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Yves Baer das Kapitänsschiff & weitere inspirierende Geschichten 025.12132.1 Die Erde unter seinen Füssen war so wunderschön. So blau. So verletzlich. So klein. Das Licht vor ihm und all die weissen Punkte der Sterne, alles funkelte so unglaublich klar, als ob es kleine Edelsteine wären… Fortsetzung in «Apophis» – Meister Steiger ermielt nicht. Ladina Derungs auch nicht, findet aber fünfzig Jahre alte Liebes- briefe. Inspektor Klies kämpſt mit seinem Drucker und Kommander Petrus wird zu einem Weltraumspaziergang eingeladen. Das sind nur vier der träfen Passagiere auf dem Kapitäns- schiff. Die Einen finden Yves Baers neue Kurzgeschichten spannend, den Anderen zaubern sie ein glückliches Lächeln auf die Lippen. Wir wissen nur, dass Yves Baer zu einer litera- rischen Kreuzfahrt von Davos über Zürich zum Garten Eden einlädt. Jean-Pierre Hugentobler über «das Kapitänsschiff»

Kapitänsschiff

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«Die Erde unter seinen Füssen war so wunderschön. So blau. So verletzlich. So klein. Das Licht vor ihm und all die weissen Punkte der Sterne, alles funkelte so unglaublich klar, als ob es kleine Edelsteine wären… – Fortsetzung in «Apophis» –» Meister Steiger ermittelt nicht. Ladina Derungs auch nicht, findet aber fünfzig Jahre alte Liebesbriefe. Inspektor Klies kämpft mit seinem Drucker und Kommander Petrus wird zu einem Weltraumspaziergang eingeladen. Das sind nur vier der träfen Passagiere auf dem Kapitänsschiff. Die Einen finden Yves Baers neue Kurzgeschichten spannend, den Anderen zaubern sie ein glückliches Lächeln auf die Lippen. Wir wissen nur, dass Yves Baer zu einer literarischen Kreuzfahrt von Davos über Zürich zum Garten Eden einlädt. Jean-Pierre Hugentobler über «das Kapitänsschiff»

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Page 1: Kapitänsschiff

Yves Baerdas Kapitänsschiff

& weitere inspirierende Geschichten

025.12132.1

Die Erde unter seinen Füssen war so wunderschön. So blau. So verletzlich. So klein. Das Licht vor ihm und all die weissen Punkte der Sterne, alles funkelte so unglaublich klar, als ob es kleine Edelsteine wären… – Fortsetzung in «Apophis» –

Meister Steiger ermittelt nicht. Ladina Derungs auch nicht, findet aber fünfzig Jahre alte Liebes-briefe. Inspektor Klies kämpft mit seinem Drucker und Kommander Petrus wird zu einem Weltraumspaziergang eingeladen. Das sind nur vier der träfen Passagiere auf dem Kapitäns-schiff. Die Einen finden Yves Baers neue Kurzgeschichten spannend, den Anderen zaubern sie ein glückliches Lächeln auf die Lippen. Wir wissen nur, dass Yves Baer zu einer litera-rischen Kreuzfahrt von Davos über Zürich zum Garten Eden einlädt.

Jean-Pierre Hugentobler über «das Kapitänsschiff»

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Yves Baerdas Kapitänsschiff & weitere inspirierende Geschichten

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InhaltMeister Steiger ermittelt… nicht 6die Buchst ben sind los 12Anzeige 14 Apophis 20Porto Vecchio 31Kapitänsschiff 32 Morgenlachen 34

Standing in the hallof the great cathedralwaiting for the transport to come: Starship 21ZNA9.

A good friend of mine studies the stars.Venus and Mars are alright tonight.

Paul McCartney: «Venus & Mars (Reprise)»; 1975

im Press, um…Titelbild: «Segelschiffe an der Küste» von Utagawa Hiroshige (1797–1858) die Katze und das Flöten spielende Kind sind von Katsushika Hokusai (1760–1849)Alle Texte: Yves Baer © 2005–2013 VzfB«Venus & Mars (Reprise)» © 1975 MPL Productions Ltd/Inc, erhältlich auf «Venus And Mars».

Dank an Rolf Bachmann von «Printoset» für das Umschlagpapier (Z Offset) und«toolbox Design & Kommunikation GmbH» für den Drucker (Canon).

Jegliche Weiterverwendung und Publikation darf nur mit der schriftlichen Genehmigung des Verlages geschehen.Yves Bær’s Verlag zum frœhlichen Bæren VzfBRiedhofstrasse 60, CH-8049 Zürichwww.vzfb.ch | © dieses Heftes 2013

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Nachdem er an einer Schreinerei vorbei gegangen war, hielt Meister Steiger einen Moment inne und blickte über eine saftig bunte Blumenwiese zu den drei hölzernen Speichern hinü-ber, die dunkel am Rand der Terrasse thronten, auf der Monstein errichtet worden war. Die Speicher waren das Wahrzeichen des Dorfers, ihr Dach war mit Holzschindeln gedeckt. Meister Steiger liess seinen Blick über die Speicher hinweg das Landwassertal hinab schwei-fen. Er zündete sich dabei einen «Villiger Kiel» an, den traditionsreichen Schweizer Stum-pen mit entenschnabelförmigen Mundstück, den bereits Albert Einstein in Bern während der Formulierung der Relativitätstheorie geraucht hatte. Zufrieden paffend setzte Meister Steiger seinen Spaziergang fort und fragte sich, ob sich Albert Einstein nach der Erkenntnis von E = MC₂ auf der Bundeshausterrasse einen «Villiger Kiel» mit Blick über die nahen Berner Alpen gegönnt hatte. Meister Steiger winkte einer Frau, die in ihrem Garten Unkraut jätete, zu. Über den Gartenhag lächelte ihn eine grosse Blaudistel blausilbrig an. Er folgte dem Weg durchs Unterdorf zwischen alten, dunkeln und windschiefen Holzhäusern hindurch, der eine s-förmige Kurve nahm und unter dem Balkon von Ladina Derungs Haus hindurchführ-te, ehe er die Hauptstrasse erreichte. Meister Steiger blickte zum Balkon hoch und zog an sei-nem Stumpen. Am Geländer hingen Geranienkisten aus Eternit, eine neben der anderen. Nichts wies auf die Tragödie hin, die sich vor wenigen Wochen ereignet hatte.

Ladina Derungs war eine zierliche, alte Frau, die ihr langes, weisses Haar zu einem Bürzi ge-knotet hatte. Über ihrem dunkelblauen Leinenrock trug sie eine verwaschene rote Schürze. Ladina Derungs bat Meister Steiger in die Stube. Seinen Sommerblumenstrauss stellte sie in einer Steingutvase auf den Sims des Küchenfensters und servierte danach Apfelkuchen nach dem Rezept ihrer Urgrossmutter, während sich ihre Kaffeemaschine, für die halb Hollywood zu werben schien, blinkend aufheizte. Sie wirke keineswegs verbittert, dachte Meister Steiger, als er ihr zum Tod von Christian kondolierte. Sein Tod war überraschend gekommen, das wäre doch besser, als lange krank zu sein, sagte Ladina Derungs bloss. Ob sie eine Ahnung habe, weshalb sich die Geranienkiste gelöst hätte, erkundigte er sich. Sie schüttelte den Kopf. Danach wechselten sie das Thema. Es waren einige Jahre vergangen, seit Meister Steiger zum 6 7

Meister Steiger ermittelt… nichtMeister Steiger parkierte seinen dreissigjährigen Volvo 240 Kombi auf dem Parkplatz beim Dorfeingang von Davos Monstein. Nun spazierte er mit einem Blumenstrauss in der Hand auf dem Hofweg zwischen drei prächtigen Holzhäusern mit bunten Blumengärten hin-durch. Beim rechten Haus befand sich ein Schweinegehege neben dem Stall. Auf der linken Strassenseite spielten fünf Kinder im Garten. Der Jüngste, ein blonder Knirps auf einem Drei-rad, schaute mit grossen Augen Meister Steiger an und wusste nicht, ob er lächeln sollte.«Grüezi?!», sagte das älteste Mädchen mit blonden Zöpfen.«Sali mitenand!», antwortete Meister Steiger lächelnd und ging weiter. Vor dem dritten Haus plätscherte ein kleiner Brunnen in der Wiese, vor dem Haus trocknete bunte Bettwäsche auf einem Stewi, der Gartensitzplatz war aber leer. Meister Steiger trug eine schwarze Hose und einen schwarzen Tschopen, dazu passend ein weisses Hemd. Für sein Alter sah er noch im-mer gut aus, seine dunklen Augen strahlten warm aus seinem rundlichen Gesicht, lediglich sein Schnauz begann zu ergrauen. Sein volles Haar war mit der Zeit schütter geworden – das käme vom vielen Nachdenken, pflegte er jeweils zu sagen. Vor zehn Jahren war er pensioniert worden. Seither widmete er sich ganz seinem Hobby, dem Aufklären von rätselhaften Krimi-nalfällen, die er, wenn er einmal Zeit dafür finden würde, aufschreiben und in einer Serie mit dem Titel «Meister Steiger ermittelt…» veröffentlichen wollte. Ein solcher Fall führte ihn heute nach Monstein, obwohl er auf seinem Spaziergang durch das Walserdorf noch nicht wusste, dass er wieder ein Rätsel würde lösen dürfen. Vor drei Tagen hatte er mit seinem alten Freund Hitsch Ambühl telefoniert, mit dem er in jüngeren Jahren zwei Mal den Sommer auf dessen Maiensäss auf der Inneralp verbracht hatte und anschliessend im Herbst jagend durch die Wälder der Davoser Seitentäler gepirscht war. Während ihres kürzlichen Telefonats waren sie auf ihre damaligen Jagdausflüge zu sprechen gekommen und Hitsch hatte vom tragischen Unfalltod ihres Jagdkameraden Christian Derungs berichtet, dem, als er sein Haus verlassen wollte, eine Geranienkiste vom Balkon auf den Kopf gefallen war. Christians Tod betrübte Meister Steiger sehr, weshalb er seiner Witwe Ladina einen Besuch abstatten wollte.

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«Ich kann es Ihnen beweisen! Kommen Sie!», sagte sie in einem Tonfall, der keinen Wider-spruch duldete.

Meister Steiger folgte der erbosten Witwe in die Stube zurück. Beim Stubentisch wartete er, bis sie mit einer alten Schuhschachtel aus einem anderen Zimmer zurückkam.«Hier sind die Briefe, die ihm dieses Luder geschrieben hatte!» Meister Steiger nahm einen Brief, worin mit geschwungener Handschrift verfasste Liebesschwüre standen. Die Hand-schrift hatte sich nicht stark von der Schweizer Schulschrift weiter entwickelt. Sie stammte von einer Frau, das konnte Meister Steiger an der feinen Art der Buchstaben feststellen. Der Brief war vor über fünfzig Jahren geschrieben worden.«Menga?», fragte er.«Menga Jenny! Aus Klosters. Sie unterrichtete während zwei Jahren in Frauenkirch und hat-te im Kirchenchor Sopran gesungen. Ich habe es immer geahnt, dass er etwas mit ihr gehabt hatte. Aber beweisen konnte ich nichts. Bis ich vor ein paar Wochen diese Briefe gefunden habe. Glauben Sie mir, ich habe nicht danach gesucht!»«Das ist alles schon sehr lange her…», sagte Meister Steiger naiv.«Und doch, als wäre es gestern gewesen! Ich war damals 26-jährig und mit Hans, unserem zweiten Kind, schwanger.»«Mich betrübt zu hören, dass er Sie damals im Stich gelassen hat.»«Das hat er nicht. Ich wünschte aber, dieser Calöri hätte es getan! In mehreren Briefen hatte sie ihn darum gebeten, sich scheiden zu lassen. Aber er wollte seine Kinder nicht verlassen. Das hat er mir auch gesagt, als ich ihn vor ein paar Wochen wegen diesen Briefen zur Rede gestellt habe. Trotz seiner harten Arbeit hatte Christian immer mit den Kindern gespielt, im Sommer Fussball und im Winter hatte er Schneemänner gebaut. Wie Sie vielleicht wissen, schneit es in Davos ausser im Winter mindestens einmal pro Monat… Die Kinder hätten keinen besseren Vater haben können.»

Meister Steiger kratzte seinen Schnauz. Das noch immer bittere Gift der jahrzehntealten Mi-8 9

letzten Mal mit Hitsch Ambühl, Christian Derungs und weiteren Davoser Kameraden auf der Jagd gewesen war. So stellte er Fragen über das Wohlergehen seiner Freunde und war nach einer Stunde, zwei Stück Kuchen und ebenso vielen Tassen Kaffee auf dem Laufenden. Zu-frieden fragte er, ob er auf den Balkon gehen dürfe. Er könne schon in der Wohnung rauchen, es würde sie nicht stören, sagte Ladina Derungs. Lächelnd winkte Meister Steiger ab, das wäre nicht der Grund, sondern er wolle nochmals die herrliche Aussicht geniessen, bevor er wieder nach Zürich fahren würde. Da habe er natürlich Recht, antworte sie lächelnd, er solle sich ruhig Zeit lassen und noch etwas gesunde Bergluft tanken. Sie würde unterdessen das Kaffeegeschirr abwaschen.

Meister Steiger erhob sich und trat, nachdem er die Türe geöffnet hatte, auf den Balkon. Er breitete seine Arme aus, streckte sich und atmete die frische Bergluft ein. Auch wenn Mon-stein vor hundert Jahren ein Kurhaus gehabt hatte, war Davos wegen des Spengler Cups, dem Weltwirtschaftsforum, den Pilzen im Sertigtal, den Kliniken am See und Thomas Manns Zau-berberg bekannt geworden. Meister Steiger schaute zum Silberberg hinüber, aus dessen Inne-ren vom 15. bis ins 19. Jahrhundert im Schmelzboden Erze gefördert worden waren. Er blickte über die dunklen Dächer der Nachbarhäuser auf die drei Speicher am Ende der Wiese, dann fiel ihm auf, dass eine Geranienkiste im Vergleich zu den anderen etwas verschoben war. Hier hatte also Christian Derungs Schicksal zu seinem tödlichen Schlag ausgeholt. Die Stahlträger der Eternitkisten waren derart massiv, dass sie nicht gebrochen sein konnten, dachte Meister Steiger und trat ans Geländer. Er bückte sich, um die solide Montageart der Kistchen zu be-trachten. «Er hat es verdient!», zischte Ladina Derungs. Meister Steiger glaubte, sich verhört zu haben und richtete sich auf. Er drehte sich um und sah sie zitternd in der Balkontüre stehen. «Wie bitte? Wer hat was verdient?», fragte er irritiert. «Er war ein Hurenbock!», sagte sie hasserfüllt und zornig. «Aber…», sagte er hilflos.

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wartete ein paar Minuten, während denen nichts weiter geschah, als dass er an seinem Stum-pen zog und etwas später den blaugrauen Rauch in die schattige Sommerluft ausatmete. Die Nachbarn hatten vom Vorfall nichts mitgekriegt und Ladina Derungs wollte sich offensichtlich nicht nach seinem Wohlergehen erkundigen. Bleiern legte sich die Stille eines abgelegenen Aussenpostens der höchstgelegenen Stadt Europas über die unheimliche Szenerie, die bloss durch das schwere Atmen Meister Steigers und von seinem Zigarrenqualm kontrastiert wurde.

Meister Steiger bückte sich, brach sich eine Geranienblüte ab, steckte sie sich in die Brustta-sche und folgte der Strasse durch das Unterdorf. Noch immer arbeitete die Frau im Gemüse-garten. Erneut winkte ihr Meister Steiger zu und freute sich an der schönen Blaudistel. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal ein ähnlich prächtiges Exemplar gesehen zu haben. Aus der Distel flog ein Zitronenfalterpärchen auf , das um seinen Zigarrenqualm tänzelte.«Eigentlich müsste ich die Polizei rufen», sagte er sich, als er den Schmetterlingen über die Wiese und die drei hölzernen Speicher hinweg in die Zügenschlucht nachblickte. «Aber La-dina Derungs ist genug bestraft. Das weiss sie selbst!»

Als er an der Schreinerei vorüberging, winkte er auch dem Schreiner zu, der vor dem Haus Bretter zersägte. Die Kinder spielten nicht mehr draussen, dafür klang Musik aus einem Fens-ter. «‹Meister Steiger ermittelt… nicht› – das wäre doch ein guter Titel für dieses Rätsel, das ich heute Nachmittag lösen durfte», sagte er, als er sich auf dem Parkplatz beim Dorfeingang von Monstein in seinen dreissigjährigen Volvo setzte, das Fenster hinunterkurbelte und mit Blick über die Zügenschlucht noch einmal kräftig an seinem Stumpen zog.

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schung aus ehelicher Untreue, verletzter Liebe, Betrug, Eifersucht und Hass machte ihn sprachlos.«Sie waren mit ihm zur Jagd. Wem haben sie damals nachgestellt?», fragte sie bloss.«Wir?», fragte Meister Steiger überrascht. «Wir haben niemandem nachgestellt. Wir waren nur am Wild, unserer Kameradschaft und dem Leben in der freien Natur interessiert.»«Als Männer habt ihr dabei sicher über Frauen gesprochen!»«Ich kann mich nicht daran erinnern, das ist schon eine Weile her. Aber wenn man mit fün-zig Jahren oder mehr noch etwas jagt, dann ist es das Wild, weil man einen frischen Hirsch-pfeffer mit einem schönen Glas Herrschäftler ebenso zu geniessen weiss wie die roten Freu-den einer prickelnden Affäre.»«Ich glaube Ihnen, Meister Steiger! Sie sind Hitschs Freund und waren bloss ein Jagdkame-rad von Christian. Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte sie nicht beleidigen. Aber ich kann Christian nicht vergeben, sein gemeiner Betrug trifft mich noch immer. Wie konnte er mich bloss betrügen, als ich schwanger war?»«Ich weiss es nicht», sagte Meister Steiger mitfühlend. «Und ich verstehe Sie.»

Eine Viertelstunde später verabschiedete sich Meister Steiger von Ladina Derungs. Einem Impuls folgend ging er nicht zur Hauptstrasse hoch, sondern nahm den Weg durchs Unter-dorf, den er gekommen war. Als er unter dem Balkon von Ladina Derungs hervortrat, krach-te neben ihm eine Geranienkiste zu Boden. Erschrocken sprang Meister Steiger zur Seite und verharrte einen Moment tief durchatmend. Er drehte sich um und blickte zum Balkon hoch. Es war ihm, als hätte er einen Schatten verschwinden sehen. «Hueresiech nomal!», entfuhr es Meister Steiger. «Das war knapp!» fügte er erschüttert an. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals hoch. Als er sich an die Brust fasste, um es zu beruhigen, spürte er die Packung «Villiger Kiel».Das ist jetzt genau das Richtige!», dachte er, entnahm ihr einen Stumpen und zündete ihn an. Rauchend blickte er auf die Eternitscherben sowie auf die mit feinen Wurzeln überzogenen, krampfaderigen Humusklumpen und die über den Weg verteilten Blumen. Meister Steiger # Textkatalog No 334; August 2005 & 30. März 2013

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13# Textkatalog No 583; 18. Oktober 2013

wirklich zufrieden w r niem nd. Und so beg nnen die Buchst ben, das in der weiten Welt der Wörter zu suchen. Sie f nden es schlussendlich n einer Str ndb r n der Croisette bei einem eisgekühlten Rosé. Es h tte genug von seinem llt g und w r in die Ferien verreist.

die Buchst ben sind los«Wo ist das ?», riefen die Buchst ben aufgeregt. m Morgen, n chdem der Wecker geklin-gelt h tte, war es nicht mehr d . Es w r über N cht verschwunden, ohne eine N chricht hin-terl ssen zu h ben. m bend h tten sich die Buchst ben ls lph bet schl fen gelegt, nun fehlte das , ihr nführer. «Eine K t strophe!», bef nden die Buchst ben. Nur d s B d chte, mit seinem breiten Rü-cken besser als nführer im lph bet geeignet zu sein. Die Proteste der übrigen Buchst ben, d ss sie nur noch ein Bet wären, liess das B nicht gelten, sondern b t die Buchst ben, sich neue Worte uszudenken, in denen das nicht vorkommen würde. «Ich weiss eines!», rief das D.«Ich uch!», hielt das F entgegen.«Blödsinn!», m chte sich das G mit seiner ussage breit: «Nur ich weiss eines!»« ufschneider!», spr ch das K, sekundiert vom L, M und N. «O, o!», seufzte d s O: «Oh, oh, oh!», stimmte das H ins Wehklagen mitein.«W s soll’s?», entgegnete das W. «Das ist verschwunden? Mir gefällt die Idee eines Bets. Der ndere w r sowieso eine schräge Type… L sst uns endlich eine Reihenfolge finden, die uns entspricht!»«Yupee!», unterstützte das Y d s Votum.«Nun hört schon uf !», murrte d s Z. Wir sind nun m l nicht perfekt gesch ffen. Sondern

ls schräge Typen im BC. ndere nennen uns uch –Z. H bt ihr euch schon überlegt, w s unserer Spr che fehlt, wenn das nicht mehr vorh nden ist?»«Eine g nze Menge», s gte das E.«Ou l` l`», versuchten sich d s O und U auf Fr nzösisch und resignierten, weil es nicht so gut kl ng, wie sie es sich vorgestellt hatten.«D h bt ihrs!», rief d s Z wütend. Es wollte keinesf lls seinen gemütlichen Pl tz m Ende des lph bets ufgeben. «Geht, und sucht das !», bef hl es. Die Buchst ben stritten sich noch l nge, ob nun d s B oder d s Z Recht h tte. Viele neue Wörter, die ohne d s gebildet werden konnten, entst nden durch dieses Ch os. Doch 12

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«Sie arbeiten im Schalter?», hakte der Mann nach.«Ach so! Nein, hier drin ist nur der Drucker. Moderne Technik! Sie wissen schon: Macht mehr Faxen als ein Clown und ist nicht halb so lustig!»«Ich verstehe», sagt der Mann.«Papierstau!», sagte Inspektor Klies bedeutungsvoll.«Alles klar, Papierstau», sagte der Mann aufrichtig mitfühlend.«Genau, Papierstau. Fetzen haben sich in den innersten Eingeweiden des Druckers ver-schlauft», sagte Klies und fragte hoffnungsvoll: «Sind Sie der Monteur?»«Nein, ich bedaure. Sollte ich?»«Ja… Ich meine nein! Was möchten Sie denn hier?»«Anzeige erstatten.»«Anzeige erstatten?»«Anzeige erstatten. Das hier ist doch ein Polizeiposten?», fragte der Mann leicht verwirrt. «Ja, natürlich, sicher kein Reklamebüro! Eine Anzeige also…», sagte Klies. «Einen Moment bitte.» Er trat zum rothaarigen Polizisten hin. Dieser hielt ihm bereits Block und Bleistift ent-gegen. Inspektor Klies kehrte zum Schalter zurück, legte sich den Block bereit und setzte den Bleistift an.«Ihren Namen… Das darf doch nicht wahr sein!» Verärgert stellte er fest, dass die Bleistift-spitze abgebrochen war. «Ich muss Sie nochmals um einen Moment Geduld bitten!», sagte er und zeigte dem Mann den Bleistift. «Auch Technik! Bloss nicht so modern!», knurrte er, als er wieder zum rothaarigen Polizisten ging und ihm den Bleistift auf den Schreibtisch knallte. Seufzend griff sich der Rothaarige in die linke Brusttasche und entnahm ihr einen Kugelschreiber. Inspektor Klies kehrte zum Schalter zurück, testete, ob der Kugelschreiber schrieb und blickte danach den Mann fragend an.«Können Sie mir bitte helfen? Wo waren wir stehen geblieben?», fragte er.«Bei meinem Namen», sagte der Mann.«Genau, bei ihrem Namen. Als ob der so wichtig wäre, Sie haben sicher ein dringenderes An-liegen, als mir Ihren Namen zu nennen.»14 15

AnzeigeEin Mann betrat einen Polizeiposten. Etwas eingeschüchtert von der Staatsgewalt blickte er um sich. Vielleicht war es aber auch nur die triste graue Stimmung, die ihn bedrückte. Im hin-teren Teil des Raumes sassen zwei Beamte. Der Linke hatte eine Glatze und drehte dem Herrn den Rücken zu. Er war etwas älter als der Rechte, der rothaarig war und einen Schnurr-bart trug. Der Mann sah ihn im Profil. Der Glatzkopf tippte einen Rapport, der Rotschopf ass ein Schinkensandwich. Neben seinem Computer stand ein Bild, das ihn auf einem weissen Pferd zeigte. Als ob er vom Amtsschimmel getreten worden wäre, trat der Mann, er hatte braunes Haar, trug eine Hornbrille, einen grauen Anzug und einen beigen Trenchcoat, an den Schalter und wieherte. – Er räusperte sich natürlich. «Wusst’ich’s doch! Na warte, am Ende kriege ich dich noch!», donnerte eine Stimme aus dem Schalter. Der Glatzkopf sagte laut und ohne mit dem Tippen aufzuhören: «Johnny!» und zeigte mit seiner rechten Hand Daumen voran über seine Schulter auf den wartenden Herrn am Schalter. «Auch das noch!», klang es aus dem Schalter. «Immer schön eines nach dem anderen!» Nun erklangen verschiedene Geräusche aufs Mal, begleitet von Ächzen und Stöhnen. Hin-ter dem Schalter erschien ein dunkelblauer Fleck, der immer grösser wurde. Etwas rechts von ihm kam simultan dazu ein zweiter Fleck zum Vorschein. Die Flecken stiegen weiter gegen die Zimmerdecke auf, wobei sich der schwarze Fleck, unter dem sich noch ein heller Fleck befand, immer mehr über den dunkelblauen Fleck zu schieben begann. Der Mann nahm seine Brille ab und putzte sie. Als er sie wieder auf seiner Nase trug, sah er, dass ein stattlicher Polizist auf ihn hinabschaute.«Sie entschuldigen?», sagte der Polizist, bückte sich, verschwand hinter dem Schalter und tauchte einen Moment später wieder dahinter auf. Nun trug er seine Mütze. Als er sich er-neut aufgerichtet hatte, blickte er mit gestrengen Blick auf den Mann hinab.«So, nun bin ich bei Ihnen. Was wünschen Sie?»«Sie arbeiten hier?», fragt der Mann ob des Schauspiels verwirrt.«Ja, ich bin Inspektor John Klies. Und das hier ist ein Polizeiposten.»

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die Hitze, wissen Sie… Aber seit heute bin ich mir sicher, dass mein Gehirn verschwunden ist.»«Weshalb erst seit heute?»«Wissen Sie, nachdenken ganz ohne Gehirn, das ist nicht so einfach…»«Ja, ja, ich verstehe. Das Nachdenken ist so eine Sache für sich.»«Ich meine, Bauchentscheide sind auch gut. Aber manchmal muss eine Sache gut durch-dacht sein. Deswegen möchte ich mein Gehirn zurück, ehe ich es wirklich benötige.»Inspektor Klies meinte nickend: «Sicher, wir werden unser Bestes tun. Aber das wird nicht einfach, bei all den Körperteilen, die da draussen frei herumlaufen.»«Was für Körperteile?», fragte Eitel verwirrt.«Körperteile eben, so wie Ihr entlaufenes Gehirn. Gestern Abend auf dem Nachhauseweg, da war so ein Affenarsch, der mich mit seinem Auto…»«Ich verstehe, Herr Inspektor: Bei all den Körperteilen da draussen wird es nicht einfach sein, mein Gehirn zu finden.»«Ein Foto ist in solchen Fällen immer hilfreich. Haben Sie zufällig eines dabei?»«Nein, ich bin zum Glück bei guter Gesundheit und musste noch nie ein Computertomo-gramm machen lassen.»«Wie sieht es denn aus, ihr Gehirn?»«Keine Ahnung, ich habe es noch nie gesehen. Ich nehme an normal.»Inspektor Klies schrieb ins Feld Aussehen normal.«Können Sie es noch etwas genauer beschreiben?»«Wie genauer beschreiben?»«Ist es gross? Ist es klein? Sieht es aus wie eine Baumnuss oder eher wie Vermicelles? Trägt es einen Minirock? Oder einen Ledermantel?»«Einen Minirock?», fragte Eitel entrüstet, «ich bitte Sie! Ich bin ein Mann!»Inspektor Klies musterte Eitel und meinte: «Würde Ihnen auch nicht stehen.»«Also, das…»«Damit wir Ihr Gehirn zweifelsfrei identifizieren können, müssen Sie uns helfen.»16 17

«Ja, das habe ich. Ich möchte Anzeige erstatten.»«Eine Anzeige?», Klies blickte mit hochgezogener Augenbraue über den Schalter.«Eine Vermisstenanzeige, um genau zu sein…»«Mein Beileid, Sie müssen ja Einiges durchmachen. Wen vermissen Sie denn, Herr…»«Eitel. Mein Name ist Eitel. Erich Eitel.»«Warum sagen Sie das nicht gleich?»«Sie haben nicht danach gefragt.»«Habe ich nicht?», fragte Inspektor Klies scharf.«Sie wollten und haben sich danach nach meinem Anliegen erkundigt.»«Das stimmt, Herr Eitel. Sie möchten eine Vermisstenanzeige aufgeben. Einen Moment bit-te, ich muss noch das richtige Formular… So, das haben wir… Wen vermissen Sie?»«Nicht wen, viel eher vermisse ich etwas!»«Wie können Sie eine Sache statt eine Person vermissen? – Ich verstehe, ist es Ihr Paten-kind?»«Nein, ich habe kein Patenkind.»«Ich auch nicht. Entweder ein eigenes Kind oder keines. Vermissen Sie Ihren Hund?»«Nein, auch nicht, ich habe Angst vor Hunden.»«Ist der Gegenstand wertvoll?»«Keine Ahnung. Für mich schon…»«Vermissen Sie Ihr Auto?»«Gott sei Dank, nein!»Inspektor Klies nickte, offenbar froh darüber, dass es nicht das Auto war. «Ich vermisse mein Gehirn», sagte Eitel schlussendlich.«Ihr Gehirn?», fragte Klies ungläubig.«Mein Gehirn», antwortete Eitel nickend. «Möchten Sie das nicht notieren, Herr Inspektor?»«Doch, doch!», sagte Klies und schrieb ins Feld der vermissten Person Gehirn.«Seit wann vermissen Sie es?»«Ich kann es nicht genau sagen. Die letzten Tage über war mir komisch. Zunächst dachte ich,

Page 10: Kapitänsschiff

«Ist gut, dann macht es bei Ihnen also Dingdong. Weshalb kommen Sie zu uns und gehen wegen ihrem verlorenem Gehirn nicht aufs Fundbüro?»«Das war so ein Bauchentscheid. Die Polizei sucht doch auch entlaufene Hunde?»«Ja, dafür gibt es eine eigene Einheit. Ich werde ihr das Signalement Ihres Gehirns weiterlei-ten. Sobald ich Genaueres weiss, werde ich mich melden.»«Ich danke Ihnen, Herr Inspektor.»«Nichts zu danken, das ist meine Aufgabe. Ich brauche aber noch Ihre Telefonnummer.»«Wozu denn?»«Damit ich Sie anrufen kann, wenn wir Ihr Gehirn gefunden haben.»«Das ist gut. Also, meine Nummer lautet…», Eitel stockte und begann nachzudenken. «Es tut mir leid. Ich kann mich nicht daran erinnern.»«Geht mir auch so, mein Hochzeitstag und meine Telefonnummer: Schrecklich!»«Es tut mir wirklich leid, Herr Inspektor. Was machen wir nun?«Kommen Sie doch einmal täglich vorbei. Dann können Sie ihr Gehirn gleich mitnehmen, sollten wir es finden.»«Ja, das ist eine gute Idee. Vielen Dank, Herr Inspektor!» Eitel verabschiedete sich und ging zum Eingang, wo er einem anderen Herrn den Vortritt liess, der den Polizeiposten mit einem Koffer in der Hand betreten wollte.«And now for something completely different», sagte Inspektor Klies und wartete, bis der Andere an den Schalter getreten war.«Guten Tag. Ich suche Inspektor Klies.»«Der steht vor Ihnen. Auch Ihnen einen wunderschönen guten Tag. Wer sind Sie? Was wün-schen Sie? Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?»«Ich bin Herr Bosic, der Monteur.»«Der Monteur? … Ach ja, der Monteur. Das ist gut! Sehr gut sogar. Mögen Sie Spaghetti?»

# Textkatalog No 566; 30., 31. Dezember 2012 & 6., 7. April 201318 19

«Ist ja gut, Herr Inspektor. Mein Gehirn sieht aus wie… Ich würde sagen, Spaghetti.»«Bolognese oder Carbonara?»«Sie meinen die Spaghetti?»«Nein, Ihr Hirn.»«Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Inspektor.»«Sie sagen, Ihr Gehirn würde aussehen wie Spaghetti. Das ist ein wertvoller Hinweis, aber noch nicht eindeutig genug. Bei Spaghetti Bolognese verwendet man Tomaten, Basilikum und Hackfleisch, bei Spaghetti Carbonara Eier, Rahm und Schinken. Ist ihr Gehirn also rot wie Spaghetti Bolognese oder weiss wie Spaghetti Carbonara?»«Ich verstehe, danke für die Präzisierung. Wissen Sie, so ohne Hirn…»«Ich kann Ihnen nachfühlen», nickte Inspektor Klies verständnisvoll und kreuzte bei der Frage nach dem Geschlecht männlich an. «Mein Gehirn fühlte sich normal an. Da gibt es keine Besonderheiten wie Schinken oder Tomaten.»«Normal?»«Ja, Herr Inspektor, ganz normal. Wenn es Ihnen hilft, schreiben Sie Ihre Lieblingsspaghetti als nähere Beschreibung dazu.»Bei besondere Kennzeichen schrieb Inspektor Klies keine und murmelte: «Pesto.»«Wie bitte?»«Pesto. Am liebsten esse ich Spaghetti alla pesto genovese mit gebratenen Pinienkernen.»Eitel verzog sein Gesicht. «Brauchen Sie noch etwas?», fragte er. Klies schaute auf sein Blatt und fragte: «Wie fühlt sich das an, so ganz ohne Gehirn zu sein?»«Die natürlichen Reflexe wie Schlafen oder Essen funktionieren immer noch. Vorhin, da ha-be ich vor dem Polizeiposten eine Blondine gesehen! Ich sage Ihnen, Herr Inspektor…»«Die kenne ich! Eine rassige Frau! Und das haben Sie ohne Gehirn festgestellt?»«Freilich, Herr Inspektor. Kaum sieht man eine solche Frau, macht es Dingdong.»«Dingdong?»«Oder so ähnlich», meinte Eitel verlegen.

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vozierten staatlichen Shutdown zwei Jahre später und dem folgenden Beinahe-Staatsbank-rott, begann es ersten Parlamentariern in Washington zu dämmern, wie kurzsichtig ihre auf den eigenen Benefit ausgerichtete Politik der vergangenen dreissig Jahre gewesen war. Auf-grund des grossen Forschungsaufwands zur Entwicklung neuer Raumfahrzeuge hatte sich die dem Steuerzahlenden als effizient angepriesene private Raumfahrt bereits als krude Fanta-sie einiger antietatistischer Apologeten entpuppt, bevor überhaupt nur der erste von leicht verschrobenen Internet-Milliadären finanzierte Orbiter seinen Jungfernflug absolvieren konnte. Mangels eigener moderner Raumtransporter vertrauten immer mehr amerika-nische Hochschulen ihre Expeditionen den vereinten Europäern sowie den singulären Rus-sen, Indern, Chinesen und Japanern an. Als sich diese dann zu allem Überdruss noch in den Zwanzigerjahren unseres Jahrhunderts erfrecht haten, bemannte Missionen zum Mond und Mars zu senden, drohte die amerikanische Mondlandung von 1969 zu einem ebenso ver-staubten Ereignis in den Geschichtsbüchern zu werden, wie es die Landung von Kolumbus in der neuen Welt bereits geworden war.

Vor wenigen Jahren haben dann himmlische Probleme die Raumfahrt massiv verteuert und beinahe verunmöglicht. Im 20. und frühen 21. Jahrhundert hatte man die abgetrennten Rake-tenteile und ausrangierten Satelliten als künstlichen Ring um unseren Planeten kreisen las-sen. Durch ihre ständigen Kollisionen würden sie sich parktischerweise selbst zu Staub ver-kleinern, hatte man naseweis gedacht, um gegen das Millennium festzustellen, dass schon ein winziger Splitter dieses Weltraumschrotts wegen seiner hohen Geschwindigkeit, mit der er die Erde umkreiste, im Kollisionsfall massive Schäden bei den getroffenen Satelliten an-richten konnte. Apophis verstärkte nun das menschgemachte Schrottproblem um ein Viel-faches und war zum grössten Feind der Raumfahrt geworden. Es war noch die NASA, die 2004 den 300 Meter grossen Asteroiden entdeckt und zum wahrscheinlichen Weltengericht erklärt hatte. Wie eine sich selbsterfüllende Prophezeiung kreuzte Apophis 2029 die Erde im geringen Abstand von 40 000 Kilometern, 2034 schrammte er mit nur noch 12 000 Kilome-tern vorbei. 2036 schien ein Aufprall unausweichlich zu sein. In einem gemeinsamen Willens- 20 21

ApophisEr fühlte sich so frei und leicht wie ein Vogel. Wenn er diesen Augenblick nur mit seinen Lie-ben teilen könnte. An seine Familie denkend, jauchzte Kommander Petrus vor Glück und schlug einen Purzelbaum. Vergnügt lachte er auf und schaute glücklich zum Licht hinüber, da nahm er aus dem rechten Augenwinkel den drohenden Meteoritenschwarm wahr. Er eschrak heftig und begann im selben Augenblick unkontrolliert zu trudeln und drohte ins unendliche All abzudriften…

Wie es im Amerika dieser Tage üblich war, gehörte die Besatzung der «Genezareth» bereits zu den Stars des öffentlichen Lebens, bevor sie zu ihrer Mission aufgebrochen war. Ihr Start sollte an einem windigen Mittwochabend um 19.45 Uhr in Cape Canaveral erfolgen. Am sel-ben Vormittag, mitten in den Startvorbereitungen zwischen Morgenrapport und dem Wet-terbriefing am Nachmittag, hiess es für die sieben Besatzungmitglieder aber, die Grösse Ame-rikas fernsehgerecht den Daheimbleibenden zu demonstrieren. Das war bitter nötig, denn von Präsident Kennedys Raumfahrtprogramm, das vor dem Hintergrund des Kalten Krieges die Landung auf dem Mond und schlussendlich die Herrschaft über die Welt und den erd-nahen Orbit ermöglicht hatte, war rund ein Menschenleben nach «Apollo 11» nicht mehr viel übrig geblieben. Schlimmer noch, Amerika war heute weiter davon entfernt, die führen-de Raumfahrtnation zu sein, als es dies 1957 nach dem Start des «Sputniks» durch die Sow-jets gewesen war. Kaum war der Kalte Krieg vorbei gewesen, hatten einige Senatoren die Raumfahrt als teures Hobby für Fantasten betrachtet und das Budget der NASA nach belieben gestrichen. Zudem betrachteten dieselben Volksvertreter den Klimawandel, den die NASA-Satelliten bildlich dokumentierten, als linkes Märchen. Wegen den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und den darauffolgenden ruinösen Rachefeldzügen in Afghanistan und im Irak, war ein grosser Teil der für die Raumfahrt vorgesehenen Mittel in bodenlose militä-risch-irdische Fässer umgeleitet worden. Nach dem verheerenden Kollaps des Finanzsys-tems im Herbst 2008 und der folgenden staatlichen Rekordverschuldung, musste Präsident Obama 2011 das Ende des Space-Shuttle-Programms verkünden. Nach dem mutwillig pro-

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sieben Besatzungsmitglieder der «Genezareth» mitten in den Startvorbereitung, zwischen Morgenrapport und dem Wetterbriefing, nach Miami geflogen wurden, um im «Sun Life» Stadion fernsehgerecht zur Mittagszeit wohltätige Organisationen während der Essensaus-gabe an Obdachlose und Bedürftige zu unterstützen und Autogramme zu verteilen.

Der Start am Abend war problemlos erfolgt. Die «Genezareth» durchquerte den Apo-phis’schen Trümmergürtel ohne Komplikationen, lediglich ein punktgrosser Metallsplitter eines ehemaligen Fernmeldesatelliten war mit der Cockpitscheibe kollidiert. Nach einem sonst ereignislosen Flug zum Mond waren drei Tage Aufenthalt in der Forschungsstation «Neil Armstrong» am Südhang des Plato-Kraters im Mare Imbrium vorgesehen. Die «Ge-nezareth» hatte Instrumente für ein Biolabor transportiert und sollte nun Professor Andreas vom Massachusetts Institute Of Technology und vier seiner Studenten zur Erde zurückbrin-gen. Sie hatten ein Treibhaus eingerichtet, worin ein Experiment mit genmanipulierten Pflan-zen durchgeführt werden sollte. Diese würden dereinst in den schwebenden Gärten des ge-planten Habitates «Genesis» auf dem Mars gezüchtet werden. Sie sollten besser der kos-mischen Strahlung widerstehen. Der Rückflug zur Erde verzögerte sich wegen starker Son-nenwinde, welche die Kommunikation zwischen der «Genezareth» und dem Kontrollzen-trum in Houston verunmöglicht hatten, um zwei Tage.

Thomas Dydimos, Navigator auf der «Genezareth», trat seine Schicht an. Zusammen mit Kommander Petrus und dem ersten Offizier, Bartholomew, sollte er den Orbiter sicher zur Erde pilotieren. «Freut euch, in zwei Tagen können wir in ein saftiges Steak und einen gegrillten Maiskolben beissen», frohlockte er und fügte an: «Wir sind zwar erst acht Tage da draussen, aber wie habe ich die feste Nahrung vermisst. Ich hoffe schwer, dass die Forschung auf der ‹Genesis› erfolgreich sein wird, damit ich mich im hohen Alter nicht bloss von Brausetabletten ernäh-ren muss.» Thomas war griechischstämmig und hatte über seine weit verzweigte Familie An-teile an einem europäischen Altersheim in der Saturnumlaufbahn erworben. Weder die tech-22 23

und Kraftakt beschloss die bedrohte Menschheit, Apophis mittels zweier gleichzeitig ein-schlagenden Atomraketen zu zerfetzen und ihn so von seiner fatalen Flugbahn abzulenken. Wegen Eifersuchtsszenen zwischen den Grossmächten waren es schlussendlich vier Atom-bomben gewesen: eine amerikanische und je eine russische, chinesische und indische. Un-besehen der Grösse des Atomschlages gegen den Meteoriten, war der Preis für dieses riskan-te Unterfangen hoch: Anstatt eines grossen, apokalyptischen Einschlages hat es nach einem spektakulären Trümmerregen, der als weltweit sichtbarer Meteoritenschauer auf Mutter Erde niedergegangen war, bis heute unzählige kleine Einschläge gegeben. Die übrig gebliebe-nen Apophistrümmer waren ein trotziges Mahnmal und zur grössten Gefahr für die geosta-tionären Satelliten im Orbit geworden. An Raumfahrt war nur noch während bestimmter Zeitfenster im Jahr zu denken.

Wohl waren Hunderte Trümmer als Meteoriten in Amerika niedergegangen, doch die Ge-fahr, von einem Moment auf den anderen pulverisiert zu werden, war von der Bevölkerung als reeller und grösser empfunden worden, als es die Bedrohung durch Ureinwohner, Fa-schisten, Kommunisten und Dschihadisten je gewesen war. Heute, eine Dekade nach dem grössten von Menschen gemachten Feuerwerk, war die NASA wieder auf dem Weg zurück zu alter Grösse. Nun floss wieder mehr Geld in die nationale Raumfahrt, das man bei schein-bar unwichtigeren Budgetposten wie dem öffentlichen Verkehr, der Bildung, dem Gesund-heitswesen, den Renten und der Instandhaltung der Infrastruktur einsparte. Was die Leute auch nicht weiter zu stören schien, solange man noch immer vom Tellerwäscher zum Milli-onär werden konnte. Oder wie Kommander Simon Petrus, der es vom einfachen Fischer von den Apostle Islands im Lake Superior zum Kapitän der «Genezareth» gebracht hat. Obwohl der neuerliche Aufschwung der Raumfahrt auf Kosten der Allgemeinheit ging, liessen sich die Massen in einer von Marketingstrategen gesteuerten Welle des Patriotismus dafür begei-stern. Und so waren die Raumschiffbesatzungen zwar umstrittene Helden, doch sie brachten mit ihren Missionen im Sonnensystem die amerikanische Bevölkerung wieder zum Träumen von einer Zukunft, in der alles möglich zu sein schien. Und so war es gekommen, dass die

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terstützt. Wenn wir landen, werden wir ebenso fernsehgerecht Kinder und Krüppel berühren und ihnen Autogramme geben, so als ob dieses infantile Theater ihre Situation verbessern würde.»«Das ist Amerika, Sir, wenn ich mir diese europäisch gefärbte Bemerkung erlauben darf !», warf Thomas Dydimos, durch Bartholomews Bemerkung gekränkt, ein. Doch ehe Petrus antworten konnte, erklang eine Sirene und einige Warnlichter begannen zu blinken.«Meteoritenwarnung!», rief Bartholomew alarmiert.«Aber das Zeitfenster sollte doch ausreichen, um unbehelligt durch den Apophis’schen Trümmergürtel fliegen zu können?», bemerkte Petrus ärgerlich fragend.«Heilige Mutter Gottes! Das ist ein Meteoritenschwarm…», rief Thomas Dydimos scho-ckiert, als er auf dem Radarschirm den Grund für den Alarm entdeckte. Bartholomew drückte einen roten Knopf, eine Sirene erklang. Die restlichen vier Besatzungsmitglieder und die fünf Wissenschaftler des MIT kamen im Laufschritt auf die Brücke geeilt, setzten sich auf ihre Sitze und schnallten sich an.«Danke, Officer. Sie waren schneller, als ich den Befehl geben konnte!», sagte Petrus leise zu Bartholomew.

Jedes Besatzungsmitglied sass auf seinem Posten und erfüllte mechanisch wie ein Roboter seine Aufgabe. Reger Funkverkehr zwischen der «Genezareth» und dem Kontrollzentrum in Houston herrschte. Niemand konnte sich das plötzliche Auftauchen des Meteoriten-schwarmes erklären. Zu allem Elend verstärkte sich erneut der Sonnenwind und liess die Ver-bindung zwischen dem Raumschiff und der Erde mehrmals abbrechen.«Wir nähern uns der Erdatmosphäre, Sir», meldete Bartholomew.«Der Treibstoff reicht nicht aus, um dem Meteoritenschwarm auszuweichen», meldete Thomas Dydimos nach einer kurzen Überprüfung der Tanks.«Schalten Sie den Autopiloten aus. Wir fliegen manuell», befahl Kommander Petrus.«Auf Sicht fliegen ohne Funkverkehr?», fragte Thomas Dydimos zurück.«Entweder prallen wir an der Atmosphäre ab, landen irgendwo in der sibirischen Steppe oder 24 25

nische Machbarkeit noch die lange Reisedistanz hielten ihn davon ab, Unsummen in seinen Traum zu investieren. Für ihn bildete die Astronautennahrung, die seit dem 20. Jahrhundert keine grossen Fortschritte mehr gemacht hatte, das Hauptproblem. Sollte er wider erwarten seinen Lebensabend auf der Erde verbringen, würde sein Platz im extraterrestrischen Alters-heim auf eines seiner drei Kinder übergehen.«Zuvor müssen wir uns aber noch durch ein Heer von Journalisten kämpfen und den bus-weise herangekarrten Behinderten und Schulklassen freundlich lächelnd Autogramme ver-teilen, ehe die Blutsauger der Space-Center-Ärzte uns wie Moskitos aussaugen werden…», seufzte Bartholomew.«Auf diese Weise habe ich das noch nie betrachtet, Officer…», sinnierte Petrus.«Wie denn, Sir?»«Ihr Zynismus kann manchmal äusserst nervtötend sein, aber dieses Mal haben Sie den Na-gel wirklich auf den Kopf getroffen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, mit welchen Op-fern Amerika wieder zum Mond fährt, und mit wessen Mitteln das mehrfach gestoppte Mars-programm wieder aufgenommen werden konnte?»«Das sind immense Opfer, Sir», antwortete Bartholomew. «Auch wenn sie im Vergleich zu unseren Kriegen bloss dem Preis einer Packung ‹Mother Mary’s Crisp & Chocolate Coo-kies› entsprechen.»«Wieviele Leute können sich nicht einmal eine Packung Schokokekse kaufen? Meine Eltern hatten als Staatsangestellte in Griechenland während der Schuldenkrise Anfang des Jahrhun-derts monatelang kein Gehalt mehr erhalten und wurden zu schlechter Letzt noch entlas-sen…», warf Thomas Dydimos ein.«Ich fragte mich die ganze Zeit über, weshalb mich die Abflüge und Ankünfte auf der Erde dermassen nerven, während hier draussen alles seinen geordneten Gang in der kosmischen Ruhe nimmt.»«Was stört Sie denn Sir? Zu viele Griechen?», fragte Bartholomew zynisch.«Der ganze Zirkus, der um unsere Flüge veranstaltet wird. Vor Wochenfrist haben wir in Mi-ami karitative Organisationen bei der Speisung von 5000 Obdachlosen fernsehgerecht un-

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«Ich bin es doch! Fürchtet euch nicht!», begann er sogleich mit ihnen zu reden. Verblüfft schwiegen die Zwölf auf der Brücke der «Genezareth». Die Gestalt hob ihre Hand winkte der Besatzung freundlich lächelnd zu. Wieder schrien die Zwölf und schwiegen danach ver-ängstigt, während die Gestalt ihnen zulächelte und neben der «Genezareth» spazierte und ein Lied zu pfeifen schien. Schlussendlich brach Bartholomew das Schweigen: «Auf die Ge-fahr hin, für verrückt erklärt zu werden, aber das erinnert mich an Jesus’ Gang auf dem Was-ser.» «Wusste gar nicht, dass Jesus gepfiffen hat», sagte Philipps, einer der Studenten verdutzt.«Was würde denn Jesus pfeifen?», fragte Mathew, ein zweiter Student.«Vielleicht das ‹Halleluja›?», schlug Luke, Doktorand in spe, vor.«Das aus Händels ‹Messias› oder jenes aus Mozarts ‹Exultate Jubilate›?», überlegte sich Mathew.«Vielleicht pfeift er auch nur ‹Ob-La-Di, Ob-La-Da› oder die Nationalhymne Israels», brummte Bartholomew.Um dem Geschnatter seiner Passagiere Einhalt zu gebieten, rief Kommander Petrus nach einem prüfenden Blick aus dem Cockpitfenster mit autoritärer Stimme: «Wer bist du?»«Ich bin es! Kennst du mich denn nicht mehr?», sprach die Gestalt beruhigend und lächelte.«Wie kommt es, dass du ohne Raumanzug und Raketenrucksack durch den Weltraum schwebst?», fragte Petrus nun irritiert.«Weil ich es bin, kann ich über Wasser wandeln oder einen Weltraumspaziergang unterneh-men, wann immer ich möchte.»«Fürwahr, das ist Jesus!», sagte der Navigator, Johannes, ergriffen. Die Gestalt lächelte gütig und winkte Johannes zu. «Herr, wenn mein Navigator Recht hat und du wirklich Jesus bist, dann lass mich durch den Weltraum und den Meteoritenschwarm zu dir kommen!», rief Kommander Petrus. «Komm her!» antwortete Jesus aufmunternd. Nach kurzem Zögern löste Petrus seinen Si-cherheitsgurt und erhob sich mit einem mulmigen Gefühl.«Brauche ich einen Raumanzug?», fragte Petrus und hielt inne.26 27

wir werden zusammen mit den Meteoriten verglühen!», rief Professor Andreas verängstigt. «Wenigstens verglühen wir schöner als diese verdammten Meteoritentrümmer, da dies un-sere Atmosphäre ist!», brummte Bartholomew genervt.«Ich bitte alle, Ruhe zu bewahren! Unser Radar funktioniert einwandfrei, so dass wir durch den Meteoritenschauer navigieren können. Seit Apophis gehört dies weltweit zur Grundaus-bildung eines jeden Raumschiffpiloten. Auch ohne Sonnenwinde bricht beim Eintritt in die Erdatmosphäre der Funkkontakt wegen des heissen Plasmas, das unser Raumschiff umgibt, für einige Minuten ab. Wir machen es wie unsere Grossväter beim Apollo-Programm und halten stur einen Winkel von 6,5 Grad ein. Dann werden wir eine Punktlandung vom Feins-ten hinlegen», sprach Kommander Petrus.

Jedes der Bestzungsmitglieder hatte seine Aufgaben verinnerlicht und konzentrierte sich auf die Abläufe. Professor Andreas, als Passagier zu untätigem Warten verurteilt, schwitzte ob des schaurig schönen Spektakels, das sich mit einem Blick aus dem Fenster und auf den Radar-schirm bot, Blut. Der Anblick der immer grösser werdenden Erde mit ihren weissen Wolken, den braungrünen Landmassen Amerikas und dem azurblauen Meer wirkten beruhigend. Die leuchtenden Punkte auf dem Radarschirm, die alle einen Meteoriten auf möglichem Kollisionskurs mit der Raumfähre darstellten, wollte er nicht sehen. Sie waren durch ihr Blin-ken und dem piepsenden Summton auf der Brücke omnipräsent. Professor Andreas starrte aus dem Fenster und entdeckte das Licht als Erster. Es kam über den Erdhorizont von Hawaii her und schien Kurs auf die «Genezareth» zu nehmen. Auch die anderen Besatzungsmit-glieder bemerkten das Licht, weil es die Brücke des Raumschiffs taghell zu erleuchten be-gann. Doch weder auf den Monitoren noch auf dem Radar war etwas zu sehen. Und auch Houston meldete nichts Aussergewöhnliches. Das Licht wurde immer grösser und als es die «Genezareth» erreicht hatte, flog es parallel neben ihr her. «Da ist ein Mensch drin?!», stellte Professor Andreas erstaunt fest. Auch die übrige Besat-zung konnte ihn sehen. Sie schrien vor Entsetzen, weil sie dachten, es wäre ein Gespenst oder ein Ausserirdischer.

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der «Genezareth» abzudriften und unkontrolliert zu trudeln. Er begann die Kälte des Welt-raums zu spüren, die Luft wurde aus seinen Lungen gesogen.«Was mache ich eigentlich hier draussen?», fragte er sich. «Ich werde an explosiver Dekom-pression sterben!», schoss es ihm durch den Kopf. Kaum hatte er es gedacht, begann er die unweigerlichen Anzeichen dafür zu spüren und er schloss vor Angst seine Augen. Während ihm das All die letzten Reste der Luft aus den Lungen saugte, begannen seine Augen und Haut zu gefrieren, derweil das Blut in seinen Adern zu kochen begann und schlussendlich ver-dampfen würde. Seine Arterien würden platzen. Durch das nachfolgende Entweichen von Gasen würde sein Körper wie bei einer Wasserleiche auf das doppelte seines Umfangs an-schwellen, so dass er schlussendlich an einer Hypoxie sterben würde. Sollte er als Kämpfer aber noch immer am Leben sein, so würde schlussendlich sein Herz einer Supernova gleich explodieren. Kommander Petrus öffnete seine Augen und sah das Licht vor sich schweben. «Herr, rette mich!», schrie er in Panik. Im Wissen darum, dass es im All keine Lufthülle gab, welche die Schallwellen seines Schreis weitertragen würde, und dass er mit dem Schrei sei-nen Lebensatem ausstiess. Sogleich streckte Jesus seine Hand aus und hielt ihn fest. Petrus schloss seine Augen, sonst würde er sterben, da war er er sicher. Doch sein Körper funktio-nierte wieder normal. Er konnte wieder atmen. Gemeinsam kehrten sie zur Raumfähre zu-rück. Als sie diese erreichten, wurde er ohnmächtig. Bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er Jesus sagen: «Du Kleingläubiger! Warum hast du gezweifelt?» Jesus trug ihn auf den Händen in die Krankenstation der «Genezareth», ehe er sich auf Petrus Platz auf der Brücke setzte. Nach-dem Officer Bartholomew mit zittrigen Fingern die Luke in der Ladeklappe geschlossen hat-te, legte sich der Sonnenwind und während die «Genezareth» in die Erdatmosphäre eintrat, verschwand der Meteoritenschwarm.

Als Kommander Petrus wieder zu sich kam, blickte er in eine weisse Umgebung mit grauen, technischen Apparaten. Eine afroamerikanische Krankenschwester lächelte ihn an.«Willkommen zurück auf der Erde, Kommander Petrus.»28 29

«Vertraue mir. Ich bin es doch! Du brauchst keinen Raumanzug. Komm zu mir. Wir werden zusammen einen Weltraumspaziergang machen.»Petrus begab sich ins Materiallager und nahm eine Fernsprecheinheit. Er steckte sich einen Knopf ins Ohr und klemmte sich den Transmitter an den Gürtel. Danach begab er sich in die Schleusenkammer. «Öffnen Sie die Schleuse, Officer Bartholomew!», befahl er. Dieser verfolgte ihn auf einem Monitor. In seinem Kopfhörer konnte er Petrus aufgeregt atmen hören. «Yes, Sir!», sagte der Offizier und drückte zitternd einen Knopf. Die Schleusenkammer wur-de automatisch verriegelt und eine Tür in der Ladeklappe öffnete sich. Während Bartholo-mew auf den Monitor starrte und das Schlimmste befürchtete, trat Petrus in die offene Luke. Vor sich sah er das Licht, dahinter die Erde und den Sternenhimmel. Mutig machte er einen Schritt in die unendliche Leere und dann noch einen. Er hatte die Raumfähre verlassen und schwebte durch den Orbit Jesus entgegen.

Die Erde unter seinen Füssen war so wunderschön. So blau. So verletzlich. So klein. Das Licht vor ihm und all die weissen Punkte der Sterne, alles funkelte so unglaublich klar, als ob es kleine Edelsteine wären… Der Mond müsste sich in seinem Rücken befinden. Komman-der Petrus drehte sich um. Hinter dem Seitenruder der «Genezareth» leuchtete er, direkt über Island, das von der Dämmerung erreicht wurde. Dahinter, anhand der unzähligen klei-nen und grossen Lichtpunkte, konnte er die Umrisse Europas erkennen: die iberische Halb-insel, Frankreich, England. Die grossen Lichtkegel waren London, Paris und das Ruhrgebiet, wo es dunkel war, befand sich der Alpenkranz. Das war das schönste, was er je in seinem Le-ben gesehen hatte. Er fühlte sich so frei und leicht wie ein Vogel. Wenn er diesen Augenblick nur mit seinen Lieben teilen könnte. An seine Familie denkend, jauchzte Kommander Petrus vor Glück und schlug einen Purzelbaum. Und dann schlug er noch einen und noch einen. Ver-gnügt lachte er auf. Er sah Jesus im Licht über den Apostle Islands im Lake Superior und war sich sicher, dass er sich mit ihm freute, da nahm er aus dem rechten Augenwinkel den dro-henden Meteoritenschwarm wahr. Er erschrak heftig und begann im selben Augenblick von

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Porto VecchioEs ist zehn nach vier, der Ozeanriese läuft in den Hafen ein, die Sonne taucht die alten Quai-mauern in glitzernd gleissendes Licht. Das Empfangskomitee in weiss steht bereit, die rotgel-ben Fahnen der Stadt flattern im Wind. Straff angebundene Flaggen knattern in der kühlen Brise, die vom Hinterland weht und den dunstigen Morgenschleier aufs Meer hinaus gebla-sen hat. Bunte Sonnenschirme säumen die geschäftige Promenade. Darunter sitzen Men-schen in malerischen Strassenacafés bei einem Ristretto und schauen durch dunkle Sonnen-brillen den flanierenden Massen zu, die eitel über den Boulevard stolzieren. Ein mit Sonnencrème durchsetztes Duftpotpurri weht von den verschiedenen Marktständen her. Auf einer Bühne auf dem Strand spielt eine Rockband.

Eine Schiffssirene hornt durch den Hafen. Die Vordersten auf dem Quai und an Deck zü-cken ihre Digicams und Smartphones, andere winken, halten Mützen oder Tücher in der Hand oder malen grosszügige Bögen in die Luft. Beim Empfangskomitee steht jeder stramm. Es fehlt nur noch der Salut der Kanonen.

«Siehst du es?», fragst du, nachdem wir die Szene still beobachtet haben.«Wo?», wundere ich mich.«Dort vorne», sagst du und zeigst mir die Richtung.«Ist es nicht schön?», frage ich, nachdem ich es entdeckt habe.«Wunderschön!», freust du dich. Und: «Ich kann es noch kaum glauben.»«Es ist fast zu schön, um wahr zu sein», bestätige ich.«Es ist wie in einem Traum», seufzt du glücklich.«Nach all der Zeit sind wir am Ziel», sage ich erleichtert.

30 31# Textkatalog No 580; 6., 7., 8., 14., 17. & 19. August 2013 # Textkatalog No 587; 4. August 2012, 6.April & 11. Dezember 2013

«Was ist geschehen?», fragte er verwirrt.«Sie hatten Probleme während Ihres Weltraumspazierganges.»«Weltraumspaziergang? Ich sollte doch die ‹Genezareth› zur Erde fliegen?»«Ich weiss nur, dass es auf ihrem Flug Probleme gab, und Sie wollten diese selber beheben. Deswegen haben Sie das Raumschiff verlassen.»«Ich beginne mich zu erinnern. Da war ein Licht…», sagte er schwach.«Das ist nichts, Kommander. Es zeigt nur an, dass die Messgeräte für ihren Puls und Blut-druck richtig angeschlossen sind und funktioneren», sagte die Krankenschwester. «Darf ich Sie etwas fragen, Kommander?»«Bitte sehr. Aber ich habe keine Schmerzen. Ich bin nur müde und etwas verwirrt.»«Das freut mich zu hören, Kommander. Nach etwas Schlaf können Sie morgen wieder nach Hause gehen. Aber meine Frage haben Sie noch nicht beantwortet, weil ich sie noch gar nicht gestellt habe.» «Haben Sie nicht?»«Nein, wir haben vom Licht gesprochen», sagte sie lächelnd. «Ach ja, das Licht, das meinen Puls anzeigt…»«Wissen Sie, was ich glaube?»«Nein, woher auch? Ich kenne Sie nicht.»«Ich glaube, dass die Menschheit nur in den Weltraum fliegt, weil sie in unserer hoch techni-sierten Welt Gott vergessen hat. Sind Sie da draussen Gott begegnet, Kommander?»Nun erinnerte sich Kommander Petrus wieder: Das Licht, die Einladung zum Weltraumspa-ziergang, das irdische Paradies zu seinen Füssen und die funkelnden Sterne in der ewigen Weite des Himmels. Und wie er abgedriftet war und eigentlich an einer Apoxie gestorben sein müsste. Aber auf wundersame Weise gerettet worden war.«Ja!», sagte er. «Ja, ich glaube, ich habe ihn gesehen.» Die Krankenschwester strahlte ihn an und fragte: «Was machen Sie nun mit Ihrem Leben?»

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gebettet ist. Fröhlich wäre er bis zu letzt gewesen, erinnerte sich der gute Freund, gefasst hätte der Kapitän den Lotsen erwartet. Als dieser an einem frühen Apriltag die Brücke betrat, hatte der Kapitän einen neuen Plan geschmiedet: «Ich plane ein Schiff, ein Kapitänsschiff», sagte er zum guten Freund, der bei ihm Gesellschaft geleistet hatte. Ob er dessen Kapitän sein wür-de, fragte dieser. «Nein,» antwortete der Kapitän, «die Leute müssen nun für sich selbst sorgen.»

Wenige Stunden später verliess er mit dem Lotsen die Brücke über die Rutschbahn ins Nichts. Nachdem er gegangen war, verliess der gute Freund diese Wohnung im roten Back-steinhaus, direkt an den Bahngeleisen zum vollendeten Leben, um die vom Kapitän bis ins Detail inszenierte Gedenkfeier zu St. Peter zu organisieren.

# Textkatalog No 567; 9. Januar 2013

das KapitänsschiffIn seine Wohnung auf dem roten Backsteinhaus, zehn Gehminuten von seinem Geburts-haus entfernt, am Bahngeleise zu seinen Lebensorten erbaut, gelegen beim fünftgrössten Bahnhof der Stadt, vielleicht von ihm gewählt als ein unbewusst steinernes Sinnbild seiner erbitterten Kämpfe um das Bild der Schweiz, seiner Schweiz – in diese Wohnung also, so er-innerte sich der Solothurner Freund in einer Biografie, kam man unten rein und ging die Treppe hoch. Er wirkte jeweils wie ein Kapitän, wenn er auf dem Geländer aufgestützt lachte, die Hand an die unsichtbare Mütze hob und sein typisches «Salü!» sprach.

Ein rabiater Mieter soll der Kapitän gewesen sein, der jeweils mit der Bemerkung, er müsse arbeiten, einen Eimer Wasser auf die Pendler hinab geschüttet hatte, wenn sie ihm zu laut ge-wesen waren, erinnerte sich der Vermieter zum hundertsten Geburtstag des Kapitäns.

Diese Wohnung war sein letzter Hafen, die Welt hatte er bereist, viel gesehen, beobachtet, analysiert, gestritten und gelobt. Hier besuchte sie ihn auf Knopfdruck. Die Auseinanderset-zung mit den Forderungen des Tages noch immer kritisch. Scharfsinnig hinterfragte er noch immer sich selbst und damit das alternde Menschsein. Vor angehenden Ärzten hielt er vor Jahren eine Rede über die letzte Reise: Das Todesbewusstsein, so der Kapitän, wäre aus der Gesellschaft weitgehend verdrängt, auch die Schreckensbilder, die jeden Tag das Fernsehen zeige, trügen zu dieser Verdrängung bei. Der Tod wäre ein inszenierter Sonderfall, befand da-mals der Kapitän weise.

Wenige Jahre später, das legendäre Klack, Klack, Klack seiner Schreibmaschine war unterdes-sen verstummt, vermachte der Kapitän dem Regisseur der Verfilmung seines Erfolgsroma-nes während der Visionierung des Rohschnittes seinen silbernen Jaguar. Fotos aus diesen Tagen zeigen einen kleinen Mann im hellblauen Seidenpyjama, der in viel zu grossen Kissen

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AaNicht Duden konforme Begriffe und nützliche Bemerkungen:Stewi schweizerischer Wäscheständer | Bürzi zu einem Knoten hochgesteckte Haare | Calöri mdl Narr | Herrschäftler Wein aus der Bündner Herrschaft | Inspektor Klies John Cleese | Erich Eitel Eric Idle | Apophis siehe http://de.wikipedia.org/wiki/(99942)_Apophis | Speisung der 5000 Math. 14.13–21 | Petrus auf dem Wasser Mat. 14.22–32 | Ob-La-Di, Ob-La-Da mdl (Yoruba) für das Leben geht weiter und Song von den Beatles | der Kapitän Max Frisch | der Solothurner Freund Peter Bichsel | der Regisseur Volker Schlöndorf | der Erfolgsfilm Homo Faber | der gute Freund Michel Seigner | die Rede gehalten 1984 an medizinischen Fakultät der Universität Zürich, | die Wohnung Stadelhoferstrasse 22, Zürich

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MorgenlachenAm Anbeginn der Zeiten, nachdem Gott den Himmel und die Erde erschaffen und mit sei-nem Wort die Landmassen vom Wasser getrennt und den Tag von der Nacht geschieden hatte, zur Zeit, als noch keine Bäume und Sträucher wuchsen, und es noch keine Felder gab, da es Gott noch nicht hatte Regnen lassen, da schuf er den Menschen aus Staub vom Erdbo-den und blies ihm seinen Odem in die Nase. So wurde der Mensch, er war noch ein Kind, ein lebendiges Wesen. Das Kind setzte sich neben Gott und schaute ihm zu, wie er in Eden einen Garten anlegte. Jedes Mal, wenn Gott einen Baum aus dem Erdboden wachsen liess, gluckste es glücklich. Als Gott die vier Flüsse anlegte und sie Wasser führen liess, lachte das Kind ver-gnügt. Und als es schlussendlich von Gott auf den Arm genommen wurde, um mitten im Gar-ten Eden abgesetzt zu werden, da sagte es sein erstes Wort: ein helles Pa. Und als es sah, dass Gott gütig darüber lächelte, wiederholte es noch einmal das helle Pa. So wurde Papa zum ersten Wort, das je ein Mensch gesprochen hat. Gott setzte das Kind in die Mitte des Garten Edens, ans Ufer des Flusses Pischon. Er sagte zum Kind, es solle nicht zu weit fortgehen, er würde noch weitere Lebewesen schaffen. Doch es hörte nicht hin und spielte bereits mit dem Kies am Ufer. Besonders die goldenen Steine gefielen ihm gut, vielleicht, weil sie so selten wa-ren. Es wurde Abend und das Kind wurde müde. Zufrieden rollte es sich am Ufer zusammen und schlief schon bald ein. Am anderen Morgen trat Gott zu ihm hin gab ihm Früchte zu essen. Das Kind biss in eine Frucht. Dann nahm es etwas Gold und streckte es Gott hin. In diesem Moment reflektierte das Gold einen Sonnenstrahl und sandte sein warmes Licht durch den Garten Eden. Als Gott das Kind darüber lachen sah, wurde es ihm warm ums Herz und er be-schloss, dass es nicht gut wäre, wenn es alleine wäre. Und so erschuf er ihm Adam und Eva als Vater und Mutter. Und auch sie freuten sich mit Gott an dem Kinderlachen. Und noch heute, viele tausend Jahre nach dem ersten Morgenlachen, lieben die Menschen das Gold von allen Steinen am meisten, doch sie spenden freigebig für Gott. Und sie fühlen sich, wenn sie ein Kind lachen sehen, an das Ufer des Pischon zurückversetzt.

# Textkatalog No 581; 25. August 2013