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Goetz-Isenheimer_Altar: Bildband über Geschichte, Deutung und Hintergründe des Isenheimer Altars in Colmar.

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Der Autor

Alfred Goetz, Jahrgang 1929, verheiratet und Vater von fünf Kindern, war 19 Jahre lang Pastor in Colmar, Frankreich. In dieser Kulturstadt entdeckte er 1971 den weltbekannten Altar, den er in einem tieferen Verständnis erleben durfte.

Als anerkannter Führer des Isenheimer Altars im Unter-linden-Museum in Colmar und profunder Kenner dieses Wandelaltars weiß er ihn in eindrücklicher Weise zu interpretieren und dessen Botschaft in kunsthistorischer und theologischer Sicht zu aktualisieren. Auch seine Vorträge zum Thema «Kultur und Evangelium» in mehreren Ländern Europas ließen merkliche Segens- spuren zurück.

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Alfred Goetz

Der Isenheimer AltarGeschichte – Deutung – Hintergründe

Brunnen Verlag • Basel und Gießen

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Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Bibelstellen wurden der Lutherbibel (1999, mit neuer deutscher Rechtschreibung) entnommen.

© 2011 by Brunnen Verlag Basel

Umschlag und Konzeption: Brunnen Verlag BaselMitarbeit: David Grau, Vera Hahn, Christian Meyer, Miriam Schulz, Brunhilde Walter

Fotos Umschlag sowie Groß- und Detail-Aufnahmen des Altars im Innenteil:Musée d’Unterlinden, 1 rue d’Unterlinden, F-68000 Colmar

Restliche Fotos im Innenteil: siehe Seite 81Druck: Finidr

Gedruckt in der Tschechischen Republik

ISBN 978-3-7655-1112-7

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InhaltDer Autor Alfred Goetz 2Vorwort des Autors 7Der Isenheimer Altar und sein kunsthistorischer Kontext 8 Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei 9 Leonardo da Vinci, Michelangelo Buonarroti 10 Matthias Grünewald 11Die Anordnung der Altartafeln 12 Schema der drei Schauseiten 13Der Ursprung des Altars 14Die erste Schauseite (Der offene Altar) 15 Die Skulpturengruppe 18 Erläuterungen zu den Gemäldetafeln der ersten Schauseite 21 Zwei Eremiten begegnen sich 21 Die Versuchung des Antonius 24Die zweite Schauseite 29 Advent 33 Weihnachten 38 Das Engelskonzert 41 Zeugen der Vorzeit 42 Der Himmel steht offen 48 Karfreitag 52 Ostern 55 Der Allherrscher 55Die dritte Schauseite (Der geschlossene Altar) 57 Jesus, der Gekreuzigte 60 Sie standen am Kreuz: 1. Johannes der Täufer 64 2. Maria unter dem Kreuz 66 3. Maria, die Mutter Jesu, und der Jünger Johannes 67 Die Predella 67 Die zwei Zeugen: Antonius und Sebastianus 70Eine biografische Ergänzung 76Meister Mathis, der Maler, genannt Grünewald 77Literaturverzeichnis 80Bildnachweis 81

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VorwortÜber den weltbekannten Isenheimer Altar wurden viele Schriften und Bücher veröffent-licht, von denen die meisten aus ganz unter-schiedlichen Gründen und auch aus einer an-deren Perspektive geschrieben worden sind. In dem vorliegenden Bildband möchte ich diese verschiedenen Verständnisse nicht berühren, sondern einen Weg aufzeichnen, der uns zum ursprünglichen Anliegen des Kunstwerkes hinleiten soll. In früheren Zeiten nannte man nämlich den Altar: «Die Bibel der Armen». Das war von höchster Bedeutung. Die meisten Menschen des scheidenden Mittelalters und der anbrechenden Renais-sance beherrschten die antiken Sprachen nicht, in denen die damaligen Bibelausgaben vorlagen. Um ihnen aber trotzdem die bibli-schen Wahrheiten zu erschließen, haben ih-nen geniale Künstler wie Matthias Grünewald und andere die rettende Botschaft des Evan-geliums in verständlichen Darstellungen vor Augen gemalt. Auf diese Weise konnte auch das einfache Volk davon profitieren. Ihnen wurde buchstäblich «Jesus Christus vor die Augen gemalt» (Galater 3,1). Für sie wurden solche Gemälde Heilsverkündigungen im künstlerischen Gewande, die leicht zu erfas-sen und zu verstehen waren.

Der Altar wurde zu Beginn des 16. Jahrhun-derts durch die geniale Hand des Meisters Mathis mit dem Ziel gemalt, ein klares bibli-sches Verständnis zu wecken. Möge der vorliegende Bildband dem Leser ebenfalls zu dieser biblischen Sicht verhelfen. Dann wird der Isenheimer Altar kein bloßes Kunstobjekt mehr sein, sondern eine Prokla-mation des Evangeliums, wie es am Anfang der Fall war. Damit soll das bedeutende Wort «Kunst» nicht entwertet werden, sondern es soll, neu eingeordnet, im Dienst der Evangeliumsver-kündigung stehen.

So hat sich mir der Wandelaltar im Unterlinden-Museum zu Colmar vor mehr als 35 Jahren er-schlossen, und seither hat sich diese Einstellung zum Kunstwerk noch wesentlich vertieft. Diese Erkenntnis durfte ich in den zurück-liegenden Jahren in Hunderten von Führun-gen am Altar und durch öffentliche Vorträge einer aufmerksamen Hörerschaft weiterver-mitteln. Aus den Reihen dieser vielen Zuhörer kam immer wieder der Wunsch, diese griffige Auslegung des Grünewald-Altars einem noch breiteren Publikum vorzulegen.

Volgelsheim im ElsassAlfred Goetz

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Der Isenheimer Altar, ein Juwel der oberrheini-schen Kunst, stellt eine Botschaft dar, die in der Zeit um 1500 wieder ganz neu entdeckt wurde. Es war die Zeit gewaltiger Umwälzungen auf allen Gebieten der damaligen Gesellschaft. Das Mittelalter ging zu Ende, die Renais-sance brach sich Bahn; unaufhaltsam drang die Neuzeit durch, eine neue Ära feierte ihren triumphalen Einzug. Das Rittertum musste abtreten. Die bis dahin bekannte Welt erweiterte sich durch die Entdeckung Amerikas im Jahre 1492. Auf dem kulturellen Gebiet öffnete sich ein brei-tes Tor durch die Wiederentdeckung und die Neugestaltung der antiken Kunstgesetze und Maßstäbe. Wie sie in früheren Zeiten skulp-tierten, malten und darstellten, wurde in der Zeitenwende um 1500 für die Künstler zum Vorbild und bestimmte hinfort den Geist der neuen Bewegung. Im gleichen Zug drang auch die heidni-sche Lebensweise der alten Völker durch und brachte in jener Zeit eine Befreiung, nach der man sich geradezu sehnte. Diese Renaissance-Bewegung erschütterte weithin den an so viele Rituale gebundenen Glauben des Mittelalters. Dadurch verlor die bislang mächtige Kirche an Einfluss. Der auf-kommende Humanismus pflegte die Persön-lichkeitsentfaltung im Sinne der Antike. Es ging um die Kultur, die Kunst, die Literatur. Es ging um den Menschen und seinen befrei-ten Geist. Der frei denkende Mensch wurde inthronisiert und gefeiert. Diese Inthronisie-

rung setzte sich in der Folge auf Kosten des Religiösen durch und wurde in der Zeit der Aufklärung bestätigt. Fast parallel zur humanistischen Entwick-lung lief eine andere geistliche Bewegung ab, die der Reformation. Auch sie hatte eine lan-ge Vorgeschichte, die sich schon im frühen Mittelalter zeigte. Doch diese Reformbewe-gungen wurden fast immer im Keim erstickt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts aber er-weckte Gott in Europa Zeugen der Wahrheit, Männer voll Glaubens, die die Fackel des Evangeliums hochhielten, um neues Licht in die müde gewordene Christenheit zu tragen. Die Reformation, die in Wittenberg am 31. Oktober 1517 ausgelöst wurde, grün-dete auf den vier Hauptpfeilern der Bibel: sola scriptura – sola gratia – sola fide – sola CHRISTO (allein die Schrift – allein die Gna-de – allein der Glaube – CHRISTUS allein). Sie hielt, festgegründet in der biblischen Lehre, gegen alle Anläufe der Institutionen stand. Dabei ging es um die apostolische bi-blische Botschaft, die, damals neu entdeckt, jetzt wieder verkündigt wurde. Die Bewegung ging wie ein Lauffeuer durch die Länder Eu-ropas. Sie brachte Regen auf die dürren Felder und viel Frucht und Segen in späteren Jahren. Sie darf mit vollem Recht «die Revolution des geistlichen Lebens» genannt werden. Die neue Erkenntnis über das Planeten-system begann ebenfalls mit der Renaissance durch zwei Gelehrte und Erforscher des Weltalls:

Der Isenheimer Altar und sein kunsthistorischer Kontext

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Nikolaus Kopernikus (1473–1543)Er bewies die zweifache Bewegung der Pla-neten um sich selbst und um die Sonne. Einige Monate vor seinem Tode publizierte er seine Forschungen in seiner berühmten Schrift «De revolutionibus orbium coeles-tium, Libri VI». Sie wurde von der Kirche auf den Index gesetzt.

Galileo Galilei (1564–1642)Er führte das Werk seines Vorgängers fort, wurde aber von der Kirche der Ketzerei verdächtigt und musste widerrufen. Doch auf seinem Sterbebett bestätigte er seine astronomische Forschung mit dem Bekenntnis: «… und sie bewegt sich doch!» Damit kam das geozentrische Planetensys-tem ins Wanken und das heliozentrische drang siegreich durch.

Dies ist ein straffer Rückblick auf jene Zeiten-wende, in der sich sowohl politische, kirchen-geschichtliche, naturwissenschaftliche wie auch kulturelle und kunstbedingte Umwäl-zungen nebeneinander abwickelten. Im Zuge dieses geistigen und geistlichen Umbruchs entstand der heute weltweit bekannte Isen-heimer Altar. Es ging dabei um Kunst, wobei durch sie die biblische Botschaft transparent werden sollte. Bei allem künstlerischen Kön-nen verfolgte Matthias Grünewald das Ziel,

Nikolaus Kopernikus, Kupferstich von Theodor de Bry, 1597

Galileo Galilei, Gemälde von Justus Sustermans, 1636

den tiefen Inhalt des Evangeliums den «Be-dürftigen» zugänglich zu machen, eben als «Bibel der Armen». Durch diese hohe Kunst in der Darlegung der Frohen Botschaft bekam das Volk einen echten Zugang zur Bibel. Sie wurde ihm vor die Augen gemalt, gut leserlich und verständlich. In diesem Sinne gedenken wir, mittels die-ses Bildbandes die Botschaft des Isenheimer Altars zu entdecken. Sie ist die Botschaft des Lebens zum Leben.

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Die bedeutendsten Renaissance-Künstler

Es ist die Zeit von Leonardo da Vinci (1452–1519), einem vielseitig begabten Menschen. Er ist Maler, Bildhauer, Archi-tekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph. Wohl der genialste Re-naissance-Mensch. Sein Hauptwerk «Das letzte Abendmahl» war ursprünglich ein Wandgemälde im Refektorium der Domi-nikanerkirche Santa Maria delle Grazie in Mailand.

Leonardo da Vinci, Selbstbildnis, Rötelzeichnung, etwa 1510–1515

Michelangelo Buonarroti (1475–1564), ebenfalls Maler, Bildhauer, Architekt und Dichter. Seine Hauptwerke: Die Kolossal-statue des David und die monumentale Malerei auf dem Deckengewölbe der Six-tinischen Kapelle in Rom mit insgesamt 343 Gestalten.

Michelangelo Buonarroti, Kupferstich von Antonio Capellan, 18. Jh.

Da Vinci und Michelangelo verkörpern beide den Geist der neuen Ära.

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Leonardo da Vinci, Selbstbildnis, Rötelzeichnung, etwa 1510–1515

Michelangelo Buonarroti, Kupferstich von Antonio Capellan, 18. Jh.

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Matthias Grünewald (1455–1528) Mit vollem Recht darf der Maler Meister Mathis Gothart Nithart (MGN), wie er auch heißt, den bedeutendsten Renais-sance-Malern zugerechnet werden. Er gehört zu ihnen als eine hervorragende Künstlergestalt in der Zeitenwende um 1500. Am Ende dieses Bildbandes werden wir den Meister noch ausführlicher be-trachten.

Selbstporträt des Meisters; wird aber heute von manchen angezweifelt.

Lassen wir aber zuerst und vor allem den Isenheimer Altar zu uns sprechen, das Hauptwerk des genialen Meisters. Zusammen mit seinen Gehilfen schuf er in den Jahren 1512–1515 dieses expres-sive Monument der Kunst im Antoniter-Kloster zu Isenheim, etwa zwanzig Kilo-meter südlich von Colmar.

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Die Anordnung der Altartafeln

Steht der Besucher im Unterlinden-Museum vor dem Isenheimer Altar, so sieht er vor sich drei Schauseiten, die in einer gewissen Dis-tanz voneinander in der gotischen Kapelle des Museums aufgestellt sind. Der Freiraum zwi-schen den Schauseiten erlaubt es vielen Besu-chern, ungestört die Altartafeln, die beidseitig bemalt sind, auf sich wirken zu lassen.

Ursprünglich gehörten sie einer logisch ge-ordneten Konzeption an. Mittels der Sche-madarstellung auf der nächsten Seite soll dem Leser diese frühere Anordnung zugänglich gemacht werden. Sie ist von unten nach oben zu lesen, um die Ur-Anordnung zu erfassen.

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Grablegung

Sebas-tianus

Anto-nius

Verkün-digung Engels-

konzert

Maria mit dem Jesuskind

Aufer-stehung

Jesu Christi

Grablegung

Jesus und die Apostel– Das Abendmahl –

Augus-tinus

Antonius Hiero-nymus

Versuchung des

Antonius

Antoniusund Paulus,

die Einsiedler

SkulpturengruppeHochaltar und Predella

Nativität

Jesus,der

Gekreuzigte

Schema der drei Schauseiten

So stellen wir fest, dass die gesamte Kompo-sition im dritten Bild ihren Abschluss findet und damit hinweist auf Jesus Christus, den Gekreuzigten. Die Botschaft des Apostels Pau-lus hatte dieses klare Sendungsziel, wie es in 1. Korinther 2,2 steht: «Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.»

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Die Skulpturengruppe, der eigentliche feste Körper des Altars, bildet den Ausgangspunkt. Sie wurde im Kloster Isenheim schon um 1490 errichtet. Sie ist das Werk des Bildhauers Nikolaus von Hagenau, genannt «Hagenau-er», der den Hochaltar baute, und des Col-marer Schnitzers Desiderius Beychel, der die Predella, den Unterbau des Hochaltars, schuf. An den skulptierten Schrein, der fest steht, brachte Meister Mathis mittels Scharnieren beidseitig bemalte Tafeln an. Diese konnten je nach den Festen des Kirchenjahres geöffnet oder geschlossen werden und so alle auf die Skulpturengruppe «gewandelt» werden. Durch diese Anordnung erhöhte Matthi-as Grünewald den bestehenden «Holzaltar» zu einem Wandelaltar, auf dem er als echter Renaissance-Maler den wahren Inbegriff des Evangeliums in einer einmaligen Weise dar-stellen konnte. Diese Botschaft brannte in seinem Herzen und floss durch seine geniale Hand auf die ge-hobelten Bretter aus Lindenholz. Das ist der Isenheimer Altar.

Der Ursprung des Altars

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Die erste Schauseite

(Der offene Altar)

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ggDie erste Schauseite

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Die SkulpturengruppeSie bildet den Einstieg in das Meisterwerk des Malers Matthias Grünewald. Wie verstehen wir diese Schnitzereien, die aus Holz gefertigt sind, polychromiert wurden und so viel bein-halten?

Nikolaus von Hagenau, ein anerkannter Bild-hauer, schuf im Auftrag von Jean d’Orlier (um 1425–1491), des Vorstehers des Antoniter-Klosters zu Isenheim, den Hochaltar, der An-tonius dem Einsiedler (um 251–356) geweiht wurde. In diesem geschnitzten Schrein bildet die-ser die zentrale Figur. Antonius, der Ägypter, entstammte einer reichen Kaufmannsfamilie. Nachdem er sich für Jesus Christus entschie-den hatte, verzichtete er auf allen Reichtum seines Vaterhauses und zog in die ägyptische Wüste, wo er eine Einsiedlergemeinde führte. Er gilt als der Begründer des Mönchstums. Auf dem Hochaltar thront er wie ein Kir-chenfürst unter einem Baldachin. Prächtig geschnitzt und elegant herausgehoben sind seine Gesichtszüge, das gelockte Haar, der wallende Bart, das in vielerlei Schattierungen fallende Gewand – eine wahre Autoritätsper-son, Patron des Antoniter-Ordens. In seiner Rechten hält er den Ordensstab in Form eines griechischen Buchstabens, dem Tau, Zeichen des Kreuzes, und in seiner Linken die Ordensregeln. Über ihm erkennen wir die Symbole der vier biblischen Evangelisten. Links den Stier, in der Mitte den Adler über dem Menschen und rechts den Löwen.

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Der feststehende Skulpturenschrein gab Meister Mathis die Möglichkeit, an ihm seine beidseitig bemalten schwenkbaren Gemäldetafeln anzubringen. Die beiden ersten davon gehören zur ersten Schauseite. Sie offenbaren in klarer Bildsprache etwas vom Leben der beiden Einsiedler Antonius und Paulus von Theben.

Zwei Eremiten begegnen sich

Meister Mathis nimmt Antonius aus seiner Autoritätsstellung auf dem Hochaltar weg, um ihn in zwei ganz verschiedenen Lebenslagen «auftre-ten» zu lassen. Zunächst treffen wir auf ihn zu Besuch beim Einsiedler Paulus von Theben (228–341), seinem ägypti-schen Zeitgenossen. Worüber sie sich austauschen, entzieht sich unse-rer Erkenntnis. Der Legende gemäß unterhielten sie sich darüber, wer von ihnen der beste oder erste Ere-mit wäre, und über sonstige geistli-che Anliegen … Wer aber sorgfältig beobachtet und in dem Gemälde zu lesen lernt, der erkennt in der Darstellung der beiden Eremiten wesentliche Züge ihres Lebens. Ziehen wir eine senkrechte Linie über die weit ausgestreckte Hand des Paulus, dann wird der Hinter-grund in zwei ganz verschiedene Landschaftsbilder geteilt.

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Erläuterungen zu den Gemäldetafeln der ersten Schauseite

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Beachten wir, dass sich der Bedürftige zum innerlich Reichen aufmacht. Dann erhält die Darstellung einen echt biblischen Charakter, den wir im tiefsten Sinne als «biblische Seel-sorge» bezeichnen. Der Reiche teilt mit dem Armen, der von oben Empfangende mit dem Bittenden. Seine ausgestreckte Hand emp-fängt Gaben, die er mit gütiger Geste weiter-reicht. Die Hand bleibt offen, der Beschenkte ist Empfänger und Geber zugleich. In dieser Haltung teilen sie brüderlich, keiner wird dabei zu kurz kommen. Auf diese Weise ge-schieht biblische Seelsorge.

Als Abschluss gestatten wir uns noch einen sozialen Hinweis. Im Vordergrund dieses Gemäldes erkennen wir einige Heilkräuter. Und zwar Eisenkraut, Breitwegerich, Klatsch-mohn, Enzian und noch zehn andere Kräuter. Sie dienten den Mönchen zur Bereitung von Salben und Elixieren. Die therapeutische Be-treuung der Kranken geschah damals noch fast ausschließlich in und aus den Klöstern. Paracelsus (1493–1541), der Begründer und Bahnbrecher der Medizin, verhalf der Heil-kunst in dieser Zeit der Renaissance zur wei-teren Entwicklung.

Die Versuchung des Antonius

Der rechte Gemäldeflügel offenbart den lei-denden Antonius in seinen allerschwersten Versuchungen. Die unsichtbare Dämonen-welt, die sich in allerlei Tieren und Vögeln ge-staltete, mobilisierte sich gegen ihn, um sich mit unbändiger Wucht auf ihn zu stürzen. Wird Antonius sich in diesem Ansturm der Geisterwelt bewähren?

In der Heiligengeschichte heißt es von Anto-nius: «Da erschienen die Dämonen ihm in Ge-stalt von wilden Tieren und zerrissen ihn wieder aufs Grausamste mit ihren Zähnen, Hörnern und Krallen. Aber da zeigte sich plötzlich ein wunderbarer Lichtglanz und jag-te alle Dämonen in die Flucht.» Da begriff er, dass Christus da war, und rief, was auf dem Pergament rechts unten zu lesen ist:

«Ubi eras, ihesu bone, ubi eras? Quare non af-fuisti, ut sanares vulnera mea!» «Wo warst du, guter Jesus, wo warst du? Warum warst du nicht da, um meine Wunden zu heilen?» Der Herr antwortete ihm: «Antonius, ich bin immer da gewesen, aber ich wollte dei-nen Kampf sehen; nun aber hast du tapfer ge-kämpft.»

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Heilkräuter im Vordergrund

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Der Maler hat diesem beantworteten Not-schrei in seiner Wiedergabe des Geschehens eine enorme Bedeutung gegeben. Diese Be-trachtung erlaubt es uns, die große Intensität der Versuchung zu ermessen.

Unmittelbar neben dem Einsiedler kauert ein Sterbender, der vom Antoniusfeuer, einer Vergiftungskrankheit, total zerstört worden ist. Sie wurde vom Mutterkornpilz des Rog-gens verursacht, und sie erfasste nach und nach alle Bereiche des Lebens des Erkrank-ten, so dass er am Ende zu einem abstoßen-den Wrack wurde. Diese Kranken und viele

andere mit ihnen wurden in Klöstern gepflegt und fürs Sterben vorbereitet. Das Kloster in Isenheim kam seiner sozialen Berufung nach, indem es als Hospital für die Kranken und als Herberge für die Pilger diente. Der Todkranke trägt eine Narrenkappe … Wollte der Maler damit nicht eine unheimli-che Ironie des Lebens ausdrücken? Die Hof-narren waren an den Höfen mehr als nur ein Unterhaltungstrupp. Sie waren begabte Leute, Philosophen, die viel zu bieten hatten, solange es ihnen selbst und den Hofleuten gut ging. Kam es aber zur letzten Zerreißprobe, wie bei diesem Sterbenden, da versagte auch ihre unzulängliche Lebensanschauung. Der Ein-band des Buches reißt ab, wenn er sich auch noch so krampfhaft daran festhält. Auf der allerletzten Wegstrecke braucht es mehr als Menschenweisheitslehre und auch mehr als jegliches andere Ritual.

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Seine HerkunftLaut der NC, die von der neueren Forschung vielfach bestätigt wurde, wurde Mathis Go-thart Nithart am 24. Februar 1455 geboren, als Sohn von Hans Nithart (Neythart) und seiner Ehefrau Elisabeth (Elz) Oetinger. Der Vater war Brückenbauer, Ratsherr, Schatz- und Siegelmeister im Oberrat zu Würz-burg und ab 1470 Bürgermeister und Schutz-herr der Karmeliter bis zu seinem Tode 1474.

Sein NameWir kennen ihn am besten unter dem Namen Matthias Grünewald, den es aber nie gegeben hat. Er wurde laut Forschung mit einem Ma-this Grün verwechselt, seinem Meistergehil-fen. Sein echter Name ist, wie oben erwähnt: Mathis Gothart Nithart: MGN. Da er in Aschaffenburg einige Zeit gewirkt hat, wird er auch als Mathis von Aschaffen-burg erwähnt.

Meister Mathis, der Maler, genannt Grünewald

Sein WerdegangWas seine Jugendjahre betrifft, wissen wir nur etwas aus zwei Quellen, die auch noch in ver-schiedene Richtungen weisen. Doch die der NC scheint die wahrscheinlichste zu sein. Mit dreizehn Jahren soll der begabte, auf-geweckte, streng erzogene Jüngling zu einem Kunstmaler Meister Huter nach Straßburg ge-kommen sein. Dann führte ihn sein Weg weiter zu dem befreundeten Meister Martin Schongauer nach Colmar. Es folgen Wanderjahre in die Nie-derlande (Burgund und Italien sind nicht nach-gewiesen). Nach seiner Rückkehr in die Heimat Heirat mit Anna, geb. Lotz, in Seligenstadt 1480. Ansässig in Seligenstadt/Aschaffenburg. Er hielt Freundschaft mit Albrecht Dürer und anderen Meistern der Künste. 1511 war er Hofmaler des Erzbischofs Uriel von Gemmingen in Mainz und führte gleichzeitig architektonische Arbeiten im Aschaffenburger Schloss aus. Weil er in den Kreisen der Antoniter be-kannt war, bekam er alsbald den Auftrag, den bestehenden Skulpturenaltar im Kloster zu Isenheim im Elsass zu einem bemalten Wan-delaltar auszubauen. Es wurde sein größtes und bedeutendstes Werk, das er in den Jahren 1512–1515 schuf. Der Isenheimer Altar ist ein Juwel der oberrheinischen Kunst. Von genialen Künst-lerhänden geschaffen, in vielen Kriegswirren gnädig bewahrt, bleibt er uns als ein Zeugnis klarer Evangeliumsverkündigung.

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In der Folgezeit bekundete Meister Mathis reges Interesse an den Geistesströmungen jener Zeit. Es war die Zeit der Reformation, des geistlichen Umbruchs und der Sehnsucht nach echter Freiheit. Er hatte auch viel Sym-pathie für die Not des armen Volkes. 1520 finden wir ihn in der Gefolgschaft von Albrecht von Brandenburg (1513 Erzbi-schof von Magdeburg und 1514 von Mainz, ab 1518 Kardinal), später mit Albrecht Dü-rer anlässlich der Kaiserkrönung Karls V., die 1520 in Aachen stattfand. In dieser Zeit wurde er Hofmaler Albrechts von Brandenburg. Er ließ sich durch seine gute Stellung und seine Erfolge in der Kunst nicht blenden und litt mit der verarmten Landbevölkerung. Die NC hebt hervor: «Die Bauern wurden zu Un-recht verstoßen und oft auf den Feldern ge-peitscht und misshandelt. Der Adel war una-delig geworden, und ihre Schuld vor Mensch und Gott war groß. Sie machten Rotten und Umzüge, aber am Ende verloren sie doch …» Diese ungerechte Einstellung des Adels zur Landbevölkerung veranlasste Meister Mathis, der ein «ausgeprägtes Gerechtigkeits-gefühl hatte», einzugreifen. Da er mit allen Bauernaufständischen sympathisierte und sich dazu noch der Reformation verpflichtet wusste, verlor er die Gunst der hohen Geist-lichkeit. Am 1. Mai 1526 hielt Albrecht von Brandenburg in Aschaffenburg Gericht über ihn. MGN wartete das Urteil nicht ab und floh dann nach Frankfurt. Seine Besitzungen in Seligenstadt wurden aber beschlagnahmt. Im Jahr 1527 übersiedelte er nach Halle mit einem Salinenauftrag, was seinem Beruf als Wasserkunst-Meister6 entsprach. Als ein

Opfer der Pest starb er am 31. August 1528 in großer Armut und ist von der Nachwelt fast 400 Jahre vergessen worden.

Seine GeisteshaltungMeister Mathis muss ein hochbegabter Mann gewesen sein, der den Meistern der Sprache auf den Mund und den Meistern der Küns-te auf die Hände schaute, um ihre Begabung für sich zu nutzen. So wurde er Wasserkunst-Meister, was wir heute mit Wasserbau-Ingeni-eur bezeichnen. Als «Maler» wurde er als ein Genie geboren, und als Genie wusste er die Malkunst in seinen Wanderjahren voll aus-zugestalten. Dafür sprechen seine Werke, ins-besondere die Stuppacher Madonna und der Isenheimer Wandelaltar. Seine Kunst floss aus seiner genial gelenkten Meisterhand. In seiner Geisteshaltung war er, der bibli-schen Einstellung jener Zeit gemäß, ein chris-tusgläubiger Künstler. In dieser inneren Kon-zeption malte er die apostolische Botschaft, die in jenem Zeitenwechsel wieder zum The-ma wurde. Er malte sie mit einer unvergleich-lichen Aussagekraft, die im Isenheimer Altar ihren Niederschlag fand. Es war ihm gegeben, die biblische Bot-schaft in reformatorischer Ausdrucksweise und als wahrer Renaissancemaler für seine Zeitgenossen und für die Nachwelt darzustel-len und festzuhalten. Um seine Glaubenshaltung recht zu erfas-sen, lassen wir ein Gebet von Meister Mathis zu uns sprechen:

6 Eine Wasserkunst ist ein System zur Förderung, Hebung und Führung von Wasser (Quelle: de.wikipedia.org).

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Béguerie-de Paepe, Pantxika: Le Retable d’Issenheim, Musée d’Unterlinden, 1991. (Dt. Titel: Der Isenheimer Altar. Museum Unterlin-den, Colmar, La Nuée Bleue: Straßburg 1991).

Béguerie-de Paepe, Pantxika / Bischoff, Geor-ges: Grünewald, le Maître d’Issenheim, Caster-man: Verone 1996.

Béguerie-de Paepe, Pantxika / Lorentz, Phi-lippe: «Grunewald et le Retable d’Issenheim. Regards sur un chef-d’oeuvre», Musée d’Unterlinden: Colmar; Somogy: Paris 2008.

Beguerie-de Paepe, Pantxika / Menu, Mi-chel (Editeurs): «La technique picturale de Grünewald et de ses contemporains», Musée d’Unterlinden: Colmar/Paris 2007.

Behling, Lottlisa: Matthias Grünewald, Straß-burg 1981.

Boos, Gerhard: «… durch seine Wunden sind wir geheilt». Eine Betrachtung zu Passions- und Osterbildern von Grünewald, Verlag am Esch-bach 1985.

Fraenger, Wilhelm: Matthias Grünewald, Beck: München 1983.

Hartmann, Marie-Anne: Mathias Grunewald. Le Retable d’Issenheim. Peinture et Spiritualité, Jérôme Do. Bentzinger Editeur: Colmar 1994.

Heck, Christian, Conservateur du Musée d’Unterlinden: Gruenewald et le Retable d’Issenheim, Editions SAEP 1982. (Dt. Titel: Grünewald und der Isenheimer Altar, Colmar 1983).

Herrmann, Jacques: Le Retable d’Issenheim à la lumière des Saintes Ecritures, Colmar 1976.

Kettling, Siegfried: Das Weihnachtsevange-lium. Betrachtungen zum Isenheimer Altar, R. Brockhaus: Wuppertal 1986.

Kuhn, Rudolf Edwin Dr.: «Mathis, der Maler, Rebell, Wasserkunstmeister. Die Nithardum-Cronica (NC) im Lichte der Kunstgeschichte, Untersuchung der fragmentarischen Haus-chronik der Familie Nithart, deren grösster Sohn Mathis Gothart Nithart (später fälschl. genannt ‹Grünewald›) 1455 in Würzburg ge-boren wurde», Würzburg 1979.

Lücking, Wolf: Mathis. Nachforschungen über Grünewald, Fröhlich und Kaufmann: Berlin 1983.

Müller-Bohn, Jost: Auf dem Lamm ruht mei-ne Seele. Die 7 Worte Jesu am Kreuz, Johannis: Lahr-Dinglingen 1985.

Schmitt, Pierre: Le Retable d’Issenheim de Gruenewald, Société Française du livre, Paris 1976.

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Literaturverzeichnis

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Sittler, Lucien, Alt-Archivar der Stadt Col-mar: Der Isenheimer Altar des Meisters Mathis genannt Grünewald, Alsatia Colmar.

Société pour la Conservation des Documents Historiques d’Alsace: «Cahier Alsaciens d’Archéologie d’Art et d’Histoire», 1975/76.

Der Autor hat noch andere Schriften konsul-tiert, die hier nicht aufgeführt sind.

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Die Bilder des Altars sind Eigentum des Musée d’Unterlinden, 1 rue d’Unterlinden, F-68000 Colmar; www.museum-unterlinden.com (sie sind lizenzpflichtig; keine Veröffent-lichung ohne Bewilligung)

Kupferstich von Nikolaus Kopernikus plus Unterschrift, Seite 9: de.wikimedia.org (ge-meinfrei)

Gemälde von Galileo Galilei auf Seite 9: de.wikimedia.org (gemeinfrei)

Rötelzeichnung von Leonardo da Vinci auf Seite 10: de.wikimedia.org (gemeinfrei)

Kupferstich von Michelangelo Buonarotti auf Seite 10: de.wikimedia.org (unbeschränktes Nutzungsrecht)

Bildnachweis

Porträt von Matthias Grünewald auf Seite 11 und Seite 76: de.wikimedia.org (gemeinfrei)

Übersichtsbild des Altars auf Seite 12: flickr; «Do u remember» (Claude Le Berre).