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VorSatz 901 Essay REINHARD MOCEK An der Schwelle der »intellektuellen Neuzeit« 903 Defizite des Marxismus HELMUT SEIDEL Vom praktischen und theoretischenVerhältnis der Menschen zur Wirklichkeit. Zur Neuherausgabe des Kapitels l des I. Bandes der Deutschen Ideologie von K. Marx und F. Engels 908 DDR-Streit ohne Ende ELKE SCHERSTJANOI Erinnerung an die DDR 924 TILMANN VOGT »… gehen wir zu ihr!« Der Niedergang der DDR im Lichte des Staatskapitalismustheorems von Friedrich Pollock 936 JOHANNES SCHILLO Humba Humba DäDeRä Die politische Bildung bewältigt das Unrechtsregime mit drei Buchstaben 942 RENATE SCHUSTER Die Wende – ein »Mythensturz«? 951 Preußische Reformen HELMUT BOCK Von einem, der auszog, der Revolution zuvorzukommen. Zum Beginn der Preußischen Reformen vor 200 Jahren 961 Monatliche Publikation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 204 . Oktober 2007

204 . Oktober 2007 Rosa-Luxemburg-Stiftung · Überwindung der Teilung. Nun, in der Einheit, besteht die große Chance, die Erfahrungen der einen wie der anderen fruchtbar zu-sammenzuführen

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  • VorSatz 901

    EssayREINHARD MOCEKAn der Schwelle der »intellektuellen Neuzeit« 903

    Defizite des MarxismusHELMUT SEIDELVom praktischen und theoretischen Verhältnis der Menschenzur Wirklichkeit. Zur Neuherausgabe des Kapitels ldes I. Bandes der Deutschen Ideologievon K. Marx und F. Engels 908

    DDR-Streit ohne EndeELKE SCHERSTJANOIErinnerung an die DDR 924

    TILMANN VOGT»… gehen wir zu ihr!« Der Niedergang der DDRim Lichte des Staatskapitalismustheoremsvon Friedrich Pollock 936

    JOHANNES SCHILLOHumba Humba DäDeRäDie politische Bildung bewältigt dasUnrechtsregime mit drei Buchstaben 942

    RENATE SCHUSTERDie Wende – ein »Mythensturz«? 951

    Preußische ReformenHELMUT BOCKVon einem, der auszog, der Revolution zuvorzukommen.Zum Beginn der Preußischen Reformen vor 200 Jahren 961

    Monatliche Publikation,herausgegeben von derRosa-Luxemburg-Stiftung204 . Oktober 2007

  • Konferenzen & VeranstaltungenANNEGRET KÜNZELDer Traum vom Aufbau Ost:Ökonomie als Triebfeder der Einheit? 980

    FestplatteWOLFGANG SABATHDie Wochen im Rückstau 984

    Bücher & ZeitschriftenPhilo, Greg; Berry Mike:Bad News from Israel(PETER ULLRICH) 986

    Arno Polzin:Der Wandel Robert Havemannsvom Inoffiziellen Mitarbeiter zum Dissidentenim Spiegel der MfS-Akten(ANDREAS HEYER) 988

    Stefan Bollinger:Imperialismustheorien.Historische Grundlagen für eine aktuelle Kritik.(KARL-HEINZ GRÄFE) 989

    Konrad Paul Liessmann:Theorie der Unbildung – Die Irrtümerder Wissensgesellschaft(KARL-HEINZ STRECH) 990

    Summaries 992An unsere Autorinnen und AutorenImpressum 994

  • Potsdam am 1. September. Die brandenburgische Landeshauptstadtfeiert 100 Jahre elektrische Straßenbahn. Hunderte begeistern sichan dem feierlich zurechtgemachten historischen Triebwagen derGründerzeit. Die freundlich grüßenden Honoratioren, die auf demPerron Aufstellung genommen haben – der Oberbürgermeister, derChef der Stadtwerke und der Chef der Verkehrsbetriebe – sind alleaus dem Westen. Längst haben sich alle dran gewöhnt, und es sindangenehme, verständnisvolle Leute, denen jeder abnimmt, dass sieihr Herz und Engagement an diese Stadt gehängt haben. Aber manwird am »Tag der deutschen Einheit« doch mal fragen dürfen, ob derumgekehrte Vorgang in, sagen wir mal, Hannover denkbar wäre(von München oder Stuttgart ganz zu schweigen)? Also: drei Ossisals Chefs und auf dem geschmückten Perron?Unvorstellbar. Genauso unvorstellbar wie, dass der Bundespräsi-

    dent und andere offizielle Festredner zum 3. Oktober etwa die fol-genden Sätze formulieren: Die Teilung Deutschlands war eine Folgedes Krieges, den Deutschland über die Welt gebracht hat. In ihrenEntscheidungen bestimmt durch die jeweiligen Besatzungsmächteund den Kalten Krieg, in dem sich diese schon bald befanden, habenDeutsche in Ost und West vierzig Jahre lang auf unterschiedlicheWeise versucht, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und Staats-wesen zu errichten, in denen eine Wiederholung des Grauens derJahre 1933 bis 1945 ausgeschlossen sein würde. Dabei haben sietrotz ihrer Unterschiedlichkeit in so vielfacher Beziehung zueinan-der gestanden, dass die Geschichte der einen von der der anderennicht zu trennen ist. 1989 ist der östliche der beiden Versuche, des-sen Untauglichkeit, den Interessen der Bevölkerung zu entsprechen,sich immer stärker abgezeichnet hatte, in sich zusammengefallen;eine beispiellose Volksbewegung wurde zum Ausgangspunkt derÜberwindung der Teilung. Nun, in der Einheit, besteht die großeChance, die Erfahrungen der einen wie der anderen fruchtbar zu-sammenzuführen für das Neue, das Künftige. Denn Willy Brandthatte ja Recht: Es kann und soll nun zusammenwachsen, was zu-sammengehört.Wer nun meint, derlei Vorschläge könnten nur dem Hirn eines un-

    belehrbaren DDR-Nostalgikers entsprungen sein, der sei an einigeSätze erinnert, die Bundeskanzler Helmut Kohl vor fast genau20 Jahren, am 7. September 1987, gelegentlich eines Empfangs fürden Staats- und Parteichef der DDR, Erich Honecker, bei dessenStaatsbesuch in Bonn – ja, in Bonn! – formuliert hat. »Die Erfah-

    VorSatz

  • rung lehrt«, hatte Kohl da zum Beispiel gesagt, »dass die gegen-sätzlichen Positionen in Grundsatzfragen die praktische Zusammen-arbeit zwischen den beiden Staaten in Deutschland nicht behindernmüssen. So ist in den vergangenen Jahren vieles gut geregelt wor-den, manches wird verhandelt, anderes lässt noch auf sich warten.Doch die Tendenz ist insgesamt positiv, und soweit es an der Bun-desrepublik Deutschland liegt, soll es dabei bleiben.« Und auch diefolgenden Einsichten waren zu vernehmen: »Zu Werken des Frie-dens sind wir um so mehr verpflichtet, als in diesem Jahrhundert vondeutschem Boden entsetzliches Unheil und Leid ausgegangen ist.Auch daher ist es Aufgabe beider Staaten in Deutschland, durch denAusbau ihrer Zusammenarbeit zur Verbesserung des politischen Kli-mas und zur Vertrauensbildung in den West-Ost-Beziehungen beizu-tragen. Dass unsere Regierungen Rüstungskontrolle und Abrüstungim Rahmen der übergreifenden Ost-West-Verhandlungen jeweils zufördern haben, scheint mir selbstverständlich. Friedenssicherungund Gewaltverzicht sind zwingende Erfordernisse der Vernunft undder Moral. Dabei wissen wir sehr wohl, dass die Hauptverantwor-tung für einen ertragreichen Ost-West-Dialog auf diesem Gebiet beiden Vereinigten Staaten und der Sowjetunion liegt.«In Zusammenarbeit gut Geregeltes, gemeinsame Verantwortung,

    gemeinsames Eingebettetsein in den Systemkonflikt – wieso giltheute nur als hoffähig, wer das alles mindestens ignoriert, bessernoch vergisst, am allerbesten leugnet? Wieso wird der Blick desMeinungshauptstroms auf die DDR mit den Jahren nicht gelassener,sondern immer aufgeregter?Zum einen wohl, weil auch 17 Jahre nach dem Anschluss der DDR

    an die Bundesrepublik die wirtschaftliche Kluft zwischen Ost undWest nicht kleiner geworden ist, sondern im Gegenteil immer tieferaufreißt.

    WOLFRAM ADOLPHI

    902

  • Es kommt wie eine Spruchsammlung daher: das in den Bibliothekenselten gewordene Buch von Francis Bacon »Über die Würde und dieFörderung der Wissenschaften«, das in London 1605/1623 in die Öf-fentlichkeit kam, in deutscher Sprache seit rund 225 Jahren zu lesenund nun von Hermann Klenner neu herausgegeben worden ist. Dochalle Aphorismen und Spruchweisheiten, die hier neben dem Text aufrund 500 Seiten versammelt sind, verfolgen ein Ziel – die segensrei-che menschheitsbefördernde Rolle der Wissenschaft in all ihren Fa-cetten herauszuarbeiten und alle gesellschaftlichen Möglichkeitenihrer Förderung darzulegen. Und das zu einer Zeit, die von einer sol-chen Funktion der Wissenschaft nur träumen konnte. Besonders denHerrscherpersönlichkeiten war anzuraten, »Liebe und Ehrfurcht ge-genüber den Wissenschaften« in fördernde Taten umzusetzen; unddie verbreitete feudale Manier der Herabsetzung des gelehrten Stan-des gehöre verurteilt. Aber auch den Unterwürfigen unter den Wis-senschaftlern, die nur zu bereitwillig Erkenntnis und Wahrheit derRäson der obersten Gewalten von Staat und Kirche zu opfern bereitsind, gilt vehemente Kritik, wie der Autor auch denen unter seinenKollegen die Leviten liest, die sich in die Studierstuben zurückzie-hen, anstatt sich der Erziehung der Jugend zu widmen, vertrete diesedoch das hoffnungsvolle, also auch das »würdigere Alter«.

    Die Rede ist von dem umfangreichen Werk des großen englischenPhilosophen, Juristen und Staatsmannes Francis Bacon (1561-1626),eines der großen Erneuerer der europäischen Geisteskultur am Aus-gange des Mittelalters, als Lordsiegelbewahrer der englischen Kroneselbst unmittelbar in die Amtsgeschäfte seiner Potentaten Elisabeth I.und James I. einbezogen. Aber es ist natürlich viel mehr als Appellan das Königshaus, als Aufruf zu Besserem; und daß eine Neuheraus-gabe diese Schrift nach ihrer ersten Übertragung ins Deutsche durchJohann Hermann Pfingsten aus Halle im Jahre 1783 dem deutschenLeser wieder zugänglich macht, hat gute Gründe. Rein äußerlichwerden sie deutlich, wenn man weiß, daß die Franklin Library inPennsylvania in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhun-derts dieses Bacon-Buch in die Liste der einhundert bedeutendstenBücher aller Zeiten eingereiht hat; und zwar in der Erstfassung ausdem Jahre 1605, damals überschrieben mit »Of the proficience andadvancement of Learning«. Noch hieß es hier im Titel der Schrift»proficience«, Tüchtigkeit also, die den Aspekt des Nutzens hervor-hob, ganz im Sinne der Baconschen Vereinigung von empirisch ge-gründeter Erkenntnis und wissensfolgender Handlung, womit die

    Reinhard Mocek – Jg. 1936,Philosoph und Wissen-schaftstheoretiker, Berlin;Mitglied des Kuratoriumsder Rosa-Luxemburg-Stiftung; zuletzt in UTOPIEkreativ: Auf dem Wege zueiner Neuvermessung desGesellschaftlichen.Anmerkungen zu UliSchölers Rückgriff auf Marx(Heft 123, Januar 2001)sowie eine Rezension zuThomas Bach (Hrsg.):Schelling in Rußland.Die frühen naturphilosophi-schen Schriften von DaniilMichajlovic Vellanskij (1774-1847), Marburg/Lahn 2005(Heft 184. Februar 2006).

    UTOPIE kreativ, H. 204 (Oktober 2007), S. 903-907 903

    REINHARD MOCEK

    An der Schwelle der»intellektuellen Neuzeit«

  • gesamte seitherige Philosophie in ihren Grundfesten erschüttertwurde.

    Das allein war schon Wissenschaftstat genug, denn die hier ge-äußerte Fundamentalkritik Bacons an der bis dahin ausnahmslosenBindung der europäischen Wissenschaft und Philosophie an die gei-stigen Vorgaben des Aristoteles verlangte nach einem gründlichdurchgearbeiteten neuen Erkenntnisprinzip, nach einem »Neuen Or-ganon«, das die Wissenschaft nunmehr als Erfahrungswissenschaftbegriff. Damit war die aristotelische Methode, die Welt allein ausden Kategorien herzuleiten, nicht nur strikt konfrontiert, sondern,wie es Bacon und die zunächst geringe Schar seiner Anhänger ver-standen, widerlegt.

    Dieses Baconsche »Neue Organon« erschien 1620 und hatte zumZiel, »die Wissenschaft in strenger Ordnung von der Erfahrung heraufzubauen und neu zu begründen« (NO, Aph. 97). Die Schrift von1605 und das »Neue Organon« verfolgten dieses Anliegen gewisser-maßen von zwei Seiten her; einmal über die Reflexion der innerenBeziehung von Wissenschaft, Handeln und geistiger Lebenskultur,zum anderen als neue Interpretation der Natur, die so angelegt war,durch erfahrungsbegründete Gesetzeserkenntnis sichere Anweisun-gen für nutzenbringendes Handeln zu erlangen. Mit heutigem Voka-bular könnte man sagen, einmal als Wissenschaftstheorie, zum an-deren als Methodologie.

    Daß drei Jahre nach dem »Neuen Organon«, 1623 also, die Zweit-fassung der Schrift von 1605 erschien, weist darauf hin, daß Bacondie Konzentration seines Organons auf die Naturwissenschaftenselbst als ungenügend empfunden haben mußte. Die gesellschafts-wissenschaftliche Problematik war nicht hinlänglich genug bearbei-tet. Trotz größter Belastungen durch verschiedenste Staatsämter ge-lang es Bacon, die 165seitige Schrift von 1605 zu einem 500seitigenGedankengebäude über die Würde und den Wert der Wissenschaftensowie die Notwendigkeit ihrer allseitigen Förderung auszubauen, die1623 unter der Überschrift »De dignitate et augmentis scientiarum«von dem literarischen Sekretär Bacons, John Rawley, herausgegebenwurde.

    Auch in den Augen Bacons war die Differenz zu der Schrift von1605 so groß, daß er die Fassung von 1623 als »neues Buch« be-zeichnet hat. Die inhaltliche Fülle ist einfach erschlagend. Erörte-rungen über den Wert und die Würde der Wissenschaften, über dieRolle der Wissenschaften von der Gesellschaft und Geschichte, derRhetorik, der Lebensführung, Ethik und Moral, von Recht und Ge-rechtigkeit, Vernunft und Theologie bestimmen nun die reflektie-rende Analyse.

    Dem aufmerksamen Leser entgeht natürlich nicht die Ersetzungdes Substantivs »Tüchtigkeit« durch »Würde« in der Werküber-schrift, eine Änderung des Anliegens, die der Erklärung bedarf. Das»Neue Organon« hatte die empirische Methode sowohl vom Grund-sätzlichen her als auch über eine Fülle naturwissenschaftlicher Bei-spiele vorgestellt und, wie Bacon selbstbewußt verkündet, damit die»Verbindung zwischen dem Geist und den Dingen in der richtigenWeise wiederhergestellt«. Bacon war überzeugt, daß diese neue Me-thode soviel Nutzen bringen werde wie kaum etwas anderes auf der

    Francis Bacon: Über dieWürde und die Förderungder Wissenschaften, London1605/1623. Aus dem Eng-lischen übertragen vonJutta Schlösser, heraus-gegeben und mit einemAnhang versehen vonHermann Klenner.Schriftenreihe zur rechts-wissenschaftlichen Grund-lagenforschung, HaufeMediengruppe Freiburg,Berlin, München, Würzburg,Zürich 2006, 812 Seiten,50 Euro

    904 MOCEK Intellektuelle Neuzeit

  • Erde. Das galt es nun in »De dignitate et augmentis scientiarum« inaller Ausführlichkeit auf den gesamten Kanon des Wissens auszu-breiten. Schon im Editorial, das er »An den König« richtet, heißt es,daß es neben der bloßen Anhäufung von Wissen, die zur »Aufge-blähtheit« führe, ein Korrektiv gäbe, »dessen Beimischung« dasWissen souverän macht und bewirke, daß keinerlei Gefahr »in Um-fang oder Quantität des Wissens liegt« – und das ist das Korrektivder »Nächstenliebe«! Das »Wohl des Menschen und der Mensch-heit« allein adelt die Erkenntnis und kennzeichnet die auf Handelnumgesetzte Wissenschaft!

    Fraglos ist das die zentrale Idee dieses Buches und liegt der durchBacon vorgenommenen ausgiebigen Prüfung der bisherigen kri-tikwürdigen Leistungen der Wissenschaften wie der Hochschätzungihrer eigentlichen Möglichkeiten zugrunde. Mehrfach variiert er denKernsatz seines Wissenschaftskonzeptes: »Das wahre Ziel der Wis-senschaften ist kein anderes, als das menschliche Leben mit neuenErfindungen und Reichtümern auszustatten: Wahrheit und Nutzensind genau dasselbe.« Spricht man in der neueren Philosophiege-schichte von einer Revolution der Denkart oder vom Beginn der »in-tellektuellen Neuzeit«, dann ist genau dieser Durchbruch Bacons zueinem völlig neuen Verständnis der Wissenschaft gemeint, zur gei-stigen Aneignung der wichtigsten Triebkraft für den Fortschritt derMenschheit.

    Und welcher Terminus ist dafür wohl würdiger als der der»Würde«? Für Bacon lag der Beweis für diese historische Rolle derWissenschaften noch in weiter Ferne; seine Argumente, um der Wis-senschaft diese Würdigkeit zuzugestehen, mußten auf anderer Ebeneliegen – einer Ebene, die für den theologischen Zeitgeist auch ab-rufbar war. Bacon greift zu diesem Zweck auf die Bibel und auf dieSprüche des Königs Salomo zurück. Bei Salomo sieht Bacon die»Engel des Wissens« vor die »Engel der Ämter und der Herrschaft«gesetzt, womit die Gabe und das Talent von Weisheit und Gelehr-samkeit »aller irdischen und vergänglichen Glückseligkeit vorgezo-gen« wird. Daraus folgert Bacon, daß die Würde des Wissens imUrtyp der Werke Gottes verankert liege, also der Weisheit desSchöpfers am nächsten stehe. Diese in gewisser Weise lästerlicheHochschätzung der Wissenschaft ist für Bacon (den der Herausgeberzwar nicht zu den Atheisten, zumindest aber zu den Freigeisternrechnet) denn auch Mittel zum Zweck, beschließt er diesen Ab-schnitt doch mit der beweisbewußten Sentenz: »Soviel also zu gött-lichen Zeugnissen und Beweisen hinsichtlich der wahren Würde derWissenschaften«.

    Die irdische Begründung der Würde der Wissenschaften greiftdann wesentlich kürzer und ist ziemlich hypothetischer Art. So be-sänftige das Studium der Wissenschaften und Künste die Sitten, be-wirke Gutes und schaffe zudem für diejenigen, die mit ihrem Wissenin der Öffentlichkeit zu glänzen verstehen, den Ruhm der Unsterb-lichkeit. Würde der Wissenschaft ist also für Bacon eine Schutzbe-hauptung für die Wissenschaft als gesellschaftliche Einrichtung, diegleichzeitig ihren unbedingten Förderungsanspruch zum Inhalt hat.Es ist für den Wissenschaftshistoriker keine Frage, daß eine der-artige Verankerung von Erkenntnis in Zeiten der bedingungslosen

    MOCEK Intellektuelle Neuzeit 905

  • Subordination von Philosophie und Wissenschaft unter die Theolo-gie eine Großtat war, die den Übergang in die »intellektuelle Neu-zeit« markierte, wie der kongeniale Herausgeber Hermann Klenner,einer der führenden Repräsentanten der Rechtstheorie und Rechts-geschichte auf deutscher und internationaler Ebene, in seinem Edi-torial vermerkt.

    Überhaupt findet man in diesem halbtausend Jahre alten WerkBacons eine Menge treffender analytischer Feststellungen, die mangern in die heutige Wissenschaftstheorie aufgenommen wissenmöchte. Ich denke dabei nur an die Baconsche Unterscheidung von»lichtbringender« und »fruchtbringender« Wahrheit, wobei er trotzaller Orientierung von Wissenschaftserkenntnis auf den Nutzen dielichtbringenden Wahrheiten, die auf das Wesen der Natur aus sind,im philosophischen Sinne höher schätzte. Die kritische BetrachtungBacons zu vielen wissenschaftsmoralischen Fragen ist überaus zeit-gemäß, was sich vor allem in seiner Distanz zur Gelehrsamkeit alsErscheinungsform eines irgendwie toten Wissensbegriffes zeigt.

    Seine methodologische Tat – man sollte übrigens zur Lektüre von»De dignitate ...« das »Neue Organon« bereitlegen – hat auch ange-sichts der Tatsache, daß er so manche der zeitgenössischen Ent-deckungen (Kepler, Galilei) nicht genügend beachtet hat, damalsnicht auf die Wissenschaft durchgeschlagen. Auch seine vielfältigenAnregungen zur Neugestaltung des Wissenschaftssystems stießenauf taube Ohren; auch bei Hofe, wo der hochgebildete James I.offensichtlich Bacons Ideen zur Organisation der Wissenschaftennicht sogleich, wenn überhaupt folgen wollte. So überrascht es nicht,daß Bacon zu Lebzeiten keine Kränze geflochten wurden, zumal er,sechzigjährig wegen Korruption verurteilt, zumindest im gesellschaft-lichen Ansehen einen tiefen Sturz erlebte. Erst ein rundes halbesJahrhundert später fand er an den drei führenden europäischen Wis-senschaftsakademien in London, Paris und Berlin Eingang als spiri-tus rector und Vorreiter des modernen Wissenschaftsbetriebes. Eineglänzende Rehabilitierung!

    Es ist nicht unwichtig, zu erwähnen, daß die Lektüre dieses Ba-con-Buches die historische Gestalt Bacons abhebt von so manchemVorwurf der Späteren, er habe einem bloßen Szientismus das Wortgeredet oder sei gar der geistige Urheber des menschenverachtendenMißbrauchs der Wissenschaft als Machtfaktor gewesen – wie sichauch, was B. Farrington und W. Krohn bereits vor gut einem Dut-zend Jahren festgestellt haben, der Term »Wissen ist Macht« in sei-ner »anrüchigen« und »unhaltbaren« Fassung in Bacons Schriftennicht findet.

    Daß Baconsche Texte höchst vergnüglich zu lesen sind, weiß derFreund des europäischen Essays längst schon zu schätzen; gilt derEngländer doch neben Montaigne als Urvater dieser literarischen Gat-tung, man vergleiche dazu die von Anselm Schlösser in der SammlungDieterich 1983 vorgelegten Texte. Denen steht in bezug auf Klarheitund Stilistik die Übertragung aus dem englischen Urtext (Klenner zogdie Baconsche englischsprachige Fassung der lateinischen Übertra-gung vor, was aus quellenkundlicher Sicht gewiß kein Nachteil ist)von Jutta Schlösser gleichwertig zur Seite. Der Satzbau ist ausgefeilt;es ist insgesamt ein vorzüglicher, eingängiger Text geworden.

    906 MOCEK Intellektuelle Neuzeit

  • Ein Muster einer die zeitgenössische intellektuelle, politische undgesellschaftliche Situation ganzheitlich erfassenden Lektion in Phi-losophie- und Rechtsgeschichte – einen intellektuellen Genuß – bie-tet Hermann Klenner in seinem nachgestellten Artikel »Wissen-schaftsfortschritt und Jurisprudenz: Francis Bacon«, dem ein Vortragin der Leibniz-Societät zugrunde liegt. Besonders hervorzuhebensind die rund eintausend Anmerkungen zu Bacons Text aus HermannKlenners Feder, die die Lektüre ungemein bereichern und in ihrerwegweisenden Kundigkeit für jeden Leser vor allem die intellektu-ellen Zusammenhänge zwischen der griechischen wie römischenGeistesgeschichte mit Bacons Reflexionen beleuchten und erläutern.Daß der Herausgeber auch die Übersichtlichkeit des Textes durchdie Einfügung von Zwischenüberschriften gefördert und dadurch zurbesseren Übersichtlichkeit und Lesbarkeit beigetragen hat, sei amRande erwähnt.

    Es ist also nicht irgendein philosophisches Buch, das uns da in denVerlagskalendern angeboten wird, sondern etwas Seltenes, Kostba-res! Ein Jahrhundertbuch, wie es Klenner definiert. Dazu gehörtauch, daß es uns nicht nur mit der studierten Erinnerung an die Zeitvor fünfhundert Jahren etwas gibt, sondern in vielen Fragestellungenund Problemen auch die moderne Wissenschaftslandschaft berührt.Oder – wer hat in den letzten Jahren schon irgendwo etwas von der»Würde der Wissenschaft« gehört?

    MOCEK Intellektuelle Neuzeit 907

  • IWir stehen in Deutschland am Beginn einer großen geistigen Aus-einandersetzung um den »Weg zum künftigen Vaterland der Deut-schen«1. Wir wollen, daß von deutschem Boden, aus dem unver-gängliche Schätze der Menschheitskultur erwuchsen, nie mehr einKrieg ausgeht. Wir versuchen, entgegen den aggressiven Bestrebun-gen des westdeutschen Imperialismus, die sich besonders im An-spruch der Bundesrepublik auf das Alleinvertretungsrecht und in derNichtanerkennung der bestehenden Grenzen ausdrücken, eine fried-liche Lösung der deutschen Frage anzustreben. Wir nehmen deshalbdie von Karl Jaspers erhobene Forderung auf, daß die »geistige Lei-stung«2 entscheiden soll, in welcher Richtung die grundlegenden Le-bensfragen der deutschen Nation gelöst werden; dabei betrachtenwir freilich das geistige Ringen als eine notwendige, aber noch nichthinreichende Bedingung für die gekennzeichnete friedliche Lösung.

    Das geistige Ringen, das hinsichtlich der Apologie der Politik undIdeologie des deutschen Imperialismus mit aller Schärfe, hinsicht-lich der bürgerlichen Kritik dieser Politik sachlich, überzeugend undvon hohem politischem und moralischem Verantwortungsbewußt-sein durchdrungen auszutragen ist, erfordert erneute, vertiefte Be-sinnung auf unsere geistigen Waffen. Es wäre verhängnisvoll, ausder nicht zu bestreitenden Tatsache, daß die gesamte bürgerlicheIdeologie den erprobten und siegreichen Ideen des Marxismus-Leni-nismus nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat, Zufriedenheitableiten zu wollen. Wir wissen um die Stärke unserer Ideen, ver-schließen aber nicht die Augen vor Mängeln in unserer theoretischenArbeit. Wenn im weiteren einige Schwächen unserer theoretischenArbeit skizziert werden, so hat dies selbstverständlich nichts mit ei-ner Ignorierung der geschichtlichen Leistung zu tun, welche diemarxistische Theorie – und erst recht die marxistische Praxis – inDeutschland aufzuweisen hat, sondern dient nur dem Zweck, unsereWaffen zu schärfen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Neu-veröffentlichung des Kapitels l des l. Bandes der »Deutschen Ideo-logie« nicht nur als ein hervorragendes Ereignis der Marx-For-schung, sondern als unmittelbare Hilfe für die Lösung der vor unsstehenden theoretischen Aufgaben.

    IIBei einer kritischen Analyse unserer theoretisch-philosophischenArbeit treten m. E. folgende Mängel in den Vordergrund:

    Helmut Seidel – 1929-2007,Philosoph, arbeitete vorallem auf dem Gebiet derGeschichte der Philosophie.Zuletzt in UTOPIE kreativ:Reflexionen über denUtopie-Begriff, Heft 58(August 1995). Der hiernachgedruckte Artikel istzuerst erschienen in:Deutsche Zeitschrift fürPhilosophie, Heft 10/1966,S. 1177-1191. VEB Deut-scher Verlag der Wissen-schaften, Berlin (DDR).Er löste in der DDR heftigeDiskussionen aus, die sichan Seidels Bestimmung derPraxis als Zentralkategoriedes Marxismus entzündete,die im Kern aber gegeneinen kreativen Umgang mitder marxistischen Theorie-geschichte gerichtet war.Das Ergebnis war einmehrjähriges Lehr- undPublikationsverbot gegenHelmut Seidel.

    908 UTOPIE kreativ, H. 204 (Oktober 2007), S. 908-922

    HELMUT SEIDEL

    Vom praktischen undtheoretischen Verhältnis derMenschen zur WirklichkeitZur Neuherausgabe des Kapitels l des I. Bandesder Deutschen Ideologie von K. Marx und F. Engels

  • 1. Bei der Begründung und Durchführung der Politik der Sozialisti-schen Einheitspartei Deutschlands sind neue, bedeutende Einsichtenin die gesellschaftlichen Prozesse gewonnen worden, die den histo-rischen Materialismus konkretisieren und bereichern. Jedoch habendie marxistischen Philosophen diesen Gedankenreichtum ungenü-gend in das theoretische Gesamtsystem des Marxismus einbezogen.Neue Erkenntnisse, neue Erfahrungen werden aber für die Theorieerst dann relevant, wenn sie auf das System, auf die Form bezogenwerden, in der Wissenschaft allein möglich ist. Fehlt die lebendigeWechselwirkung zwischen System und neuer Erkenntnis, dann ent-steht die Gefahr, daß die neuen Erfahrungen theoretisch in der Lufthängen bleiben, das System aber zu einem leblosen Schema herab-sinkt, das nicht mehr die Funktion der Theorie, Anleitung zum Han-deln zu sein, erfüllen kann. Der schon oft kritisierte Rückstand dertheoretischen Arbeit auf dem Gebiet, das gemeinhin dem histori-schen Materialismus zugeordnet wird, ist nicht mehr zu übersehen.Den Grund für dieses Zurückbleiben sehe ich allerdings nicht nur ineiner noch ungenügenden Verbindung zwischen theoretischer Arbeitund praktischer Politik, sondern auch in einer gewissen Unsicherheithinsichtlich des Gesamtsystems der marxistischen Philosophie.

    2. Diese Unsicherheit zeigt sich auch dort, wo bei speziellen Un-tersuchungen von Teilbereichen (insbesondere bei der Behandlungphilosophischer Fragen der Einzelwissenschaften) der Bezug zumGanzen des Systems verlorengeht. Abgesehen davon, daß eine spe-zielle philosophische Frage aufhört, speziell philosophisch zu sein,wenn sie nicht auf dieses Ganze bezogen wird, besteht hierbei dieGefahr, daß die Philosophie in überhaupt nicht oder nur lose mitein-ander verbundene Teile zerlegt wird. Bei dieser anatomischen Sek-tion versickert allerdings der lebendige marxistische Geist im posi-tivistischen Sand.

    3. Die Unsicherheit in bezug auf das philosophische System desMarxismus erklärt sich m. E. daraus, daß die Unhaltbarkeit des inden bisherigen Philosophie-Lehrbüchern dargestellten Systems mehrund mehr empfunden wird. Gewisse Modifizierungen haben keinenwirklichen Wandel geschaffen. Der Ausweg in die Einzelwissen-schaft oder in eine theorielose Aktualisierung ist natürlich keine Lö-sung. Es entwickelt sich deshalb unter den marxistischen Philoso-phen eine Diskussion3, in der eine kritische Analyse der bisherigenDarstellungen gefordert wird und Vorschläge für neue systematischeDarstellungen der marxistischen Philosophie unterbreitet werden.Ich begrüße diese Diskussion, da sie helfen wird, die marxistischePhilosophie auf die Höhe unserer Zeit zu bringen.

    IIIDie Hauptmängel der bisherigen systematischen Darstellungen seheich in folgenden Punkten:

    1. Das praktisch-tätige Verhalten der Menschen zu ihrer natürli-chen und gesellschaftlichen Umwelt wird ungenügend reflektiert,das theoretische Verhältnis zur Wirklichkeit dagegen überbetont. DerHauptakzent in den bisherigen Darstellungen liegt auf der Erklärungdessen, was ist, nicht aber auf einer theoretischen Begründung derpraktischen Veränderung, nicht auf der Anleitung zum Handeln. Der

    1 Vgl.: W. Ulbricht:Der Weg zum künftigenVaterland der Deutschen.Berlin 1966.

    2 K. Jaspers: Wohin treibtdie Bundesrepublik?München 1966.

    3 Die Diskussion wurdein der DZfPh, Heft 7/1964,durch einen Beitrag vonA. Kosing, »Gegenstand,Struktur und Darstellung dermarxistischen Philosophie«,eröffnet. Es sei auch auffolgende Artikel in derDZfPh verwiesen: Philoso-phie und Leben (Thesen).Heft 8/1964; G. Dormin:Über Gegenstandsbestim-mung und Aufgaben dermarxistischen Philosophie.Heft 2/1965; A. Kosing: Überdie Funktionen der marxisti-schen Philosophie. Heft3/1965.

    SEIDEL Defizite des Marxismus 909

  • Philosophie, der es auf die Veränderung der Welt ankommt, kann esnicht genügen, die durchgängige Gesetzmäßigkeit der Welt, derenErkenntnis historisch bedingt, relativ ist, aufzuzeigen; sie hat denSinn des menschlichen Handelns zu begründen. Dieser aber kommtweder aus der Transzendenz, noch kann er in logischen, mathemati-schen oder Naturgesetzen gefunden werden. Er ist nur in den mate-riellen und geistigen Schöpfungen der menschlichen Kultur zu fin-den, wenn er ständig neu gesetzt wird. Es ist in der Tat »der Weisheitletzter Schluß«: »Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, dertäglich sie erobern muß.«4

    2. Ein Ausdruck der Überbetonung des theoretischen Verhältnissesder Menschen zur Wirklichkeit ist die Ableitung des historischenMaterialismus aus dem dialektischen, wie sie in der Formel von derAusdehnung des dialektischen Materialismus auf die menschlicheGesellschaft und ihre Geschichte zum Ausdruck kommt. Die Formelvon der Ausdehnung des Materialismus auf die Gesellschaft hatm. E. nur in bezug auf die Geschichte des Materialismus einen Sinn.Wird sie dagegen einem marxistischen System zugrunde gelegt, sowird sie sinnlos. Als Formel dokumentiert sie dann nicht mehr dieEinheit von historischem und dialektischem Materialismus, sondern– entgegen dem Willen derer, die sie gebrauchen – deren Trennung.Denn der dialektische Materialismus, der vor seiner Ausdehnung aufdie menschliche Gesellschaft dargestellt wird, muß sich konsequen-terweise auf die Natur beschränken. Der dadurch bedingte Eindruckeines naturphilosophischen Charakters des dialektischen Materialis-mus wird noch dadurch verstärkt, daß die Gegenstände hier fast aus-schließlich unter der Form des Objekts, kontemplativ, gefaßt werden.Die Praxis, die Voraussetzung jeder Erkenntnis, also auch der Er-kenntnis der allgemeinen Naturgesetze, bleibt – da sie ja erst imhistorischen Materialismus zur Verhandlung steht – außerhalb derBetrachtung. Die damit gegebene Ontologisierung führt den Mate-rialismus auf ein vormarxistisches Niveau zurück. War es doch ge-rade dessen Schwäche, daß er den Gegenstand »nur unter der Formdes Objekts oder der Anschauung«, nur vom theoretischen Verhält-nis her, faßte, »nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis,nicht subjektiv.«5

    3. Offensichtlich wird der Mangel der bisherigen Darstellungendes philosophischen Systems des Marxismus auch dann, wenn dieStellung der Erkenntnistheorie in ihm betrachtet wird. Die Erkennt-nistheorie wird gemeinhin dem dialektischen Materialismus zuge-ordnet. Es ist nicht verständlich, warum eigentlich; denn das Erken-nen ist zweifellos eine menschliche, gesellschaftliche Tätigkeit. DieErkenntnistheorie als Teil des dialektischen Materialismus auf dieGesellschaft »ausdehnen« zu wollen entbehrt natürlich jeden Sinnes.Doch dies nur nebenbei. Die Stellung, welche die Erkenntnistheoriein den bisherigen systematischen Darstellungen einnimmt, zeigt dieganze Verlegenheit. Als Ausgangspunkt, Grundlage und Kriteriumder Erkenntnis wird mit vollem Recht die Praxis angegeben. Esbleibt jedoch bei der Deklaration, weil die gesellschaftliche Praxiserst im historischen Materialismus Gegenstand der Analyse wird.Die historisch-materialistische Analyse der Praxis berücksichtigtaber kaum deren erkenntnistheoretische Relevanz. So geht der le-

    4 J.W. Goethe: Faust. II.Teil. In: Goethes Werke inAuswahl. Bd. 6. Berlin 1949.S. 583.

    5 K. Marx: Thesen überFeuerbach. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 3. Ber-lin 1959. S. 5.

    910 SEIDEL Defizite des Marxismus

  • bendige Zusammenhang zwischen historischem Materialismus undErkenntnistheorie verloren.

    4. Die Trennung von historischem und dialektischem Materialis-mus und die Übernahme der Betrachtungsweise des dialektischendurch den historischen Materialismus wirkt sich m. E. auch negativauf die Darstellung des historischen Materialismus aus. Das zeigtsich in einer einseitig objektiven Betrachtungsweise, die die Subjek-tivität kaum reflektiert. So werden etwa die Produktivkräfte völligungenügend als Wesenskräfte des Menschen dargestellt. Ihre gedan-kenlose Zerlegung in sachliche (Technik) und menschliche Mo-mente vergißt, daß die sachlichen Momente selber vermenschlichtenCharakter tragen. Oder es wird vom »Menschen in der technischenRevolution« gesprochen. Der Mensch aber – und kein anderes We-sen – macht diese Revolution. Sie ist Ausdruck der gewaltigen Ent-faltung seiner Wesenskräfte. Dabei ist unter Mensch der gesell-schaftliche Mensch oder die menschliche Gesellschaft zu verstehen.Was aber das menschliche Individuum in der technischen Revolu-tion betrifft, so kann dessen aktive bzw. passive Rolle nur aus den je-weils gegebenen Produktionsverhältnissen, die auch das Verhältnisvon Individuum und Gemeinschaft determinieren, erklärt werden.6

    Daß die gekennzeichneten Mängel in der systematischen Darstel-lung unserer Philosophie die Effektivität unserer theoretischen, pro-pagandistischen und erzieherischen Arbeit beeinträchtigen, stehtaußer jedem Zweifel. Der vom II. Plenum des ZK der SED – das ge-rade die Diskrepanz zwischen theoretischen Kenntnissen einerseitsund Praktischwerden der weltanschaulichen Überzeugung andrer-seits konstatierte – erhobenen Forderung, die Effektivität der philo-sophischen Arbeit zu erhöhen, können wir nur gerecht werden, wennwir u. a. die genannten Mängel überwinden.

    Dabei vermag uns die »Deutsche Ideologie« von Karl Marx undFriedrich Engels (einschließlich der »Thesen über Feuerbach«) einewesentliche Hilfe zu leisten, weil in diesem ersten Werk des reifenMarxismus Ausgangs- und Zentralpunkt der marxistischen Philoso-phie umfassend begründet wurden. Daß der Ausgangspunkt für dasSystem selber entscheidende Bedeutung besitzt, ist bekannt. Wollenwir den entfalteten Reichtum der marxistisch-leninistischen Philoso-phie darstellen, so haben wir von jenem »Keim« auszugehen, denMarx und Engels in der Arbeit, in der Produktion des materiellen Le-bens der menschlichen Gesellschaft, sahen. »Da, wo die Spekulationaufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positiveWissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des prak-tischen Entwicklungsprozesses der Menschen.«7 Mit der Darstellungdes wirklichen Lebensprozesses der menschlichen Gesellschaft ver-lor die alte, selbständige Philosophie ihr »Existenzmedium«, beganndie marxistische Philosophie.

    IVMindestens seit Descartes' »cogito ergo sum« hat die Frage nachdem Ausgangspunkt eines philosophischen Systems die Denker be-wegt. Spinoza legte seinem philosophischen System die Substanzzugrunde, die er mit Gott und der Natur identifizierte. Aus seinemSubstanz-Begriff deduzierte er – ordo geometrico – die Mannigfal-

    6 Siehe dazu das Sonder-heft 1964 der DZfPh, »DerMensch und die objektivenGesetzmäßigkeiten in dersozialistischen Gesell-schaft«, sowie: W. Eichhornl: »Das Problem des Men-schen im historischenMaterialismus«, in: DZfPh.Heft 7/1966.

    7 K. Marx/F. Engels: Diedeutsche Ideologie. Siehe:vorliegendes Heft, S. 1207;vgl. auch: K. Marx/F. Engels:Werke. Bd. 3. S. 27. Anmer-kung: Im gleichen Heft derDZPh war eineRekonstruktion des1. Kapitels der »DeutschenIdeologie« veröffentlichtworden, die sich am ur-sprünglichen Plan von KarlMarx orientierte. In diesemNachdruck wurden dieVerweise Seidels auf diesenText beibehalten, wie ins-gesamt die Schreib- undZitierweise des Originalsübernommen wurde.Die Redaktion.

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  • tigkeit der Welt. Es ist nicht zu übersehen, daß manche Darstellun-gen der marxistischen Philosophie (besonders von Plechanow aus-gehend) spinozistisch beeinflußt sind, wenn auch die Ableitungennicht ordo geometrico, sondern genetisch erfolgen. Eine umfassendeWürdigung des Verhältnisses von Spinozismus und Marxismus, einekritische Analyse des Einflusses Spinozas auf die Geschichte dermarxistischen Philosophie steht noch aus. Fest steht allerdings, daßMarx die spinozistische Substanz, die »metaphysisch travestierteNatur in der Trennung vom Menschen«8, als Ausgangspunkt der Phi-losophie abgelehnt hat.

    Die Spinoza direkt und bewußt entgegengesetzte Position nahmFichte ein, der mit der spinozistischen Fassung des Freiheitsbegriffesunzufrieden war, weil sie die Aktivität des Subjekts auszuschließenschien. Er nimmt die Aktivität des Selbstbewußtseins, die Tathand-lung des Ich zum Ausgangspunkt, von dem aus nun wiederum derganze Inhalt der Welt abgeleitet werden soll, und zwar genetisch.Marx lehnt auch diesen Ausgangspunkt ab, weil Fichtes Ich nichtsanderes sei als der »metaphysisch travestierte Geist in der Trennungvon der Natur«9. Bedingt durch ihren Ausgangspunkt, dessen Wahlselbstverständlich sozialhistorisch determiniert ist, verfallen Spinozaund Fichte in die gleiche Einseitigkeit – nur mit umgekehrten Vor-zeichen. Beide vermögen nicht, die reale Vermittlung zwischen Na-tur und Mensch, zwischen Naturgesetzlichkeit und menschlicherFreiheit zu erkennen.

    Hegel versuchte die Vermittlung in der Tätigkeit des Geistes zufinden. Da er aber den Geist als das Absolute, die Totalität nicht alshistorisch-konkrete, sondern als metaphysische faßte – ebenso wieSpinoza seine Substanz und Fichte sein Ich –, vermochte er das Pro-blem nicht zu lösen.

    Marx vollendete die besonders durch Kant geförderte Kritik derMetaphysik. Die Erkenntnis eines Absoluten, die Umfassung einesNichtzuumfassenden, wurde als Pseudoproblem nicht nur verworfen,sondern zu einer falschen Fragestellung erklärt, die aus den realengesellschaftlichen Verhältnissen erwachsen sei. Marx’ Ziel war nichtmehr ein absolutes System, sondern die Erkenntnis des realen ge-schichtlichen Lebensprozesses der Menschen, aus dem allein sicheine Begründung für ihr Handeln ableiten läßt. Die Voraussetzun-gen, mit denen Marx und Engels beginnen, sind empirisch konsta-tierbar. Es sind die gesellschaftlichen, historisch gewordenen Indivi-duen, »ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohldie vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten«10. We-der Substanz noch Selbstbewußtsein ist der Ausgangspunkt fürMarx, sondern die sinnlich-gegenständliche Tätigkeit der Menschen,die Arbeit, die gesellschaftliche Praxis. Die Kategorie Praxis stehtnicht nur im Mittelpunkt des historischen Materialismus, wie meistinterpretiert wird; eben weil sie dort steht, ist sie die Zentralkatego-rie der marxistischen Philosophie überhaupt.11

    V»Die Arbeit«, bestimmt Marx, »ist zunächst ein Prozeß zwischenMensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwech-sel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kon-

    8 F. Engels, K. Marx: Dieheilige Familie oder Kritikder kritischen Kritik. GegenBruno Bauer und Konsor-ten. In: K. Marx/F. Engels:Werke. Bd. 2. Berlin 1958. S.147.

    9 Ebenda.

    10 K. Marx, F. Engels:Die deutsche Ideologie.Siehe: vorliegendes Heft,S. 1202; vgl. auch: K. Marx,F. Engels: Werke. Bd. 3.S. 20.

    11 Siehe dazu die ab-schließende Stellungnahmeder Redaktion der DZfPhzur Diskussion des Verhält-nisses von Theorie undPraxis in Heft 1/1964. Vgl.auch: H. Opitz: Die Praxisals zentrale Kategorie dermaterialistischen Gesell-schaftstheorie, in: DZfPh.Heft 4/1966.

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  • trolliert.«12 Das materielle Einwirken des gegenständlichen Men-schen auf die Naturgegenstände wird allerdings erst dann zur Arbeit,wenn der Mensch in diesem Prozeß gleichzeitig seine aus Bedürf-nissen13 entspringenden Zwecke14 setzt und zu verwirklichen trach-tet. Was die menschliche Arbeit von der instinktiv-produktivenTätigkeit des Tieres unterscheidet, ist der Umstand, daß dem mate-riellen Arbeitsprodukt das ideelle vorausgeht.

    Wir lassen zunächst die geistig-praktische Aneignung der Wirk-lichkeit, wie sie sich etwa in der zwecksetzenden ideellen Tätigkeit(Wille) realisiert, außer acht und betrachten das Verhältnis von prak-tischer und theoretischer Aneignung.

    Daß im Arbeitsprozeß praktische (sinnlich-gegenständliche) undtheoretische Tätigkeit eine Einheit bilden – ebenso wie materielleund ideelle Tätigkeit –, ist nicht zu bestreiten. Diese These wird al-lerdings erst dann zu einer wissenschaftlichen, den Idealismus über-windenden Erkenntnis, wenn die Praxis als die Ursache und dieGrundlage des theoretischen Verhältnisses, als das sie letzthin be-stimmende Moment gefunden ist. Dies aber kann nur durch einegründliche Analyse des Subjekt-Objekt-Verhältnisses geschehen.15

    Praktisch verhält sich der Mensch den Gegenständen gegenüberdann, wenn er sie seinen Bedürfnissen, Zwecken, Vorstellungen undIdeen gemäß umgestaltet. In seinem auf die Befriedigung seinerBedürfnisse gerichteten Tun macht er die Erfahrung, daß seine Ein-wirkung auf die Natur nur in einer durch die Beschaffenheit desNaturstoffes selbst bedingten Weise möglich ist und daß seine ziel-gerichtete Tätigkeit nur dann zum Erfolg führt, wenn die Eigenge-setzlichkeit des Gegenstandes selber berücksichtigt wird. Eben diesbildet den Kern des theoretischen Verhältnisses zu den Gegenständen.So entspringt also aus dem praktischen Verhältnis mit Notwendig-keit sein Gegenteil, das theoretische. Wenn im praktischen Verhält-nis die Vorstellungen für die Bildung des Gegenstandes bestimmendwaren, so sind es im theoretischen die Gegenstände, welche die Vor-stellungen und Begriffe bestimmen. Wenn in der materiellen Pro-duktion die Gegenstände den menschlichen Zwecken entsprechendgeformt werden, so ist die theoretische Tätigkeit vor allem auf mög-lichst adäquate Reproduktionen des Gegenstandes im Bewußtseingerichtet.

    Das praktische Verhalten der Menschen zur objektiven Wirklich-keit findet in der Geschichte der Industrie, in der Geschichte der ma-teriellen Produktivkräfte der Gesellschaft, seinen Ausdruck, dastheoretische in der Geschichte der Wissenschaften. Dabei versteht essich von selbst, daß die geistige Produktion von Wissen über die Na-turgegenstände in ihrem Ursprung unmittelbar mit der materiellenProduktion verflochten war, daß erst durch die Entwicklung des Ar-beitsprozesses selber, vor allem durch die Arbeitsteilung (Trennungvon körperlicher und geistiger Arbeit), Industrie und Wissenschaftmöglich wurden. Marx’ Analyse des Arbeitsprozesses zeichnet einesolche Einheit von praktischer und theoretischerTätigkeit, von Indu-strie und Wissenschaft, in der beide einander in ihrem Entwick-lungsgang bedingen, in der aber letzthin die Praxis als das übergrei-fende Moment erscheint, das ihre notwendige Bedingung selber ersthervorgebracht hat.

    12 K. Marx: Das Kapital.Kritik der politischen Ökono-mie. Erster Band, in: K.Marx, F. Engels: Werke.Bd. 23. Berlin 1962. S. 192.

    13 Das menschliche Be-dürfnis geht ohne Zweifelder menschlichen Produk-tion voraus. Es kann abernicht – wenn nicht in einenaturalistische Anthropolo-gie abgeglitten werden soll– zum Ausgangspunktgemacht werden, weil seineModifikation, d. h. seinMenschlichwerden, nichtdurch sich selbst, sonderndurch die Produktionbedingt ist.

    14 Da die Zwecksetzungaus dem Bedürfnis abzu-leiten ist, trifft für sie das-selbe zu. Vgl. dazu dieAbschnitte V-VII des vor-liegenden Artikels.

    15 Siehe dazu: H. Scheler:Der objektive Charakter dergesellschaftlichen Gesetzeim Lichte der Subjekt-Ob-jekt-Dialektik, in: Sonderheft1964 der DZfPh; H. Klotsch:Zum Problem der Objekt-Subjekt-Dialektik, in: DZfPh.Heft 10/1965.

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  • Marx enthüllt aber nicht nur den Zusammenhang von praktischer undtheoretischer Tätigkeit, von Industrie und Wissenschaft im Produk-tionsprozeß des materiellen Lebens der Gesellschaft, sondern begrün-det auch gerade durch die Erhellung dieses Zusammenhanges die Ein-heit der Naturwissenschaft und der Wissenschaft vom Menschen. Ausdem Ausgangspunkt des marxistischen Denkens folgt nämlich, daßman von der Arbeit aus sowohl in das Wesen des Menschen als auchin das Wesen der Natur eindringen kann; vollzieht sich doch in ihr dasWerden der Natur für den Menschen wie auch der Selbsterzeugungs-akt des Menschen. Der Mensch kann seine Wesenskräfte, einschließ-lich seines Erkenntnisvermögens, gar nicht entfalten, ohne sich dieNatur zum Gegenstand zu machen; und er kann sich die Natur nichtzum praktischen, theoretischen oder ästhetischen Gegenstand machen,ohne seine subjektiven Wesenskräfte zu entfalten.

    Daß die Natur außerhalb des Menschen vorausgesetzt sein muß,wenn sie zum praktischen Gegenstand des Menschen werden soll,versteht sich von selbst. Wie aber der Mensch ohne Natur ein ge-genstandsloses Wesen, ein »Unwesen«, ist, so ist auch die Natur fürden Menschen in der Trennung von ihm eine bloße Abstraktion. DerMensch weiß von der Natur, die außerhalb und unabhängig von ihmexistiert, nur das, was ihm praktischer und theoretischer Gegenstandgeworden ist. Das Atom existiert an sich natürlich längst, ehe es Ge-genstand des philosophischen Denkens, der Chemie, der Physik undschließlich der Industrie wurde. Für den Menschen aber begann eserst zu existieren, als er seine Wesenskräfte, speziell seine Erkennt-nisfähigkeit, durch seine praktische und theoretische Tätigkeit soweit entwickelt hatte, daß das Atom sein Gegenstand werden konnte.Über das An-sich-sein eines Gegenstandes läßt sich prinzipiellnichts aussagen, bevor er nicht durch unsere praktische und theore-tische Tätigkeit zu einem Gegenstand für uns geworden ist. Das immateriellen und geistigen Arbeitsprozeß sich vollziehende Werdender Natur zum Gegenstand des Menschen nennt Marx die Vermensch-lichung oder »Humanisierung der Natur«. Die diesem Prozeß entge-genlaufende »Naturalisierung des Menschen« ist für Marx keines-wegs eine Rückkehr zu einem abstrakten Naturwesen, sondern dieEntwicklung der »menschlichen Natur«, d. h. die Entfaltung seinerWesenskräfte, seiner Sinne, seiner Geschicklichkeit, seiner Sprache,seines Denkens, seines Arbeits- und Erkenntnisvermögens überhaupt.Mit der Produktion des äußeren materiellen Reichtums produziertder Mensch den menschlichen Charakter seiner Sinne, seiner Hand,seines Kopfes, seiner Individualität. Dergestalt wird offensichtlich,daß sich die Humanisierung der Natur nur als Naturalisierung desMenschen vollziehen kann und umgekehrt.16

    VIAus der knappen Analyse des Arbeitsbegriffes wurde ersichtlich,daß Marx und Engels die Produktion nicht nur als notwendige Be-dingung der physischen Existenz der Individuen betrachteten, son-dern als historisch bestimmte Art ihrer Tätigkeit, ihrer Lebensäuße-rung. »Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was siesind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, wassie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren.

    16 Vgl.: K. Marx:Ökonomisch-philosophischeManuskripte, in: K. Marx,F. Engels: Historisch-kriti-sche Gesamtausgabe(MEGA). Erste Abteilung.Bd. 3. Berlin 1932.S. 114-116.

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  • Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Be-dingungen ihrer Produktion.«17 Die materiellen Bedingungen derProduktion implizieren notwendig die gesellschaftlichen Verhält-nisse, in denen allein der Mensch seine Wesenskräfte zu äußern ver-mag; ist doch die Individualisierung des Menschen selbst nur inder Gesellschaft möglich. In Fortsetzung und Konkretisierung dergroßen Gedanken Aristoteles' und Hegels, daß der Mensch ein zoonpolitikon bzw. ein historisches Wesen sei, das sich als menschlichesdurch seine eigene Tätigkeit erzeugt hat, überwinden Marx und En-gels jegliche Robinsonade. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Na-turrechtslehren, wie sie etwa von Hobbes, Spinoza und Rousseau be-gründet wurden, akzentuieren sie den gesellschaftlichen Charakterder Produktion. Den Hobbesschen und Rousseauschen Naturzustandaber charakterisieren sie als ein mehr oder weniger verklärtes Abbildder Welt des bürgerlichen Privateigentums, in der ja die Individuali-sierung zu einer Vereinzelung der Individuen verzerrt wird.

    Unter gesellschaftlich verstehen Marx und Engels zunächst nichtsanderes als »das Zusammenwirken mehrerer Individuen«18 im Pro-duktionsprozeß des materiellen Lebens.

    Jegliche Produktion, jede industrielle Stufe ist mit einer bestimm-ten Weise dieses Zusammenwirkens verbunden. In dieser ursprüng-lichen Form stellen Marx und Engels erstmalig das dialektische Ver-hältnis zwischen den Produktivkräften einer Gesellschaft und ihrenProduktionsverhältnissen dar. Die jeweilige Art und Weise des Zu-sammenwirkens der Individuen korrespondiert mit dem Grad derArbeitsteilung, dieser aber mit der Produktivität der Arbeit. Einerbestimmten Stufe der Produktivkräfte entsprechen daher ganz be-stimmte Produktionsverhältnisse, die sich mit der in der Arbeit sichvollziehenden Entwicklung der menschlichen Wesenskräfte entfal-ten und verändern. Die durch eine bestimmte industrielle Stufe be-dingte Weise des Zusammenwirkens der Individuen, als Produk-tionsverhältnisse bezeichnet, wird dabei von Marx und Engels eben-falls als eine »Produktivkraft« gefaßt.

    Das Verhältnis der Menschen untereinander ist also von vornher-ein ein materialistisches, d. h. durch die Art und Weise der Produk-tion bedingtes. Dieser Zusammenhang nimmt mit der Entwicklungder Produktion stets neue Formen an, hat also eine Geschichte. Indieser Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissensehen Marx und Engels die reale Basis aller Geschichte. Die Pro-duktion, auf welcher Stufe sie auch immer ausgeübt wird, hält dieMenschen zusammen, »auch ohne daß irgendein politischer oder re-ligiöser Nonsens existiert, der die Menschen noch extra zusammen-halte«19. Nun wußte niemand besser um die Bedeutsamkeit undWirksamkeit dieses »Nonsens« als Marx und Engels. Es ging ihnen,wie nicht nur ihre Schriften zeigen, sondern wie ihr ganzes tätigesLeben bezeugt, keineswegs um eine anarchistische Ignorierung(etwa im Sinne Stirners) von Moral, Recht, Politik, Staat, Wissen-schaft, Philosophie, Religion, sondern um den Nachweis, daß dasvon den Menschen produzierte Bewußtsein, von vornherein ein ge-sellschaftliches Produkt, engstens mit der materiellen Produktionverbunden ist und von dieser abhängt. »Die Produktion der Ideen,Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten

    17 K. Marx, F. Engels:Die Deutsche Ideologie.Siehe: vorliegendes Heft,S. 1202; vgl. auch: K. Marx,F. Engels: Werke Bd. 3,S. 21.

    18 K. Marx, F. Engels: DieDeutsche Ideologie. Siehe:vorliegendes Heft, S. 1212;vgl. auch: K. Marx, F. En-gels: Werke Bd. 3, S. 30.

    19 Ebenda.

    SEIDEL Defizite des Marxismus 915

  • in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Men-schen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, dergeistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkterAusfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion,wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Reli-gion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. DieMenschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp. [Inder Handschrift gestrichen: »und zwar die Menschen, wie sie durchdie Weise der Produktion ihres materiellen Lebens, durch ihren ma-teriellen Verkehr und seine weitere Ausbildung in der gesellschaftli-chen und politischen Gliederung bedingt sind.«], aber die wirk-lichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch einebestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselbenentsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hin-auf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußteSein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.«20

    Mit der Darstellung des materiellen Lebensprozesses der Gesell-schaft verlieren aber Moral, Religion, Metaphysik und sonstigeIdeologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen denSchein ihrer Selbständigkeit. Sie haben keine selbständige, von derrealen gesellschaftlichen Entwicklung losgelöste Geschichte. Dieihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr ent-wickelnden Menschen ändern mit ihrer Wirklichkeit auch ihr Den-ken und die Produkte ihres Denkens. »Nicht das Bewußtsein be-stimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.«21

    Das Bewußtsein ist natürlich anfangs nur Bewußtsein über dienächste sinnliche Umgebung, Bewußtsein eines bornierten Zusam-menhanges mit Personen und Dingen außerhalb des sich erst selberbewußt werdenden Individuums. Erst mit der Teilung der Arbeit, vorallem mit der Teilung in materielle und geistige Arbeit, gewinnt dasBewußtsein Universalität und reflektiert vor allem in der Philoso-phie sich selbst. Dies bedeutete einen ungeheuren Fortschritt in derMenschheitsentwicklung. Mit ihm war allerdings auch die Möglich-keit gegeben, daß das Bewußtsein sich von der Welt emanzipiert undzur Bildung der »reinen« Theorie, Theologie, Philosophie, Moralusw. übergeht, eine Möglichkeit, die durch die von der Arbeitstei-lung geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnisse zur Realität wird.Marx und Engels ist es übrigens zunächst ganz einerlei, »was dasBewußtsein alleene anfängt, wir erhalten aus diesem ganzen Drecknur das eine Resultat, daß diese drei Momente, die Produktionskraft,der gesellschaftliche Zustand und das Bewußtsein, in Widerspruchuntereinander geraten können und müssen, weil mit der Teilungder Arbeit die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben ist, daß diegeistige und materielle Tätigkeit [In der Handschrift gestrichen:»Tätigkeit und Denken, d. h. gedankenlose Tätigkeit und tatloserGedanke«] – daß der Genuß und die Arbeit, Produktion und Kon-sumtion, verschiedenen Individuen zufallen, und die Möglichkeit,daß sie nicht in Widerspruch geraten, nur darin liegt, daß die Teilungder Arbeit wieder aufgehoben wird«.22 Da mit der Teilung der Arbeitgleichzeitig die ungleiche Verteilung der Arbeit und mit dieser dasEigentum als Verfügung über fremde Arbeitskraft gegeben sind, fas-sen Marx und Engels die Arbeitsteilung und das Privateigentum als

    20 K. Marx, F. Engels: Diedeutsche Ideologie. Siehe:vorliegendes Heft, S. 1206;vgl. auch: K. Marx, F. En-gels: Werke. Bd. 3, S. 26.

    21 K. Marx, F. Engels: Diedeutsche Ideologie. Siehe:vorliegendes Heft, S. 1206;vgl. auch: K. Marx, F. En-gels: Werke. Bd. 3, S. 27.

    22 K. Marx, F. Engels: Diedeutsche Ideologie. Siehe:vorliegendes Heft, S. 1214;vgl. auch: K. Marx, F. En-gels: Werke. Bd. 3, S. 32.

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  • identische Begriffe; ist doch in »dem Einen. ... in Beziehung auf dieTätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in bezug auf dasProdukt der Tätigkeit ausgesagt wird23«.

    Mit der Verknüpfung von Arbeitsteilung und Privateigentum istnatürlich zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Arbeitsteilungund Entfremdung gestellt. (Dieses Problem tritt übrigens – neben derdamit eng verbundenen Frage nach dem Verhältnis von Individuumund Gesellschaft [Gemeinschaft] – in der Neuveröffentlichung, diesich streng an die von Marx vorgenommene Anordnung hält, weitdeutlicher hervor als in der alten, redaktionell bearbeiteten Aus-gabe.) Die Teilung der Arbeit betrachten Marx und Engels als erstesBeispiel dafür, »daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsi-gen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dembesondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätig-keit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigneTat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Machtwird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht«24. Dieses Sich-festsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation des Produktszu einer sachlichen Gewalt über den Menschen, die seiner Kontrolleentwächst, seine Erwartung durchkreuzt, seine Berechnungen zu-nichte macht, bezeichnen Marx und Engels als eines der Hauptmo-mente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung.25 Unmittelbardanach – und nicht erst an späterer Stelle – schreiben sie: »Die so-ziale Macht, d. h. die vervielfachte Produktionskraft, die durch dasin der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiede-nen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zu-sammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist,nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außerihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin,die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nuneine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unab-hängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolgevon Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft.«26 Dieser Gedan-kengang wird am Handel entwickelt, der doch nichts als der Aus-tausch von Produkten verschiedner Individuen ist, der aber gleichdem antiken Schicksal über der Erde schwebt und mit unsichtbarerHand Glück und Unglück an die Menschen verteilt, Reiche stiftetund Reiche zertrümmert, Völker entstehen und verschwinden macht.

    Von hier aus wird erst eine treffende Kritik jener aus den gesell-schaftlichen Verhältnissen herauswachsenden Bewußtseinsstruktu-ren möglich, innerhalb derer sich der Mensch seiner eigenen Tätig-keit in der Form der Tätigkeit eines mystischen Wesens bewußtwurde. Daß den Philosophen vor Marx die Summe von Produktiv-kräften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Indivi-duum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, als »Sub-stanz«, »Wesen«, »Geist«, »Gott« usw. erscheint, hat letztlich seinenGrund in der naturwüchsigen, spontanen Entwicklung der gesell-schaftlichen Verhältnisse, die dem Individuum als fremde, ihn be-stimmende und beherrschende Mächte gegenübertreten. Seine ei-gene, aber ihm entfremdete Gewalt erscheint als das Allgemeine,welches das Einzelne, Individuelle bestimmt. So ist Platos Bürgernur eine vereinzelte Verkörperung des Staates, ein Wesen, das – soll

    23 Ebenda.

    24 K. Marx, F. Engels:Die deutsche Ideologie.Siehe: vorliegendes Heft,S. 1214; vgl. auch: K. Marx,F. Engels: Werke. Bd. 3,S. 33.

    25 Vgl.: vorliegendes Heft,S. 1215.

    26 K. Marx, F. Engels:Die deutsche Ideologie.Siehe: vorliegendes Heft,S. 1215/1216; vgl. auch:K. Marx, F. Engels: Werke.Bd. 3, S. 34

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  • es als menschliches gelten – sich die allgemeinen Normen dermenschlichen Kultur (Recht, Sitte, Religion, Sprache, Denkformen)aneignen und sich ihnen unterwerfen muß.27 Die gesellschaftlicheAllgemeinheit bestimmt also seine Tätigkeit; sie kann daher nichtvon dieser Tätigkeit selber herrühren. Dergestalt erscheinen demfalschen Bewußtsein alle einzelnen Dinge nur als Inkarnation desAllgemeinen. Die Entfremdung der allgemeinen gesellschaftlichenMacht von den einzelnen Individuen, deren Produkt sie ist, führt alsozu der Mystifikation, die das Allgemeine vom Einzelnen losreißt undzum bestimmenden Grund des Einzelnen macht. Als bestimmenderGrund muß das Allgemeine notwendig als aktives, tätiges Wesen er-scheinen. Daß die Aktivität des Allgemeinen in der Trennung vomEinzelnen vor allem als Geist, als verselbständigtes Denken undWollen erscheint, erklärt sich vornehmlich daraus, daß auch in derAktivität, im Handeln der Menschen das Bewußtsein (Denken undWollen) als das Primäre erscheinen. Die sinnlichgegenständlicheTätigkeit der Menschen, die Keimzelle des gesellschaftlich-kulturel-len Organismus, erscheint in der idealistischen Verkehrung nur alssich entäußerndes Denken.

    Die ganze Welt scheint also der Ideologie als falschem Bewußt-sein wie in einer camera obscura auf dem Kopf zu stehen. DiesesPhänomen beruht nicht auf der Unvollkommenheit des menschlichenErkenntnisvermögens, sondern es geht notwendig aus dem histori-schen Lebensprozeß der Menschen hervor.

    Die bloß theoretische Kritik des falschen Bewußtseins bleibt sel-ber noch innerhalb der Ideologie befangen. So vermag FeuerbachsKritik der Religion und des Idealismus, also die Kritik der auch fürMarx und Engels wesentlichsten Bestandteile der Ideologie alsfalsches Bewußtsein, die wirklichen Ursachen dieses verkehrten Be-wußtseins nicht aufzudecken. Die Überwindung von Religion undIdealismus beschränkt sich daher bei ihm auf einen bloßen Bewußt-seinsakt. Für den »praktischen Materialisten, d. h. Kommunisten«handelt es sich dagegen darum, »die bestehende Welt zu revolutio-nieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verän-dern«28. Die marxistische Ideologiekritik schließt also die praktischeKritik, die praktische Umgestaltung der Verhältnisse ein, die not-wendig falsches Bewußtsein erzeugen. »Die wirkliche, praktischeAuflösung dieser Phrasen, die Beseitigung dieser Vorstellungen ausdem Bewußtsein der Menschen wird, wie schon gesagt, durch ver-änderte Umstände, nicht durch theoretische Deduktionen bewerk-stelligt.«29

    VIIDie Gedankengänge von Marx und Engels wurden bis hierher knappund keineswegs vollständig skizziert, um einen Ausgangspunkt zuschaffen, von dem aus wir zwei den Marxismus entstellenden Be-hauptungen entgegentreten können, die in der bürgerlichen und re-visionistischen Marx-Kritik weit verbreitet sind.

    Die erste »These« lautet, Marx habe die Arbeitsteilung mit demPrivateigentum, mit der Entfremdung identifiziert; seine Forderungnach Aufhebung des Privateigentums impliziere daher die Forde-rung nach Aufhebung der Arbeitsteilung. Dies aber sei unmöglich,

    27 Vgl.: E. V. Il'enkov:Ideal'noe. (Das Ideale.), in:Filosofskaja enciklopedija.Bd. 2. Moskva 1962.,S. 219 f.

    28 K. Marx, F. Engels:Die deutsche Ideologie.Siehe: vorliegendes Heft,S. 1208; vgl. auch: K. Marx,F. Engels: Werke. Bd. 3,S. 42.

    29 K. Marx, F. Engels:Die deutsche Ideologie.Siehe: vorliegendes Heft,S. 1222; vgl. auch: K. Marx,F. Engels: Werke. Bd. 3,S. 40.

    918 SEIDEL Defizite des Marxismus

  • weil es die Preisgabe der erreichten Produktivität der Arbeit bedeu-tete. Folglich seien auch die Aufhebung des Privateigentums, dieAufhebung der Entfremdung unmöglich. Wüßte man nicht um dieapologetische Absicht, man könnte sich nur über das totale Mißver-stehen der Worte von Marx und Engels wundern. Mit dem scheinba-ren Paradox, daß einerseits die Arbeitsteilung Bedingung für dieEntwicklung einer hohen Arbeitsproduktivität, diese aber Grundvor-aussetzung für den Kommunismus ist (»weil ohne sie nur der Man-gel, [die] Notdurft verallgemeinert, also mit der Notdurft auch derStreit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alteScheiße sich herstellen müßte«)30, daß andererseits gerade dieselbeArbeitsteilung Ursache der Entfremdung ist, die ohne Beseitigungder wirkenden Ursache natürlich nicht aufgehoben werden kann,werden die Hirne der Marx-Kritiker nicht fertig. Die Möglichkeitdes Kommunismus, eine hohe Arbeitsproduktivität, also auch einenhohen Grad von gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu erreichen,macht, den »tragischen Dialektikern« zufolge, gerade seine Unmög-lichkeit aus. Freilich, wenn Arbeitsteilung und Privateigentum in derWeise identifiziert werden, wie der formale Logiker A = A setzt,dann ergeben sich in der Tat Schwierigkeiten. Marx aber faßt dieIdentität im hegelschen, d. h. dialektischen Sinne, demzufolge dieIdentität die Differenz, ja die Gegensätze einschließt.

    Verweilen wir kurz bei dem Sachverhalt, wie er von Marx und En-gels dargestellt wird:

    a) »Wie weit die Produktionskräfte einer Nation entwickelt sind,zeigt am augenscheinlichsten der Grad, bis zu dem die Teilung derArbeit entwickelt ist. Jede neue Produktivkraft ... hat eine neue Aus-bildung der Teilung der Arbeit zur Folge.«31 Der Gedanke von deruntrennbaren Verknüpfung und der wechselseitigen Bedingtheit vonProduktivkräften und Arbeitsteilung ist derart oft und derart klar inden Werken von Marx und Engels ausgesprochen worden, daß dar-über keinerlei Mißverständnis herrschen kann.

    b) Die Entwicklung der Produktivkräfte führt die damit verbun-dene Arbeitsteilung weit über die naturwüchsige hinaus. Die großengesellschaftlichen Arbeitsteilungen (Ackerbauer und Viehzüchter,Stadt und Land, materielle und geistige Arbeit) sind mit dem Entste-hen neuer Formen von Eigentumsverhältnissen verknüpft. Die Dif-ferenzierungen in der Produktion führen zu Differenzierungen in dergesellschaftlichen Struktur. Die neue Arbeitsteilung bedingt eineneue Verteilung der Arbeit, eine neue Form des Eigentums. Mit demPrivateigentum, der Verfügung über fremde Arbeitskraft, entsteht dieKlassengesellschaft. Den Produktivkräften, der Arbeitsteilung ent-sprechen also die Produktionsverhältnisse, die Eigentumsformen.

    c) Wird nun bei Marx und Engels von der Identität von Privatei-gentum und Arbeitsteilung gesprochen, so sind folgende Aspekte zuberücksichtigen: Zunächst kann das Privateigentum in der Tat nichtaufgehoben werden, ohne daß die Verteilung der Arbeit aufgehobenwird, welche die Verfügung über fremde Arbeit impliziert. Die Auf-hebung dieser Arbeitsteilung, die unmittelbar mit dem Privateigen-tum zusammenfällt, kann nur vollzogen werden, wenn die Produk-tivkräfte eine entsprechend hohe Entwicklungsstufe haben, folglichauch die Arbeitsteilung einen entsprechend hohen Grad erreicht hat.

    30 K. Marx, F. Engels:Die deutsche Ideologie.Siehe: vorliegendes Heft,S. 1216; vgl. auch: K. Marx,F. Engels: Werke. Bd. 3,S. 34/35.

    31 K. Marx, F. Engels:Die deutsche Ideologie.Siehe: vorliegendes Heft,.S. 6/7; vgl. auch: K. Marx,F. Engels: Werke. Bd. 3,S. 21/22.

    SEIDEL Defizite des Marxismus 919

  • Es kann sich also keineswegs um die Arbeitsteilung schlechthin han-deln, die aufgehoben werden soll, sondern um eine historisch be-stimmte Form derselben. »Daß diese Notwendigkeit der Verteilungder gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchausnicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktionaufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, istself-evident.«32 Damit wäre schon das scheinbare Paradox aufgelöstund die These von der Unmöglichkeit der Aufhebung der Entfrem-dung widerlegt.

    Es ist allerdings weiter zu berücksichtigen, daß die aufzuhebendenFormen der Arbeitsteilung durch die naturwüchsig-spontane Ent-wicklung der Gesellschaft charakterisiert sind. Die spontane Teilungder Arbeit hatte ja zur Folge, daß sich die individuellen Mächte undVerhältnisse in sachliche verwandelten, welche die Individuen nunselber ausschließlich einer Form der Tätigkeit subsumieren. Die sichdaraus ergebende Vereinseitigung und Vereinzelung der Individuen»kann nicht dadurch wieder aufgehoben werden, daß man sich dieallgemeine Vorstellung davon aus dem Kopfe schlägt, sondern nurdadurch, daß die Individuen diese sachlichen Mächte wieder untersich subsumieren und die Teilung der Arbeit aufheben«33. Auch hiergeht es keineswegs um die Rückkehr zu einem abstrakten Naturwe-sen, um eine Preisgabe des erreichten Grades der Arbeitsteilung;vielmehr geht es darum, die Arbeitsteilung so zu entwickeln und be-wußt zu gestalten, daß die Individuen nicht ihr subsumiert werden,sondern die Arbeitsteilung der ihre Produktion bewußt und freiwil-lig organisierenden Gesellschaft subsumiert wird. »Dies ist ohne dieGemeinschaft nicht möglich. Erst in der Gemeinschaft [mit Andernhat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seitenhin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönlicheFreiheit möglich.«34 Erst in der Gemeinschaft, welche die spontaneArbeitsteilung, das Privateigentum und damit die Vereinzelung undVereinseitigung der Individuen überwunden hat, erringen diese inund durch ihre Assoziation ihre Freiheit.

    Die Aufhebung des Privateigentums, der »Teilung der Arbeit«, desspontan-naturwüchsigen Charakters wird bei zwei Voraussetzungenmöglich: bei der durch eine hohe Stufe der Entwicklung der Pro-duktivkräfte bedingten Vergesellschaftung der Arbeit und bei der da-mit verbundenen Entwicklung des Proletariats. Die welthistorischentscheidende Entdeckung, die Marx und Engels in der »DeutschenIdeologie« fixierten, ist die Erkenntnis, daß die modernen Produktiv-kräfte immer mehr in Widerspruch zu den kapitalistischen Produk-tionsverhältnissen geraten, daß das Proletariat die gesellschaftlicheKraft ist, die auf Grund ihrer Lage in der bürgerlichen Gesellschaft,auf Grund ihrer Verbindung mit den ständig fortschreitenden Pro-duktivkräften imstande ist, diesen Widerspruch zu lösen. Diese Er-kenntnis fand in der historischen Praxis ihre Bestätigung. Sie istnicht zu widerlegen.

    Die zweite in der Marx-Kritik verbreitete Entstellung besteht inder absoluten Identifizierung von Ideologie und falschem Bewußt-sein. Der ideologische Sinn dieser Identifizierung ist einfach; Wennalle Ideologie falsches Bewußtsein ist, der Sozialismus aber einer ei-genen Ideologie bedarf und auch eine solche entwickelt, dann ist

    32 K. Marx: Brief anKugelmann, in: K. Marx,F. Engels: Werke. Bd. 32.Berlin 1965. S. 552/553.

    33 K. Marx, F. Engels:Die deutsche Ideologie.Siehe: vorliegendes Heft,S.1239; vgl. auch: K. Marx,F. Engels: Werke. Bd. 3,S. 74.

    34 Ebenda.

    920 SEIDEL Defizite des Marxismus

  • auch diese Ideologie falsches Bewußtsein, Ausdruck dafür, daß auchin der ideellen Sphäre die Entfremdung durch den Kommunismusnicht zu überwinden ist. Dabei taucht die Berufung auf die »Deut-sche Ideologie« besonders häufig auf, ist doch die hier gegebeneIdeologiekritik eine Kritik des falschen Bewußtseins. Wenn manwill, identifizieren Marx und Engels hier Ideologie und falsches Be-wußtsein; aber die Ideologie, die sie mit falschem Bewußtsein iden-tifizieren, ist die Ideologie der Klassengesellschaft, sind Religionund Idealismus vor allem. War es schon unmöglich, aus der Identifi-zierung von Arbeitsteilung und Eigentum die Aufhebung der Arbeits-teilung schlechthin abzuleiten, so kann unter keinen Umständen ausder genannten Identifizierung abgeleitet werden, daß Ideologie im-mer falsches Bewußtsein sein müsse.

    Die Frage, warum die Ideologie als falsches Bewußtsein entsteht,haben Marx und Engels eindeutig beantwortet.35 In Abschnitt VIwurde versucht, diese Antwort kurz zu reproduzieren. Aus dem Ge-dankengang ist jedoch auch die Antwort darauf abzulesen, warumüberhaupt Ideologie entsteht; zeigt doch schon eine erste Betrach-tung des »Zusammenwirkens der Menschen«, daß dieses gesell-schaftliche Verhältnis mit Notwendigkeit ganz bestimmte Verhal-tensweisen, Sitten und Gebräuche, Moralnormen, Rechtsgrundsätzeusw. hervorbringt. Die allgemeinen und die partiellen Interessen,wie sie durch die Produktionsverhältnisse bedingt sind (»die Ideender herrschenden Klasse sind die herrschenden Ideen«), finden ihrengeistigen Ausdruck in der Ideologie. Da wie auch immer gearteteProduktionsverhältnisse bestimmte Interessen erzeugen, wird stän-dig – solange Produktionsverhältnisse bestehen, also die menschli-che Gesellschaft existiert – Ideologie produziert.

    Ideologie ist freilich nicht gleich Ideologie. Die in der sozialisti-schen Revolution vollzogene Aufhebung der Verhältnisse, in denendie Ideologie notwendig als falsches Bewußtsein produziert werdenmußte, schließt die Aufhebung dieses falschen Bewußtseins ein.Indem der spontan-naturwüchsige Entwicklungsprozeß der Gesell-schaft von der bewußten Gestaltung der sozialistischen Produktions-verhältnisse abgelöst wird, tritt an die Stelle des falschen Bewußt-seins die sozialistische Ideologie. Diese muß sich selbstverständlich,wenn sie nicht in falsches Bewußtsein abgleiten will, auf die objek-tive Erkenntnis des realen Lebensprozesses der Gesellschaft stützen.Wenn oben davon gesprochen wurde, daß es der marxistischen Phi-losophie nicht nur um die objektive Erkenntnis dessen geht, was ist,sondern gleichzeitig um allgemeine gesellschaftliche Zweck- undZielsetzung, um Sinngebung, um den geistigen Ausdruck der Inter-essen der sozialistischen Gesellschaft, so handelte es sich ebendarum, die Ideologiefunktion der Philosophie stärker zu akzen-tuieren.

    Hier muß auch die von der Wissenssoziologie ins Spiel gebrachteAlternativstellung von Wissenschaft und Ideologie als Pseudoalter-native zurückgewiesen werden. Die Frage: entweder Wissenschaftoder Ideologie, ist falsch gestellt. Es handelt sich doch keineswegsum einen gleichen Bereich, auf den zwei einander ausschließendeAussagen bezogen werden, sondern vielmehr um einander bedin-gende Bereiche der Produktion des geistigen Lebens der Gesell-

    35 Siehe dazu: E. Hahn:Marxismus und Ideologie,in: DZfPh. Heft 10/1964.

    SEIDEL Defizite des Marxismus 921

  • schaft. Der ideologische Bereich ist eine Komponente, die theore-tischwissenschaftliche Einsicht mit dem praktischen Handeln ver-knüpft. Die Wissenschaft, als höchste Form der theoretischen An-eignung der Welt durch den Menschen, zielt auf die adäquateErkenntnis dessen, was ist. Die Industrie, der Ausdruck der prakti-schen Aneignung, zielt auf die Veränderung des Naturstoffes gemäßden Interessen des Menschen. Die Ideologie, Form der geistig-prak-tischen Aneignung, zielt darauf, die Interessen der Individuen geistigauszudrücken. Die sozialhistorisch determinierten Interessen, dieMotive, Zweck- und Zielsetzungen, Willensentscheidungen, Enga-gements der Menschen bestimmen, sind entscheidend dafür, wel-chen Sinn diese ihren Handlungen, ihrem Leben geben. Die Ideologieäußert sich vor allem in den politischen und moralischen Handlun-gen der Menschen. Daß neben der Politik und der Moral auch dieKunst, die höchste Form der ästhetischen Aneignung der Wirklich-keit durch den Menschen, der Ideologie verbunden ist, kann hier nurangedeutet werden. Im Gegensatz zu Kant, der theoretische undpraktische Vernunft, Wissenschaft und moralisches Handeln, Kausa-lität und Freiheit schroff voneinander trennte, geht es im Marxismusdarum, die sinnlich-gegenständlichen, theoretischen, politisch-mo-ralischen und ästhetischen Tätigkeitsformen, also Industrie, Wissen-schaft, Politik, Moral und Kunst, als Momente der Totalität des ge-sellschaflichen Lebensprozesses zu begreifen.

    Die »Deutsche Ideologie« ist – neben den »Ökonomisch-philoso-phischen Manuskripten« – jenes Werk von Marx und Engels, in demgerade diese Totalität, die m. E. den wesentlichsten Gegenstand dermarxistischen Philosophie ausmacht, im Zentrum der Analyse steht.Die oben versuchte Skizze der Gedanken von Marx und Engels, diemir für den Ausgangspunkt marxistischen Philosophierens von Be-deutung erscheinen, stützt sich deshalb vor allem auf diese beidenWerke. Ist dies gerechtfertigt? Besteht nicht zwischen beiden Wer-ken eine Differenz? Sicher ist die »Deutsche Ideologie«, die »The-sen über Feuerbach« eingeschlossen, ein reiferes Werk; ist doch inihm nicht nur Feuerbachs Terminologie überwunden, sondern istauch sein anthropologischer Materialismus Gegenstand prinzipiellerKritik. Trotzdem komme ich bei dem Vergleich beider Werke zu demErgebnis, daß ihr Zusammenhang weit bedeutender ist als ihre Dif-ferenz. Dies hervorzuheben erscheint mir nicht nur deshalb wichtig,weil das Moment der Differenz oft überbetont wurde, sondern vorallem, weil für die sozialistische weltanschauliche Erziehung und fürden Kampf gegen die imperialistische Ideologie der ganze Reichtumder marxistischen Philosophie fruchtbar gemacht werden muß.

    Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen bereiteteine Publikation mit Textenvon Helmut Seidel vor.

    922 SEIDEL Defizite des Marxismus

  • Die letzte der größeren Institutionen der späten DDR hat sich verab-schiedet: die PDS. Doch gibt es noch genug, was an den östlichenNachkriegs-Sonderweg in Deutschland erinnert: die Naturschutz-Eule und den grünen Pfeil, »Außenseiter-Spitzenreiter« und das ND,zahlreiche Rotarmistengräber und hier und dort mal einen Gedenk-stein für Antifaschisten. Auf andere Weise reflektieren die Vergan-genheit Mauerreste, Grenzübergangsstellen und zahllose, zu Gedenk-stätten umgebaute Gefängnisse. Der Eingeweihte erkennt »WBS70« und – sehr selten anzutreffen – »B 1000«, den Womacka-Brun-nen am Berliner Alex, die Weltzeituhr und das Haus an der Weber-wiese. Die »Ostpro« lebt von Hallorenkugeln, »Fit« und »Florena«.

    Ossis entsprechenden Alters outen sich mit der ihnen eigenen Zeit-rechnung; der Ausdruck »zu DDR-Zeiten« entschlüpft nie einemWessi-Mund. Aber darf man das so einfach vor sich hindümpeln las-sen, dieses Zurückschauen, Vergleichen, Witzeln, Lamentieren?

    Nein! Das muß beobachtet, gelenkt, zensiert, in den richtigen Tei-len aktiviert, medial aufgewertet, didaktisch begleitet und das Ver-fahren – weil fraglos richtig bewerkstelligt – muß weiterempfohlenwerden. Damit läßt sich richtig Geld machen und verplempern, Deu-tung monopolisieren, Aufsehen erregen, Karriere aufbauen ...

    Freilich, nicht jedem, der besorgt fragt »Wohin treibt die DDR-Erinnerung?«, kann man billig Partei- oder private Interessen unter-stellen. Doch die so betitelte Dokumentation (Vandenhoek und Rup-recht, Göttingen 2007) zeigt, wer die Erinnerung gern wohin treibenmöchte. Sie gibt eine Debatte mit medialem Höhepunkt im Mai/Juni2006 wieder.

    Herausgeber sind die Mitglieder einer Expertenkommission, dieim Frühjahr 2005 von der Bundesbeauftragten für Kultur und Me-dien, Christina Weiss, eingesetzt wurde und die Aufgabe hatte, einKonzept für einen dezentral organisierten Geschichtsverbund zurAufarbeitung der SED-Diktatur zu erarbeiten. Am 6. Juni 2006stellte die unter Leitung des Potsdamer Historikers Martin Sabrowwirkende Kommission ihr Arbeitsergebnis, ein Mitte Mai entstande-nes Empfehlungspapier, in einer öffentlichen Anhörung in Berlinvor.

    1. Raum geben»Historische Vergegenwärtigung und die Auseinandersetzung mitden Folgen einer belasteten Vergangenheit bilden einen nie abge-schlossenen Prozeß, der in demokratisch verfaßten Gesellschaften in

    Elke Scherstjanoi –Jg. 1956, Historikerin,1980-1991 an der AdWder DDR, seit 1994 wissen-schaftliche Mitarbeiterindes Instituts für Zeitge-schichte München-Berlin,Forschungen zur ostdeut-schen Nachkriegsge-schichte und zum deutsch-sowje-tischen Verhältnis.Jüngste Publikation:»SED-Agrarpolitik untersowjetischer Kontrolle 1949bis 1953«, München 2007.

    924 UTOPIE kreativ, H. 204 (Oktober 2007), S. 924-935

    ELKE SCHERSTJANOI

    Erinnerung an die DDR

  • ständigem Fluß bleibt und kontinuierlicher Erneuerung im gesell-schaftlichen Diskurs unterliegt«, hieß es in den Empfehlungen. DieKommission konstatierte geschichtspolitische und erinnerungskultu-relle Defizite und formulierte Ziele einer künftigen Ausrichtung vonstaatlichen Forschungs- und Gedenkvorhaben zum Thema DDR.Diese sollten für »die öffentliche Auseinandersetzung mit der DDR(ebenso wie mit der NS-Diktatur) unterschiedlichen Gesichtspunk-ten Raum geben« und dürften nicht »auf das Ziel einer einheitlichenoder gar geschlossenen Gesamtaussage verpflichtet werden«.1

    Zugleich sei nicht nur dem natürlichen Verblassen der Bilder, son-dern auch einer »drohenden ›Verinselung‹ der DDR-Geschichte imGeschichtsbewusstsein« entgegenzuwirken,2 hieß es. Der Umstand,daß die ostdeutsche Vergangenheit – nach Ansicht der Kommission– zwar vergleichsweise gut erforscht und öffentlich behandelt wird,nicht aber in eine nationale Gesamtrückschau eingefaßt ist, befrie-digte. In Forschung und politischer Bildung würden überdies, so dieExperten, die »Bindungskräfte« der SED-Diktatur und damit »diespannungshafte Wechselbeziehung von Herrschaft und Gesellschaft«in der DDR nur unzureichend thematisiert.3 Die Kommission emp-fahl, Forschung und Erinnerungspolitik künftig auf drei thematischeSäulen zu stellen, die Schwerpunktbereiche »Herrschaft – Gesell-schaft – Widerstand«, »Überwachung und Verfolgung« und »Teilungund Grenze«. Damit sollte auch der in der Gedenkstättenlandschaft»deutlich übergewichtigen Konzentration auf Orte der Repressionund der Teilung entgegengewirkt werden«.4

    Diese Gedanken fanden Zuspruch, stießen aber auch auf heftigeAblehnung und Vorwürfe, nicht zuletzt aus der Fachwelt. Auf eine»integrierte, »integrative«,»integrierende« oder »integrale« gesamt-deutsche Geschichtsschreibung (die Wahl des Adjektivs ist reine Ge-schmackssache) können sich die Zeithistoriker heute zwar problem-los einigen, vermag doch eine isolierte Betrachtung einzelnerMomente den Anforderungen an eine moderne Nationalgeschichtenicht mehr zu genügen. Doch wie der Bewertungsmaßstab aussehenund wo er ansetzen soll, ist strittig. Während die einen auf eine ide-altypische – realiter bestenfalls an die Bundesrepublik der frühensiebziger Jahre erinnernde – normative Werteskala der parlamentari-schen Demokratie bundesdeutschen Zuschnitts setzen, betonen an-dere, darunter eben Martin Sabrow, allen Anwürfen zum Trotz, daßeine weitgehend ergebnisoffene Ausrichtung vergleichender undverbindender Fragen an die ost- und die westdeutsche Nachkriegs-geschichte im europäischen Kontext gebraucht würde. »Wer ausnormativer Perspektive das Pendant des bundesdeutschen Rechts-staats allein als ostdeutschen Unrechtsstaat zu erfassen sucht, ver-sperrt sich den Weg zum Verständnis der Binnenlegitimation derzweiten deutschen Diktatur und für die Handlungsmotive ihrer Trä-ger«, warnte Sabrow.5

    Den von der Kommission vorgestellten Ansätzen einer neuen Ge-denkpolitik schlug besonders lauter Protest entgegen,6 zuallererstvon dort, wo eine Vergegenwärtigung der Sozialleistungen der DDRals »immer frecher« vorgetragene Erinnerung wahrgenommen wird7.Martin Sabrow sah sich gezwungen, den Vorwurf der »Weichspü-lung« der DDR-Geschichte abzuwehren. Er wollte sich auch ganz

    1 Empfehlungen derExpertenkommissionzur Schaffung einesGeschichtsverbundes»Aufarbeitung der SED-Diktatur«, in: Wohin treibtdie DDR-Erinnerung?Dokumentation einerDebatte, hrsg. von MartinSabrow u. a., Göttingen2007, S. 18-45, hier S. 21.

    2 Ebenda, S. 22.

    3 Ebenda, S. 31 f., 34.

    4 Ebenda, S. 31.

    5 Martin Sabrow: Histori-sierung der Zweistaatlich-keit, in: Aus Politik undZeitgeschichte, Beilage zurWochenzeitung das Parla-ment (APuZ B) 3/2007 v.15. Januar 2007, S. 19-24,hier S. 23.

    6 Einen zwischenzeitlichenÜberblick über die Positio-nen der Fachwelt und denVerlauf der Debatte gabRainer Eckert: Streit umErinnerung und Aufarbei-tung. Eine Erwiderung, in:Deutschland Archiv (39)2006, S. 1069-1079; abge-druckt in: Wohin treibt dieDDR-Erinnerung, a. a. O., S.405-422.

    7 Entgegnungen vonHubertus Knabe, ChristianeLauer und Jochen Staadt,zitiert von Werner vanBebber: CDU vermißt denemotionalen Zugang zurMauer, in: Der Tagesspiegel

    SCHERSTJANOI DDR-Erinnerung 925

  • und gar nicht zum Fürsprecher eines »mehrfach gespaltenen«,gleichwohl »gut organisierten Milieugedächtnisses früherer DDR-Eliten« abstempeln lassen, »in deren geschichtsrevisionistischerErinnerung die DDR als Normalstaat und die Vereinigung als kolo-niale Unterwerfung« erscheint.8 Er erklärte – vermutlich in Abwehrsolchen DDR-Elite-Gedächtnisses –, sein (und mehrheitlich derKommission) Verständnis von Alltag in der DDR beinhalte eben»die DDR-Vergangenheit in ihrer Janusgesichtigkeit zwischen ge-wollter Modernität und gewordener Monstrosität«.9 Schließlichmeinte Sabrow im Mai 2006 noch, der Protest sei deshalb so laut undvoller Mißverständnisse, weil es um die »Deutungshoheit im Über-gang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis« gehe, unddas Erinnerungsgewitter würde bald abziehen.10

    Bei dieser Prognose dürfte er sich verrechnet haben, im wahrstenSinne des Wortes. DDR-Geschichte wird mindestens noch 20 Jahrezum kommunikativen Gedächtnis der Deutschen gehören (vomÜbergang zum kulturellen Gedächtnis ist in der Fachwelt mit Bezugauf die NS-Zeit die Rede). Es sei denn, da hätte wirklich einer balddie »Deutungshoheit« ein für allemal erlangt. Die untergegangeneDDR-Gesellschaft öffentlich zu thematisieren bleibt schwierig. Nursind die alten ostdeutschen Eliten heute am Kampf um Deutungsho-heit kaum noch beteiligt. Die »Front« verläuft anderswo.

    2. »Bindungskräfte« und »durchherrschter Alltag«Die Bindungskräfte im SED-Staat und in der DDR-Gesellschaft the-matisieren zu wollen, wird der »Sabrow-Kommission« hauptsäch-lich zur Last gelegt. Zugleich erfährt sie dafür aus unterschiedlichenpolitischen Lagern Rückenstärkung. Kulturstaatsminister BerndNeumann (CDU) beispielsweise antwortete einer voreingenomme-nen Journalistin auf die Frage, »was kann der zumeist triste Alltagder Menschen in der DDR an Erkenntnissen bescheren?«: »Ichglaube, den Alltag in der DDR vertieft zu erforschen, bietet diegroße Chance, noch nicht ausreichend beantworteten Fragen nach-zugehen: Wie funktionierten die Mechanismen der SED? Wie konntesich die SED über Jahrzehnte halten? Warum und wie haben sich dieMenschen mit dem System arrangiert? Warum haben so viele mitge-macht und andere nicht? Wie entwickelte sich die Bürgerrechts-bewegung? Das alltägliche Leben einzubeziehen, heißt ja nicht, nureine private Idylle zu zeigen. Es geht doch gerade darum, diesesFeld nicht denen zu überlassen, die verharmlosen und – wie nachdem Zusammenbruch jeder Diktatur – nostalgisch an das vermeint-lich normale Leben erinnern nach dem Motto: ›Was war denn? Wirhaben gelacht und geweint, uns verliebt und gefeiert.‹«11 Das wirdnicht nur in der Kommission (kleinster?) gemeinsamer Nenner ge-wesen sein. Ein Großteil der ehemaligen DDR-Elite, nicht nur dieregimeoppositionelle, kann ein solches Anliegen mittragen. Und ge-nau dieser geschichtskritische Minimalkonsens dürfte es sein, derandere auf die Barrikaden treibt.

    Hubertus Knabe, der Leiter der Hohenschönhausener Gedenk-stätte in der ehemaligen Stasi-Haftanstalt, wandte ein: »Bislang warman sich in Deutschland einig, daß der Staat in erster Linie für einangemessenes Opfergedenken zu sorgen hat sowie das Erbe des Wi-

    v. 31. Mai 2006.

    8 Martin Sabrow: Dasletzte Donnern. Erinne-rungsland DDR: Zum Streitum die Empfehlung derExpertenkommission, in:Der Tagesspiegel v. 29. Mai2006; abgedruckt in: Wohintreibt die DDR-Erinnerung,a. a. O., S. 288-291, hierS. 290.

    9 Ebenda, S. 291.

    10 Ebenda.

    11 Interview RenateOschlies: DDR-Alltag – daswar nicht nur die privateIdylle. KulturstaatsministerBernd Neumann (CDU)über die umstrittenen Exper-tenvorschläge zur Aufarbei-tung, in: Berliner Zeitung,26. Mai 2006; abgedruckt in:Wohin treibt die DDR-Erin-nerung, a. a. O., S. 286-288,

    926 SCHERSTJANOI DDR-Erinnerung

  • derstands pflegen muß. (...) Niemand kam auf die Idee, die ›Bin-dungskräfte‹ des Nationalsozialismus in einem eigenen Zentrum zubehandeln.«12 – Ja, da hat er wohl recht. Aber »bislang« ist keineausreichende Begründung für die Abwehr eines bildungspolitischenAnliegens. Und außerdem darf gefragt werden: Sollten sich in einemunterschiedlichen Umgang mit NS- und DDR-Vergangenheit dennnicht auch, ganz bewußt so offeriert, die realen, unverkennbaren Un-terschiede zwischen »den zwei deutschen Diktaturen« niederschla-gen?

    Bemerkenswerterweise hatte die Kommission die prinzipielle Frage»Stasiknast oder Gartenzwergidylle« gar nicht gestellt; die wurdevon den Kritikern der Kommission medienwirksam in die Debattegeworfen.13 Der Historiker Stefan Wolle bemerkte zu Recht, eine sogestellte Frage sei falsch gestellt. Herzustellen sei vielmehr der in-nere Zusammenhang »zwischen der Gartenzwergidylle, die die DDRnatürlich auch gewesen ist, und diesem extrem repressiven Unter-drückungsstaat.«14 Aber das dürfte immer noch zu wenig sein. Ge-wiß ließen sich eine spießige Lebenswelt von DDR-Bürgern und dieAnmaßung und Rücksichtslosigkeit der großen und kleinen Ho-neckers unter ihnen als augenfällige Negativ-Befunde einer unter-gegangenen Welt analytisch miteinander verknüpfen und para-digmatisch funktionalisieren. Und in einem Teil der öffentlichenErinnerungskultur werden solche Verknüpfungen ja auch tatsächlich– genüßlich herablassend – als geistiger Höhepunkt einer Deutungvon »Leben in der DDR« gefeiert und mitunter sogar staatlich ho-noriert. Aber beantworten sich so die Fragen des Herrn Neumann?

    Die von Martin Sabrow in diversen Kommentaren formuliertenAufgaben reichen sogar über den in der Kommission erreichtenKonsens hinaus und bieten sich gerade deshalb auch für weiterge-hende Erörterungen des historischen Gegenstandes und des metho-dischen Instrumentariums an. Während die Kommission in ihremPlädoyer für mehr DDR-Alltagsgeschichte ganz selbstverständlichvon DDR-Vergangenheit als einer – analog zur NS-Zeit – »belaste-ten Vergangenheit« spricht (siehe Eingangszitat), will der eigenstän-