein verbindendes Element. Der

Neuankömmling bleibt. Später werden es mehr. Und mehr.Immer mehr. Erst zehn, dann zwanzig, dann dreißig. Zah-len? Woher? Einige gehen, kommen nicht mehr wieder.Andere kommen hinzu. Dann ... sterben die ersten. Sie stirbtnicht. Sie altert nicht. Was immer das heißt. Manchmal einBild: ein Zweibeiner, mit Augen, die den ihren ähnlich sind.Aber ohne Schnurrhaare. Etwa genauso groß, aber schwer-fälliger, mit .. Kleidung. Und einem anschmiegsamen, run-den Gegenstand mit funkelnden Edelsteinen um den Hals.

Unwillig schüttelte sie den Kopf. All dies führte zu nichts.Hatte noch nie zu etwas geführt. Der Kurzbeiner war dasProblem. Hier und jetzt. Sie maunzte und setzte sich wie-der auf. Verließ das Nest und ging zum Zentrum der Welt.Unterwegs entschied sie sich dafür, nicht gesehen werdenzu wollen. Sie tat dies oft, wenn Zweibeiner kamen. Diesahen sie dann nicht. Vielleicht war es besser, wenn derKurzbeiner sie auch nicht sah. Nach kurzer Zeit erreichtesie die Mitte der Welt. Und tatsächlich, dort lag etwas. Be-wegte sich nicht, oder nur ganz unmerklich. Wie eine gro-ße Schlange. Sehr groß. Eine weiße Schlange. Ja. Eine sehrgroße, weiße Schlange. Aber mit kurzen Stummelbeinen.Sie beobachtete die sehr große, weiße Schlange lange undstellte fest, daß sie sich tatsächlich bewegte. Langsam zwarund ungemein schwerfällig, aber immerhin. Die Schlangebewegte sich durch das Zentrum der Welt und blieb schließ-lich an einem der Ränder der Mitte liegen, in der Nähe desFelds der giftigen Eßstengel. Vielleicht schlief sie. Wasimmer es war: Die Schlange schien nicht gefährlich für dieBewohner der Welt zu sein.

* * *

In den sich anschließenden ... Jahren gewöhnten sich dieBewohner der Welt an den neuen Mitbewohner. Viele vonihnen machten es sich zur Angewohnheit, sich der Schlan-ge zu nähern, sie zu ärgern und wieder wegzurennen, bevordiese sie bemerkte oder in ihre Richtung wenden konnte.Da man die Schlange weder beißen noch kratzen konnte,entwickelte sich dies zu einer Art Geschicklichkeitsspiel -bis schließlich, 23 Jahre nach dem Erscheinen der großen,weißen Schlange in der Welt, die schlafende Schlange zweiBewohner der Welt, die gerade auf ihr herumliefen, durcheine plötzliche, versehentliche Bewegung unter sich zer-drückte. Ab dann mieden sie auch die Mitte der Welt.

Manchmal durchzogen leichte Erschütterungen die Welt,und dann wußten sie, daß es wieder Zeit war für die Reiseder weißen Schlange, daß die Schlange die Welt verlassen,aber schon bald zurückkommen würde. Das Ereignis kehr-te immer wieder, fast schon regelmäßig: etwa alle sechs ...Monde, wobei die nicht genau wußte, was ein Mond war,aber es sich um ein Ding handeln mußte, mit dem man frü-her das Verstreichen der Zeit gemessen hatte. Die Bewoh-ner der Welt gewöhnten sich an dieses immer wiederkeh-rende Ereignis und bemühten sich, während der Reise derweißen Schlange das Nest nicht zu verlassen.

Page 7: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

7

���������$��&�������'� ��#!������

„Abteilung - halt! Alle Mann absteigen und Formationeinnehmen! Die Pferde anbinden! Auf, auf!“ Sealtainnseufzte innerlich. Der Mann würde sich nie ändern. Siewaren keine Abteilung, und was eine Formation war, wuß-ten sie auch nicht. Ganz abgesehen davon, daß nur drei derfünf Mitglieder des bunt zusammengewürfelten Haufenstatsächlich Männer waren. Aber wie sollte man ihm dasbeibringen? Sie waren in Alba, und er war der Ordenskrie-ger. So einfach war das. Da sie dem Tempel der Dheis Albiin Tidford mehr oder minder verpflichtet waren, allesamt,hatten sie keine andere Wahl gehabt, als auf Geheiß derTempeloberen mit dem jungen Rowan de Soël durch dasLand zu ziehen und den verworrenen Ideen des Ordens-kriegers zu folgen.

Gehorsam stieg die junge erainnische Bardin vom Pferdund lud ihr Gepäck ab. Neben ihr tat Hawrlynn fer Rappandas gleiche. Sealtainn warf der wie üblich in grau gekleide-ten Leidensgenossin einen aufmunternden Blick zu, erhieltaber wie üblich nur eine abweisende Reaktion. Die Magie-rin hob ihre Katze vom Sattel und setzte sie vorsichtig aufden Boden. Maorwon schüttelte sich kurz und äugte dannneugierig zum Eingang der Höhle hin, vor dem der kleineTrupp angelangt war. Mit kleinen Trippelschritten setztesich die Katze in Bewegung, ganz so, als sei sie begierigdarauf, in die Höhle zu gelangen, traue sich aber nicht sorecht - was aber auch an ihrer engen Bindung an Hawrlynnliegen konnte, eine Bindung, die Sealtainn nie verstandenhatte. Jedenfalls war Maorwon anders als alle anderen Kat-zen, die Sealtainn je gesehen hatte, und wahrscheinlich dach-ten das die anderen Katzen auch. Zumindest die Katzen,die sich während der Reise hierher kurz mit Maorwon un-terhalten hatten, mußten zum gleichen Eindruck gelangtsein, waren sie doch recht schnell wieder verschwunden.Die Katzen... sie waren ein Hinweis gewesen, der letzte,der ihr noch gefehlt hatte.

„Auf, auf!“ erklang wieder die Stimme des jungen Or-denskriegers, der direkt vom Pferd gesprungen war, seinLangschwert gezogen hatte und nun damit in Richtung desHöhleneingangs wedelte. „Hier drinnen finden wir dieMächte des Bösen, auf daß wir sie schlagen können!“ Wieer da so stand, groß, breit und in seinem mit dem Symboldes Xan bezogenen Überwurf über dem Plattenpanzer,machte er einen durchaus imposanten Eindruck. Leider, sofand Sealtainn, war nichts dahinter. Gar nichts. Womöglichlitt er sogar darunter, dachte sie sich. Es war sicherlichschwer, der an sich unfähige Bruder eines der bekanntestenOrdenskrieger des Sonnenordens zu sein, von Heardred deSoël, der ein wirklicher Held war. Wahrscheinlich kamendaher seine verzweifelten Versuche, Eindruck zu erwecken.„Das ist gut. Das gefällt mir!“ mischte sich eine weitereStimme ein, tiefer als die des Ordenskriegers und mit brei-

tem Akzent. Die Äußerung entlockte Sealtainn einen wei-teren Seufzer. Instinktiv (an Intelligenz konnte es mangelsVorhandensein nicht liegen) hatte der albische Trampel dasZauberwort gefunden, das Brath ap Thrattan, den es durchein unergründliches Schicksal von Fuardain nach Alba ver-schlagen hatte, sofort auf seine Linie brachte. Eigentlichwaren es mehrere Zauberworte: schlagen, hauen, kämpfen,hacken... der Fuardwyn war da nicht sehr anspruchsvoll.

„Einsatztroß Nordalba fertig zum ... äh ... Einsatz“, drangdie Stimme von Oikon Thalasykos in Sealtainns Gedan-ken. Ach ja... Der chryseische Heiler war der einzige An-gehörige des „Trosses“, der tatsächlich an den Ordenskrie-ger als Anführer glaubte, aus welchen Gründen auch im-mer. Immerhin kannte er sich ganz gut in den heilendenKünsten aus, und es war immer nützlich, einen Heiler imGepäck zu haben, auch wenn er sonst zu wenig taugte. Siewaren schon ein seltsamer Trupp, dachte sich Sealtainn,aber was tut man nicht alles.... „Hier drin werden wir dieVerantwortlichen für all die finsteren Aktionen finden, diein den letzten Wochen die treuen Albai an der Grenze be-unruhigt haben und die finsteren Twynnedin zu Überfällenungeahnter Grausamkeit angestachelt haben!“ begann deSoël seine übliche, erfahrungsgemäß mehrere Minuten an-haltende Rede. Wer immer in diesen Höhlen auf sie warte-te, konnte in dieser Zeit bequem seine Verteidigung planen- falls er die kleine Gruppe nicht ohnehin für ungefährlichhielt, was ihm Sealtainn nicht verdenken konnte.

„... und wir werden dafür sorgen, daß dem Glauben andie Dheis Albi auch hier zu seinem gerechten Recht ver-holfen wird ...“ Die junge Erainnerin sah sich um. WährendOikon mit glühenden Augen der Rede folgte, unterdrückteHawrlynn mit Mühe ein Gähnen. Brath ap Thrattan hinge-gen trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, wohl be-gierig darauf, endlich etwas vor die Axt zu bekommen.Männer! Sie waren so einfach. Sealtainn sah den „Plan“bereits vor ihrem geistigen Auge: Rowan und Brath wür-den die Höhle stürmen, der Ordenskrieger zuerst, der Bar-bar dahinter, und würden auf den ersten Gegner fiebern,dem sie Respekt vor den albischen Göttern beibringen bzw.an dem sie ihre Kampfeslust auslassen konnten. Sealtainnund Hawrlynn würden sich bemühen, sich möglichst ausKämpfen herauszuhalten und nach Rückzugsmöglichkei-ten für den unvermeidlichen Notfall umzusehen, währendOikons einzige Aufgabe während dieses Teils der Aktionwar, seine Tinkturen und Bandagen so griffbereit zu haben,daß er sie möglichst schnell einsetzen konnte. So gesehen,waren sie eine eingespielte Truppe, wenngleich auch inanderer als der von Rowan gewünschten (und geforderten)Hinsicht.

Ein schmetterndes „Xan le volt!“ riß Sealtainn aus ihrenGedanken. Der traditionelle Schlachtruf des Sonnenordensbedeutete, daß Rowan seine Rede beendet hatte und nunwillens war, die Feinde der albischen Götter mit Stumpfund Stiel auszurotten. Sealtainn seufzte erneut. Mal sehen

Page 8: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

8

wann er es merkte... Es war ja schon richtig, daß es wohlgeheimnisvolle Personen geben mußte, die die Grenzstrei-tigkeiten zwischen den Albai und den Twynnedin verschär-fen wollten, aus welchem Grund auch immer - Personen,die sie seit Wochen suchten, aber nicht finden konnten, wohlweil die Gesuchten zu klug für ein einfaches Gemüt wiedas des Rowan de Soël waren. Es war auch durchaus rich-tig, daß Rowan dachte, sie würden in dieser Höhle eine Spurdieser Aufwiegler finden. Alle dachten das. Leider stimm-te es nicht.

Zwei Wochen, bevor sie das Grenzdorf Hügelstolz (daseigentlich gar nicht so hieß, aber wen störte das), das ihrederzeitige Ausgangsbasis bildete, erreicht hatten, war Seal-tainn mit dem Händler Ceobhainn, einem Landsmann, insGespräch gekommen. Der reisende Händler hatte ihr, imAustausch zu Informationen über ihre bisherigen Reisen,ein altes Pergament mit der Geschichte einer alten, zauber-kräftigen Elfenlaute überlassen, das angeblich vor mehre-ren hundert Jahren von einem albischen Waldläufer verfaßtworden war: Kuinalindale, von der die Druiden aufgrundjahrhundertealter Überlieferungen munkelten, daß sie mitihrer Trägerin hier irgendwo in der Gegend verschollengegangen sei. Man munkelte zudem, daß es ein dûnathi-scher Druide gewesen sei, der den letzten Kontakt zu die-ser Elfin gehabt hätte. Die Beschreibung des Orts war halb-wegs deutlich gewesen, und der Gedanke an ein altes, inhöchstem Maße magisches Instrument hatte Sealtainns In-teresse natürlich sofort geweckt.

Es war der Bardin nicht weiter schwer gefallen, den ein-fältigen Ordenskrieger so zu steuern, daß er schon bald daranglaubte, in dieser Höhle auf die Drahtzieher der Verschwö-rung zu stoßen, die sich zumindest in seinem Kopf festge-setzt hatte. Natürlich hatte Sealtainn mit keinem Wort ver-raten, was - und wer - die kleine Gruppe eigentlich zu die-ser Höhle geführt hatte. Sie vertraute völlig darauf, daß ihrCharme und ihre Überredungskunst ausreichen würden,nach Auffinden der Laute den Ordenskrieger zu besänfti-gen und ihm klarzumachen, daß eine Elfenlaute doch si-cherlich auch ein sehr schönes Ergebnis einer Expeditionwäre - ganz davon zu schweigen, daß die Suche nach einerLaute sicherlich wesentlich ungefährlicher war als die nachAgenten dunkler Mächte, wobei letztere Argumentation sichdem Ordenskrieger in der Einfachheit seiner geistigen Wegesicherlich nicht erschließen würde.

* * *

Eine Stunde später hatte sich die Freude der meisten Be-teiligten am Eindringen in dieses Höhlensystem deutlichgelegt. Sie hatten eine Reihe leerer Kammern durchquert,aber keine Spur von finsteren Agenten (oder einer Elfen-laute) entdeckt. Am spannendsten war noch eine Höhlevoller schlafender Fledermäuse gewesen, die sie aber schnellwieder verlassen hatten, da Rowan und Brath Fledermäusenicht als würdige Gegner ansahen, Sealtainn und Oikon hin-

gegen Fledermäuse als eklig empfanden. Hawrlynn hattesich wie üblich nicht geäußert. Allerdings hatte Maorwonin den vorderen Höhlen erstaunlich oft verweilt und gewit-tert, ohne daß dies allerdings zu greifbaren Ergebnissengeführt hätte.

Also waren sie weitergezogen, tiefer in das Höhleninne-re hinein. Nach einiger Zeit führte ein gewundener Gangsie in einen großen Höhlenraum, der sich weiter erstreckte,als das Licht ihrer Fackeln reichte. In dieser Halle roch esstreng, wie nach einer großen Echse, wie Oikon scheu be-merkte, woraufhin Rowan den Geruch kurzerhand als deneines Drachens einstufte und das Untier mit schallenderStimme herausforderte. Und tatsächlich regte sich kurz dar-auf aus der Dunkelheit eine Bewegung, begleitet von schlür-fenden Geräuschen und einer Zunahme der Ausdünstun-gen. Schließlich schälte sich eine große, sehr große Gestaltaus der Dunkelheit, ein formloses Ding, lang und unför-mig, mit einem großen Maul und noch größeren Zähnendarin. Während Rowan und, nach einer kurzen Bedenkzeit,auch Brath das Ding ohne Zögern angriffen, kündetenWürgegeräusche von hinten davon, daß mit Oikon in die-sem Kampf nicht zu rechnen sein würde. Hawrlynn, bleichim Gesicht, murmelte etwas wie „Da gehe ich nicht hin!“und wandte sich ab. Sealtainn hingegen sah gebannt densich entwickelnden Geschehnissen zu.

Unfähig, sich zu bewegen, beobachtet sie, wie Rowanund Brath über das große, schwerfällige Wesen herfallenund mit ihren Waffen auf es einschlagen, langsam, Schlagfür Schlag deutlich zu sehen, als verliefe die Zeit langsa-mer. Grünliches Blut spritzt aus den Wunden des Wesens,das sich mit der Zeit als eine Art großer, weißlicher Wurmmit vier kurzen Beinen entpuppt. Plötzlich, nahezu unver-mittelt, schließen sich seine Zähne mit den Schild des Or-denskriegers, und das starke Gebiß des Wesens zertrüm-mert den Schild. Nur mit Mühe kann Rowan seine Handretten, wobei Brath ihm mit einem kraftvollen Schlag derbeidhändig geführten Axt zu Hilfe kommt. Blut spritzt wie-der, diesmal rotes, menschliches. Letztlich beginnt derWurm, aus mehreren Wunden blutend, einen Rückzug nachhinten, hinaus aus dem Licht der Fackeln und zurück in dieDunkelheit. Als die beiden kampfestrunkenen Männer, beideebenfalls mit zahlreichen Blessuren bedeckt, ihm folgen-den wollen, entläßt er aus dem Maul eine heiße, dampfen-de Wolke, vor der die beiden Krieger zurückweichen.

In einer großzügigen Geste ließ der Ordenskrieger dengeschlagenen Feind ziehen und versammelte stolz seineTruppen um sich. Nur mühsam erwachte Sealtainn aus derStarre, aus dem Bann des Geschehenen. Auch Hawrlynnwar wieder da, Maorwon im Arm, als sei nichts gewesen,ihr Gesichtsausdruck unergründlich wie immer. Einzig Oi-kons bleiches Gesicht, und die Wunden der beiden Kämp-fer, zeugten noch von den Ereignissen, die gerade stattge-funden hatten. Oikon, dem seine Reaktion im Angesichtder Gefahr hochnotpeinlich war, machte sich sofort an die

Page 9: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

9

Behandlung der Wunden Rowans und Braths. Fachmännischversorgte er die Blessuren und renkte Rowans Schulterge-lenk wieder ein, das beim Verlust seines Schilds in Mitlei-denschaft gezogen worden war. Den Rat des Heilers, nunaber besser nach Hügelstolz zurückzukehren, um die Wun-den in Ruhe ausheilen zu lassen, ignorierte der Ordenskrie-ger erwartungsgemäß, und Sealtainn war ihm diesmal da-für sogar dankbar: Noch hatten sie die Laute ja nicht gefun-den!

Nachdem Rowan seinen kleinen Trupp wieder um sichgeschart hatte, ließ er tiefer in das Höhlensystem vordrin-gen. Sealtainn merkte stillschweigend an, daß er trotz derSchmerzen, die er nach dem Kampf mit dem weißen Wurmsicherlich empfinden mußte, nach wie vor einen unbeugsa-men, gleichsam heroischen Eindruck machte, was aber auchschlicht männliches Imponiergehabe sein konnte. Und soging es weiter, durch die große Höhle hindurch und durcheinen schmalen, sich windenden Gang auf der anderen Sei-te weiter nach unten. Nach mehreren dutzend Schritten gingdieser Gang in eine Höhle über, die Rowan de Soël wieüblich furchtlos betrat - und dann geschah es:

Wiederum nimmt Sealtainn alles nur sehr langsam wahr,fast so, als würde die Zeit stillstehen: Kaum hat der Or-denskrieger den Raum betreten, schlägt seinen Begleiternein Schwall heißer Luft entgegen, und ein heller Schein,wie der von Feuer, überstrahlt das Licht der Fackeln. Kurzdanach hört sie die Stimme des Ordenskriegers, voll ge-rechtem religiösen Zorn, voller Fanatismus: „Kreatur desBösen, ich werde dich mit dem heiligen Licht des Xan zer-schmettern! Du wirst deinem gerechten Schicksal nicht ent-gehen!“ Während Brath ap Thrattan mit einem lauten Schreinach vorne stürmt, ergießt sich aus der Höhle eine neueHitze- und Lichtwelle, heißer und heller noch, heiß genug,um den Barbaren mitten im Lauf aufzuhalten. WährendHawrlynn sich hinter einem Felsen zu verstecken versucht,steht Oikon starr dar, den Mund zu einem lautlosen Schreigeöffnet, mit einer Hand nach vorne deutend. Sealtainnschreit auch, glaubt sie, doch sicher ist sie nicht. Direktneben Hawrlynn taucht plötzlich eine Katze auf, rotbraun,übernatürlich deutlich zu erkennen; mit großen, schnellenSprüngen flieht sie, rennt weg von dem Ort des plötzlichenFeuerballs.

So schnell er gekommen war, so schnell verschwand derFeuerball auch wieder. Zurück blieben vier verunsicherteAbenteurer, plötzlich ihres Anführers beraubt, bar jedenMuts, nochmals in die verfluchte Höhle vorzudringen undnach Rowan de Soël zu suchen. Nach einigen halbherzigenZurufen in das wieder eingekehrte Dunkel hinein, die keinErgebnis erbrachten, beschlossen sie einmütig die Rück-kehr nach Hügelstolz, in der vagen Hoffnung, doch Hilfezu erhalten oder zumindest auf gute Ideen zu kommen.

* * *

Rowan de Soël war bester Dinge, als er seinen Fuß in dieHöhle setzte. Nach einem schwachen Beginn hatte sich derVorstoß in diese Höhlen als Glücksgriff seinerseits erwie-sen. Wieder einmal hatte sich seine überlegene Sicht derDinge durchgesetzt, hatte er seine teils unwilligen Beglei-ter zu einer glorreichen Schlacht geführt. Der weiße Wurmwar ein würdiger Gegner gewesen, der seinen Ruhm beiXan deutlich vermehrt hatte. Zu zweit hatten sie dem Un-tier getrotzt und es schließlich in die Flucht geschlagen. Eszu verfolgen und endgültig zu töten, war unnötig gewesen:Es hatte die Überlegenheit des albischen Glaubens aner-kannt und würde sie nicht wieder belästigen. So konnte esweitergehen! Immerhin mußten sich hier noch die Verschwö-rer aufhalten, deretwegen er seinen Troß überhaupt erst indiese Höhlen geführt hatte. Von daher war seine nächsteEntscheidung klar: Der schmale, nach unten führende Gangmußte es sein! Es waren immer die schmalen, nach untenführenden Gänge, in denen sich die Finsterlinge versteck-ten. Wie berechenbar das Böse doch war!

Kaum hatte er die Höhle betreten, schlug ihm ein heißerSchwall Luft entgegen, und vor ihm begann es zu flimmern.Innerhalb weniger Sekunden schälte sich ein etwa zweiMeter großes, entfernt menschenähnliches, aber stark grob-schlächtiges Wesen aus der Luft, das von einem dunkel-grauen Schuppenpanzer überzogen war und eine gefähr-lich aussehende Hellebarde mit gezähnter Klinge in beidenHänden hielt. Im gleichen Moment durchzog ein hellerLichtschein die Höhle, und die Haut des Wesens brach inFlammen aus. Die Monstrosität richtete rotglühende Au-gen auf den Ordenskrieger, und in seinem Kopf erklang eineStimme, laut und fordernd, finster und unheilverkündend:Ich bin der Wächter dieses Raumes. Niemand darf an mirvorbeikommen und die jenseitige Höhle betreten. Fliehenun oder stirb!

Was bildete sich diese Kreatur des Bösen ein? Er war einOrdenskrieger des Xan, des Sonnenordens, der stärkstenKraft für das Licht in der Welt! Von gerechtem Zorn regel-recht übermannt, brach es aus ihm heraus: „Kreatur desBösen, ich werde dich mit dem heiligen Licht des Xan zer-schmettern! Du wirst deinem gerechten Schicksal nicht ent-gehen!“ Das Schwert fest in der Hand, drang er auf dieKreatur ein. Die Antwort des Finsterwesens bestand in ei-ner Feuerexplosion, die Rowan einhüllte, ihn versengte, ihmden Atem nahm. Er spürte kaum, wie die schwere Helle-barde in ihn eindrang und Knochen brachen, spürte kaum,wie er zu Boden stürzte und das Schwert verlor. Mit letzterKraft raffte er sich noch einmal auf, tastete nach demSchwert, ergriff es mühevoll und taumelte durch Feuer undRauch seinem Gegner entgegen. Plötzlich tat sich ein Ab-grund unter ihm auf, und ein siedender Schmerz löschtesein Bewußtsein aus.

Page 10: Die Lange Nacht Der Strahlenden Stimme

10

* * *

Als er erwachte, empfand er immer noch Schmerzen,hauptsächlich in seinem linken Bein. Mühsam richtete ersich auf, versuchte, sich zu orientieren. Stechende Schmer-zen aus dem Bein ließen ihn zu dem Schluß kommen, daßes wohl gebrochen war. Er hatte Durst. Möglicherweise warer längere Zeit bewußtlos gewesen. Seine Umgebung wardunkel, abgesehen von einem leichten Schimmer, der voneinem anderen Teil des Raums auszugehen schien. Mit denHänden tastete er auf dem Boden umher, bis er seine Be-sitztümer wiederfand, zuerst das Schwert, danach den Ruck-sack. Nach einigen Versuchen gelang es ihm schließlich,eine Fackel abzuschnallen, den Rucksack zu öffnen, Feu-erstein und Zunder zu finden und zu entzünden und danacheine einfache Mahlzeit aus Wasser und Trockenfleisch zusich zu nehmen. Erst dann begann er, über seine Umge-bung nachzudenken.

Die Erinnerungen kehrten nur zögernd zurück. Er warmit seinem Troß in ein Höhlensystem eingedrungen, in demer die Hintermänner der geheimnisvollen Unruhen an derGrenze ausgemacht hatte. Sie hatten einen großen, weißenWurm bekämpft, und dann hatte er sich heldenhaft demFlammendämon gestellt. Danach erinnerte er sich an nichtsmehr. Soviel zur Vergangenheit. Langsam schwenkte er dieFackel umher, soweit es die Schmerzen in seinem Bein zu-ließen. Er lag am Boden einer in etwa kreisrunden Höhle.Direkt vor ihm erhob sich eine Felswand von etwa andert-halb Metern Höhe. Ob darüber eine Nische war oder viel-leicht ein Gang, konnte er von seiner Position aus nicht er-kennen. In der anderen Richtung war die Höhle leer, abge-sehen von der Stelle, von der der silberne Schein ausging.Mühsam und unter großen Schmerzen drehte er seinenKörper in diese Richtung, um besser sehen zu können.

Als er sich umgedreht hatte, mußte er erst einmal schluk-ken: Der Lichtschein ging von den matt schimmernden Sai-ten eines Musikinstruments aus, einer Laute wohl, das sichfest in der knochigen Hand eines kleinen, zierlichen Ske-letts befand, das an der Wand der Höhle saß. Sofort abergewann seine Ordenskrieger-Schulung wieder die Ober-hand. Es gab nichts, das er von einem Skelett zu fürchtenhatte, auch nicht von einem, das eine schimmernde Lautein der Hand hielt. Gar nichts. Also packte er sein Schwertund begann, in Richtung des Skeletts zu kriechen. Als ersich in langsamen, qualvollen Bewegungen diesem auf etwaeinen Meter genähert hatte, ging eine erstaunliche Verwand-lung mit den Überresten des unbekannten Lebewesens vor:Aus den Knochen erhob sich, einer Erscheinung gleich, dasBild einer Elfin, zeitlos und schön, aber doch von einerumfassenden Traurigkeit geplagt. Das leicht durchscheinen-

de Abbild der Elfin wandte sich ihm zu und sah ihn mitdunklen, ausdrucksstarken Augen an. Wer bist du, daß duKuinalindale an dich nehmen willst? klang eine Stimme inseinem Kopf auf.

„Wie bitte?“ antwortete Rowan verständnislos, mit einemungläubigen Unterton in der Stimme. Geduldig wiederhol-te die geisterhafte Erscheinung ihre Frage. Schließlich ent-schied sich Rowan de Soël, Ordenskrieger des Sonnenor-dens aus Tidford, zu einer angemessenen Erwiderung undrichtete sich würdevoll auf, soweit es die Schmerzen zulie-ßen: „Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich will gar kein ...Kuinaldi an mich nehmen. - Bist du eine Kreatur der Fin-sternis? Sprich!“ Ermattet von der Anstrengung, aber stolzauf seine Entschlossenheit und Tapferkeit, sank er wiederauf den Boden, das Schwert immer noch in der Hand. Stattder erwarteten Bekenntnis der Kreatur erklang ein Seufzenin Rowans Kopf. Ich sehe, daß du nicht würdig bist,Kuinalindale zu erhalten. So sei es denn. Damit begann dieElfengestalt, langsam zu verblassen, bis schließlich nur nochdas Skelett mit der von seinen knöchrigen Fingern umklam-merten Laute zu sehen war. „Hallo?“ rief Rowan verwun-dert. „Was soll denn das? Stell’ dich und kämpfe, wenn dueine Kreatur der Finsternis bist!“ Als keine Antwort kam,versuchte er es etwas diplomatischer mit: „Heh! Wenn duschon eine Bardin bist, dann spiele mir wenigstens ein net-tes Lied zur Ablenkung!“ Als wieder keine Reaktion er-folgte, gab Rowan einstweilen auf und widmete sich derErforschung des Rests der Höhle.

Schon bald gelang es ihm, sich die Tatsachen zusammen-zureimen. Da er keinen weiteren Ausgang fand, lag derSchluß nahe, daß der die Höhle durch einen Gang jenseitsder anderthalb Meter hohen Felswand betreten haben muß-te. Vermutlich war er in der durch den Rauch und die Flam-men hervorgerufenen Verwirrung in die falsche Richtunggegangen und gestürzt, was zu seinem Beinbruch geführthatte. Wie peinlich. Hoffentlich erfuhr das niemand. Wasdas Skelett und die Erscheinung hier zu suchen hatten, ver-mochte er zwar nicht zu sagen; aber nichtsdestotrotz hattensie ihn auf eine Idee gebracht. Mühsam näherte er sich er-neut dem Skelett, und als die Erscheinung erneut auftauch-te und nach dem unverständlichen Gegenstand fragte, er-widerte er: „Ich bin Rowan de Soël, Ritter des Sonnenor-dens, und ich habe im Kampf gegen die Mächte der Fin-sternis eine schwere Verwundung davongetragen. KannstDu mich heilen?“ Leider war die Antwort ein knappes Nein!,und so machte es sich Rowan de Soël auf dem Höhlenbo-den bequem und wartete auf das Erscheinen seines Tros-ses, der ja wohl nicht allzu lange mit dem Kampf gegen denFlammendämon beschäftigt sein durfte und ihn sicherlichbald holen kommen würde...