1
)leiic3iird|(r Leitung FEUILLETON 104-027 Donnerstag, 5. Mai 1994 Nr. 104 27 Mileva Marti und Albert Einstein. Die Aufnahme zeigt Mileva um 1896, ab sie am Polytechnikum in Zürich mit dem Studium begann. Albert ist abgebildet als Polytechnikum-Student. Er schenkte Mileva die Photo im Jahre 1898. (Bilder Piper-Verlag) Lesezeichen Johonzel an Doxerl Albert Einsteins Liebesbriefe an Mileva Marie Konnte dies gutgehen? Ein 18jähriger schwäbi- scher Jude aus Ulm verliebt sich in eine mehr als drei Jahre ältere orthodoxe Serbin aus der Vojvo- dina. Er: charmant, gesellig, extrovertiert - beliebt bei jungen und älteren Damen (nicht nur wegen seines exzellenten Violinspiels). Sie: still, düster, introvertiert - ausserdem hässlich, sehr klein, hin- kend. Nein - es ging nicht gut. Zumindest nicht auf die Dauer. Solange sich das gemeinsame Leben der beiden in der kleinen Welt studentischer Boheme in Zürich abspielte, hat diese Beziehung wohl funktioniert. Doch sobald Einsteins Ruhm das ungleiche Paar dem Rampenlicht der inter- nationalen Akademie aussetzte, war es um die Das nächste Lesezeichen: Dichter, die brennen. «Melancolia Ameri- cana»: Porträts amerikanischer Autoren von Jiirg Federspiel. partnerschaftliche Harmonie geschehen: Albert genoss auch diese Gesellschaft - Mileva zog sich schneckengleich in ihr Haus zurück. Nach wenigen Ehejahren begann die Entfrem- dung. Diese wurde durch die Scheidung schliess- lich bürokratisch beglaubigt und begründet: Wegen «Ehebruchs» und «charakterlicher Unver- träglichkeit» ging man auseinander. Vor der Trennung von Tisch und Bett las man 's anders - ganz anders: Albert und Mileva schlie- ben sich Liebesbriefe. Diese sind jetzt erstmals in einer deutschen Ausgabe zugänglich. (Bereits 1987 wurden sie in Band I der Collected Papers of Albert Einstein von der Princeton University Press veröffentlicht; eine englische Übersetzung erschien 1992.) Von Albert Einstein sind 43 Briefe erhalten, von Mileva Marie nur 1 1 - Frauen sind auch in dieser Beziehung ordentlicher als Männer: Bei ihnen sind Liebesbriefe besser aufgehoben. Es entbehrt nicht eines morbiden Reizes, diese Briefe als Palimpsest zu lesen, in dem die frühe Verliebtheit vor dem Hintergrund der späteren Trennung verblasst. Im übrigen bestätigen Einsteins Briefe den grundsätzlichen Zweifel des Lesers an der Dauer- haftigkeit einer Liebesbeziehung. Die einschlägige Versicherung ewiger und einmaliger Liebe wird nacheinander mehreren Frauen gegeben: «Ich habe Dich ... so lieb gewonnen, dass ich Dir's kaum sagen kann», schreibt Einstein am 30. April 1912 - nicht an Mileva, sondern an seine Cousine Elsa, als er noch mit der ersteren verheiratet ist ... Doch gemach - noch sind Albert und Mileva unsterblich verliebt und frönen in ihren Briefen der Liebe zum Diminutiv. Nur in den ersten vier Briefen greift Einstein zu einer förmlichen An- rede: «geehrtes» oder «liebes Fräulein». Danach wird verkleinert, dass es nur so eine Art hat. Walter Helmut Fritz Der Doppelgänger Vertraut mit Euklids Elementen, dem Punkt, der den Raum enthält in Gedanken daran, wie stümperhaft er vieles in seinem Leben getan hat schaut er in einem Kramladen nahe der Karawanserei entgeistert seinem Doppelgänger zu der beschäftigt ist mit einem Rechenbrett, auf dem die Holzperlen an Drähten aufgereiht sind nur einmal kurz den Kopf hebt bei einem Pfiff, der die schläfrige Stunde unterbricht Dabei bewegt sich Einstein ohn e Rücksicht auf herkömmliche Dialektgrenzen quer durch die deutsche Sprachgeographie: «Schatzerl» steht neben «Schätzchen», «Miezel» neben «Miez- chen», «Weiberl» neben «Weibchen», «Fratzerl» neben «Frätzle». Die von ihm am häufigsten ver- wendete Benennung ist allerdings unverfälscht süddeutsch: «Doxerl» (oder «Dockerl») für Püppchen. Einstein nennt die sehr Geliebte kon- ventionell einen «kleinen lieben Engel» oder sein «kleines Hexchen» - aber auch originell sein «Doktorchen» oder «Negermädel». Auf dem Höhepunkt seiner Verliebtheit feuert der inzwischen Einundzwanzigjährige metaphori- sche Breitseiten auf die ferne Mileva: «mein Alles, mein Lüderchen, mein Gassenbub, mein Fritzchen». Unversehens wird er zu einem früh- expressionistischen Poeten: «Meine kleine Veran- da», balzt er. Selbst vor dem Verfassen eines Schnaderhüpfels schreckt er nicht zurück, in dem er verkleinert als «Johonzel» (sonst auch: «Johannes!») vorkommt: O mei! der Johonzel, Der is ganz verruckt Gmoant hod er seins Doxerl Und's Kissen hot er druckt .. Dass der Johonzel das geliebte Doxerl - von obe n nach unten betrachtet - mit einem «Köpf- chen», «Stirnlein», «Mäulchen» ausstattet und mit zwei «Ärmchen», «Füsserline», «Stiefelchen» versieht, mag für die diminutivselige Welt der Liebesbriefe ja noch angehen. Doch der Verliebte tut weit mehr: Für sein Püppchen errichtet er ein Puppenheim, in dem die kleine Nora zappelt. Dort gibt es «Zimmerchen» und «Kissed» - und ein «feins Paketl» schickt sie ihm - und «Geburts- tagerl» feiert sie. Prompt übernimmt die solchermassen Verklei- nerte die Redeweise ihre s Johonzels - ein Fest für Feministinnen! Wie er sendet sie «Brieferl» und übermittelt Küsse in der Form von «Putzerline». Sie nennt sich so, wie er sie nennt: «Weiberl», «Doxerl», «Kloane». Ihm zu Gefallen versteigt sie sich zu «Gelderl» und «Aufenthaltsorte!». Jahre später ist den beiden nicht mehr nach solchen diminutiven Exzessen zumute. Einstein schlägt nun andere Töne an. Aus der geliebten Doxerl wird eine «Medea» oder - erniedrigend schlicht - «die Frau». Er verkündet 1913 - aparterweise in einem Brief an Elsa, die Nach- folgerin Milevas: «Ich behandle meine Frau wie eine Angestellte, der ich allerdings nicht kündigen kann.» «Wir bleiben Student und Studentin ... so- lange wir leben», hatte Einstein seinem Doxerl verkündet. Später erinnert er sich an die studenti- sche Zweisamkeit ziemlich lieblos: Dies ausgedehnte Privatstudium war einfach die Fortsetzung früherer Gewohnheit; an diesem nahm eine seibische Studentin teil, Mileva Marie, die ich später heiratete. Und diese Heirat, so schreibt er am 5. 5. 1952 an seinen Biographen Carl Seelig, sei er mit «innerem Widerstreben» nur aus «Pflichtgefühl» eingegangen. Der frisch Vermählte dachte dar- über ganz anders. Kein Zwangsverpflichteter redet so: Jetzt komm mir bald wieder. VA Wochen sind schon vorbei, und länger darf ein braves Weiberl seinen Mann nicht allein lassen. «Ich habe mein eigenes Zimmer und vermeide es, mit ihr allein zu sein», meldet Einstein seiner Cousine Elsa später. Die für sie so erfreulichen Briefe ihres Cousins werden von ihr unter der Rubrik «Besonders schöne Briefe aus bester Zeit» gesammelt. Und sonst? Viel Physik enthalten die Briefe an Mileva - fast zu viel für Briefe an die Geliebte. Und etwas Heine, der ja manchmal nicht wusste, wo die Ironie aufhört und der Himmel anfängt. «Das Schreiben ist dumm. Am Sonntag küss' ich Dich mündlich», verspricht der Johonzel. Nicht ganz geheuer sind auch jene Brief- passagen, in denen er Mileva zu seinem «lieben Naturforscherlein» ernennt. Und ein wenig mali- ziös erscheint sein befristetes Angebot: «Bis Du mein liebes Weiberl bist, wollen wir recht eifrig zusammen wissenschaftlich arbeiten . . Doch auch zu Selbstkritik und -ironie war Einstein fähig: Aber gelt, Du hast mich sonst auch gem, wenn ich auch wieder der alte Lump bin voll von Kapricen, Teufeleien, und launisch wie stets! Als entfernter Verwandter Heinrich Heines er- weist sich Einstein schliesslich in einigen Reise- bildern - en miniature. So schreibt er im März 1899 aus Mailand: Während ich mich dann auf der ferneren Reise mit einem jungen Mann über italienische Verhaltnisse an- gelegentlichst unterhielt, bemühte sich ein zum ersten Male nach Italien reisender deutscher Jüngling & Handelsbeflissener, die paar italienischen Gelegen- heitsbröcklein, die er sich eigens zu diesem Zweck an- geschnallt hatte, möglichst elegant & ungezwungen an den Mann zu bringen. Das war gerade, wie wenn einer mit einer Trompete, die nur 2 Töne hat, in einem Orchester mitblasen wolle & immer sehnsüch- tig wartet, bis er wieder einen davon ertönen lassen kann. Und öfter zeigt sich Einstein als satirisches Naturtalent. Die verhasste Tante Julie schildert er als «veritables Ungetüm von Arroganz & stumpf- sinnigem Formalismus» - als «Schauertante». - Lesenswert auch jene Passage, in der Einstein schildert, wie hysterisch seine Mutter auf die An- kündigung seiner Heirat mit Mileva reagiert: Mama warf sich auf ihr Bett, verbarg den Kopf in den Kissen und weinte wie ein Kind .. Von «offener Feldschlacht» ist in einem ande- ren Brief die Rede. «Meine Eltem beweinen mich Das verfehlte Ziel des Todes Michael Köhlmeiers Erzählung «Sunrise» Auf zwei Strassen spielt sich die neueste Erzäh- lung des Vorarlbergers Michael Köhlmeier ab: Auf nächtlicher, nicht weiter beschriebener Land- strasse erzählt ein Tramper dem anderen eine Ge- schichte, während sie erfolglos auf einen barm- herzigen Autofahrer warten, der sie mitnehmen würde. Und in dieser Landstrassengeschichte ist die Schicksalsstrasse der einst vornehme, nun her- untergekommene, vom Unrat verklebte Holly- wood Boulevard in Los Angeles. Dort, auf dem Hollywood Boulevard, geschieht eines nebligen Morgens dem Tod ein Miss- geschick, das eigentlich gerade ihm, dem Sensen- mann, dem gefürchteten Schnitter, nicht passieren dürfte: Seine Sichel verfehlt ihr Ziel, prallt an einem Kotflügel ab und trifft statt des zweiund- fünfzigjährigen Penners Leo Pomerantz, genannt Sneezy, die kaum zwanzigjährige Stripperin Rita Luna, die soeben ihr Tage- bzw. Nachtwerk be- endet hat. So geraten der voller guter Vorsätze aufgestan- dene Sneezy und Rita Luna sofort in eine erregte Diskussion über die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit des misslungenen Sichelwurfs. Denn die Getrof- fene war nicht gemeint, und der Gemeinte ist nicht getroffen worden, und leben wollen beide. «Aber der Tod», heisst es, «war auf jeden Fall nicht scharf darauf, ein Urteil zu sprechen, Sneezy und Rita sollen das unter sich ausmachen, sagt er. Aber er ist fair.» So kommt es zu einem Wettbewerb, in wei- chem jeder der beiden seine Argumentation und damit seinen Anspruch auf Leben rechtfertigen soll, während einer knappen Stunde, in welcher der Tod die Stadt Los Angeles stillstehen und die Sonne nicht aufgehen lassen wird. Michael Köhlmeier ist bei dieser direkten, ver- zweifelten Auseinandersetzung zweier Menschen miteinander, mit Punkten ihrer Biographien und mit dem Tod eine feine, ja rührende Geschichte gelungen, die keinen Buchstaben lang ins Kit- schige abrutscht. Die Gestaltung der ganzen Er- zählung aus dem Dialog heraus, das Einleben des Autors in die individuellen Erzählstile der Figu- ren verleihen dieser einfachen und zugleich furchtbar komplizierten Geschichte Tiefe, gleich- zeitig aber eine wohltuend unaufdringliche und erstaunlich glaubwürdige Lockerheit. Die sich sporadisch nähernden Autos auf der unbenannten Landstrasse führen dabei die Hand- lung immer wieder auf die erste Erzählebene, zu den beiden Trampern, zurück, und dort wird sie, kurz vor Sonnenaufgang, auch entschieden wer- den. Diese Entscheidung ist die Pointe des Buchs, aber mehr als ein rasant gesetzter origineller Schlusspunkt. Denn sie zeigt, dass der Tod auf eine sehr direkte Weise «fair» sein kann, fairer als jede zurechtgedachte Gerechtigkeit und spottend jeder pseudophilanthropischen Gleichgültigkeit, die es allen recht machen möchte, ohne selbst in- volviert zu werden. So wächst der Dünne, wie Köhlmeier bzw. der Tramper Richard den Tod nennt, angesichts der rücksichtslosen Gewalt, die Menschen anderen Menschen zufügen oder ge- schehen lassen, über die Allegorie des Todes hin- aus zur Utopie menschlichen und fairen Sterbens. Alfred Bodenheimer Michael Köhlmeier: Sunrise. Erzählung. Haymon-Verlag, Innsbruck 1994. 77 S., Fr. 29.-. Karawane auf Abruf Rut Himmelsbach im Kunsthaus Zug U. /. Die Ausstellungshalle und das durch eine schwungvolle Treppe offen mit ihr verbundene Untergeschoss im Kunsthaus Zug bieten ideale Voraussetzungen für räumliche Installationen und Gedankensprünge. Rut Himmebbach, 1950 in Zug geboren, zur Photography ausgebildet an der Schule für Gestaltung Zürich und in einem Special Course in Creative Photography in Lon- don, begann vor zwanzig Jahren auch zu malen. Auf langen Reisen durch drei Kontinente er- schlossen sich ihr Zeitlosigkeit und Bewegung. Beim Verarbeiten vieler Techniken (Photographie, Malerei, Mosaik, Kneten in Ton, Steinschliff, Schriftverschlüsselungen) berührt sie nach ihren eigenen Worten «eine Art Zauber im Materiel- len». Kreative Spielfreude, nennt es Konservator Matthias Haldemann. Er öffnete ihr das Kunst- haus für die Ausstellung mit dem Titel Karawane. Welche Lust, grosse Räume, weisse Wände sparsam zu markieren, mit einem schwarzen Raben auf Leinwand (ohne Rahmen) und weit davon entfernt einem Ikarus - oder Luzifer, stür- zend jedenfalls, in öl auf Leinwand und geätztem Stein! Gesichter fremdländischer Menschen und steinerne Buddhagesichter begegnen sich in einer Skulptur aus geätzten Steinplatten. Diese Blickpunkte wären genug. Schwarz auf Weiss. Meditation und Augenweide. Leider kommt hier dazu, was man Hausfrauenfleiss nen- nen möchte: farbige Mosaike eher schlechter Qualität, ein Samurai (Xerox auf Holz), bunt und fremd in der Karawane, eine Sammlung von Huf- eisen. Die Buchstaben, durchsichtig auf der weis- sen Wand, irritieren: MVM bedeutet 1995, ge- wiss, aber noch ein Jahr zu früh, und wenn es Mumm bedeuten soll, fehlt ein M - echt daneben, um im Jargon zu bleiben. - Der Abstieg in das effektvoll beleuchtete Untergeschoss führt zu aus- gebreiteten Tonmasken von Hundegesichtern. Weiss, schwarz, ziegelrot und ockerfarben bedek- ken sie den Boden wie welke Blätter im Herbst. Die Installation heisst «Bewegte Richtung», 440 Tonhunde. Wofür und wohin bewegen sie sich? Die Köpfe sind einzeln verkäuflich; die Hälfte der Einnahmen geht an die Organisation Frauen für den Frieden. (Bis 29. Mai) fast, wie wenn ich gestorben wäre», kommentiert er sarkastisch - ein unter Portnoys Beschwerden leidender junger Mann: verliebt in eine Schickse und wild entschlossen, der Herrschaft seiner jüdi- schen Mamme zu entfliehen .. So bietet dieser intime Briefwechsel jedem sei- ner - eigentlich ja ungebetenen - Mitleser etwas. Dem Physiker gewähr t er Einblick in Einsteins wissenschaftliche Entwicklung, dem Psychologen liefert er einen interessanten Fall, den Satiriker versorgt er mit wiederverwendbaren Zitaten und den Verfasser von Liebesbriefen mit stilistischen Anregungen. Ein wenig traurig stimmt er wohl alle - wie immer, wenn die Liebe scheitert. Theo Stemmler Albert Einstein / Mileva Marie: Am Sonntag küss" ich Dich mündlich. Die Liebesbriefe 1897-1903. Herausgegeben und ein- geleitet von JOrgen Renn und Robert Schulmann. Mit einem Essay «Einstein und die Frauen» von Armin Hermann. Piper- Verlag. München 1994. 210 S., mit II Abb. Fr. 35.-. Anzeige Der feinen Köche in den Topf geschaut« Sollten Sie einmal unver- hofft einen Bück ins Allerheiligste eines wahren Mahr» de Cuisine erhaschen, dann werden Sie feststellen, dass dort zwar auch nur mit Wasser - aber durchweg in »rstklatsigan Töpfen gekocht wird. In Töpfen, wie man sie bei Sequin-Dormann findet. Bahnhofstrasse 69a 8021 Zürich 1 Telefon 01/218 74 74 Neue Zürcher Zeitung vom 05.05.1994

104-027 · deutsche Sprachgeographie: «Schatzerl» steht neben «Schätzchen», «Miezel» neben «Miez-chen», «Weiberl» neben «Weibchen», «Fratzerl» neben «Frätzle». Die

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 104-027 · deutsche Sprachgeographie: «Schatzerl» steht neben «Schätzchen», «Miezel» neben «Miez-chen», «Weiberl» neben «Weibchen», «Fratzerl» neben «Frätzle». Die

)leiic3iird|(r Leitung FEUILLETON104-027

Donnerstag, 5. Mai 1994 Nr. 104 27

Mileva Marti und Albert Einstein. Die Aufnahme zeigt Mileva um 1896, ab sie am Polytechnikum in Zürich mitdem Studium begann. Albert ist abgebildet als Polytechnikum-Student. Er schenkte Mileva die Photo im Jahre 1898.

(Bilder Piper-Verlag)

Lesezeichen

Johonzel an DoxerlAlbert Einsteins Liebesbriefe an Mileva Marie

Konnte dies gutgehen? Ein 18jähriger schwäbi-scher Jude aus Ulm verliebt sich in eine mehr alsdrei Jahre ältere orthodoxe Serbin aus der Vojvo-

dina. Er: charmant, gesellig, extrovertiert - beliebtbei jungen und älteren Damen (nicht nur wegenseines exzellenten Violinspiels). Sie: still, düster,introvertiert - ausserdem hässlich, sehr klein, hin-kend.

Nein - es ging nicht gut. Zumindest nicht aufdie Dauer. Solange sich das gemeinsame Lebender beiden in der kleinen Welt studentischerBoheme in Zürich abspielte, hat diese Beziehung

wohl funktioniert. Doch sobald Einsteins Ruhmdas ungleiche Paar dem Rampenlicht der inter-nationalen Akademie aussetzte, war es um die

Das nächste Lesezeichen:Dichter, die brennen. «Melancolia Ameri-cana»: Porträts amerikanischer Autoren vonJiirg Federspiel.

partnerschaftliche Harmonie geschehen: Albertgenoss auch diese Gesellschaft - Mileva zog sichschneckengleich in ihr Haus zurück.

Nach wenigen Ehejahren begann die Entfrem-dung. Diese wurde durch die Scheidung schliess-lich bürokratisch beglaubigt und begründet:Wegen «Ehebruchs» und «charakterlicher Unver-träglichkeit» ging man auseinander.

Vor der Trennung von Tisch und Bett las man 'sanders - ganz anders: Albert und Mileva schlie-ben sich Liebesbriefe. Diese sind jetzt erstmals ineiner deutschen Ausgabe zugänglich. (Bereits

1987 wurden sie in Band I der Collected Papers

of Albert Einstein von der Princeton UniversityPress veröffentlicht; eine englische Übersetzung

erschien 1992.)

Von Albert Einstein sind 43 Briefe erhalten,von Mileva Marie nur 1 1 - Frauen sind auch indieser Beziehung ordentlicher als Männer: Beiihnen sind Liebesbriefe besser aufgehoben.

Es entbehrt nicht eines morbiden Reizes, dieseBriefe als Palimpsest zu lesen, in dem die früheVerliebtheit vor dem Hintergrund der späterenTrennung verblasst.

Im übrigen bestätigen Einsteins Briefe dengrundsätzlichen Zweifel des Lesers an der Dauer-haftigkeit einer Liebesbeziehung. Die einschlägigeVersicherung ewiger und einmaliger Liebe wirdnacheinander mehreren Frauen gegeben: «Ichhabe Dich ... so lieb gewonnen, dass ich Dir'skaum sagen kann», schreibt Einstein am 30. April1912 - nicht an Mileva, sondern an seine CousineElsa, als er noch mit der ersteren verheiratetist ...

Doch gemach - noch sind Albert und Milevaunsterblich verliebt und frönen in ihren Briefender Liebe zum Diminutiv. Nur in den ersten vierBriefen greift Einstein zu einer förmlichen An-rede: «geehrtes» oder «liebes Fräulein». Danachwird verkleinert, dass es nur so eine Art hat.

Walter Helmut Fritz

Der Doppelgänger

Vertraut mit Euklids Elementen,dem Punkt,der den Raum enthält

in Gedanken daran,wie stümperhaft er vielesin seinem Leben getan hat

schaut er in einem Kramladennahe der Karawansereientgeistert seinem Doppelgänger zu

der beschäftigt ist mit einemRechenbrett, auf dem die Holzperlen

an Drähten aufgereiht sind

nur einmal kurz den Kopf hebtbei einem Pfiff,

der die schläfrige Stunde unterbricht

Dabei bewegt sich Einstein o h ne Rücksicht aufherkömmliche Dialektgrenzen quer durch diedeutsche Sprachgeographie: «Schatzerl» stehtneben «Schätzchen», «Miezel» neben «Miez-chen», «Weiberl» neben «Weibchen», «Fratzerl»neben «Frätzle». Die von ihm am häufigsten ver-wendete Benennung ist allerdings unverfälschtsüddeutsch: «Doxerl» (oder «Dockerl») fürPüppchen. Einstein nennt die sehr Geliebte kon-ventionell einen «kleinen lieben Engel» oder sein«kleines Hexchen» - aber auch originell sein«Doktorchen» oder «Negermädel».

Auf dem Höhepunkt seiner Verliebtheit feuertder inzwischen Einundzwanzigjährige metaphori-

sche Breitseiten auf die ferne Mileva: «meinAlles, mein Lüderchen, mein Gassenbub, meinFritzchen». Unversehens wird er zu einem früh-expressionistischen Poeten: «Meine kleine Veran-da», balzt er. Selbst vor dem Verfassen einesSchnaderhüpfels schreckt er nicht zurück, in demer verkleinert als «Johonzel» (sonst auch:«Johannes!») vorkommt:

O mei! der Johonzel,

Der is ganz verrucktGmoant hod er seins DoxerlUnd's Kissen hot er druckt . .

Dass der Johonzel das geliebte Doxerl - vono b en nach unten betrachtet - mit einem «Köpf-chen», «Stirnlein», «Mäulchen» ausstattet undmit zwei «Ärmchen», «Füsserline», «Stiefelchen»versieht, mag für die diminutivselige Welt derLiebesbriefe ja noch angehen. Doch der Verliebtetut weit mehr: Für sein Püppchen errichtet er einPuppenheim, in dem die kleine Nora zappelt.Dort gibt es «Zimmerchen» und «Kissed» - undein «feins Paketl» schickt sie ihm - und «Geburts-tagerl» feiert sie.

Prompt übernimmt die solchermassen Verklei-nerte die Redeweise i h r es Johonzels - ein Fest fürFeministinnen! Wie er sendet sie «Brieferl» undübermittelt Küsse in der Form von «Putzerline».Sie nennt sich so, wie er sie nennt: «Weiberl»,

«Doxerl», «Kloane». Ihm zu Gefallen versteigtsie sich zu «Gelderl» und «Aufenthaltsorte!».

Jahre später ist den beiden nicht mehr nachsolchen diminutiven Exzessen zumute. Einsteinschlägt nun andere Töne an. Aus der geliebtenDoxerl wird eine «Medea» oder - erniedrigendschlicht - «die Frau». Er verkündet 1913 -aparterweise in einem Brief an Elsa, die Nach-folgerin Milevas: «Ich behandle meine Frau wieeine Angestellte, der ich allerdings nicht kündigenkann.»

«Wir bleiben Student und Studentin ... so-lange wir leben», hatte Einstein seinem Doxerlverkündet. Später erinnert er sich an die studenti-sche Zweisamkeit ziemlich lieblos:

Dies ausgedehnte Privatstudium war einfach dieFortsetzung früherer Gewohnheit; an diesem nahmeine seibische Studentin teil, Mileva Marie, die ichspäter heiratete.

Und diese Heirat, so schreibt er am 5. 5. 1952an seinen Biographen Carl Seelig, sei er mit«innerem Widerstreben» nur aus «Pflichtgefühl»eingegangen. Der frisch Vermählte dachte dar-über ganz anders. Kein Zwangsverpflichteterredet so:

Jetzt komm mir bald wieder. VA Wochen sind schonvorbei, und länger darf ein braves Weiberl seinenMann nicht allein lassen.

«Ich habe mein eigenes Zimmer und vermeidees, mit ihr allein zu sein», meldet Einstein seinerCousine Elsa später. Die für sie so erfreulichenBriefe ihres Cousins werden von ihr unter derRubrik «Besonders schöne Briefe aus bester Zeit»gesammelt.

Und sonst? Viel Physik enthalten die Briefe anMileva - fast zu viel für Briefe an die Geliebte.Und etwas Heine, der ja manchmal nicht wusste,wo die Ironie aufhört und der Himmel anfängt.

«Das Schreiben ist dumm. Am Sonntag küss' ichDich mündlich», verspricht der Johonzel.

Nicht ganz geheuer sind auch jene Brief-passagen, in denen er Mileva zu seinem «liebenNaturforscherlein» ernennt. Und ein wenig mali-ziös erscheint sein befristetes Angebot: «Bis Dumein liebes Weiberl bist, wollen wir recht eifrigzusammen wissenschaftlich arbeiten . . .» Dochauch zu Selbstkritik und -ironie war Einsteinfähig:

Aber gelt, Du hast mich sonst auch gem, wenn ichauch wieder der alte Lump bin voll von Kapricen,Teufeleien, und launisch wie stets!

Als entfernter Verwandter Heinrich Heines er-weist sich Einstein schliesslich in einigen Reise-bildern - en miniature. So schreibt er im März1899 aus Mailand:

Während ich mich dann auf der ferneren Reise miteinem jungen Mann über italienische Verhaltnisse an-gelegentlichst unterhielt, bemühte sich ein zum erstenMale nach Italien reisender deutscher Jüngling &Handelsbeflissener, die paar italienischen Gelegen-heitsbröcklein, die er sich eigens zu diesem Zweck an-geschnallt hatte, möglichst elegant & ungezwungen

an den Mann zu bringen. Das war gerade, wie wenneiner mit einer Trompete, die nur 2 Töne hat, ineinem Orchester mitblasen wolle & immer sehnsüch-tig wartet, bis er wieder einen davon ertönen lassenkann.

Und öfter zeigt sich Einstein als satirischesNaturtalent. Die verhasste Tante Julie schildert erals «veritables Ungetüm von Arroganz & stumpf-sinnigem Formalismus» - als «Schauertante». -Lesenswert auch jene Passage, in der Einsteinschildert, wie hysterisch seine Mutter auf die An-kündigung seiner Heirat mit Mileva reagiert:

Mama warf sich auf ihr Bett, verbarg den Kopf inden Kissen und weinte wie ein Kind . .

Von «offener Feldschlacht» ist in einem ande-ren Brief die Rede. «Meine Eltem beweinen mich

Das verfehlte Ziel des TodesMichael Köhlmeiers Erzählung «Sunrise»

Auf zwei Strassen spielt sich die neueste Erzäh-lung des Vorarlbergers Michael Köhlmeier ab:Auf nächtlicher, nicht weiter beschriebener Land-strasse erzählt ein Tramper dem anderen eine Ge-schichte, während sie erfolglos auf einen barm-herzigen Autofahrer warten, der sie mitnehmenwürde. Und in dieser Landstrassengeschichte istdie Schicksalsstrasse der einst vornehme, nun her-untergekommene, vom Unrat verklebte Holly-wood Boulevard in Los Angeles.

Dort, auf dem Hollywood Boulevard, geschieht

eines nebligen Morgens dem Tod ein Miss-geschick, das eigentlich gerade ihm, dem Sensen-mann, dem gefürchteten Schnitter, nicht passieren

dürfte: Seine Sichel verfehlt ihr Ziel, prallt aneinem Kotflügel ab und trifft statt des zweiund-fünfzigjährigen Penners Leo Pomerantz, genanntSneezy, die kaum zwanzigjährige Stripperin RitaLuna, die soeben ihr Tage- bzw. Nachtwerk be-endet hat.

So geraten der voller guter Vorsätze aufgestan-

dene Sneezy und Rita Luna sofort in eine erregte

Diskussion über die Gültigkeit bzw. Ungültigkeitdes misslungenen Sichelwurfs. Denn die Getrof-fene war nicht gemeint, und der Gemeinte istnicht getroffen worden, und leben wollen beide.«Aber der Tod», heisst es, «war auf jeden Fallnicht scharf darauf, ein Urteil zu sprechen, Sneezy

und Rita sollen das unter sich ausmachen, sagt er.Aber er ist fair.»

So kommt es zu einem Wettbewerb, in wei-chem jeder der beiden seine Argumentation unddamit seinen Anspruch auf Leben rechtfertigensoll, während einer knappen Stunde, in welcher

der Tod die Stadt Los Angeles stillstehen und dieSonne nicht aufgehen lassen wird.

Michael Köhlmeier ist bei dieser direkten, ver-zweifelten Auseinandersetzung zweier Menschenmiteinander, mit Punkten ihrer Biographien undmit dem Tod eine feine, ja rührende Geschichtegelungen, die keinen Buchstaben lang ins Kit-schige abrutscht. Die Gestaltung der ganzen Er-zählung aus dem Dialog heraus, das Einleben desAutors in die individuellen Erzählstile der Figu-

ren verleihen dieser einfachen und zugleich

furchtbar komplizierten Geschichte Tiefe, gleich-zeitig aber eine wohltuend unaufdringliche understaunlich glaubwürdige Lockerheit.

Die sich sporadisch nähernden Autos auf derunbenannten Landstrasse führen dabei die Hand-lung immer wieder auf die erste Erzählebene, zuden beiden Trampern, zurück, und dort wird sie,

kurz vor Sonnenaufgang, auch entschieden wer-den. Diese Entscheidung ist die Pointe des Buchs,aber mehr als ein rasant gesetzter originellerSchlusspunkt. Denn sie zeigt, dass der Tod aufeine sehr direkte Weise «fair» sein kann, fairer alsjede zurechtgedachte Gerechtigkeit und spottendjeder pseudophilanthropischen Gleichgültigkeit,die es allen recht machen möchte, ohne selbst in-volviert zu werden. So wächst der Dünne, wieKöhlmeier bzw. der Tramper Richard den Todnennt, angesichts der rücksichtslosen Gewalt, dieMenschen anderen Menschen zufügen oder ge-

schehen lassen, über die Allegorie des Todes hin-aus zur Utopie menschlichen und fairen Sterbens.

Alfred BodenheimerMichael Köhlmeier: Sunrise. Erzählung. Haymon-Verlag,

Innsbruck 1994. 77 S., Fr. 29.-.

Karawane auf AbrufRut Himmelsbach im Kunsthaus Zug

U. /. Die Ausstellungshalle und das durch eineschwungvolle Treppe offen mit ihr verbundeneUntergeschoss im Kunsthaus Zug bieten idealeVoraussetzungen für räumliche Installationen undGedankensprünge. Rut Himmebbach, 1950 inZug geboren, zur Photography ausgebildet ander Schule für Gestaltung Zürich und in einemSpecial Course in Creative Photography in Lon-don, begann vor zwanzig Jahren auch zu malen.Auf langen Reisen durch drei Kontinente er-schlossen sich ihr Zeitlosigkeit und Bewegung.

Beim Verarbeiten vieler Techniken (Photographie,Malerei, Mosaik, Kneten in Ton, Steinschliff,Schriftverschlüsselungen) berührt sie nach ihreneigenen Worten «eine Art Zauber im Materiel-len». Kreative Spielfreude, nennt es KonservatorMatthias Haldemann. Er öffnete ihr das Kunst-haus für die Ausstellung mit dem Titel Karawane.

Welche Lust, grosse Räume, weisse Wändesparsam zu markieren, mit einem schwarzenRaben auf Leinwand (ohne Rahmen) und weitdavon entfernt einem Ikarus - oder Luzifer, stür-zend jedenfalls, in öl auf Leinwand und geätztem

Stein! Gesichter fremdländischer Menschen undsteinerne Buddhagesichter begegnen sich in einerSkulptur aus geätzten Steinplatten.

Diese Blickpunkte wären genug. Schwarz aufWeiss. Meditation und Augenweide. Leiderkommt hier dazu, was man Hausfrauenfleiss nen-nen möchte: farbige Mosaike eher schlechterQualität, ein Samurai (Xerox auf Holz), bunt undfremd in der Karawane, eine Sammlung von Huf-eisen. Die Buchstaben, durchsichtig auf der weis-sen Wand, irritieren: MVM bedeutet 1995, ge-wiss, aber noch ein Jahr zu früh, und wenn esMumm bedeuten soll, fehlt ein M - echt daneben,um im Jargon zu bleiben. - Der Abstieg in daseffektvoll beleuchtete Untergeschoss führt zu aus-gebreiteten Tonmasken von Hundegesichtern.Weiss, schwarz, ziegelrot und ockerfarben bedek-ken sie den Boden wie welke Blätter im Herbst.Die Installation heisst «Bewegte Richtung», 440Tonhunde. Wofür und wohin bewegen sie sich?Die Köpfe sind einzeln verkäuflich; die Hälfte derEinnahmen geht an die Organisation Frauen fürden Frieden. (Bis 29. Mai)

fast, wie wenn ich gestorben wäre», kommentierter sarkastisch - ein unter Portnoys Beschwerdenleidender junger Mann: verliebt in eine Schickseund wild entschlossen, der Herrschaft seiner jüdi-schen Mamme zu entfliehen . .

So bietet dieser intime Briefwechsel jedem sei-ner - eigentlich ja ungebetenen - Mitleser etwas.Dem Physiker gewährt er Einblick in Einsteinswissenschaftliche Entwicklung, dem Psychologen

liefert er einen interessanten Fall, den Satirikerversorgt er mit wiederverwendbaren Zitaten undden Verfasser von Liebesbriefen mit stilistischenAnregungen.

Ein wenig traurig stimmt er wohl alle - wieimmer, wenn die Liebe scheitert.

Theo Stemmler

Albert Einstein / Mileva Marie: Am Sonntag küss" ich Dichmündlich. Die Liebesbriefe 1897-1903. Herausgegeben und ein-geleitet von JOrgen Renn und Robert Schulmann. Mit einemEssay «Einstein und die Frauen» von Armin Hermann. Piper-Verlag. München 1994. 210 S., mit II Abb. Fr. 35.-.

Anzeige

Der feinen Köche in den Topfgeschaut« Sollten Sie einmal unver-hofft einen Bück ins Allerheiligste eineswahren Mahr» de Cuisine erhaschen,

dann werden Sie feststellen, dass dortzwar auch nur mit Wasser - aberdurchweg in »rstklatsigan Töpfengekocht wird. In Töpfen, wie man siebei Sequin-Dormann findet.

Bahnhofstrasse 69a 8021 Zürich 1

Telefon 01/218 74 74

Neue Zürcher Zeitung vom 05.05.1994