5
Einleitung Korrektur der Sitzhaltung ist ein weithin anerkannter Faktor in der Prophylaxe von Beschwerden am Bewegungssystem. Dabei soll eine mehr belastende WirbelsȨulenstatik mit verstȨrkter Ky- phosierung bzw. Entlordosierung der Thorakal- und Lumbalregi- on sowie einer Hyperlordosierung der HWS in eine weniger be- lastende so genannte aufrechte Statik mit einer flacheren doppel-s-fɆrmigen Krɒmmung der WirbelsȨule (Ȩhnlich den Krɒmmungen im Stand) ɒberfɒhrt werden Ein anschauliches biomechanisches Modell fɒr den Mechanismus der zur Entlas- tung notwendigen Aufrichtbewegung aus einer kyphotischen Sitzposition ist sowohl fɒr Therapeuten als auch Teilnehmer an Ergonomieschulungen von elementarem Interesse. In diesem Zusammenhang hat sich das Zahnradmodell etabliert, das von Brɒgger [1] ursprɒnglich zur Beschreibung des funk- tionellen Zusammenwirkens der KɆrperabschnitte Becken, Rumpf und Kopf beim Zustandekommen verschiedener KɆrper- haltungen beim Sitzen (Abb. 1a u. b) vorgeschlagen wurde. Der Ein neues biomechanisches Modell zur Aufrichtbewegung im Sitz U. Betz F. Bodem A. Eckardt A New Biomechanical Model for Movement into the Upright Sitting Position Institutsangaben OrthopȨdische UniversitȨtsklinik, Abt. Physiotherapie Korrespondenzadresse Ulrich Betz, PT · OrthopȨdische UniversitȨtsklinik, Abt. Physiotherapie · Langenbeckstr.1 · 55131 Mainz · E-mail: [email protected] Manuskript eingetroffen: 18.5.2004 · Manuskript akzeptiert: 8.10.2004 Bibliografie Manuelle Therapie 2004; 8: 200 – 204 # Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York DOI 10.1055/s-2004-813800 ISSN 1433-2671 Zusammenfassung Ausgehend von vorliegenden RɆntgenganzaufnahmen der Wir- belsȨule eines sitzenden Menschen wurde computerunterstɒtzt ein Modell der Aufrichtbewegung von der kyphotischen in die aufrechte Sitzposition konstruiert. Zur Ƞberprɒfung der Allgemeingɒltigkeit dieser Einzelfallana- lyse dienten Aufzeichnungen und Untersuchungen des Bewe- gungsɒbergangs vom kyphotischen zum aufrechten Sitz anhand dauerbelichteter Aufnahmen markierter Referenzpunkte im Rumpf-, Becken- und Kopfbereich. Die Eignung des Zahnradmodells als korrekte und praktikable Anleitung fɒr die Aufrichtbewegung in den Sitz wird in Frage ge- stellt. SchlɒsselwɆrter Sitz · Biomechanik · Aufrichtung Abstract A computer-assisted model of movement from a kyphotic to an upright sitting position was designed, based on existing total radiographs of a sitting person’s vertebral column. Recording and examination of constant exposure photographs of marked reference points on the trunk, pelvis and head during the transfer from kyphotic to upright sitting were used to test the single case analysis for general validity. The cogwheel’s suitability as a correct and practicable model for instruction in the kyphotic to upright sitting movement is doubt- ful. Key words Sitting position · biomechanic · raising to upright sitting Originalarbeit 200 Heruntergeladen von: FH Campus Wien. Urheberrechtlich geschützt.

Aufrichtbewegung im sitz2

Embed Size (px)

DESCRIPTION

 

Citation preview

Page 1: Aufrichtbewegung im sitz2

Einleitung

Korrektur der Sitzhaltung ist ein weithin anerkannter Faktor inder Prophylaxe von Beschwerden am Bewegungssystem. Dabeisoll eine mehr belastende Wirbels�ulenstatik mit verst�rkter Ky-phosierung bzw. Entlordosierung der Thorakal- und Lumbalregi-on sowie einer Hyperlordosierung der HWS in eine weniger be-lastende so genannte aufrechte Statik mit einer flacherendoppel-s-f�rmigen Kr�mmung der Wirbels�ule (�hnlich denKr�mmungen im Stand) �berf�hrt werden Ein anschauliches

biomechanisches Modell f�r den Mechanismus der zur Entlas-tung notwendigen Aufrichtbewegung aus einer kyphotischenSitzposition ist sowohl f�r Therapeuten als auch Teilnehmer anErgonomieschulungen von elementarem Interesse.

In diesem Zusammenhang hat sich das Zahnradmodell etabliert,das von Br�gger [1] urspr�nglich zur Beschreibung des funk-tionellen Zusammenwirkens der K�rperabschnitte Becken,Rumpf und Kopf beim Zustandekommen verschiedener K�rper-haltungen beim Sitzen (Abb.1a u. b) vorgeschlagen wurde. Der

Ein neues biomechanisches Modell zurAufrichtbewegung im Sitz

U. BetzF. BodemA. Eckardt

A New Biomechanical Model for Movement into the Upright Sitting Position

InstitutsangabenOrthop�dische Universit�tsklinik, Abt. Physiotherapie

KorrespondenzadresseUlrich Betz, PT · Orthop�dische Universit�tsklinik, Abt. Physiotherapie · Langenbeckstr. 1 · 55131 Mainz ·E-mail: [email protected]

Manuskript eingetroffen: 18.5.2004 · Manuskript akzeptiert: 8.10.2004

BibliografieManuelle Therapie 2004; 8: 200 –204 � Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New YorkDOI 10.1055/s-2004-813800ISSN 1433-2671

Zusammenfassung

Ausgehend von vorliegenden R�ntgenganzaufnahmen der Wir-bels�ule eines sitzenden Menschen wurde computerunterst�tztein Modell der Aufrichtbewegung von der kyphotischen in dieaufrechte Sitzposition konstruiert.Zur �berpr�fung der Allgemeing�ltigkeit dieser Einzelfallana-lyse dienten Aufzeichnungen und Untersuchungen des Bewe-gungs�bergangs vom kyphotischen zum aufrechten Sitz anhanddauerbelichteter Aufnahmen markierter Referenzpunkte imRumpf-, Becken- und Kopfbereich.Die Eignung des Zahnradmodells als korrekte und praktikableAnleitung f�r die Aufrichtbewegung in den Sitz wird in Frage ge-stellt.

Schl�sselw�rterSitz · Biomechanik · Aufrichtung

Abstract

A computer-assisted model of movement from a kyphotic to anupright sitting position was designed, based on existing totalradiographs of a sitting person’s vertebral column.Recording and examination of constant exposure photographs ofmarked reference points on the trunk, pelvis and head during thetransfer from kyphotic to upright sitting were used to test thesingle case analysis for general validity.The cogwheel’s suitability as a correct and practicable model forinstruction in the kyphotic to upright sitting movement is doubt-ful.

Key wordsSitting position · biomechanic · raising to upright sitting

Orig

inalarb

eit

200

Her

unte

rgel

aden

von

: FH

Cam

pus

Wie

n. U

rheb

erre

chtli

ch g

esch

ützt

.

Page 2: Aufrichtbewegung im sitz2

Kinematik dieses Modells folgend wird bei rotatorischer Bewe-gung einer der als gekoppelte Zahnr�der dargestellten K�rper-abschnitte um eine frontotransversale Achse eine eindeutig defi-nierte gegenl�ufige Drehbewegung der beiden anderen bewirkt.Bei der aufrechten Sitzhaltung kommt es dabei zur Rotation derkranialen Beckenanteile nach ventral-kaudal in Kombination miteiner gegenl�ufigen Rotation des Rumpfes, bei der das Sternumnach ventral-kranial gef�hrt wird (Thoraxhebung), und eine wie-derum gegenl�ufig rotierende Bewegung des Kopfes mit Retrak-tion und hochzervikaler Flexion. Beim �bergang in die belastendeSitzposition finden nach dem Modell entsprechend gegensinnigeDrehbewegungen der K�rperabschnitte statt (Abb.1a u. b).

Dieses biomechanische Verhalten soll nach Vorstellung des Au-tors f�r das gesunde Bewegungssystem gelten. Liegen Bewe-gungsst�rungen vor, kann das Zusammenwirken der K�rper-abschnitte nach diesem Modell ver�ndert sein.

Seit seiner Einf�hrung findet sich das Zahnradmodell in einergroßen Zahl von Publikationen zur Sitzproblematik. �ber seinenprim�ren Zweck hinaus, die Abh�ngigkeit der verschiedenenK�rperabschnitte beim Sitzen zu veranschaulichen, wird es inverschiedenen R�ckenschulen dazu benutzt, den Bewegungs-�bergang von einer kyphotischen in eine aufrechte Sitzhaltungzu visualisieren, wobei es h�ufig als Bewegungsanleitung dient.Die vorliegende Arbeit greift das Thema neu auf.

Konstruktion eines neuen biomechanischen Modells zurAufrichtbewegung im Sitz

Als Ausgangspunkt dienen 2 R�ntgenganzaufnahmen einer Wir-bels�ule mit Becken und Sch�del, von denen eine in kyphotischerund eine in aufrechter Sitzposition eines Probanden aufgenom-men wurde [3]. Repr�sentative Punkte der R�ntgenbilder wurdenmit einem elektronischen Digitalisierbrett vermessen. In Abb. 2stellt die Figur ganz rechts den aus den digitalisierten Daten ge-wonnenen Verlauf der Wirbels�ule als schwarze (kyphotischeSitzposition) und blaue Punktereihe (aufrechte Sitzposition) dar.

Im 2. Schritt errechnete ein Computerprogramm die beim �ber-gang von der Anfangs- in die Endposition notwendige Bewegung

der einzelnen Wirbelk�rper in der Sagittalebene in 5 Einzel-schritten. Durch die Analyse der Bewegung zweier markanterPunkte des kn�chernen Beckens konnte ein Beckendrehpunkt(D1) ermittelt werden. In die Grafik wurde ein sich um diesen er-rechneten Beckendrehpunkt kippender Kreis als Beckensymboleingef�gt (Abb. 2). Der ebenfalls als Kreis dargestellte Kopf drehtsich in der Darstellung nicht, da wir davon ausgehen, dass sichdas Blickziel der Augen nicht nach der Sitzposition richtet, son-dern im Wesentlichen vom betrachteten Objekt des Sitzendenabh�ngt. Zus�tzlich wurden die Mittelpunkte der K�rper-abschnitte Kopf (MK), Oberk�rper (MO) und Becken (MB) sowiedie Kopplungspunkte Kopf – Wirbels�ule (K1), Becken – Wirbel-s�ule (K2) und die berechneten Wanderungswege der f�r dieDarstellung ausgew�hlten Punkte beschrieben.

Beim Betrachten der Abb. 2 f�llt auf, dass das Becken nicht wieim Zahnradmodell dargestellt, um eine durch die Mitte des Be-ckens verlaufende Achse, sondern um einen Drehpunkt D1 ro-tiert, der sich am Beckenrand oder gar außerhalb der kn�chernenStruktur befindet. Somit erfolgt prim�r eine Beckenkippung mitWinkel a um D1 und als notwendige Folge davon auch eine Rota-tion um den Mittelpunkt MB und dessen Verschiebung in ventra-ler Richtung.

Zu der Beckenkippung nach ventral l�sst sich geometrisch einegegenl�ufigen Rotation des Oberk�rpers um seinen MittelpunktMO mit einem Winkel b konstruieren. Wie im Weiteren aus-gef�hrt wird, stellt diese Oberk�rperrotation jedoch nur einenformalen Teilaspekt in der Komplexit�t der gesamten Oberk�r-perbewegung dar und reicht zur Beschreibung der tats�chlichenMechanismen nicht aus.

In Abb. 2 zeigt sich klar, dass die Darstellung des Oberk�rpers alsstarrer K�rper den wahren Sachverhalt unzul�ssig vereinfacht.Bei der Aufrichtbewegung ver�ndert er stark seine Form, dehntund verschlankt sich. Die Gestalt�nderung wird nur durch dieVielgliedrigkeit der Wirbels�ule m�glich. Um die Aufrichtungzu bewirken, sind vielerlei Extensions- und Flexionsbewegungen(d. h. Wirbelk�rperrotationen) um wandernde segmentale fron-totransversale Achsen notwendig. Die Rotationen um tats�ch-liche materielle anatomische Drehachsen werden jedoch schonaufgrund ihrer Vielzahl vom Menschen nicht im Detail proprio-zeptiv erfasst und bewusst einzeln gesteuert. Als entscheidendesElement der Aufrichtung bietet die segmentale Korrekturbewe-gung daher keinen Ansatzpunkt f�r eine praktisch umsetzbareBewegungs- bzw. Haltungsanleitung.

In diesem Sinne erscheint uns die Beschreibung der Oberk�rper-bewegung durch die in Abb. 2 deutlich zu erkennenden trans-latorischen r�umlichen Wanderungen der verschiedenen Wir-bels�ulenabschnitte Erfolg versprechender. Sie sind essenziellerBestandteil der Aufrichtbewegung und k�nnen durch das Lage-empfinden im Raum bewusst wahrgenommen und damit gezieltkoordiniert werden. Die f�r die Aufrichtbewegung notwendigensegmentalen Rotationen der Wirbelk�rper gehen beim gesundenBewegungssystem mit der Translationsbewegung einher undfinden unbewusst statt. Die Wanderungswege der Wirbelk�perund damit auch der segmentalen Rotationsachsen verlaufen beider K�rperaufrichtung in der LWS und der unteren BWS nahezuparallel, �berwiegend nach ventral und leicht nach kranial

a b

Abb. 1 Zahnradmodell nach Dr. Br�gger. a Entlastungshaltung. b Be-lastungshaltung.

Betz U et al. Ein neues biomechanisches … Manuelle Therapie 2004; 8: 200 – 204

Orig

inalarb

eit

201

Her

unte

rgel

aden

von

: FH

Cam

pus

Wie

n. U

rheb

erre

chtli

ch g

esch

ützt

.

Page 3: Aufrichtbewegung im sitz2

(Abb. 2). Damit folgt die LWS im Wesentlichen der Bewegung ih-res Kopplungspunktes mit dem Becken (K2) von dorsal-kaudalnach ventral-kranial. Hier spielt also die Kopplung der LWS andas Becken mit einer nahezu festen Drehachse eine entscheiden-de Rolle. Dies wird durch die wandernde (abrollende) Verbin-dung der beiden K�rperabschnitte im Zahnradmodell biomecha-nisch nicht korrekt dargestellt.

Im vorliegenden Beispiel erf�hrt die Translationsbewegung inder mittleren BWS einen starken Wechsel in Richtung kranialund leicht nach dorsal. Sie setzt sich in der oberen BWS, derHWS und am Kopf nahezu parallel fort. Wie am Becken ist dieWirbels�ule auch an den Kopf mit einer nahezu festen Drehachse

gekoppelt (K1). Durch die Bewegung des Oberk�rpers ergibt sichzwar an diesem Kopplungspunkt geometrisch eine relative Rota-tion, der Kopf selbst rotiert jedoch anders als im Zahnradmodelldargestellt fast nicht, wenn von einer r�umlichen Fixierung dergeraden Blickrichtung auf ein fernes Sichtziel ausgegangen wird.Dies ist etwa bei Betrachtung einer entfernten Szene der Fall, wiez.B. bei einer B�hnenauff�hrung oder zuhause vor dem Fernseh-bildschirm. Bei einer Arbeit, zu deren Ausf�hrung der Blick auf

Abb. 3 – 9 Wan-derungswege derBeobachtungspunk-te bei der �nderungder Sitzhaltung.

Abb. 4

MK

K1

D1

K 2

MB

M0

α

β

Abb. 2 Neues Modell einer Aufrichtbewegung aus dem kyphotischen in den aufrechten Sitz (computerunterst�tzte R�ntgenbild-Einzelfallanalyse).

Betz U et al. Ein neues biomechanisches … Manuelle Therapie 2004; 8: 200 – 204

Orig

inalarb

eit

202

Her

unte

rgel

aden

von

: FH

Cam

pus

Wie

n. U

rheb

erre

chtli

ch g

esch

ützt

.

Page 4: Aufrichtbewegung im sitz2

einen n�her gelegen Punkt fixiert ist (z.B. am Computermonitor),ergibt sich f�r den Kopf durch die Anhebung des Rumpfes in dieaufrechte Sitzposition immer eine leichte Vorw�rtsdrehung (Na-se nach kaudal), wenn die Blickrichtung der Augen zum Objektbeibehalten werden soll. Die dominante Bewegung des Kopfesw�hrend der Aufrichtbewegung im Sitz ist jedoch eine translato-rische Verschiebung nach kranial.

Die beschriebenen Translationsbewegungen sind zwar auch Be-standteil des Zahnradmodells, die Lagever�nderung der Mittel-punkte wird dabei aber grafisch nicht hervorgehoben. Dies magdadurch begr�ndet sein, dass das Modell urspr�nglich wohlweniger zur Visualisierung des Bewegungs�bergangs, sonderneher zur Darstellung der relativen Winkelstellung der einzel-nen K�rperabschnitte in den verschiedenen Sitzpositionen ge-dacht war.

Experimentelle �berpr�fung des neuen Modells

MethodikZur experimentellen �berpr�fung der modellhaften �berlegun-gen wurden die Bewegungen von verschiedenen Referenzpunktenam Becken, Rumpf und Kopf w�hrend der Sitzhaltungs�nderungbei 30 Probanden mit einfacher Photogrammetrie untersucht.Hierzu wurden entlang des Kiefers, am seitlichen Rumpf und amBeckenkamm fluoreszierende Markierungen aufgeklebt. Die Posi-tionen der Markierungen am Rumpf wurden dem abgesch�tztenVerlauf der Wirbelk�rperreihe angepasst. Ein elektronischerLichtblitz brachte die Referenzpunkte zum Leuchten. In einem ab-gedunkelten Raum fotografierte eine dauerbelichtende Kamera(Aufnahmezeit insgesamt 5 Sekunden) die Bewegung sowohl aus

Abb. 8

Abb. 7Abb. 5

Abb. 6

Betz U et al. Ein neues biomechanisches … Manuelle Therapie 2004; 8: 200 – 204

Orig

inalarb

eit

203

Her

unte

rgel

aden

von

: FH

Cam

pus

Wie

n. U

rheb

erre

chtli

ch g

esch

ützt

.

Page 5: Aufrichtbewegung im sitz2

einer kyphotischen in eine aufrechte Sitzposition als auch in dergegensinnigen Bewegungsrichtung. Mit dieser Technik erfolgtedie Aufzeichnung der Bewegungen der Beobachtungspunkte beider Sitzhaltungs�nderung bei jedem der 30 Probanden 4-mal (je2-mal in beide Bewegungsrichtungen; Abb. 3– 9).

ErgebnisseDie aus den Fotos gewonnenen Bewegungskurven zeigen in denwesentlichen Merkmalen eine gute �bereinstimmung mit demaus den R�ntgenaufnahmen berechneten Modell (Abb. 2). Dabeiweist die Bewegung aus der kyphotischen in die aufrechte Sitzposi-tion die gleiche Charakteristik wie in umgekehrter Richtung auf.Bei der Aufrichtung sind die Beckenkippung, die Translation derLWS und der unteren BWS nach ventral, der �bergang der Trans-lation nach kranial in der mittleren BWS sowie die Translation deroberen BWS, der HWS und des Kopfes nach kranial eindeutig zu er-kennen. Alle Aufnahmen der Untersuchungsreihe lassen aus-nahmslos diese grunds�tzliche Bewegungssystematik erkennen.

Unterschiede treten lediglich in einigen Punkten der individuel-len Durchf�hrung zutage. W�hrend sich der Kopf bei der Auf-richtbewegung im R�ntgenbildmodell (Abb. 2) genauso wiebeim in Abb. 3 gezeigten Versuch nach kranial und leicht nachdorsal bewegt, zeigen Abb. 4 eine Bewegung streng nach kranialund die Abb. 5 und 6 eine verschieden steile Kopfbewegung nachkranial und ventral.

Diese Unterschiedlichkeit interpretieren wir als Ergebnis einerindividuellen Anordnung von Kopf, Thorax und Becken (unter-schiedliche Schwerpunktverlagerung) im kyphotischen Sitz. Beider Aufrichtbewegung werden die 3 K�rperabschnitte in der Sa-gittalebene untereinander angeordnet. Je nach Ausgangspositionist dazu ein reines Anheben des Kopfes oder eine leichte Korrek-tur nach ventral bzw. dorsal notwendig.

Zielgerichtete, geradlinige Bewegungen sind Ausdruck von �ko-nomie und guter Koordination. Die Abb. 7 – 9 sind Beispiele f�rVersuchsergebnisse, bei denen Teile der Leuchtspuren jedoch

nicht geradlinig verlaufen. Solche Richtungs�nderungen konntenwir lediglich im HWS- und BWS-Bereich feststellen. Wir inter-pretieren diese nichtgeradlinigen Verl�ufe der Leuchtspuren alsAusdruck einer nicht optimal koordinierten Ausf�hrung der Be-wegung. Nach unserer Interpretation haben die Probanden hierdie Aufrichtung nicht spontan als den ihrer Modellvorstellungentsprechenden Bewegungsablauf korrekt ausgef�hrt, sondernversucht, w�hrend der Bewegung bewusst gewordene Abwei-chungen von der Zielvorgabe nachzukorrigieren.

DiskussionNach den Ergebnissen bewirkt bei der Bewegung aus einem ky-photischen in einen aufrechten Sitz die rotatorische Beckenkip-pung eine r�umliche Wanderung der Sakrumbasis und damiteine Translation der LWS und der unteren BWS nach ventralund leicht kranial. Die Wirbels�ulenkr�mmungen verflachen,woraus eine Verl�ngerung der Wirbels�ule und damit ein ver-st�rktes Anheben des Kopfes nach kranial resultiert. Dabei istdie Form�nderung des Rumpfes das Ergebnis vieler segmentalerEinzelbewegungen der Wirbelk�rper.

Die von Klein-Vogelbach [2] eingef�hrte Vorstellung vom Kl�tz-chenturm, bei der es durch Translation der K�rperabschnitte zueiner lotrechten Anordnung von Kopf, Thorax und Beckenkommt, stellt deutlich die von uns beobachtete Translations-bewegung der LWS und des Thorax dar. Wird bei der Aufricht-bewegung im Sitz die Vorstellung der Turmbildung mit einer ro-tatorischen Beckenkippung (mit einem Drehzentrum in derN�he der Tuber ossis ischii) und einer Verl�ngerung des Rumpfeskombiniert, entsteht nach unseren Ergebnissen eine weitgehendrealit�tsnahe und als Handlungsanleitung praktikable Vorstel-lung der Aufrichtung im Sitz.

Schlussfolgerungen

Das Zahnradmodell verliert seine Aussagekraft f�r die Realit�twohl haupts�chlich durch die verminderte Bewegung auf 3formstarre K�rperabschnitte, die wie Zahnkr�nze aufeinanderabrollen. Als Konsequenz reduziert sich die Komplexit�t der Be-wegung auf eine rotatorische Bewegung ganzer K�rperabschnit-te, die weit von der biomechanischen Realit�t entfernt ist.

Die entscheidenden translatorischen Bewegungen der K�rper-abschnitte im Raum sind im Modell zwar zum Teil implizit vor-handen, spielen bei der Visualisierung des tats�chlichen mecha-nischen Vorgangs jedoch eine untergeordnete Rolle. Da dies denbiomechanischen Mechanismus nicht ausreichend beschreibt,muss der Nutzen des Modells – zumindest als Visualisierungund als praktikable Anleitung zur Aufrichtung im Sitz – �ber-dacht werden.

Literatur

1 Forschungs- und Schulungszentrum Dr. Br�gger. Gesunde K�rper-haltung im Alltag. Z�rich: Eigenverlag, 1986

2 Klein-Vogelbach S. Funktionelle Bewegungslehre. Berlin: Springer, 19893 Schoberth H. Orthop�die des Sitzens. Berlin: Springer, 1989

(Weitere Literatur zum Thema beim Verfasser)

Abb. 9

Betz U et al. Ein neues biomechanisches … Manuelle Therapie 2004; 8: 200 – 204

Orig

inalarb

eit

204

Her

unte

rgel

aden

von

: FH

Cam

pus

Wie

n. U

rheb

erre

chtli

ch g

esch

ützt

.