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20. Mai 2012 11 Uhrbachcant/Pic-Rec-BIG/... · 2020. 7. 30. · Musikhochschule Stuttgart | 20. Mai 2012 11 Uhr Johann Sebastian Bach (1685–1750) Motetten Kammerchor Stuttgart Continuo

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  • Musikhochschule Stuttgart | 20. Mai 2012 11 Uhr

    Johann Sebastian Bach (1685–1750)

    Motetten

    Kammerchor Stuttgart

    Continuo Orgel: Christof Roos

    Violone: Hartwig Groth

    Leitung: Frieder Bernius

    Der Geist hilft unser Schwachheit auf BWV 226

    Komm, Jesu, komm BWV 229

    Jesu, meine Freude BWV 227

    – Pause –

    Fürchte dich nicht BWV 228

    Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn BWV Anh. 159

    Singet dem Herrn ein neues Lied BWV 225

    Die heutige Aufführung wird gemeinsam vom Musik Podium Stuttgart und dem Carus-Verlag veranstaltet: Anlass ist das 40jährige Jubiläums des Carus-Verlags. Das Festkonzertspannt einen Bogen über eine seit 35 Jahren andauernde, glückliche Zusammenarbeit: Es war eine Aufführung von fünf Bach-Motetten im März 1976 in der StuttgarterStiftskirche, in welcher der Verlagsgründer Günter Graulich zum ersten Mal auf denKammerchor Stuttgart aufmerksam geworden ist.

  • 2012 haben das Land Baden-Württemberg und derStuttgarter Carus-Verlag allen Grund zum Feiern:Während wir das 60-jährige Bestehen unseresHeimatlandes feiern, kann der weltweit geachteteMusikverlag auf eine 40-jährige Geschichte zurück-blicken. Zum Jubiläumsjahr gratuliere ich der Ge-schäftsführung sowie den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern herzlich.

    Den Höhepunkt der Feierlichkeiten stellt zweifels-ohne das Festkonzert am 20. Mai dar, bei dem derKammerchor Stuttgart unter der Leitung von FriederBernius die Motetten von Johann Sebastian Bachaufführt.

    Die Zusammenarbeit der beiden Gratulanten mit dem Verlag ist beinahe schon so alt wieder Verlag selbst, so dass sich die Gäste sicherlich auf ein ganz besonders herzlich vorge-tragenes „Geburtstagsständchen“ freuen dürfen.

    Als der Carus-Verlag vor 40 Jahren gegründet wurde, lag der Schwerpunkt der Tätigkeitim Bereich geistlicher Chormusik, die auch nach wie vor im Zentrum der Arbeit steht. In der Zwischenzeit hat sich das Spektrum allerdings beständig erweitert: Neben derEdition von Vokalmusik, um die sich der Verlag sehr verdient gemacht hat, fördert er dasSingen in unserer Gesellschaft. Hierbei engagiert er sich seit einigen Jahren vor allem fürdas Singen mit Kindern und leistet beispielsweise durch das deutschlandweit bekannte„Liederprojekt“ einen wichtigen Beitrag zur positiven sozialen, kognitiven und psychi-schen Entwicklung unserer Kinder.

    Mit seinem sozialen Engagement für das Singen und seinen Notenpublikationen leistetder Verlag einen Beitrag dazu, dass Musik und Gesang auch künftig die vielfältige Kultur-landschaft Baden-Württembergs bereichern.

    Für die Zukunft wünsche ich dem Carus-Verlag und allen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern weiterhin alles Gute und viel Erfolg.

    Winfried KretschmannMinisterpräsident des Landes Baden-Württemberg

    2 | Festkonzert 40 Jahre Carus

  • In 40 Jahren vom Zwei-Mann-Betrieb zu einem aner-kannten Unternehmen respektabler Größe – dies ist derFamilie Graulich mit ihrem Carus-Verlag gelungen.Herzlichen Glückwunsch anlässlich des Jubiläums zuIhrem Erfolg von mir persönlich und auch im Namen der Landeshauptstadt Stuttgart!

    Es steckt viel Engagement und Herzblut von Ihnen imCarus-Verlag und es hat sich gelohnt – zahlreiche Preiseund Auszeichnungen haben Ihre Produktionen undEditionen innerhalb der letzten 40 Jahre erhalten: mehr-mals den „Deutschen Musikeditionen-Preis“, zahlreicheMale den „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“sowie den „Diapason d’Or“, die „Critics Disc of theYear“ von BBC Radio 3 und den „Midem classical

    award“ etc. Die Stadt Magdeburg zeichnete den Carus-Verlag zudem 2009 mit dem„Georg-Philipp-Telemann-Preis“ für die hervorragenden Verdienste um die Veröffent-lichung und Verbreitung der Werke Georg Philipp Telemanns aus.

    Die gelungene Verbindung von wissenschaftlicher Editionspraxis mit den Ansprüchen derMusikpraxis ist ein Grund für den Erfolg des Verlags. Ein weiterer findet sich sicherlich indem Gespür für gesellschaftliche Bedürfnisse, die sich beispielsweise im Liederprojektwiderspiegeln. Neben der Herausgabe von Noten- und CD-Material zu Wiegen-, Volks-und Kinderliedern ist es insbesondere die Liederdatenbank des Carus-Verlags, die hervor-zuheben ist. Grund genug für die Standortinitiative „Deutschland – Land der Ideen“ inKooperation mit der Deutschen Bank das Onlineportal www.liederprojekt.org als„Ausgewählten Ort 2011“ zu küren.

    Ich wünsche Ihnen, dass sich Ihr Erfolg – der auch immer ein Erfolg für unsere Stadt ist – in den nächsten 40 Jahren fortsetzen wird. Den Besucherinnen und Besuchern IhresFestwochenendes wünsche ich bei Ihren interessanten und vielseitigen Veranstaltungenangenehme Tage in Stuttgart und Echterdingen.

    Dr. Wolfgang SchusterOberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart

    Festkonzert 40 Jahre Carus | 3

  • Wer von Baden-Württemberg als einem herausragen-den Musikland redet, der denkt dabei an unsereOrchester- und Theaterlandschaft, an die Musikhoch-schulen und weltberühmten Festivals, aber auch aneine breit verankerte Chorkultur, an gut besuchteKonzerte, an Jugendmusikprojekte und an das hoheAnsehen, das die klassische Musik hier genießt.

    Wenige jedoch denken dabei als erstes an einen Mu-sikverlag. Dabei ist das fast so, als würde man sagen:Wir brauchen keine Kraftwerke, bei uns kommt derStrom aus der Steckdose. Denn ohne die Musik-verlage gäbe es den Strom gar nicht, der das Musik-leben erstrahlen lässt. Sie bündeln die kreative Energieder Musikschaffenden und machen sie für die All-gemeinheit zugänglich. Sie sind der Knotenpunkt zwischen Komponisten und Interpreten, zwischenSchaffenden und Nachschaffenden, zwischen Inter-preten und Hörern.

    Baden-Württemberg hat als „Musikkraftwerk“ den Carus-Verlag, und das ist ein Glücks-fall. Wer mit den Carus-Leuten zusammenarbeitet, spürt sofort, welcher Geist da herrscht:konzentrierte Sachlichkeit und freundliches Entgegenkommen, Begeisterungsfähigkeit unddie Gabe, unkonventionelle Wege zu gehen, Beharrlichkeit und, als Grundvoraussetzung,in jeder Hinsicht Professionalität. Über allem aber steht ein hoher ethischer Anspruch andas alltägliche, auch geschäftliche Handeln.

    SWR2, das Kulturprogramm des SWR, arbeitet viel und gerne mit dem Carus-Verlag zu-sammen. Das größte Kooperationsprojekt der letzten Jahre, das Liederprojekt, ist fürbeide, den Verlag und den Sender, eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die noch weit in die Zukunft hinein Bedeutung haben wird. Die Grundlagen der Zusammenarbeit reichentief ins Menschliche. Carus ist ein fairer, zuverlässiger, kreativer Partner, dessen Risiko-bereitschaft und Begeisterungsfähigkeit ein so großes Projekt erst möglich gemachthaben. Viele unserer Musikproduktionen sind im Zusammenspiel mit Carus entstanden,fast immer sind und waren es unbekannte Werke, Neuentdeckungen, Ersteinspielungenfür den Musikmarkt, viele davon mit Frieder Bernius, dem Künstler des heutigen Konzerts.Hier treffen sich die Ziele der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt und die des Verlagsin idealer Weise.

    Der Carus-Verlag ist nicht nur ein Unternehmen, er ist auch eine Kulturinstitution. Und damit ein bedeutsamer Bestandteil des Musiklands Baden-Württemberg. Herzlichen Glückwunsch zum 40jährigen Bestehen!

    Dorothea EnderleMusikchefin SWR2

    4 | Festkonzert 40 Jahre Carus

  • Vier Jahrzehnte Carus-Verlag sind vier JahrzehnteWirken im Namen der Kunst der Musik. Was1972 im Stuttgarter Süden mit dem Fokus aufgeistliche Chormusik entstand, entwickelte sichim Laufe dieser vierzig Jahre zu einem weltweitrenommierten Unternehmen mit einem bedeut-samen Spektrum an Publikationen und Dienst-leistungen für Akteure und Liebhaber auf demGebiet der klassischen Musik. Unzählige Chörerund um den Globus verleihen den Werken undCD-Produktionen des Carus-Verlages Stimme und Klang.

    Mit dem Ausspruch Bettina von Arnims „Die Vermittlung des geistigen Lebens zum sinn-lichen“ erhält das bedeutsame Projekt des Verlages „Wiegenlieder“ im Herbst 2009 Ge-stalt. Zusammen mit dem SWR2 sowie über 100 Künstlern bringt der Verlag mit diesemProjekt das Singen als Kultur zurück in Familien und Kindergärten. Singen als primäresErlebnis im Mutterschoß. Singen als Gemeinschaftserlebnis im Kinderchor, im Musik-unterricht oder in der Gemeinde – ohne Grenzen und ohne Altersbegrenzung. Der zweiteTeil dieses erfolgreichen Liederprojekts erfolgte mit „Volksliedern“ bereits im darauf fol-genden Jahr 2010, der dritte mit den „Kinderliedern” 2011.

    Dank dieser wundervollen Musikprojekte erhielt der Carus-Verlag im März 2011 eineweitere von so vielzählig wie hochkarätigen Auszeichnungen und wurde zu den „ausge-wählten Orten“ der Standortinitiative „Deutschland – Land der Ideen“ erkoren.

    Sehr geehrte Familie Graulich,als Oberbürgermeister der Stadt Leinfelden-Echterdingen bin ich stolz und dankbar, ein solch kreatives und hochgeschätztes Unternehmen an unserem Standort beheimatenzu dürfen.

    All Ihren Gästen, Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie natürlich ganz besondersIhrer Familie wünsche ich zu dem heutigen Festkonzert anlässlich des Jubiläums „40 JahreCarus-Verlag“ allerhöchsten Musikgenuss. Dem Hause Carus-Verlag wünsche ich weiter-hin unternehmerischen Erfolg und guten Boden für viele Meilenstein-Projekte, die –neben der Musik – auch den Namen unserer Stadt in die Welt hinaus tragen.

    Roland KlenkOberbürgermeister der Großen Kreisstadt Leinfelden-Echterdingen

    Festkonzert 40 Jahre Carus | 5

  • Johann Sebastian Bach · Motetten

    Die Motetten waren 1802/03 die ers-ten Vokalwerke Johann Sebastian Bachs,die nach seinem Tod im Druck vorgelegtwurden, und zwar bereits gut ein Vier-teljahrhundert vor der legendären Wieder-aufführung der Matthäuspassion unterFelix Mendelssohn Bartholdy 1829. DieserErstausgabe war eine Leipziger Auffüh-rungstradition vorausgegangen, derenAnfänge noch im Dunkel liegen. Die erstebelegte Aufführung einer BachschenMotette nach dem Tod des Komponistenist fast ebenso legendär, wie es späterMendelssohns Matthäuspassion werdensollte: Es ist die Aufführung der MotetteSinget dem Herrn in Anwesenheit vonWolfgang Amadeus Mozart 1789 in derLeipziger Thomaskirche. „Das ist doch ein-mal etwas, woraus sich was lernen lässt!“soll Mozart begeistert nach der Aufführungder Motette durch die Thomaner ausgeru-fen haben. Jedenfalls ließ Mozart sich einePartiturkopie anfertigen, die bis heute inWien aufbewahrt wird: Eine Abschrift einesLeipziger Schreibers auf Leipziger Papiermit einem Kommentar aus Mozarts Hand.Diese Kopie ist heute das einzige Noten-zeugnis von der frühen Bach-Motette-npflege der Thomaner, da deren Noten-archiv selbst dem 2. Weltkrieg zum Opfergefallen ist.

    Die Leipziger Thomaner waren abernicht die Einzigen, die sich bereits im18. Jahrhundert der Bachschen Motettenannahmen. Die Noten wurden (wenn auchnur in handschriftlicher Vervielfältigung)bereits in den 1760er Jahren vom LeipzigerVerlagshaus Breitkopf angeboten; auch derThomanerchor hatte seine Abschriften dortbezogen. Andere Kopien gingen von Breit-kopf z. B. nach Berlin in die BibliothekAnna Amalias, der Schwester Friedrichs desGroßen, und an die dortige Sing-Akade-

    mie; diese sang bereits im ausgehenden18. Jahrhundert die Bachschen Motetten.Selbst in Leipzig wurden die Motettennicht nur vom Thomanerchor gesungen.Johann Gottlieb Schicht, Gewandhaus-kapellmeister und Musikdirektor derLeipziger Neukirche sowie der LeipzigerSingakademie und der Herausgeber derErstausgabe der Motetten, hatte diesezunächst für eigene Bedürfnisse einergründlichen Revision unterzogen und dabeiFehler ausgemerzt, die sich in der Über-lieferung eingeschlichen hatten, und vorallem die Texte modernisiert. Wahrschein-lich brachte er die Motetten mit einem seiner Ensembles auch zur Aufführung,jedenfalls kursierten seine Bearbeitungenschon in Leipzig, bevor er sie 1802/03 herausgab und schließlich 1810 als vierterNachfolger Bachs selbst das Amt desThomaskantors übernahm.

    Seit dem Erstdruck von 1802/03 tretendie Motetten in der für Sammlungen des18. Jahrhunderts typischen Sechszahl auf;obwohl die Motetten freilich von Bach nieals zusammengehörige Sammlung gedachtwaren. An der Sechszahl hat sich im We-sentlichen bis heute nichts geändert; dieZusammenstellung selbst hingegen war inden letzten gut 200 Jahren mehrerenWandlungen unterworfen. Ganz selbstver-ständlich dabei sind bis heute fünf derMotetten: Singet dem Herrn, Der Geisthilf unser Schwachheit auf, Jesu, meineFreude, Fürchte dich nicht und Komm,Jesu, komm. Die Nummer sechs hingegenhat ein Wechselbad der Zuschreibungenerlebt. In der Ausgabe Schichts war es Ichlasse dich nicht, du segnest mich denn.Etwa 20 Jahre später veröffentlichte derHallenser Universitätsmusikdirektor JohannFriedrich Naue diese Motette jedoch ineiner Sammlung mit Motetten von JohannMichael und Johann Christoph Bach alsKomposition von Johann Sebastians

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  • Eisenacher Großonkel Johann ChristophBach. Folgerichtig verschwand dieseMotette bei Neuauflagen aus der Gruppeder sechs Bach-Motetten; ersetzt wurdediese zunächst durch die Bach fälschlichzugeschriebene Motette Lob und Ehr undWeisheit von Johann Gottfried Wagnerund dann schließlich durch Lobe denHerren. In dieser Zusammenstellung mitLobe den Herren als sechster Motetteerschienen die Motetten Bachs in beidenBach-Gesamtausgaben, so stehen sie imBach-Werke-Verzeichnis als die Nummern225–230 und so werden sie bis heute inden meisten Gesamteinspielungen und -aufführungen musiziert.

    Doch im letzten Drittel des vergange-nen Jahrhunderts kam wieder Bewegung in diese Frage: Die Echtheit der MotetteLobet den Herren wurde bestritten; sei es als Ganzes, sei es in der überliefertenWerkgestalt, wobei gegenwärtig wohl dieThese, es sei eine durch Bearbeitung ent-stellte Originalkomposition Johann Sebas-

    tian Bachs als (nicht unumstrittener) Standder Forschung gelten kann. Und auf deranderen Seite wurde genauer nachge-forscht, warum eigentlich Ich lasse dichnicht von Johann Christoph Bach stammensollte. Gerne wüssten wir, wie Naue zu sei-ner Zuschreibung der Motette an diesenVertreter der Bach-Familie kam, aber Naueschwieg sich darüber aus. Da auch eineandere Zuschreibung Naues sich als falscherwiesen hat, ist es geraten, dieser Mei-nung nicht zu viel Gewicht beizumessen.Ausschlaggebend für die ablehnendeHaltung gegenüber J. S. Bach als Urheberdieser Motette dürften für Naue (und vielenach ihm) die großen Unterschiede zwi-schen ihr und den anderen doppelchörigenMotetten Bachs gewesen sein: Diese sindin der Tat immens. Aber während es sichbei den meisten, wenn nicht allen anderenachtstimmigen Motetten Bachs um Leip-ziger Kompositionen handelt, ist Ich lasseDich nicht spätestens 1713, also minde-stens 10 Jahre vor den anderen entstan-den. Jene früheste Abschrift von 1712/13schrieb zwar im wesentlichen der Augs-burger Philipp David Kräuter, der sich1712/13 als Schüler Bachs in Weimar auf-hielt, Anfang und Schluss der Motette abertrug Johann Sebastian Bach selbst ein.Leider ist die erste Seite der Partitur be-schädigt; oben rechts, wo heute Papierfehlt, könnte einst der Name des Kompo-nisten gestanden haben – und wenn essich auch nicht mit letzter Sicherheit be-weisen lässt: Wahrscheinlich lautete erdoch J. S. Bach. Daran wird heute nur nochwenig gezweifelt, reiht sich diese Motettedoch stilistisch gut in das Werk des jungenBach ein; viel besser als in das seines Eise-nacher Großonkels. In der Musikpraxissetzt sich dies allerdings erst allmählichdurch. So sind wir nun – 210 Jahre nachErscheinen von Schichts erstem, auch Ichlasse dich nicht enthaltendem Heft – nach

    Festkonzert 40 Jahre Carus | 7

  • einigen Wirren wieder da, wo Schicht 1802bereits war: Bei den sechs Motetten unse-res heutigen Programms. Aber das Hin und Her um diese eine Motette ist durch-aus typisch für diese Werkgruppe JohannSebastian Bachs; keine andere vokale Gat-tung im Werk des Thomaskantors gibt derBachforschung bis heute so viele Rätselauf, wie seine Motetten.

    Ich lasse dich nicht ist eine Trauermo-tette, und sie reiht sich damit gut in dasverbleibende Motettenschaffen Bachs ein:Fast alle Motetten Bachs sind Gelegen-heitskompositionen für Trauerfeierlichkei-ten – wenn wir auch nur von einer Motetteden Anlass wirklich kennen: Der Geist hilftunser Schwachheit auf wurde, wie Bachselbst auf der Partitur vermerkte, „BeyBeerdigung des seel. Hn. Prof: und RectorisErnesti“ aufgeführt, also bei der Beisetzungvon Bachs direktem Vorgesetzten, demThomaschulrektor Johann Heinrich Ernesti,der im Oktober 1726 nach 45 Dienstjahren77jährig (und freilich noch im Amt) ver-starb. Bei den anderen Motetten könnenwir nur mutmaßen, für welche AnlässeBach sie komponiert hat. Die meisten Mo-tetten können wir nicht einmal datieren, dasich außer zu Der Geist hilft nur noch zuSinget dem Herrn Bachs Originalhand-schriften erhalten haben. Und bei Singetdem Herrn kennen wir Dank des Quellen-befundes zwar den ungefähren Entsteh-ungszeitraum – zwischen Sommer 1726und Frühjahr 1727, also ganz in zeitlicherNähe zu Der Geist hilft –, wissen aberwegen des sehr allgemein lobenden Textesgar nicht, zu welchem Anlass sie kompo-niert sein könnte. Für einem Jahrestag oderGeburtstag? Oder für den Neujahrstag?Es ist viel spekuliert worden, allein eineschlüssige Antwort aber fehlt bis heute.

    Bei den verbleibenden doppelchörigenMotetten ist die Überlieferung sehr vielproblematischer. Immerhin können wir uns

    bei beiden Kompositionen wohl auf Hand-schriften aus Bachs Umkreis stützen. ImFalle von Komm, Jesu, komm kennen wirsogar den Schreiber – Christoph Nichel-mann, später lange Zeit Kollege von CarlPhilipp Emanuel Bach am Hofe Friedrichsdes Großen. Nichelmanns Abschrift dürfteum 1732 entstanden sein. Wieder kennenwir den Entstehungsanlass nicht, wengleichauch hier eine Trauerfeier als sicher geltenkann; der Text der Motette hat übrigenseinen prominenten Leipziger Ursprung: Erwar 1684 für die Beisetzung von ErnestisVorgänger im Amt des Thomasschulrek-tors, Jacob Thomasius, gedichtet und vonBachs Vor-Vorgänger Johann Schelle zudiesem Anlass erstmals vertont worden.

    Eine Entstehung in Leipzig ist auch fürdie Motette Fürchte dich nicht wahrschein-lich, wenngleich es auch andere Thesengibt: Die simultane Kombination von Bibel-spruch und Choral, wie sie auch in Ich

    8 | Festkonzert 40 Jahre Carus

    Bachs Notenhandschrift: Der Geist hilftunserer Schwachheit auf BWV 226

  • Festkonzert 40 Jahre Carus | 9

    lasse dich nicht begegnet, gilt als verwur-zelt im heutigen Thüringen, wenngleichnicht darauf beschränkt; darin könnte einIndiz für eine Entstehung etwa in Weimargesehen werden. Die frühesten Abschriftenstammen teils aus Bachs regionalem Leip-ziger Umfeld, teils aber auch aus demBerliner Kreis um Carl Philipp EmanuelBach. Wie so oft ist über die genaue Ent-stehungszeit oder gar den Entstehungs-anlass nichts zu ermitteln. Selbst derNotentext ist hier nicht über jeden Zweifelerhaben: Alle Abschriften sind mehr oderweniger fehlerhaft. Oft sind nur die Les-arten der Erstausgabe Schichts plausibel –ob Schicht tatsächlich bessere Quellenhatte, oder nur ein sehr geschickter Be-arbeiter war, bleibt ungewiss.

    Sind die Motetten Johann SebastianBachs auch insgesamt von manchemProblem begleitet, die größtenRätsel eröffnet doch Jesu,meine Freude. Kaumjemand zweifelt daran,dass es sich bei dieserelfsätzigen Motette umeine originäre Komposi-tion Bachs handelt; dochebenso unbestritten istheute, dass es sich dabeium eine Zusammenstellungaus unabhängig voneinanderentstandenen Einzelkompositionenhandelt: So liegt dem 9. Satz eine andereChoralmelodiefassung zugrunde als denanderen Choralsätzen und zumindest man-che der choralfreien Sätze scheinen deut-lich älter als die endgültige Gestalt der Motette. Wahrscheinlich handelt es sichum eine Komposition der Leipziger Zeit, indie Bach Älteres integrierte; wie in manchanderem Werk so meisterhaft – bis hin zurperfekten Symmetrie –, dass man kaumglauben kann, es mit einer Kompilation zu tun zu haben!

    Umstritten ist bis heute auch, für welche Besetzung Bach eigentlich seineMotetten schrieb; das betrifft sowohl dieFrage der Chorstärke als auch die nach derMitwirkung von Instrumenten. Die vor etlichen Jahren aufgeworfene These einersolistischen „Chorbesetzung“ bei Bachkann Dank neu zutage gebrachten Quel-lenmaterials inzwischen als überholt ange-sehen werden. Zur Frage der Instrumental-verdopplung jedoch sind die Quellen salo-monisch unentschieden: zwei Stimmen-sätze aus Bachs Praxis sind erhalten, einmalmit Instrumentalstimmen, einmal ohne.

    Dass ausgerechnet dieser ohne Zweifelganz besondere Werkkomplex innerhalbdes Bachschen Vokalwerks – seine Chor-musik par excellence – uns vor so vieleRätsel stellt, ist indes nicht verwunderlich.

    Eine Trauerkomposition für eine nichtgenannte Person lässt sich im

    Dienstplan eines Komponistennicht gleichermaßen veror-ten, wie eine Kantate zueinem bestimmten Sonn-tag. Zum anderen aber,und das wiegt nochschwerer, sind es die Mo-tetten gewesen, die das

    Bachsche Vokalwerk frühwieder in das Bewusstsein

    gebracht hat. Ihre Originalhand-schriften sind zu großen Teilen verlo-

    ren, da ihnen die Konservierung nicht zuteilgeworden ist, die viele Handschrift dessonstigen, lange nur Sammler (wenn über-haupt) interessierenden Bachschen Vokal-werkes über die Jahrhunderte gerettet hat.Aber alle diese Rätsel schmälern die gera-dezu erschlagende Wucht der BachschenMotettenkunst nicht, sind viel mehr immeraufs Neue Ansporn, uns mit diesem über-aus interessante rätselhaften Korpus musi-zierend wie forschend auseinander zu setzen.

    Dr. Uwe Wolf, Carus

    Demnächst:J. S. Bach: MotettenCarus 83.298 (SWR)

    (SACD)

    Das Konzertprogramm des heutigen Tages

    erhalten Sie auf CD ab September 2012.

  • 14 | Festkonzert 40 Jahre Carus

    Die Arbeit von Frieder Bernius hatweltweit Anerkennung gefunden. AlsDirigent wie als Lehrer ist er internationalgefragt. Seine künstlerischen Partner sindvor allem die Ensembles KammerchorStuttgart, Barockorchester Stuttgart, Hof-kapelle Stuttgart und Klassische Philhar-monie Stuttgart, die er im Laufe der Jahreins Leben gerufen hat.

    Den Grundstein für seine außerge-wöhnliche Karriere legte 1968 die Grün-dung des Kammerchors Stuttgart, den erbald zu einem der führenden Ensemblesseiner Art machte. Die Gründung desBarockorchesters Stuttgart und der Klas-sischen Philharmonie Stuttgart 1991 doku-mentiert die stilistische Vielseitigkeit desDirigenten Frieder Bernius: Während sichdas Barockorchester auf historischen Ins-trumenten der Musik des 18. Jahrhundertswidmet, spielt die Klassische Philharmonieauf modernem Instrumentarium Werke des19. – 21. Jahrhunderts. Die 2006 ins Lebengerufene Hofkapelle Stuttgart schließlich istein Spezialensemble für die Musik des frü-hen 19. Jahrhunderts.

    Ob Vokalwerke von Monteverdi, Bach,Händel, Mozart, Beethoven, Fauré undLigeti, Schauspielmusiken von Grieg,Mendelssohn oder Sinfonien von Haydn,Burgmüller und Schubert – stets zielt dieArbeit von Frieder Bernius auf einen amOriginalklangideal orientierten, zugleichunverwechselbar persönlichen Ton. Wie-derentdeckungen von Opern des 18. Jahr-hunderts widmet er sich ebenso wie Urauf-führungen zeitgenössischer Kompositionen.Ein besonderes Interesse gilt der südwest-deutschen Musikgeschichte.

    Konzertreisen führten ihn zu allenwichtigen internationalen Festivals, u.a.nach Salzburg, Barcelona, Madrid, Brüssel,Flandern, Gent, Perugia, Cagliari, Linz,Innsbruck, Budapest, Meran, Vézelay,Wien, Leipzig, Dresden, Schleswig-Holstein

    und Schwetzingen sowie mehrfach nachFernost, Kanada, Israel, Australien und indie USA. Viermal leitete er bislang denWeltjugendchor, viermal gastierte er beiden Weltsymposien für Chormusik. AlsGastdirigent hat er u.a. mit der DeutschenKammerphilharmonie Bremen, dem Lon-don Philharmonic Orchestra und demStuttgarter Kammerorchester zusammengearbeitet. Seit 1999 ist er der Streicher-akademie Bozen eng verbunden, von 2000bis 2004 kooperierte er im Rahmen desChorWerk Ruhr mit der Ruhrtriennale. Seit1998 ist Frieder Bernius Honorarprofessorder Musikhochschule Mannheim.

    1987 rief Bernius die InternationalenFesttage Alter Musik Stuttgart ins Leben(seit 2004 unter dem Namen Festival Stutt-gart Barock), die die Landeshauptstadt miteinem Schlag zu einem Zentrum der histo-risch informierten Aufführungspraxis undzu einem Ort vielbeachteter Wiederent-deckungen vergessener musikalischerSchätze machten.

  • Festkonzert 40 Jahre Carus | 15

    Frieder Bernius’ Arbeit ist vielfach aufSchallplatte und CD dokumentiert. Rund90 Einspielungen hat er bislang vorgelegt,die mit rund 30 internationalen Schallplat-tenpreisen ausgezeichnet wurden. ZumMendelssohn-Jahr 2009 konnte er diezwölfteilige Gesamteinspielung des geistli-chen Vokalwerks Mendelssohns abschließen.

    1993 wurde Frieder Bernius für seineVerdienste um das deutsche Musiklebendas Bundesverdienstkreuz am Bande verlie-hen, 2001 der Robert-Edler-Preis für Chor-musik. 2002 wurde er mit der Verdienst-medaille des Landes Baden-Württembergausgezeichnet, 2004 erhielt er den Preisfür Europäische Kirchenmusik SchwäbischGmünd und im Juni 2009 die Bach-Me-daille der Stadt Leipzig.

    Der Kammerchor Stuttgart gilt als einesder besten Ensembles seiner Art. In denvierzig Jahren seines Bestehens hat FriederBernius den Chor zu einer von Publikumund Presse gefeierten Ausnahmeerschei-nung gemacht. „Die Meistersinger vonStuttgart“ wurde der Chor genannt

    (Stuttgarter Nachrichten), die FrankfurterAllgemeine Zeitung berichtete, „dass essich bei diesem Chor um ein stimmlichwundervoll besetztes Ensemble mit allennur denkbaren Vorzügen handelt, von sängerischer Brillanz über geradezu voll-endete Intonationsreinheit bis hin zu wohlkaum zu übertreffender Plastizität der Text-deklamation“, und die ZEIT schrieb jüngst„Kein Superlativ ist verschwendet, um die-sen Chor zu rühmen.“ Die HannoverscheAllgemeine konstatierte: „Frieder Berniusund sein Kammerchor Stuttgart setzenimmer wieder Maßstäbe in der Chormusik.“

    Bereits kurz nach seiner Gründung er-zielte das Ensemble erste internationaleErfolge: 1970 und 1971 gewann es Chor-wettbewerbe in Großbritannien und denNiederlanden, 1976 in Österreich. 1982errang der Kammerchor Stuttgart den1. Preis beim Ersten Deutschen Chorwett-bewerb. In der Folge erhielt der Kammer-chor Einladungen zu allen wichtigen euro-päischen Festivals, etwa nach Salzburg,Barcelona, Madrid, Brüssel, Flandern, Gent,Perugia, Cagliari, Linz, Innsbruck, Budapest,Meran, Vézelay und Wien. In Deutschland

  • 16 | Festkonzert 40 Jahre Carus

    Sopran Maria Bernius · Sandra Bernius · Franziska Bobe Jessica Jans · Julia Jurgasch · Dorothea Jakob Lisa Rothländer · Anja Scherg

    Alt Rob Cuppens · Friedemann Engelbert · Kerry Jago Katharina Oelerich · Elke Rutz · Breno Quindere

    Tenor Christian Aretz · Bruno Michalke · Daniel Käsmann Tobias Mäthger · Christian Rathgeber · Bernhard Schmidt

    Bass Christoph Drescher · Karsten Müller · Felix Rathgeber Felix Rumpf · Adolph Seidel · Christian Walter

    Impressum: Carus-Verlag GmbH & Co. KG Musik Podium Stuttgart e.V. Sielminger Str. 51 Künstlerischer Leiter: Frieder Bernius70771 Lf.-Echterdingen Christophstr. 5Fon 0711 797 330-0 / Fax -29 70022 Stuttgartwww.carus-verlag.com Fon 0711-239 139-0 / Fax -9

    www.musikpodium.com

    Das Musik Podium arbeitet mit besonderer Unterstützung des Ministeriums für Wissen-schaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg und mit freundlicherUnterstützung des Kulturamts der Stadt Stuttgart

    konzertierte der Kammerchor bei Festivalsund in Konzerthäusern u.a. in Berlin,Dresden, Göttingen, Halle, Schwetzingen,Ludwigsburg, Leipzig, Kassel, München,Nürnberg, Witten und beim RheingauMusikfestival.

    Das Repertoire des Chores reicht vom17. bis zum 21. Jahrhundert. Um die NeueMusik haben Frieder Bernius und sein En-semble sich mit vielen Uraufführungen ver-dient gemacht:

    Über 70 Schallplatten- und CD-Produk-tionen mit dem Kammerchor Stuttgart sindbei EMI, Sony und Carus erschienen, vondenen 30 mit internationalen Schallplatten-preisen ausgezeichnet wurden (u.a. Edison,Diapason d’or, Gramophone’s Choice, Classical Internet Award, 16 Preise derDeutschen Schallplattenkritik).

    Die Internationale Föderation für Chor-musik lud das Ensemble zu den Weltsym-posien für Chormusik nach Wien undSydney ein. Einladungen zu Nordamerika-Tourneen 1989, 1992, 2004 und 2012, zuAsien-Tourneen 1988, 1996, 2002, 2006,2008 und 2012 sowie einer Südamerika-Tournee 2010 dokumentieren die weltwei-te Reputation des Kammerchores Stuttgart.Seit 1984 ist das Spitzenensemble zudemalle zwei Jahre in Israel zu Gast.

    Im Rahmen der internationalen Kultur-beziehungen Baden-Württembergs gilt derKammerchor Stuttgart als ein Aushänge-schild seines Landes. So wurden Koopera-tionen mit Orchestern in Kanada, Polenund Ungarn durchgeführt.