Ein Luftikus für Downing Street · 2019. 7. 23. · mit78,7MillionenEurounddas Verkehrsministerium...

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Ein Luftikus für Downing StreetBasis der britischen Tories wählt Boris Johnson zum neuen Parteivorsitzenden

London. Boris Johnson ist neuer Vorsitzen-der der Tories. Der frühere britische Außen-minister erhielt in der Urabstimmung 92 153von rund 159 000 Stimmen. Der aktuelle Au-ßenminister Jeremy Hunt kam auf rund46 700 Stimmen. Als neuer Parteichef willJohnson am Mittwoch den Posten des Regie-rungschefs von der am Brexit gescheitertenAmtsinhaberin Theresa May übernehmen.Kurz nach seiner Wahl erklärte Johnson:

»Wir werden den Brexit am 31. Oktober erle-digt haben.« Der Konservative hatte vor demBrexit-Referendum im Sommer 2016 unteranderem behauptet, dass Großbritannien wö-

chentlich 350 Millionen Pfund an die EU wei-terleiten müsse. Nun will Johnson den Staa-tenverbund bis zum Herbst notfalls auch oh-ne Abkommen verlassen, wenn die EU nichtzu Zugeständnissen bereit sein sollte.Der erste Vize-Präsident der Europäischen

Kommission, Frans Timmermans, hatte kürz-lich aber bekräftigt, dass die Position der EUin der Brexit-Frage »klar« sei. London undBrüssel hätten den Austrittsvertrag ausgehan-delt. »Und die Europäische Union wird an die-ser Vereinbarung festhalten.«Im Weißen Haus herrschte Freude über die

Wahl Johnsons. US-Präsident Donald Trump,

der lukrative Geschäfte mit Großbritanniennach einem Austritt aus der EU wittert, gratu-lierte dem neuen Vorsitzenden der Tories kurznach dessen Wahl. »Er wird großartig sein«,schrieb Trump auf Twitter.Bei den Tories ist Johnson hingegen um-

stritten. Mehrere Minister, die keinen hartenBrexit wollen, haben ihren Rückzug ange-kündigt. Der Labour-Vorsitzende Jeremy Cor-byn forderte Neuwahlen. Johnson sei von we-niger als 100 000 Parteimitgliedern der Kon-servativen unterstützt worden und habe nichtdas Land hinter sich gebracht, schrieb Corbynauf Twitter. Agenturen/nd Seite 2

Demonstration gegen Johnson am vergangenen Wochenende in London – samt Verweis auf eine frühere Lüge. imago images/ZUMA Press/Wiktor Szymanowicz

STANDPUNKT

Die EU ist nichtdas ProblemAert van Riel überdie Wahl von Boris Johnson

Boris Johnson hat sich an dieSpitze der Tories geschwindelt.Der frühere Außenminister erhieltbei der Urwahl vor allem deswe-gen eine Mehrheit, weil viele bri-tische Konservative meinen, dassihr Land bald unbedingt aus derEU aussteigen soll. Johnson, derbald auch Premierminister wer-den will, droht mit einem Brexitbis zum 31. Oktober ohne Ab-kommen, wenn es bis dahin keineEinigung mit der EU geben sollte.Darauf würde es hinauslaufen,wenn Johnson weiterhin die offe-ne Grenze zwischen Irland undNordirland nach einem Brexit ab-lehnt. Für die EU ist seine Forde-rung nicht annehmbar. Nach ei-nem harten Brexit würde nicht dierosige Zukunft für das VereinigteKönigreich anbrechen, die John-son verspricht. Man müsste viel-mehr mit negativen Folgen für diebritische Wirtschaft rechnen unddamit, dass viele Arbeiter undAngestellte ihre Jobs verlieren.Es ist erschreckend, dass der

Brexit für Johnson eine Obsessi-on ist. Dabei liegen die Ursachenfür die Probleme des Landes wo-anders. Trotz der niedrigen Ar-beitslosigkeit – die Quote liegtbei offiziell 3,8 Prozent – gras-siert in vielen Regionen die Ar-mut. Sozialer Aufstieg ist fastunmöglich. Ein Kampf gegendiese Missstände steht nicht aufJohnsons Agenda. Der Tory-Chefvertritt die Interessen der Mittel-und Oberschicht, der er Steuer-senkungen versprochen hat. Weiler beim Brexit polarisiert, wird esnicht leicht für Johnson, die To-ries hinter sich zu versammeln.Für die britische Linke wäre erdie perfekte Zielscheibe.

UNTEN LINKS

Sprechen wir an dieser Stelleeinmal kurz über die deutscheSprache: Warum hat Deutsch-land so viele hässliche Wörter(»Eckpunktepapier«, »Reformpa-ket«, »mobilisieren«), die allesamtklingen, als seien sie von einemrechtwinkligen FDP-Technokra-tenkopf in einer zentralverriegel-ten Amtsstube oder Verrich-tungsbox entworfen worden?Antwort: Weil der Deutsche seitjeher Fußball, Ficken, Glotze undAuto wichtiger findet als seineSprache. Ganz anders dagegender Österreicher. Dessen Hobbys(NS-Vergangenheit verdrängen,Familie im Kellerverlies einsper-ren) sind zwar auch nicht geradedas Gelbe vom Ei, doch dafür hater die anrührendsten und bezau-berndsten Wortschöpfungen derGegenwart hervorgebracht:»Tschinbum« zum Beispiel, derBegriff für einen ebenso action-reichen wie banalen Film. Oderdas einen am gelungenen Cunni-lingus beteiligten Oberlippen-bartflaum bezeichnende Wort»Fudbürschderl«. Deutsche! Lerntvon Österreich! tbl

Eritreer in HessenniedergeschossenErmittler gehen von einemfremdenfeindlichen Motiv aus

Wächtersbach. Ein 55-jähriger Deutscher hatim hessischen Wächtersbach einen Mann ausEritrea niedergeschossen. Das 26-jährige Op-fer wurde bei der Tat am Montag schwer ver-letzt. Der mutmaßliche Täter habe sich mit ei-nem Kopfschuss selbst getötet, hieß es. Spre-cher des hessischen LKA und der FrankfurterGeneralstaatsanwaltschaft sagten, sie gingen»ganz klar von einem fremdenfeindlichenMo-tiv« der Tat imMain-Kinzig-Kreis aus. Das Op-fer sei offenbar nur aufgrund seiner Hautfar-be ausgewählt worden. Auf das rassistischeMotiv deutet auch ein Abschiedsbrief des 55-Jährigen hin, der bei einer Durchsuchung sei-ner Wohnung gefunden wurde. Dabei habedie Polizei auch vier Schusswaffen sicherge-stellt, die der Mann legal besessen habe.Die Fraktionschefin der LINKEN im hessi-

schen Landtag, Janine Wissler, äußerte sicherschüttert über die Tat. Sie wies darauf hin,dass sich der Angriff am 22. Juli ereignete.An dem Datum hatte 2011 der norwegischeRechtsextremist Anders Breivik auf der InselUtøya 77 Menschen getötet. epd/nd Seite 4

UN verurteilenAngriffe auf IdlibMoskau dementiert gezielteTötung von Zivilisten

Damaskus. Die Vereinten Nationen haben diejüngsten Luftangriffe auf Syriens letztes gro-ßes Rebellengebiet mit Dutzenden Totenscharf verurteilt. Es handele sich um eineschockierende Eskalation, die zu einer Wellevon Angriffen auf lebensnotwendige Infra-struktur gehöre, teilte das UN-NothilfebüroOcha in Syrien am Dienstag mit. Solche Bom-bardierungen könnten durch nichts gerecht-fertigt werden und müssten sofort aufhören.Bei den Luftangriffen auf das Rebellenge-

biet um die Stadt Idlib waren amMontag nachUN-Angaben mindestens 59 Zivilisten getötetund mehr als 100 verletzt worden. Es habesich um eine der schlimmsten Bombardie-rungen in den vergangenen drei Monaten ge-handelt. Die Syrische Beobachtungsstelle fürMenschenrechte mit Sitz in London machtendie Regierung in Damaskus und deren Ver-bündeten Russland für die Luftangriffe ver-antwortlich. Moskau wies die Vorwürfe zu-rück. Die Region um Idlib wird von der Al-Kai-da-nahen Miliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS)dominiert. dpa/nd Seite 5

Sánchez scheitert inerster RundeSpanisches Parlament schicktPremier in die Verlängerung

Madrid. Der geschäftsführende spanischeMinisterpräsident Pedro Sánchez hat die ers-te Parlamentsabstimmung über seine Wie-derwahl deutlich verloren. Am Dienstag vo-tierten 170 Abgeordnete gegen, aber nur 124Abgeordnete für den 47-Jährigen. 52 ent-hielten sich und vier waren abwesend undgaben keine Stimme ab. Im ersten Wahlgangbenötigte der sozialistische Regierungschefeine absolute Mehrheit von 176 Stimmen, dieer deutlich verpasste.Gemäß Verfassung wird nun 48 Stunden

später, also am Donnerstag, eine zweite Run-de stattfinden. Dann genügt Sánchez eineeinfache Mehrheit, also mehr Ja- als Nein-Stimmen. Jedoch ist noch völlig unsicher, ober die dafür nötige Unterstützung andererGruppierungen bekommen wird – allen vo-ran des linken Bündnisses Unidas Podemos(UP). Bei den noch laufenden Verhandlun-gen über die Bildung einer Koalition gab esam Dienstag noch kein Abkommen. Schei-tert Sánchez am Donnerstag erneut, rückt dievierte Neuwahl in vier Jahren näher. dpa/nd

ISSN 0323-3375

Oben rum, unten rumEin Gespräch mit dem Underground-Filmemacher Lothar Lambert. Seite 7Foto: imago images/United Archives/KPA

Schlecht beratenMinisterien der Bundesregierung zahlen immer mehr Geld für Sachverstand von außen

Über rund 20 000 Mitarbeiterverfügen die Bundesministerien.Die scheinen jedoch nicht zu ge-nügen. 178 Millionen Euro gabdie Bundesregierung im erstenHalbjahr für externe Berater aus.

Von Uwe Kalbe

Die Unternehmensberatungs-branche muss es wissen. Sie gibtden Umfang ihrer im Jahr 2017durch Verträge mit der öffentli-chen Hand zustande gekomme-nen Umsätze mit 2,9 MilliardenEuro an. Die Bundesregierung willdie Zahl jedoch nicht bestätigen.Sie wisse nicht, wie valide, wie zu-treffend dieser Wert sei, teilte siedem FDP-Abgeordneten Konstan-tin Kuhle auf seine Frage mit.Die Zahlen der Bundesregie-

rung selbst darf man wohl als va-lide behandeln. Für das ersteHalbjahr dieses Jahres sind es 178Millionen Euro, die die Bundes-ministerien demnach für externeBeratung aufwandten. Wie das Fi-

nanzministerium auf eine Anfra-ge von Matthias Höhn mitteilt, ra-gen aus den Angaben von 14 Mi-nisterien das Innenministeriummit 78,7 Millionen Euro und dasVerkehrsministerium mit 47,7Millionen Euro heraus. Wie derLINKE-Abgeordnete weiter er-fuhr, fehlen die Beratungsleistun-gen für das Bundesverteidigungs-ministerium gänzlich. Diese mit-gerechnet, dürfte sich das Bild je-doch erheblich verschieben, denndas Ressort ist wegen exorbitan-ter und undurchsichtiger Inan-spruchnahme externer BeratungGegenstand eines Untersu-chungsausschusses im Bundestaggeworden.Dass das Verteidigungsminis-

terium keine Zahlen liefert, be-trachtet Matthias Höhn deshalbals »besonders skandalöse Hinter-lassenschaft« Ursula von der Ley-ens. Die bisherige Ministerin ha-be erst »eine zum Teil rechtswid-rige Beraterkultur« etabliert. Undtrotzdem sei das Ministerium

nicht auskunftsfähig. Dies werdevon der Leyen auch als EU-Kom-missionspräsidentin dem Unter-suchungsausschuss erklären müs-sen. Und ihre AmtsnachfolgerinAnnegret Kramp-Karrenbauer sei»in der Pflicht, den Taschenrech-ner zu zücken, um hier schnell fürTransparenz zu sorgen«.Tatsächlich lagen die Bera-

tungsleistungen für die gesamteBundesregierung im Jahr 2014noch bei 63 Millionen Euro – eineSumme, die das Innenministeri-um allein im ersten Halbjahrüberschritt. Die Minister HorstSeehofer und Andreas Scheuerseien offenbar die Lieblinge ex-terner Berater, sagte Höhn dem»nd«. Fast 130Millionenhätten sieallein im ersten Halbjahr über-wiesen. »Diesel-Unfähigkeit,Maut-Debakel – die Liste des Ver-sagens ist lang. Externe Beraterverschlingen Unsummen, liefernaber nicht.«Den geringsten Aufwand für

auswärtige Beraterleistungen be-

trieb im ersten Halbjahr übrigensdas Bildungsministerium mit293 000 Euro. Aktuell gibt es 505Beraterverträge – in einem Um-fang von knapp 420 Millionen Eu-ro. Allerdings sei der Begriff »Be-ratungs- und Unterstützungsleis-tungen«, nach denen Höhn ge-fragt hatte, juristisch unüblich.»Unsicherheiten« und »Unschär-fen könnten deshalb nicht ausge-schlossen werden.

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Plötzlich unterden GroßenNach mehr als zehnJahren Pause findensich unter deutschenRadsportlern mitEmanuel Buchmann

und Lennard Kämnawieder Talente, die beigroßen Rundfahrtenvorn mitfahren. Seite 16Foto: imago images/Sirotti

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