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1 3 JRP Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen sondern Machtfragen (Ferdinand Lassalle) Zusammenfassung: Die Verzahnung  von  Recht  und  Politik  durch  die  hybride  Institution  der  Verfassung würde für ihre Erforschung auch ein  klar  politikwissenschaftliches Terrain  eröffnen.  Doch  Verfassungsfragen  gelten  in  Österreich  weitgehend  als  Juristenfragen,  weswegen  zahl- reiche  Themenfelder  einer  „Verfassungspolito- logie“  allein  der  Rechtswissenschaft  überlassen  werden,  die  jedoch  in  ihrer  Betrachtung  nor- mativer  Fragen  über  eine  spezifische  Sicht  der  Dinge verfügt. Der vorliegende Beitrag versucht  unter  Einbezug  der  jüngsten  Studienreformen  eine Darstellung des Status quo österreichischer  Verfassungsforschung  und  -lehre  und  empfiehlt  nicht zuletzt aus demokratiepolitischen Gründen  eine  explizit  politologische Verfassungsanalyse  sowie  mehr  Kooperation  zwischen  Rechts-  und  Politikwissenschaft. Deskriptoren:  Demokratie ·  Juristenausbildung · Politik- und  Rechtswissenschaften · Studienreform ·  Verfassungsforschung Rechtsquellen:  B-VG 1920; B-VG-Nov  BGBl I 2/2008; Universitätsgesetz 2002;  Mitteilungsblatt (MB) Universität Innsbruck  15. 4. 2009, 65. Stück, Nr 255; MB Universität  Salzburg 18. 12. 2008, 13. Stück, Nr 34; MB  Universität Wien 21. 06. 2010, 29. Stück, Nr 158 I.  Einleitung Über  die  Bedeutung  der  Verfassung  aus  politik- wissenschaftlicher Sicht zu schreiben, bedarf zum  Einstieg  einer  wissenschaftstheoretischen  Refle- xion. Es ist hierfür geboten, sowohl allgemein über  die  österreichische  Politikwissenschaft  nachzu- denken als auch konkret nach einer Verfassungs- politologie zu fragen. Dabei stößt man trotz aller  verkündeten  und  eingeforderten  Inter-  und/oder  Transdisziplinarität 1 bald  auf  die  Scheuklappen  der Disziplinen. Insbesondere das Verhältnis zwi- schen Politik- und Rechtswissenschaften gestaltet  sich  traditionell  schwierig.  Das  Streben  der  jün- geren Disziplin, der Politologie, nach Abgrenzung  und Autonomie gegenüber der Rechtswissenschaft  führte zu einer weitgehenden Ignoranz aller recht- lichen  Aspekte  des  eigenen  Forschungsbereichs.  Auf der Suche nach wissenschaftlicher Anerken- nung wandte sich die Politikwissenschaft überdies  methodisch eher der Ökonomie und Soziologie zu,  die  theoriegeleitet  empirisch  arbeiten.  Dadurch  wurden  Politics-  und  Policy-Forschung  gestärkt,  1 Zu  den  Unterschieden  siehe  Feichtinger/Mitterbau- er/Scherke,  Interdisziplinarität  –  Transdisziplinarität.  Zu Theorie und Praxis in den Geistes- und Sozialwissen- schaften, in: Newsletter Moderne 7(2)/2004, 11 ff. Journal für Rechtspolitik 19, 3–14 (2011) DOI 10.1007/s00730-011-0004-5 Forum Tamara Ehs Verfassungspolitologie? Zur Bedeutung des B-VG aus politikwissenschaftlicher Sicht Online publiziert: 16. Juni 2011  © Springer-Verlag 2011 Erweiterte Fassung meiner am 7. September 2010  anlässlich des Symposiums Neue Fragen an eine alte Verfassung im Parlament gehaltenen Rede. Für  wertvolle Hinweise ist Elsa Hackl (Universität Wien),  Reinhard Heinisch (Universität Salzburg), Thomas König (European Research Council), Irmgard Rath- Kathrein (Universität Innsbruck) und Alexander Somek (University of Iowa) Dank zu sagen.

Forumhomepage.univie.ac.at/tamara.ehs/pdf/JRP_Tamara_Ehs2011.pdf · 4 1 3 T. Ehs JRP eineuseinandersetzung A mit der Polity aber ste-tig vernachlässigt und den Rechtswissenschaften

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JRP

Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen sondern Machtfragen (Ferdinand Lassalle)

Zusammenfassung:  Die  Verzahnung  von  Recht und  Politik  durch  die  hybride  Institution  der Verfassung würde für ihre Erforschung auch ein klar  politikwissenschaftliches  Terrain  eröffnen. Doch  Verfassungsfragen  gelten  in  Österreich weitgehend  als  Juristenfragen,  weswegen  zahl-reiche  Themenfelder  einer  „Verfassungspolito-logie“  allein  der  Rechtswissenschaft  überlassen werden,  die  jedoch  in  ihrer  Betrachtung  nor-mativer  Fragen  über  eine  spezifische  Sicht  der Dinge verfügt. Der vorliegende Beitrag versucht unter  Einbezug  der  jüngsten  Studienreformen eine Darstellung des Status quo österreichischer Verfassungsforschung  und  -lehre  und  empfiehlt nicht zuletzt aus demokratiepolitischen Gründen eine  explizit  politologische  Verfassungsanalyse sowie  mehr  Kooperation  zwischen  Rechts-  und Politikwissenschaft.

Deskriptoren:  Demokratie · Juristenausbildung · Politik- und Rechtswissenschaften · Studienreform · Verfassungsforschung

Rechtsquellen:  B-VG 1920; B-VG-Nov BGBl I 2/2008; Universitätsgesetz 2002; Mitteilungsblatt (MB) Universität Innsbruck 15. 4. 2009, 65. Stück, Nr 255; MB Universität Salzburg 18. 12. 2008, 13. Stück, Nr 34; MB Universität Wien 21. 06. 2010, 29. Stück, Nr 158

 I.  Einleitung

Über  die  Bedeutung  der  Verfassung  aus  politik-wissenschaftlicher Sicht zu schreiben, bedarf zum Einstieg  einer  wissenschaftstheoretischen  Refle-xion. Es ist hierfür geboten, sowohl allgemein über die  österreichische  Politikwissenschaft  nachzu-denken als auch konkret nach einer Verfassungs-politologie zu fragen. Dabei stößt man trotz aller verkündeten  und  eingeforderten  Inter-  und/oder Transdisziplinarität1  bald  auf  die  Scheuklappen der Disziplinen. Insbesondere das Verhältnis zwi-schen Politik- und Rechtswissenschaften gestaltet sich  traditionell  schwierig. Das Streben der  jün-geren Disziplin, der Politologie, nach Abgrenzung und Autonomie gegenüber der Rechtswissenschaft führte zu einer weitgehenden Ignoranz aller recht-lichen  Aspekte  des  eigenen  Forschungsbereichs. Auf der Suche nach wissenschaftlicher Anerken-nung wandte sich die Politikwissenschaft überdies methodisch eher der Ökonomie und Soziologie zu, die  theoriegeleitet  empirisch  arbeiten.  Dadurch wurden Politics- und Policy-Forschung gestärkt, 

1 Zu  den  Unterschieden  siehe  Feichtinger/Mitterbau-er/Scherke,  Interdisziplinarität  –  Transdisziplinarität. Zu Theorie und Praxis in den Geistes- und Sozialwissen-schaften, in: Newsletter Moderne 7(2)/2004, 11 ff.

Journal für Rechtspolitik 19, 3–14 (2011)DOI 10.1007/s00730-011-0004-5

Forum

Tamara Ehs

Verfassungspolitologie?Zur Bedeutung des B-VG aus politikwissenschaftlicher Sicht

Online publiziert: 16. Juni 2011 © Springer-Verlag 2011

Erweiterte Fassung meiner am 7. September 2010 anlässlich des Symposiums Neue Fragen an eine alte Verfassung im Parlament gehaltenen Rede. Für wertvolle Hinweise ist Elsa Hackl (Universität Wien), Reinhard Heinisch (Universität Salzburg), Thomas König (European Research Council), Irmgard Rath-Kathrein (Universität Innsbruck) und Alexander Somek (University of Iowa) Dank zu sagen.

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JRPT. Ehs

eine Auseinandersetzung mit der Polity aber ste-tig vernachlässigt und den Rechtswissenschaften überlassen, deren Wissenschaftlichkeit und ideo-logiekritisches Vermögen man seitens so mancher Politologen  zugleich  anzweifelt(e).  Hinzu  kommt eine  Juristenausbildung,  die  in  den  vergangenen Jahren Fächer wie Volkswirtschaftslehre, Sozio-logie,  aber  ebenso  die  rechtswissenschaftlichen Grundlagen (Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte etc)  sukzessive  aus  dem  Studienplan  gestrichen oder  zumindest  stark  reduziert  hat,  sodass  sich durch  Verschiebung  weg  von  einstmals  umfas-sender  Unterweisung  in  Jurisprudenz  hin  zu schlichter  Vermittlung  von  Rechtskunde  auch die Möglichkeiten des transdisziplinären Dialogs und  gegenseitigen  Verstehens  stetig  schwieriger gestalten.2

Exemplarisch zeigt sich das Verhältnis beider Disziplinen  zueinander  an  Hans Kelsen,  dem maßgeblichen  Mitgestalter  des  im  Rahmen  der Tagung „Neue Fragen an eine alte Verfassung“ feierlich  bedachten  Bundes-Verfassungsgeset-zes:  Seine  theoretischen  Schriften  über  Demo-kratie,  seine  Abhandlungen  über  Sozialismus und Marxismus, seine methodologischen Gedan-ken  über  die  Soziologie  werden  von  der  öster-reichischen  Politologie  bis  auf  einige  wenige Ausnahmen  kaum  wahrgenommen.3  Aus  Sicht vieler  Politikwissenschafter  ist  Kelsen  Jurist –  und  damit  zu  meiden.  Hierbei  wird  jedoch übersehen,  dass  Kelsen  nicht  nur  die  Reine Rechtslehre,  sondern  korrespondierend  auch eine  elaborierte  Demokratietheorie  entworfen hat, dass bei ihm Rechts- und Demokratielehre faktisch  nicht  zu  trennen  sind;  seine  Konzep-tion  der  Rechtswissenschaft  machte  die  politi-schen Momente der Rechtserzeugung erst sicht-, formulier-  und  damit  (politik-)wissenschaft-lich  –  darunter  verstehe  ich:  ideologiekritisch – beurteilbar.4 Das merkte man auch dem B-VG von  1920  an:  Im  Vergleich  mit  anderen,  insbe-

2 Für  eine  Reflexion  über  die  Ziele  juristischer  Ausbil-dung  siehe  Schmoller,  Interdisziplinäres  Studium  an einer  Rechtswissenschaftlichen  Fakultät?,  in:  Wöhle/Augeneder/Urnik (Hrsg), Rechtsphilosophie. Vom Grund-lagenfach  zur Transdisziplinarität  in  den  Rechts-, Wirt-schafts-  und  Sozialwissenschaften  (2010)  411  ff,  insb 413 ff.3 Dazu ausführlich Ehs, Vorwort, in: Ehs (Hrsg), Hans Kel-sen. Eine politikwissenschaftliche Einführung (2009) 5 ff.4 Zur  normtheoretischen  Einbettung  der  Demokratie-theorie: Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 320 ff und 352 ff; näher Ehs, Erziehung zur Demokratie. Hans Kel-sen als Volksbildner, in: Ogris/Olechowski/Walter (Hrsg), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 32 (2009) 81 ff.

sondere mit zeitgenössischen Verfassungen war es schlicht, schmucklos und nüchtern gehalten. Doch  gerade  weil  sich  Kelsen  eindringlich  mit der Demokratie in Theorie und österreichischer Praxis auseinandergesetzt hatte, konzipierte er die Verfassung als bloßen Spielregelkatalog für politisches  Handeln,  als  einen  Rahmen  für  die politische  Auseinandersetzung,  der  grundsätz-lich  inhaltsneutral  ist:  Demokratie  als  Verfah-ren.5 So vertrat der Wissenschafter Kelsen „ein juristisches  Gegenstandsverständnis,  das  nicht interdisziplinär ist, und ein juristisches Metho-denverständnis, das im Sinne der Arbeitsteilung sehr  wohl  interdisziplinär  ist.“6  Das  heißt  aus unserer  heutigen  Sicht  der  ausdifferenzierten Wissenschaften, dass  sich auch und gerade die Politikwissenschaft  mit  Rechts-  und  Verfas-sungsfragen  auseinanderzusetzen  hat,  weil  der rechtswissenschaftliche  Blick  auf  Recht,  Staat und  Verfassung  durch  die  Reine  Rechtslehre methodisch stark eingegrenzt ist.7 Aufgabe und Kompetenz der Politologie im Bereich der Verfas-sungsforschung  lassen  sich  somit  umschreiben als ideologiekritische Analyse von Verfassungs-gesetzgebung,  Verfassungsrechtsprechung  und der Relation des B-VG zur „Realverfassung“.

II.   Österreichische Verfassungspolitologie. Skizzen

A. Abkoppelungen

Eine Verfassung ist in Inhalt und Form das Pro-dukt eines politischen Prozesses, spiegelt somit die  Machtverhältnisse  der  Gesellschaft  wider und  ist  die  „juristische  Taufe  der  Herrschaft“ (Robert Piloty),  indem  sie  deren  Ausübung  in eine  rechtliche  Ordnung  zwingt, dh der Macht Willkür und Beliebigkeit nimmt und  ihr  statt-dessen Berechenbarkeit und Stabilität gibt.8 An 

5 Vgl Ehs, Das demokratische Prinzip, in: Bezirksmuseum Josefstadt (Hrsg), Hans Kelsen und die Bundesverfassung. Geschichte  einer  Josefstädter  Karriere  (Ausstellungska-talog) (2010) 60 ff.6 Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bun-desdeutsche Staatsrechtslehre,  in: Gusy  (Hrsg), Weimars lange  Schatten  –  „Weimar“  als  Argument  nach  1945 (2003) 354 ff (359).7  Instruktiv: Porsche-Ludwig, Die Abgrenzung der sozia-len Normen von den Rechtsnormen und ihre Relevanz für das Verhältnis von Recht(swissenschaft) und Politik(wis-senschaft) (2007) insb 86 ff.8 Vgl  Badura,  Stichwort  „Verfassung“,  in:  Kunst  (Hrsg), Evangelisches Staatslexikon (1966) Spalte 2343 ff. Allge-mein zu politischem Begriff und -sgeschichte(n) von „Ver-

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5JRP Verfassungspolitologie?

die Verzahnung von Recht und Politik durch die „hybride  Institution  der  Verfassung“9  erinnert auch das bekannte Zitat von Ferdinand Lassalle: „Verfassungsfragen  sind  ursprünglich  nicht Rechtsfragen  sondern  Machtfragen.“10  Unter dem Aspekt der Macht11 als  zentrale Kategorie eröffnet  sich  für  die  wissenschaftliche  Erfor-schung  der  Verfassung  ein  klar  politologisches Terrain. Oder vielleicht sollte man formulieren: es würde  sich politologisches Terrain eröffnen. Denn  wie  Klaus von Beyme  zu  Recht  beklagt, haben  Politikwissenschafter  verlernt,  sich  in juristische  Materien  einzuarbeiten.12  Mitunter haben sie es nicht bloß verlernt, sondern gar nie gelernt, weil die Emanzipation der Politik- von der  Rechtswissenschaft  und  die  Szientifizie-rung der Disziplin eine nicht unproblematische Abkoppelung  zugunsten  einer  anti-normativen und nicht-normwissenschaftlichen Ausrichtung des Faches zur Folge hatten,13 die Robert Chris-tian van Ooyen beanstandet: „Eine vermeintlich kritische  Politikwissenschaft  überlässt  daher alles, was irgendwie mit (Verfassungs-) Recht zu tun hat, den Juristen, die  in  ihrer Betrachtung normativer Fragen von ‚Staat‘, ‚Verfassung‘ und ‚Demokratie‘ zumeist über eine ganz spezifische Sicht der Dinge verfügen – und reproduziert mit diesem  ‚blinden  Fleck‘  gerade  die  obrigkeits-staatliche  Attitüde  der  Trennung  von  Politik und ‚unpolitischem‘ Recht.“14

fassung“  siehe  Koselleck,  Begriffsgeschichten.  Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache (2010) 363 ff.9 Schuppert,  Verfassung  und  Verfassungsstaatlichkeit in  multidisziplinärer  Perspektive,  in:  Badura-FS  (2004) 529 ff (545).10 Lassalle,  Über  Verfassungswesen  (1862),  in:  Lasalle, Gesammelte Reden und Schriften, hrsg v Bernstein, Band 2 (1919) 7 ff (60).11 Zum  Macht-  als  Fundamentalbegriff  in  Gesellschaft und  Gesellschaftswissenschaften  siehe  Russell,  Macht (1938), (2001); Merriam, Political Power: Its Composition & Incidence (1934).12 Vgl von Beyme, Das Bundesverfassungsgericht aus der Sicht der Politik- und Gesellschaftswissenschaften, in: 50 Jahre Bundesverfassungsgericht-FS, Band 1 (2001) 393 ff (494).13 Für eine Bestandaufnahme der Methodenanwendung in der deutschen Politikwissenschaft, die sich auf Österreich übertragen  lässt:  Kittel,  Eine  Disziplin  auf  der  Suche nach  Wissenschaftlichkeit.  Entwicklung  und  Stand  der Methoden in der deutschen Politikwissenschaft, in: PVS – Politische Vierteljahresschrift 50(3)/2009, 577 ff.14 Van Ooyen,  Politik  und Verfassung.  Beiträge  zu  einer politikwissenschaftlichen  Verfassungslehre,  VS  2006,  7. Zur Entwicklung der Politikwissenschaft und ihrer Ent-fremdung  vom  Recht  siehe  auch  Becker/Zimmerling (Hrsg),  Politik  und  Recht,  PVS-Sonderheft  36  (2006), 

Doch es gibt kein unpolitisches Recht;15 gerade die  Rechtserzeugung  ist  ein  extrem  politischer Moment.  Die  Verfassung  dokumentiert  die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse  im Land, sie  verfügt  über  einen  Fundus  an  politischen Ordnungsvorstellungen und jede Novelle ändert ein  wenig  „die  Kerngrammatik  des  menschli-chen Zusammenlebens“16, gibt somit Zeugnis ab über die politischen Kompromisse im Wandel der Zeit. Erst eine Zusammenschau der rechtlichen und  politischen  Aspekte,  eine  Thematisierung des  Zusammenhanges  zwischen  gesellschaftli-cher Entwicklung und Verfassungsentwicklung kann  diesen  Veränderungen  wissenschaftlich gerecht werden.

Jedoch hat Wolfgang Seibel  für Deutschland befunden,  was  –  wie  weiter  unten  zu  belegen sein wird – in noch größerem Ausmaß für Öster-reich Gültigkeit hat: „Verfassungsfragen gelten in Deutschland allerdings als Juristenfragen, in der  Politikwissenschaft  wird  dies  in  der  Form partieller Selbstentmündigung weitgehend hin-genommen.“17  Diese  Selbstentmündigung  der Politikwissenschafter gibt ein allgemeines Ver-fassungsbewusstsein  wieder  und  findet  statt, obwohl  Juristen  sich  zumeist  nur  mit  Verfas-sungsdogmatik,  kaum  mit  allgemeiner  Verfas-sungslehre  beschäftigen  –  schon  gar  nicht  in Österreich,  wo  sich  mangels  Inkorporationsge-bot  die  fugitiven  Verfassungsbestimmungen18 trotz  der  Bereinigung  im  Jahr  2008  durch  die B-VG-Novelle  (BGBl  I  2/2008)  offenbar  einer 

darin  insbesonders  die  Beiträge  der  Herausgeber  (9  ff) sowie von Maus (76 ff).15 Zum  juristischen  Diskurs  der  Selbstbeschreibung als  „unpolitisch“  siehe  Schmidt,  Sichtbares  Recht  und unsichtbare  Politik.  Zur  Auseinandersetzung  zwischen staatsrechtlichem  Positivismus  und Verfassungspolitolo-gie, in: Brodocz et al (Hrsg), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust (2005) 213 ff.16 Höffe, Vortrag  „Rechtsphilosophie  als  politische  Phi-losophie“,  gehalten  am  25.  September  2008, Tagung  der deutschen  Sektion  der  Internationalen Vereinigung  für Rechts- und Sozialphilosophie, Tübingen.17 Seibel,  Suchen  wir  immer  an  der  richtigen  Stelle? Einige  Bemerkungen  zur  politikwissenschaftlichen  For-schung nach dem Ende des Kalten Krieges, in: Politische Vierteljahresschrift  44(2)/2003,  217  ff  (221).  Zur  sel-ben  Einschätzung,  allerdings  aus  dem  Blickwinkel  der Rechtswissenschaft, kam bereits  in den 1970ern Grimm, Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik und der Beitrag  der  Politikwissenschaft,  in:  Grimm  (Hrsg),  Die Zukunft der Verfassung (1978) 336 ff.18 Siehe dazu das berühmt gewordene Bild von der öster-reichischen Verfassung  als  „Ruine“  bei  Klecatsky,  Bun-des-Verfassungsgesetz  und  Bundesverfassungsrecht,  in: Schambeck  (Hrsg),  Das  österreichische  Bundes-Verfas-sungsgesetz und seine Entwicklung (1980) 83 ff.

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gesamttheoretischen Betrachtung entziehen. Die Reflexionsdisziplin der Verfassungslehre, die als Grundlagenfach an den juridischen Fakultäten ohnehin  den  Stellenwert  einer  „Jurisprudenz-folkore“19  hat,  könnte  jedoch  im  politikwissen-schaftlichen und im staatsbürgerlich bildenden Kontext genutzt werden, um normwissenschaft-liche  Informationen  über  die  Verfassung  zu kommunizieren,  um  sich  über  das  österreichi-sche  politische  System  zu  verständigen,  um „sich über Sinn und Zweck, Warum und Wozu der  Verfassung  zu  orientieren,  ohne  gleichzei-tig das genaue Wie, ohne die ebenso eigentüm-liche wie komplexe Rechtstechnik durchschauen oder  betätigen,  ohne  also  das  entsprechende Verfügungswissen  besitzen  und  einsetzen  zu müssen“20  –  letztlich  um  der  Politik  im  Recht zu  mehr  Sichtbarkeit,  dem  Herrschaftssystem somit zu mehr Transparenz zu verhelfen, wie es dem demokratischen Verfassungsstaat gebührt.

Verfassungstechnik  ist  Handwerk  von Juristen,  doch  Verfassungstheorie,  Verfas-sungsgeschichte  und  -entwicklung,  damit  Ver-fassungspolitik  sowie  Verfassungsvergleich sind  Einfallstore  für  die  Politikwissenschaft im  Sinne  einer  transdisziplinären  Zusammen-arbeit.  Im  besten  Fall  ist  diese  politologische Untersuchung  der  Verfassung  –  eine  Verfas-sungspolitologie  –  eingebettet  in  ein  multidis-ziplinäres  Forschungsprogramm,  wie  es  zum Beispiel  Gunnar Folke Schuppert  angedacht hat, der in Weiterentwicklung der alten Staats-wissenschaften  die  heutigen  Fachdisziplinen Rechts-,  Politik-  und  Kulturwissenschaften sowie  Geschichte  und  Ökonomie  verbunden sehen  will.21  In  Anlehnung  an  die  anglo-ame-rikanische Tradition der constitutional studies könnte  man  disziplinenübergreifend  von  Ver-fassungswissenschaft  als  Grund-  und  Integra-tivwissenschaft sprechen.

19 Jestaedt,  Das  mag  in  der Theorie  richtig  sein  … Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis (2006) insb 1 ff.20 Jestaedt,  Die  Verfassung  hinter  der  Verfassung.  Eine Standortbestimmung  der  Verfassungstheorie,  Schön-burger Gespräche zu Recht und Staat, Band 12 (2009) 72.21 Schuppert,  Staatswissenschaft  (2003).  Dazu  bereits grundlegend:  Sontheimer,  Politische  Wissenschaft  und Staatsrechtslehre  (1963).  Zu  ähnlichen  Überlegungen einer  „neuen  Staatswissenschaft“  siehe  Ehs,  Über  die Ursprünge  österreichischer  Politikwissenschaft.  Ein Blick  zurück  im  Bologna-Jahr  2010,  in:  Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 39(2)/2010, 223 ff.

B. Desiderata österreichischer Politikwissenschaft

Im Folgenden werden der politikwissenschaftli-che Part einer Verfassungswissenschaft behan-delt  und  mit  den  Forschungsbereichen  einer Verfassungspolitologie  zugleich  Desiderata  der österreichischen Politikwissenschaft aufgezeigt:

Ausgangspunkt  einer  politikwissenschaftli-chen  Verfassungsanalyse  wären  wohl  die  Bau-gesetze,  sowohl  die  ideell-theoretischen  und historisch-gesellschaftlichen  Grundlagen,  ihr Entstehungszusammenhang,  als  auch  ihre  lau-fende  Weiterentwicklung,  hierbei  insbesondere die  demokratiepolitische  Verfassungserneue-rung.  Diese  würde  aktuell  zum  Beispiel  The-men  wie  die  Herabsetzung  des  Wahlalters,  die Erweiterung direktdemokratischer Instrumente oder  die  Debatten  um  das  sogenannte  „Aus-länderwahlrecht“,  sowie  hinsichtlich  des  libe-ralen Prinzips den Bereich der Menschen- und Bürgerrechte  umfassen.  Bezüglich  des  rechts-taatlichen  Prinzips  wären  Veränderungen  im Rechtsschutzsystem zu untersuchen.

Hinzu  kämen  Fragen  nach  der  Bedeutung der  Rechtsprechung  für  das  politische  System Österreichs,  vor  allem  hinsichtlich  des  Verfas-sungsgerichtshofs. Denn Verfassungsinterpreta-tion (und somit -fortbildung) ist seit dem B-VG 1920 nicht mehr allein Sache der wissenschaft-lichen  Theorie,  sondern  Praxis  des  Verfas-sungsgerichtshofes. Der VfGH ist  im Sinne der Gewaltenteilung  einer  von  mehreren  „Hütern der  Verfassung“  und  damit  ein  Element  des politischen  Prozesses22;  folglich  sind  Doktrin und Praxis des VfGH umso mehr politikwissen-schaftlich zu untersuchen. Eine Analyse entlang judicial self restraint  und  judicial activism23 des  österreichischen  Verfassungsgerichtshofes, also darüber, ob und wie kreativ das Höchstge-richt judiziert, letztlich wieviel Politik der VfGH macht  und  wie  und  warum  sich  die  Praxis  im Laufe  der  Zeit  gewandelt  hat,  wäre  im  Sinne der  Auseinandersetzung  mit  Machtfragen  eine explizit  politologische  Aufgabe;  gerade  hin-sichtlich des Faktums, dass die Entwicklung der verfassungsrechtlichen  Grundordnung  weitge-hend eine Schöpfung von Lehre und Judikatur 

22 Näher  van Ooyen  (Hrsg),  Hans  Kelsen:  Wer  soll  der Hüter der Verfassung sein? (2008).23 Aufschlussreich:  Holoubek,  Wechselwirkungen  zwi-schen  österreichischer  und  deutscher Verfassungsrecht-sprechung, in: Merten (Hrsg), Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich, Schriften zum Europäi-schen Recht, Band 137 (2008) 85 ff, insb 110 f.

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7JRP Verfassungspolitologie?

ist.24 Eine international vorbildhafte Analyse zu diesem  Themenkomplex  stammt  beispielsweise vom  britischen  Politologen  David Robertson, der  Erkenntnisse  von  Verfassungsgerichten  als angewandte politische Theorie versteht.25

Es wäre seitens einer ideologiekritischen Poli-tikwissenschaft zu reflektieren, dass der VfGH politisch  ist,  dass  die  Aufgabe  des  VfGH,  die Garantie der Verfassung, also die Machtkontrolle – „der Ausübung der Macht rechtliche Schran-ken  zu  setzen.  Verfassungsgarantie  bedeutet: Sicherheit dafür zu schaffen, daß diese Rechts-schranken nicht überschritten werden“26 – eine (auch-)politische  Tätigkeit  ist.27  Eine  unpoliti-sche,  über  allen  Niederungen  der  Parteipolitik schwebende Verfassungsgerichtsbarkeit erwiese sich dann als bloße Illusion oder bewusste Ver-schleierung von Macht. Hans Kelsen, der ja den Verfassungsgerichtshof  als  sein  persönlichstes Werk  betrachtete28,  hat  Verfassungsgerichts-barkeit wegen  ihrer hohen  legislativen shaping power immer  als  primär  politische  Gesetz-gebung  verstanden,  weswegen  das  Politische besser offen einzubeziehen wäre: Zum Beispiel plädierte  er  aus  (partei-)pluralistischer  Sicht für  die  Bestellung  und  Zusammensetzung  des Gerichts auch mittels parlamentarischer Wahl.29 Verfassungspolitologische  Untersuchungen  zur Bestellung  der  VfGH-Richter/innen  könnten die bestehende juristische Literatur30 weiterent-

24 Beachte dazu allein die Zitierpraxis des VfGH, näher: Öhlinger,  Stil  der  Verfassungsgesetzgebung  –  Stil  der Verfassungsinterpretation,  in:  Adamovich-FS  (1992) 502  ff.  Zum Verhältnis  zwischen  Lehre  und  Judikatur siehe – allerdings aus deutscher Sicht – Schlink, Die Ent-thronung  der  Staatsrechtswissenschaft  durch  die  Ver-fassungsgerichtsbarkeit,  in:  Der  Staat  28/1989,  161  ff; Schlink, Abschied  von  der  Dogmatik. Verfassungsrecht-sprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, in: Juristenzeitung 62(4)/2007, 157 ff.25 Robertson, The Judge as Political Theorist: Contempo-rary Constitutional Review (2010).26 Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, in: Die Jus-tiz, Band VI (1930/31) 576 ff (577).27 Vgl  Barfuß,  Die  „politische“  Komponente  des  öster-reichischen  Verfassungsgerichtshofs,  in:  Adamovich-FS (1992) 1 ff.28 Vgl Kelsen, Autobiographie  (1947),  in: Jestaedt  (Hrsg), Hans Kelsen im Selbstzeugnis (2006) 31 ff (70).29 Vgl Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichts-barkeit, VVDStRL 5 (1929) 30 ff, insb 56 f.30 Maßgebend bereits Klecatsky, Über die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der österreichischen Verfas-sungsgerichtsbarkeit,  in:  Geiger-FS  (1974)  925  ff,  sowie Neisser/Schantl/Welan,  Betrachtungen  zur Verfassungs-gerichtsbarkeit,  in:  Österreichische  Juristen-Zeitung 27(23)/1972, 623 ff; in jüngerer Zeit zum Beispiel Schern-thanner, Der Verfassungsgerichtshof und seine Unabhän-

wickeln und etwa die immer wieder erhobenen Forderungen nach „Objektivierung“ – bisweilen „Entpolitisierung“31 – der Richterauswahl, nach Abhaltung von Hearings und Einführung einer (veröffentlichten) dissenting opinion unter dem Aspekt  (partei-)politischer  Machtkonstellatio-nen hinterfragen.

Weiters fehlen in diesem Bereich Studien zur österreichischen  Verfassungsentwicklung  und Verfassungsrechtsprechungsentwicklung  ange-sichts  des  europäischen  Integrationsprozesses und  der  Ausarbeitung  einer  „EU-Verfassung“. Einerseits wäre die Konstitutionalisierung, also der  Prozess  des  Verfassungsmachens  in  sei-ner  Rückwirkung  auf  die  österreichische  Ver-fassung  und  höchstgerichtliche  Judikatur  zu untersuchen,  indem  man  fragt,  inwiefern  „die Autorität  der  konstitutionalisierten  Verfas-sung  eine  andere  ist  als  die  einer  Verfassung, wie wir sie bislang kannten“32. Es ginge hierbei um  eine  Auseinandersetzung  mit  den  Chancen und  Gefahren  eines  „politisch  entleerten  Ver-fassungsbegriffs“33  hinsichtlich  der  Autonomie des Politischen in Anbetracht der  in Auflösung begriffenen räumlichen Autorität des National-staates.  Andererseits  müsste  vergegenwärtigt werden, dass die EU eigentlich nur mittels Geset-zen  und  EuGH-Entscheidungen  regieren  kann, kaum durch Steuern, Umverteilung oder durch Command and Control-Regulierung. Das bedeu-tet, ihre Herrschaft ist äußerst normenzentriert und  letztlich  bei  den  Höchstgerichten  angesie-delt,  auch  beim  österreichischen  Verfassungs-gerichtshof.  Dieser  hat  immerhin  die  Aufgabe, die  Umsetzung  und  Implementierung  von  EU-Recht  durch  nationale  Behörden  zu  beaufsich-tigen.  Hieran  anknüpfend  wäre  die  Bedeutung des  EuGH  für  Europäisierung  und  Konstitu-tionalisierung zu erheben. Denn was wir heute 

gigkeit, in: Österreichische Juristen-Zeitung 35(17)/2003, 621–627, und Heller, Der Verfassungsgerichtshof. Die Ent-wicklung  der  Verfassungsgerichtsbarkeit  in  Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart  (2010)  insb 201  ff und 360 ff.31 Noch  immer  lesenswert  Merkl,  Der  „entpolitisierte“ Verfassungsgerichtshof, in: Der österreichische Volkswirt 23(19)/1930, 510 ff.32 Somek,  Die Verfassung  im  Zeitalter  ihrer  transnatio-nalen  Reproduzierbarkeit.  Gedanken  zum  Begriff  der Konstitutionalisierung, Vortrag  bei  der  Friedrich  Ebert Stiftung Berlin, November 2009, online auf http://somek.org/Downloads/Berlin2009.pdf (22.10.2010) 3.33 Wahl,  Verfassung  jenseits  des  Staates,  in:  Hochhuth (Hrsg), Nachdenken über Staat und Recht, Wissenschaft-liche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Band 59 (2010) 107 ff (133).

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in  der  „EU-Verfassung“  vorfinden,  ist  haupt-sächlich eine Kodifizierung dessen, was  in den vergangenen 50 Jahren in Luxemburg judiziert wurde.34  Jene  Integration  durch  EuGH-Recht-sprechung wäre unter dem Aspekt der demokra-tischen Legitimität politologisch zu betrachten. Anschlussfähige Untersuchungen sind zum Bei-spiel jene des Politikwissenschafters Alec Stone Sweet, der eine vergleichende neofunktionalis-tische  Analyse  der  Rechtspolitik  entwickelt35, oder  von  den  Politologen  des  Max  Planck-Ins-tituts  für  Gesellschaftsforschung,  allen  voran Martin Höpner36.

Um  Machtfragen  und  damit  politikwissen-schaftlich  zu  untersuchende  Aspekte  ginge  es ferner  bei  einer  Analyse  der  allgemeinen  Ver-fassungsreformpolitik,  insbesondere  einer immer  wieder  in  Aussicht  gestellten  Grund-rechtsreform.  In  diesem  Zusammenhang  wäre ebenso nach dem Kulturgehalt der Verfassung, nach  der  je  politisch-kulturellen  Grundierung des  Verfassungsrechts  zu  fragen37,  etwa  nach der  Funktion  (und  dem  Fehlen)  eines  Grund-rechtskatalogs, von Präambeln (und dort veran-kerten Gottesanrufungen) oder (ausdrücklichen oder  verdeckten)  als  „Werte“  umschriebenen Erziehungszielen (wie Toleranz, Solidarität etc), sowie nach politischen Symbolen als Identitäts-momenten.  Das  heißt,  neben  der  instrumentel-len  wäre  auch  die  symbolische  Funktion38  der Verfassung  Gegenstand  politikwissenschaftli-cher Analyse, nicht nur um bestimmte Leitideen sozialer und politischer Ordnung aus der juris-tischen  Verdichtung  des  Verfassungstextes  zu interpretieren, sondern auch um so manch iden-titätsstiftende  Elemente  (Stichwort:  [fehlender] Verfassungspatriotismus)  zu  begreifen.  Dazu gehörten  etwa  Untersuchungen  über  das  poli-

34 Vgl  Lenaerts/Desomer,  Bricks  for  a  Constitutional Treaty  of  the  European  Union: Values,  Objectives  and Means, in: European Law Review 27/2002, 377 ff.35 Zum  Beispiel:  Stone Sweet,  A  Europe  of  Rights: The Impact of  the ECHR on National Legal Systems  (2008), sowie Stone Sweet, Governing with Judges: Constitutio-nal Politics in Europe (2000).36 Aktuell:  Höpner,  Warum  betreibt  der  Europäische Gerichtshof  Rechtsfortbildung?  Die  Politisierungshypo-these, in: Sozialer Fortschritt 59(5)/2010, 141 ff; Höpner, Von der Lückenfüllung zur Vertragsumdeutung. Ein Vor-schlag  zur  Unterscheidung  von  Stufen  der  Rechtsfort-bildung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), in: Der Moderne Staat 3(1)/2010, 165 ff.37 Vgl  Häberle, Verfassungslehre  als  Kulturwissenschaft2 (1998) insb 83 ff.38 Neben den efficient parts also auch die dignified parts, um  an  Walter  Bagehots  Differenzierung  anzuknüpfen (Bagehot, The English Constitution [1867]).

tische Wie und Warum der stetig blumiger und programmatischer werdenden Verfassung: 1920 fehlten Staatszielbestimmungen fast noch voll-ständig. Später wurden diese „Verfassungsauf-träge“  in  großer  Zahl  aufgenommen,  wie  etwa der Rundfunk als öffentliche Aufgabe (1974), der umfassende  Umweltschutz  (1984),  die  Gleich-behandlung  von  Behinderten  (1997)  oder  die Gleichstellung von Mann und Frau (1998). Auch andere, nicht-judiziable, lediglich „schöne“ Pas-sagen  wie  beispielsweise  Art  14  Abs  5a  B-VG, wonach  „Demokratie,  Humanität,  Solidarität, Friede  und  Gerechtigkeit  sowie  Offenheit  und Toleranz  gegenüber  den  Menschen…Grund-werte der Schule“ seien, hatten im ursprüngli-chen Verfassungstext ebensowenig verloren wie die symbolpolitische, 1981 als Art 8a B-VG ver-ankerte  Bestimmung  über  Fahne  und  Wappen der Republik.39

Weiters  wäre  die  Diskrepanz  zwischen  nor-mativer  und  faktischer  Verfassung,  zwischen Verfassung(sanspruch)  und  Verfassungswirk-lichkeit  politikwissenschaftlich  zu  erheben. Hierbei würde in akteurs- und/oder institutions-zentrierter  Analyse  das  gegenwärtige  österrei-chische politische System vor dem Hintergrund der  Verfassungsbestimmungen  untersucht, idealiter  in  vergleichender  und  insbesondere historischer  Kontextualisierung.  Denn  ohne einen Blick  in die verfassungsrechtlichen Aus-gangsbedingungen  und  verfassungstheoreti-schen Kontroversen ist die politische Geschichte Österreichs  nur  unzureichend  zu  verstehen und  nicht  akkurat  wissenschaftlich  zu  unter-suchen.  Die  Lektüre  des  Verfassungstextes  im Wandel  gäbe  Einblick  in  die  politischen  und gesellschaftlichen  Vorstellungen  des  Gesetz-gebers und damit der Gesellschaft zur Zeit der jeweiligen  Verfassungsgesetzwerdung.  Folglich ist beispielsweise der berühmte Kommentar von Kelsen, Fröhlich und Merkl eine wichtige Quelle zum  Verständnis  der  historischen  Grundlagen österreichischer  Politik.  Nicht  umsonst  wurde dieses Werk 2003 neu aufgelegt und damit nicht nur „der  juristischen Öffentlichkeit wieder zur Verfügung gestellt“40,  sondern ebenso der Poli-tikwissenschaft besser zugänglich gemacht.

39 Vgl  Olechowski,  Über  Wert  und  Unwert  von Verfas-sungspräambeln,  in:  Ehs  (Hrsg),  Hans  Kelsen  und  die Europäische  Union.  Erörterungen  moderner  (Nicht-)Staatlichkeit (2008) 75 ff (83).40 Walter, Vorwort, in: Kelsen/Froehlich/Merkl (Hrsg), Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (Nachdruck 2003) 3.

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Außerdem müssten auf einer Metaebene Ver-fassungsverständnis  und  Verfassungskultur hinterfragt  und  somit  der  Wandel  der  Verfas-sungsfunktion  thematisiert  werden.  Hierbei ginge es hauptsächlich um die Analyse der poli-tischen  Implikationen  der  Umfunktionierung vom ursprünglichen Spielregelkatalog des B-VG 1920 zu einem System, in dem Verfassungsrecht dazu  herangezogen  wurde,  großkoalitionäre Kompromisse der einseitigen Abänderung – und der Kontrolle durch den VfGH – zu entziehen41, respektive  gegenwärtig  um  eine  Untersuchung der Instrumentalisierung von Verfassungsrecht für  parteipolitische  Machtdemonstrationen gegenseitiger  Paralysierung  mittels  Verweige-rung  der  für  Verfassungsgesetze  notwendigen Mehrheiten.

All dies eben Genannte müsste nicht nur natio-nal,  sondern  ebenso  im  Vergleich  mit  anderen Staaten untersucht werden.42 Ein unter diesem Aspekt  bis  heute  uneingeholtes  Standardwerk ist  Karl Loewensteins Verfassungslehre,  worin er „die Bedeutung der Verfassung innerhalb des Prozesses der politischen Macht“43 untersuchte.

Eine  solcherart  betriebene  Politologie,  die den  Bereich  der  Normativität  –  darunter  ver-stehe ich ein aufklärerisch hinterfragtes, streng begründbares  oder  sich  um  Begründbarkeit doch  bemühendes  Sollen44  –  nicht  vernachläs-sigt, knüpft weiterführend an die uralte Frage danach an, wie wir als Menschen ein gutes, ver-nünftiges Leben miteinander führen können. So definierte schon Ernst Fraenkel als Studienob-jekt  der  Politikwissenschaft,  „ob  und  wie  sich in der Verfassungswirklichkeit das den Verfas-sungsnormen  zugrundeliegende  Modell  einer politischen  Ordnung  realisieren  lässt,  die  glei-cherweise  den  Anforderungen  einer  autonom 

41 Vgl Öhlinger, Verfassungskern und verfassungsrechtli-che Grundordnung, in: Pernthaler-FS (2005) 273 ff (275). Funk spricht gar von der „politischen Praxis des Verfas-sungsvandalismus“: Funk, Formenmißbrauch und Verfas-sungsumgehung  durch  die  Legislative.  Ein  Problem  im Spannungsfeld  von  formellem  und  materiellem Verfas-sungsverständnis, in: Klecatsky-FS (1990) 67 ff (78).42 Auf dem Gebiet der Komparatistik ist die Politik- der Rechtswissenschaft bereits ein weites Stück voraus, macht doch die vergleichende Systemlehre seit jeher einen gro-ßen Teil  der  politologischen  Forschung  aus,  wohingegen die Verfassungsvergleichung  oftmals  ein  Nischendasein als  „Korollarwissenschaft“  (Wieser, Vergleichendes Ver-fassungsrecht [2005] V) fristet.43 Loewenstein, Verfassungslehre (1959) IV.44 Vgl  Hochhuth,  Nüchtern  und  klar  trotz  Postmoderne, in: Hochhut, Nachdenken über Staat und Recht, Wissen-schaftliche  Abhandlungen  und  Reden  zur  Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Band 59 (2010) 11 ff (13).

pluralistischen  Demokratie  und  eines  sozialen Rechtsstaates  gerecht  wird.“45  Hierbei  schließt die  moderne  empirische  Politikwissenschaft wiederum an die klassische Philosophie an, die nach  einer  menschenwürdigen  Ordnung  des Gemeinwesens sucht und hierfür unter anderem die geltende rechtliche Grundordnung, die Ver-fassung, zum Analysegegenstand hat.

 III.   Gretchenfrage an Politologen:  Wie hältst Du’s mit der Verfassung?

Bislang habe ich – gestützt auf Untersuchungen zur  deutschen  Politikwissenschaft  und  eigene Erfahrung  –  bloß  unterstellt,  Verfassungswis-senschaft würde ebenso in Österreich allein von Juristen  betrieben,  die  politologische  Frage-stellungen  im  besten  Fall  „berücksichtigen“46. Bereits ein flüchtiger Blick in die Kommunika-tion  über  Verfassungsfragen,  die  in  Funk  und Fernsehen beinahe täglich thematisiert werden, bestätigt meine Behauptung. Denn in den Medien kommen  in der überwiegenden Zahl der  Inter-views Verfassungsjuristen zu Wort, sodass man annehmen  muss,  es  gäbe  keine  explizit  polito-logische Verfassungsexpertise. Um meine These allerdings  einer  Überprüfung  zu  unterziehen und  zugleich  eine  Antwort  auf  die  Frage  nach der Bedeutung des B-VG für die österreichische Politikwissenschaft  zu  erhalten,  erhob  ich  den Status quo politologischer Lehre und Forschung zum Stichtag 1. August 2010. Dazu konzentrierte ich  mich  auf  die  aktuellen  Forschungsschwer-punkte  der  drei  Studienstandorte  Innsbruck, Salzburg und Wien, auf die politologischen Dis-sertationen der letzten Jahre sowie auf die aktu-ell online verfügbaren Vorlesungsverzeichnisse im Bachelor- und Masterprogramm:

45 Fraenkel, Politikwissenschaft und Gesellschaft, in: Der Politologe, Jahrgang 4, Nummer 12 (Feber 1963) 3.46 Ein  österreichischer  Klassiker:  Adamovich/Funk, Österreichisches  Verfassungsrecht.  Verfassungsrechts-lehre  unter  Berücksichtigung  von  Staatslehre  und  Poli-tikwissenschaft2  (1984).  Seit  1997  wird  diese  Reihe allerdings  von  einem  vergrößerten  Autorenkonsortium unter dem Titel „Österreichisches Staatsrecht“ und ohne politikwissenschaftlichen  Zusatz  fortgeführt.  Zum Ver-gleich  eine  deutsche  Koryphäe  mit  am  Umschlagbild klein  gedruckter  Politikwissenschaft:  Zippelius,  Allge-meine Staatslehre. Politikwissenschaft, Reihe Juristische Kurz-Lehrbücher16 (2010).

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A. Politologische Forschung an den Studienstandorten

Die Forschungsbereiche, so wie sie auf den Web-sites  der  Institute  verlautbart  sind,  umfassen in  der  bekannten  Trias  Politics-Polity-Policy die  üblichen,  seit  den  1970er-Jahren  etablier-ten  Teilgebiete  der  Politikwissenschaft47  (poli-tisches  System  Österreichs,  vergleichende Politikwissenschaft,  internationale  Beziehun-gen,  politische  Theorie  und  Ideengeschichte, politische  Ökonomie,  empirische  Sozialfor-schung und Statistik), heute erweitert um Gen-der Studies, Europäische Integration und etliche „Bindestrich-Politologien“48.  Allerdings  ist  die Polity-Forschung gegenüber Politics- und Poli-cy-Untersuchungen deutlich  seltener vertreten. Ein  gar  explizit  auf  Verfassungswissenschaft bezogener Forschungsbereich findet sich an kei-nem der drei Standorte; auch die Österreichische Gesellschaft  für  Politikwissenschaft  verzeich-net  keine  entsprechende  Sektion.  Expertise  in Verfassungsfragen,  meist  hinsichtlich  demo-kratiepolitischer  Verfassungserneuerung  und EU-Verfassung,  gibt  es  jedoch  in  bestimmten Spezialisierungssegmenten  der  Politics-  und Policy-Forschung,  etwa  bei  Minderheiten-  und Migrationspolitik,  politischer  Partizipation, Citizenship,  Parteien-  und  Wahlforschung49, sowie  als  kulturwissenschaftlichen  Ansatz50. Solch Fachwissen, das gleichsam nebenher auch verfassungspolitologische  Kenntnisse  trans-portiert,  findet  sich  sowohl  im  universitären als auch außeruniversitären  (z. B. am Zentrum für  Angewandte  Politikforschung,  Institut  für Höhere  Studien  oder  Zentrum  Sozialwissen-

47 Vgl  etwa Berg-Schlosser/Stammen, Einführung  in die Politikwissenschaft7  (2003), die der „traditionellen Poli-tikwissenschaft“ zwar durchaus Platz widmen, über eine politologische  Verfassungswissenschaft  dennoch  kein Wort verlieren.48 van Ooyen (FN 14) 44.49 Wahl-  und  Parteienforschung  sind  exakt  jene Teilbe-reiche,  in  denen  die  österreichische  Politikwissenschaft methodisch am stärksten profiliert und innovativ ist (vgl jüngst etwa AUTNES – Austrian National Election Study http://www.autnes.at/).  Offenbar  trägt  dieses  Selbstbe-wusstsein der disziplinär autonomen Methodenentwick-lung dazu bei,  sich auch wieder vergleichsweise  stärker mit Rechts- und Verfassungsfragen auseinanderzusetzen, sich  also  nicht  länger  krampfhaft  um  Abgrenzung  von den Rechtswissenschaften bemühen zu müssen.50 Zum cultural turn in der deutschen Politikwissenschaft, der  kulturwissenschaftlichen Verfassungsanalysen  auch in Österreich einigen Auftrieb verlieh, siehe Brodocz, Die symbolische  Dimension  der Verfassung.  Ein  Beitrag  zur Institutionentheorie (2003).

schaften  der  Österreichischen  Akademie  der Wissenschaften) Bereich.

B. Dissertationsthemen

Jene Beschränkung der aktuellen politikwissen-schaftlichen Forschungsgebiete auf eine Ausei-nandersetzung mit Verfassungsfragen als (mehr oder  weniger  unumgängliche)  Nebenschiene setzt  sich  beim  wissenschaftlichen  Nachwuchs fort:  Eine  Erhebung  der  in  den  Jahren  2000 bis 2010 an den drei Studienstandorten appro-bierten Dissertationen unter dem Suchbegriff51 „Verfassung“ zeigt, dass die Arbeiten sich kaum mit  dem  B-VG  auseinandersetzen.  So  sich  die Studierenden überhaupt an Verfassungsthemen heranwagten, dann meist an die EU-Verfassung (oft  diskursanalytisch,  zum  Beispiel  Cornelia Bruell,  Salzburg  2008)  oder  an  ausländische Verfassungen,  insbesondere  unter  demokratie-politischen  und  grundrechtlichen  Aspekten, etwa  zur  Minderheitenpolitik  und  Rechtskul-tur der USA (Bettina Scholdan, Wien 2005), zur Rolle  der  ungarischen  Minderheit  in  der  Slo-wakei (Marion Rasek, Wien 2002) oder zur Ent-wicklung von Parlamentarismus und Wahlrecht in Tunesien (Abdeslem Jledi, Wien 2002) – offen-bar Themen, die als nicht von österreichischen Juristen besetzt wahrgenommen werden.

Hingegen  finden  sich  im  selben  Zeitraum zahlreiche  rechtswissenschaftliche  Disserta-tionen  zum  Stichwort  „Verfassung“,  die  –  the-matisch,  nicht  methodisch  –  sehr  wohl  auch politologische Aspekte beinhalten, zum Beispiel über den zivilen Widerstand gegen den Transit-verkehr  in  Tirol  (Christina Dander,  Innsbruck 2007), über die EU-Sanktionen gegen Österreich (Christian Warum, Innsbruck 2004), über euro-päische  Verfassungs-  und  Demokratietheorie mit einem Blick auf Sozialpolitik (Hermann Wil-helmer, Wien 2003), Schubhaft gemäß Fremden-gesetz  (Thomas Neugschwendtner,  Wien  2002), Verbotsgesetz (Felix Müller, Wien 2002), mehrfa-che Staatsangehörigkeit (Wolfgang Gabler, Wien 2001) oder Behindertenpolitik (Robert Bechina, Salzburg 2001).

Besonders auffällig ist schließlich, dass Unter-suchungen  verfassungspolitologischer  Themen hauptsächlich dort vorgenommen werden, wo es Politikwissenschaft  als  Studienfach  gar  nicht gibt,  nämlich  an  der  Universität  Graz.  Allein im Jahr 2010 wurden dort Abschlussarbeiten zu 

51 Dissertationsdatenbank  http://media.obvsg.at/dissdb (01.08.2010).

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Verfassungsfragen von e-Voting, Minderheiten-schulwesen in Kärnten und im Burgenland, Ein-satz  ausländischer  Polizeikräfte  in  Österreich während  der  Euro  2008,  Verhältnis  des  Bun-despräsidenten zur Gesetzgebung usw verfasst. Die  Karl  Franzens-Universität  hat  zwar  keine Studienrichtung  Politikwissenschaft,  aller-dings  eine  Abteilung für Politikwissenschaft, Allgemeine Staats- und Verfassungslehre am Institut für Öffentliches Recht eingerichtet und bietet  seit dem Wintersemester 2010/11 gar  ein Doktoratsprogramm  Öffentliches Recht und Politikwissenschaft.  Das  heißt,  an  der  „Grazer Schule  der  Politikwissenschaft“  betreuen  wie-derum ausgebildete Rechtswissenschafter (teils mit  postgradualer  politikwissenschaftlicher Zusatzqualifizierung)  politologische  Themen, verwirklichen  gleichsam  „Juristenpolitologie“ (Wolfgang Mantl)52 wie die Staats- und Verfas-sungslehrer der Ersten Republik.

Jene  Rechtswissenschafter  der  Zwischen-kriegszeit waren damals bahnbrechend, weil sie sich  allenfalls  zur  Hälfte  auf  dem  rein  juristi-schen  Gebiet  des  Verfassungsrechts  bewegten, in weiten Teilen jedoch der politischen Theorie und Ideengeschichte, zuletzt auch einem soziolo-gischen Zugang verpflichtet waren53 – und damit den politischen Aspekt des Rechts, den Macht-faktor, wissenschaftlich sichtbar machten. Doch heute, nach etlichen Studienplanreformen, sind Jus-Studierende weder zur Absolvierung (natio-nal-)ökonomischer  noch  soziologischer,  schon gar nicht politik- oder anderer gesellschaftswis-senschaftlicher Fächer verpflichtet und selbst in den methodischen und historischen Grundlagen der  eigenen  Disziplin  haben  sie  stets  weniger Stunden  zu  belegen.  Es  mangelt  somit  oft  an ideologiekritischer,  politischer  Bildung,  dem-nach an jenem Bereich, in dem die Stärke eines 

52 Dazu aus Grazer Innensicht: Marko/Handstanger, The interdependence of  law and political science: About  the „essence and value“ of a „Juristenpolitologie“-approach, in:  ICL-Journal 3(2)/2009, 66  ff. Vergleiche mit Graz bis 2006  die  Universität  Innsbruck  mit  dem  Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre,  als  es noch  als  Institut für Öffentliches Recht und Politikwis-senschaft  (ab  1999  mit  dem  Zusatz  des  Finanzrechts) geführt wurde und thematisch verfassungspolitologische Dissertationen  wie  beispielsweise  zur  österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld von Recht und  Politik  (Andergassen,  2004)  oder  zu  Verwaltungs-organisation  und Verfahrensbeschleunigung  (Schneider, 2004)  hervorbrachte.  Die  Brücke  zwischen  Rechts-  und Politikwissenschaft war personalisiert durch Fried Ester-bauer, nach dessen Tod im Jahr 2004 das Institut umbe-nannt wurde.53 Vgl van Ooyen (FN 14) 7.

Dialogs mit der Politikwissenschaft läge, sofern sich  diese  wiederum  der  Auseinandersetzung mit rechtlichen Fragen öffnete.

C. Studienpläne

An  dieser  unzureichenden  politologischen Expertise  zu  Verfassungsfragen  in  Österreich scheint  sich  in  nächster  Zukunft  nicht  viel ändern  zu  können,  wie  ein  Blick  in  die  Vor-lesungsverzeichnisse  und  Studienpläne  verrät: Das  Innsbrucker  Bachelorstudium  beinhaltet zwar  neuerdings54  das  Wahlmodul  Rechtswis-senschaften für Politikwissenschaft, hierbei eine einstündige  Vorlesung  Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre. Einführung und Über-blick über die Staats- und Verfassungslehre, doch  eben  nicht  als  verpflichtend  zu  belegen-des Fach. In Salzburg gibt es Verfassungsrecht verpflichtend  als  einführende  Lehrveranstal-tung  der  Grundlagen aus Nachbardisziplinen in Form der zweistündigen Vorlesung Grundla-gen des Staatsrechts.55 Das Wiener BA-Studium bietet  verpflichtend  in  der  STEP  II  (Studien-eingangsphase)  eine  Einführung in das sozial-wissenschaftliche Arbeiten mit Schwerpunkt Politikwissenschaft,  hierin  in  drei  Einheiten den Themenblock Politik und Recht. Eine frei-willige Vertiefung in Rechts- und Verfassungs-fragen  kann  nun,  erstmals  im  Studienjahr 2010/1156,  über  sogenannte  Erweiterungscurri-cula  (EC,  im  Umfang  von  insgesamt  60  ECTS) gewählt werden, zum Beispiel Einführung in die Rechtswissenschaften (für Studierende nicht-juristischer Fachrichtungen), weiterführend die EC Internationales Recht, Öffentliches Recht – Rechtsstaat, Demokratie und Verwaltung  oder Recht im historischen, gesellschaftlichen und philosophischen Kontext,  allesamt  koordiniert von  der  Studienprogrammleitung  Rechtswis-senschaft und abgehalten von Juristen.

Gefragt nach der Bedeutung des B-VG muss sich  die  österreichische  Politikwissenschaft eingestehen:  Die  Verfassung  fungiert  als  Hin-tergrundgeräusch,  wird  als  Voraussetzung  von Politik und damit von Politikwissenschaft zwar wahrgenommen, erfährt aber meist nur sekun-däre  Beachtung  und  Betrachtung,  ist  bereits 

54 Vgl MB der Universität Innsbruck v 15. April 2009, 65. Stück, Nr 255.55 Vgl MB der Universität Salzburg v 18. Dezember 2008, 13. Stück, Nr 34.56 Vgl MB der Universität Wien v 21. Juni 2010, 29. Stück, Nr 158.

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JRPT. Ehs

durch  die  rechtswissenschaftliche  Methodik und  Expertise  gefiltert.  Verfassungswissen-schaft  ist  demnach  kein  Teilbereich  österrei-chischer  Politologie,  wird  in  Forschung  und Lehre  den  Rechtswissenschaftern  überlassen, was  deren  Dominanz  perpetuiert.  Somit  lässt man eigentlich politikwissenschaftliche Gegen-standsbereiche weiterhin von der Rechtswissen-schaft wie zu den Hochzeiten der Allgemeinen Staatslehre mitverwalten, als hätte eine metho-dische  und  dadurch  disziplinäre  Ausdifferen-zierung nie stattgefunden.

Selbst die Kooperationsbereitschaft der Poli-tikwissenschaft  zu  inter-/transdisziplinärer Zusammenarbeit mit Juristen ist äußerst gering. Dies  wird  traditionell  der  bereits  erwähnten spät  erfolgten  universitären  Institutionalisie-rung  der  Politikwissenschaft  und  der  damit einhergehenden  Emanzipation  der  Politik-  von der Rechtswissenschaft sowie ihrer Suche nach Wissenschaftlichkeit  zugeschrieben.  „Jeder Ansatz  zu  interdisziplinärem  Arbeiten  wurde so als Regression zum abgelebten Zustand man-gelnder  wissenschaftlicher  Ausdifferenzierung und  als  Kotau  vor  rechtswissenschaftlicher Hegemonie  beargwöhnt“57,  reflektiert  Ingeborg Maus die politologische Idiosynkrasie gegen alle juridischen  Aspekte  ihrer  Forschungsbereiche. Zwar hat die Politikwissenschaft als sogenannte „welcoming discipline“58 eher Methoden aus den Nachbardisziplinen  importiert,  als  spezifisch eigene zu entwickeln; doch im Prozess der Szien-tifizierung, die mit einer theoriegeleitet-empiri-schen Perspektive gleichgesetzt wurde, handelte es sich hierbei um Anleihen aus Ökonomie und Soziologie, nicht aus den Rechtswissenschaften, deren Wissenschaftlichkeit ohnehin oft in Frage gestellt wird.

Die  Rechtswissenschaft  wiederum  behaup-tet  entgegen aller  studienrechtlichen und  lehr-planmäßigen  Entwicklungen  ihren  Status  als studium generale.  Dabei  erfolgt  die  juristische Grundausbildung  heute  längst  nicht  mehr  als Unterweisung in Jurisprudenz, sondern als Ver-mittlung  von  Rechtskenntnis,  also  als  Rechts-kunde.59  Während  die  Jurisprudenz  nicht  nur 

57 Maus,  Das  Verhältnis  der  Politikwissenschaft  zur Rechtswissenschaft. Bemerkungen zu den Folgen polito-logischer  Autarkie,  in:  Becker/Zimmerling,  Politik  und Recht, PVS-Sonderheft 36 (2006) 76 ff (76 f).58 Beck,  Political  Methodology:  A  Welcoming  Disci-pline, in: Journal of the American Statistical Association 95/2000, 651 ff.59 Die  aus  diesem  Mangel  entstehenden  Probleme erkennend  rufen  Heinz Barta  und  Michael Ganner  zur 

am  geltenden  Gesetz  orientiert  ist,  sondern dieses  stets  hinterfragt  und  kritisiert,  also  ein Verständnis  für  die  hinter  einer  konkreten Regelung  stehenden  gesellschaftlichen  Prob-leme,  ihre  Entstehungsgeschichte,  die  mit  ihr verfolgten  politischen  Zielvorstellungen  und ihre Auswirkungen hat, ordnet die Rechtskunde bloß Sachverhalte in den rechtlichen Kontext.60 Mit der Zurücknahme jurisprudentieller Fächer in der Rechtswissenschaft eröffnete sich für die Politikwissenschaft ein immenses Spektrum an Aufgabengebieten.

IV.   Besonderheiten österreichischer Verfassung(swissenschaft)

Die  Gründe  für  das  Fehlen  österreichischer Verfassungspolitologie  sind  jedoch  vielleicht nicht  allein  in  den  oben  genannten  Aspekten zu suchen. Neben der konsequenten selbstkriti-schen Hinterfragung in Bezug auf die „Selbst-entmündigung“ lässt die gute wissenschaftliche Praxis durchaus zu, die Schuld auch woanders zu  suchen:  Vielleicht  liegen  die  Gründe  nicht bloß in der Politologie, sondern mitunter in der Verfassung selbst?

Alexander Somek  weist  auf  das  „imperiale Erbe“ hin, auf „die Mentalität – den Geist – des österreichischen  Staatsrechts“,  das  in  der  Ver-fassung  nur  „eine  organisatorische  Regelung der  Machtverhältnisse  im  Verhältnis  zwischen Exekutive  und  Legislative“  sieht.61  Tatsächlich beinhaltet  das  B-VG  keine  durchgängige  Wer-teordnung  oder  gar  Ewigkeitsklausel  wie  das Bonner  Grundgesetz.  Die  österreichische  Ver-fassung  wurde  konzipiert  als  unpathetische „Rechtswegeverfassung“  (Adolf Julius Merkl), ganz anders als zum Beispiel die US-Verfassung oder  die  Bemühungen  um  eine  „echte“  Verfas-

Aufnahme von Rechtssoziologie und Rechtstatsachenfor-schung  in die  Juristenausbildung auf und plädieren  für entsprechende  wissenschaftliche Abteilungen  im  Justiz-ministerium – ohne hierfür allerdings an die Möglichkeit der  Einbeziehung  der  Politikwissenschaft  zu  denken: Barta/Ganner,  Plädoyer  für  eine  neue  Rechtspolitik  in Österreich, in: Dimmel/Schmee (Hrsg), Politische Kultur in Österreich 2000–2005 (2005) 199 ff.60 Vgl  Schmoller,  Interdisziplinäres  Studium  an  einer Rechtswissenschaftlichen  Fakultät?,  in:  Wöhle/Augen-eder/Urnik, Rechtsphilosophie. Vom Grundlagenfach zur Transdisziplinarität  in  den  Rechts-,  Wirtschafts-  und Sozialwissenschaften (2010) 411 ff (414 f).61 Somek, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Österreich, in:  v  Bogdandy/Villalón/Huber  (Hrsg),  Ius  Publicum Europaeum, Band 2 (2007) 637 ff (639).

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13JRP Verfassungspolitologie?

sung für die Europäische Union62. Trägt dieses instrumentale,  etwa  einem  Verfassungspatrio-tismus  nicht  sehr  zugängliche  Verfassungsver-ständnis dazu bei, dass sich Politologen nicht am B-VG abarbeiten? Doch an diese Frage  ist eine weitere,  jenen  Gedanken  relativierende  anzu-schließen:  Ist  die  Deutung  der  Verfassung  als bloßes Verfahrens- und Organisationsrecht des politischen Prozesses überhaupt noch zeitgemäß und richtig, zumal Europäisierung und Interna-tionalisierung (auch der Höchstgerichte) immer mehr auf das nationale Verfassungsverständnis rückwirken,63 dadurch in Österreich materiales Verfassungsverständnis kultivieren und in einer nachpositivistischen Ära64 längst ein „Verlust an wissenschaftlicher Ernüchterungsleistung“65 zu beklagen ist?

Mitunter  führt  vielleicht,  was  einerseits  als Verlust  zu  bedauern  ist,  andererseits  zu  einem Gewinn,  nämlich  dann,  wenn  jene  Verände-rungen  Impulse  für  eine  österreichische  Ver-fassungspolitologie  geben.  Unaufgearbeitete Diskrepanzen und Widersprüche – wie etwa das Paradoxon  einer  auf  Richterrecht  basierenden obersten Stufe des Rechts vor dem Hintergrund eines  betont  gesetzespositivistischen  Verfas-sungsverständnisses – sind nach Theo Öhlinger nämlich die Folge eines Defizits an Studien, die über  rein  rechtsdogmatische  Fragen  hinaus-gehen.66 Solch Analysen fehlen bis heute. Denn 

62 Wie  bereits  angemerkt,  betreibt  die  österreichische Politikwissenschaft  durchaus  (kulturwissenschaftliche) EU-Verfassungsforschung.  Das  ist  nicht  nur  der  zeit-lichen Nähe zum Untersuchungsgegenstand als work in progress geschuldet, sondern vor allem der symbolischen Funktion,  die  die  Ausarbeitung  einer  EU-Verfassung in  Hinsicht  auf  Identitäts-  und  Integrationspolitik  ver-folgte, und der damit gegebenen „außerrechtlichen“, somit als politikwissenschaftlich akzeptierten Perspektive; aus juristischer  Sicht  hatte  Europa  mit  dem  Primärrecht bereits eine Verfassung.63 Dazu  Öhlinger,  Die  Transformation  der Verfassung  – Die  staatliche Verfassung  und  die  Europäische  Integra-tion, in: JBl 124(1)/2002, 2 ff, insb 9 f; mit Augenmerk auf Europäisierung und Englisch als führende Rechtsprache weist Somek zudem auf die „steady spread of the common law mentality“ hin (Somek, The Indelible Science of Law, in:  ICON –  International  Journal of Constitutional Law 7(3)/2009, 424 ff [428]).64 Vgl  Somek/Forgó,  Nachpositivistisches  Rechtsdenken. Inhalt und Form des positiven Rechts (1996).65 Somek (FN 62) 661.66 Vgl  Öhlinger  (FN  25)  514.  Eine  Omission  der  (rechts-wissenschaftlichen)  Forschung,  insbesondere  angesichts der zunehmenden „Juristokratie“, ortet auch Somek  (FN 63)  440.  Zum  Terminus  „Juristokratie“  siehe  Hirschl, Towards  Juristocracy: The Origins and Consequences of the New Constitutionalism (2007).

spätestens seit 1972, dem Erscheinungsjahr des Systems von Robert Walter67, wurde ein B-VG-Verständnis  herrschende  rechtswissenschaftli-che Lehre, das beispielsweise die eigentlich sehr politischen  Verfassungsideen,  die  Baugesetze,  ausschließlich  rein-rechtswissenschaftlich  be- handelt;  das  ehrt  zwar  die  Methodenreinheit der  Rechtswissenschaft  und  entspricht  der Arbeitsteilung  der  einzelnen  und  neu  entstan-denen Disziplinen, doch die Politikwissenschaft ließ  ihren  Aufgabenbereich  unbearbeitet.  Das heißt,  zeitgleich  mit  der  Institutionalisierung der Politikwissenschaft an den österreichischen Universitäten  und  ihrer  Entwicklung  wider die  Rechtswissenschaft  fiel  die  akademische Betrachtung  der  Verfassung  hinter  ihre  Mög-lichkeiten zurück.

Bereits  Hans Kelsen  hatte  aus  Gründen  der Arbeitsteilung und Präzision für die Einnahme methodischer  verschiedener  Sichtweisen  (auf die Verfassung) plädiert: „Auch soll nicht gesagt sein,  daß  der  Jurist  nicht  auch  soziologische, psychologische, dass er etwa keine historischen Untersuchungen  vornehmen  dürfe.  Im  Gegen-teil! Solche sind nötig; allein der Jurist muß sich stets bewußt bleiben, daß er als Soziologe, Psy-chologe oder Historiker einen ganz anderen Weg verfolgt, als jenen, der ihn zu seinen spezifischen juristischen  Erkenntnissen  führt,  er  darf  die Resultate  seiner  explikativen  Betrachtung  nie-mals  in  seine  normative  Begriffskonstruktion aufnehmen.“68  Übertragen  auf  die  disziplinär höchst  ausdifferenzierte  Wissenschaftsland-schaft  der  Gegenwart  beinhaltet  Kelsens  Aus-sage  einerseits  einen  Aufruf  an  Soziologen, Psychologen,  Historiker  –  schließlich  Politik-wissenschafter  –  sich  gemäß  ihren  jeweiligen Methoden mit dem Recht auseinanderzusetzen, und  andererseits  zugleich  eine  Besch(n)eidung des  im  rein-rechtlichen  Sinne  wissenschaftli-chen Forschungsbereiches und seiner Vertreter. Damit schuf die Reine Rechtslehre erst Diszipli-nen wie der Politikwissenschaft neuen Platz.69

Doch  die  österreichische  Politologie  nützte nicht etwa dieses eingeschränkte, formelle Ver-fassungsverständnis  der  Rechtswissenschaft, um eine eigene B-VG-Forschung zu entwickeln, sondern  blieb  der  gebieterischen  „Zwangsnor-merzeugungsregel“  (Robert Walter)  gleichsam 

67 Walter,  Österreichisches  Bundesverfassungsrecht.  Sys-tem (1972).68 Kelsen,  Hauptprobleme  der  Staatsrechtslehre,  entwi-ckelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911) 42.69 MwN Ehs (FN 3).

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reflexartig  abgewandt.  Dadurch  verwirklichte sie bis heute nicht, was gemäß Kurt Sontheimer Politikwissenschaft  sein  sollte,  nämlich  „eine Art  Dauerreflexion  über  die  Lebensprobleme einer politischen Gemeinschaft, und sie fügt zu diesem Behufe die verschiedenen Wirklichkeits-wissenschaften  und  die  Staatsrechtswissen-schaft  zu  einer  philosophischen  Fragestellung nach  dem  Sinn  und  den  Aufgaben  politischen Handelns  in  der  Gegenwart  zusammen.“70  Um die  endlich  erreichte  disziplinäre  Autonomie und fortschreitende Szientifizierung (iSv spezi-fizierten  empirischen  Analysen)  nicht  preiszu-geben,  verzichtet  die  Politologie  weiterhin  auf (verfassungs-)rechtliche Erkenntnis und ist des-halb  mittlerweile,  in  Zeiten  steter  Verrechtli-chung aller Lebensbereiche, oft nicht imstande, so manch politischen Sachverhalt oder Prozess angemessen zu analysieren. Damit wird sie auch ihrem  ureigenen  „Anspruch  auf  die  Institutio-nalisierung  der  wissenschaftlichen  Selbstre-flexion  der  Gesellschaft“71  nicht  gerecht.  Geht es  der  Politikwissenschaft  jedoch  im  Kern  um die  Analyse  strategischer  Interaktionen  zwi-schen Akteuren in asymmetrischen Beziehungs-strukturen,  die  durch  öffentliche  Institutionen definiert werden, dann darf eben  jene öffentli-che, institutionelle Dimension, die Polity, deren Grundlage ja die Verfassung ist, nicht vernach-lässigt werden.

 V.  Resumée

Eine politikwissenschaftliche Analyse der Ver-fassung  und  die  staatsbürgerliche  Vermittlung dieser Kenntnisse tut not, weil die demokratie-politisch  wichtige  Aufgabe  der  Verfassungsga-rantie  – das heißt  letztlich: der Machtkontrolle – nicht allein Verfassungsgerichtshof, Parlament, Bundespräsident und Regierung, sondern ebenso dem Citoyen übertragen  ist.  In den Jahren der Konkordanzdemokratie wurden „weite Bereiche des Rechts (und der dieses gestaltenden Politik) der  demokratischen  Mehrheitsregel  entzogen und dem ‚Konsens‘ zwischen den ‚Lagern‘ über-antwortet.“72 Doch institutionalisierter Konsens widerspricht der pluralen Demokratie und wirkt nun in die Gegenwart der Post-Konkordanzde-mokratie hinein depolitisierend, denn: „Konsens 

70 Sontheimer (FN 21) 48.71 Lepsius, Denkschrift  zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaften (1961) 19.72 Öhlinger (FN 41) 275.

ist in einer liberal-demokratischen Gesellschaft Ausdruck einer Hegemonie und der Kristallisa-tion von Machtverhältnissen.“73 Die Verfassung, einst schlanke Spielregelbeschreibung, die einen Rahmen  für  politisches  Handeln  abgab,  wurde im Lauf der Zeit parteipolitisch instrumentali-siert,  umfunktioniert  und  entformalisiert;  ihre ursprüngliche  Funktion  übernahmen  rechts-wissenschaftliche  Lehre  und  zusehends  die Judikatur. Das  ist  eine  schleichende  Involution von Demokratie und wird als Missstand bereits literarisch und feuilletonistisch aufgegriffen. Es fehlt jedoch an einer Verfassungspolitologie, die diese  Fragen  wissenschaftlich  bearbeitet;  auf demokratiepolitisch  bedenkliche  Entwicklun-gen aufmerksam zu machen, wäre Aufgabe und Kompetenz  der  Politikwissenschaft:  Ideologie-kritik  als  Analyse  der  Machtverhältnisse  und Machtverschiebungen.

Die Bedeutung des B-VG im politischen Sys-tem  der  Republik  liegt  aus  meiner  Sicht  als Politologin somit darin, dass an der Verfassung immer wieder nicht allein Rechtsfragen, sondern vor allem Machtfragen manifest werden. Gerade in deren Beschreibung bestünde die große kriti-sche Kraft der Politikwissenschaft im Vergleich mit  einer  formalen  und  diese  Verhältnisse  nur durch  die  juristische  Methode  gefiltert  wahr-nehmenden  Rechtswissenschaft.  Die  Entwick-lung des B-VG gibt nämlich einen Maßstab dafür ab, in welche Richtung sich Politik und Gesell-schaft orientieren, auf welche Grundlagen sich das Gemeinwesen bezieht, wie Herrschaft – die Gewähr und Begrenzung von Freiheitsrechten – schließlich ausgeübt wird.

Korrespondenz:  Dr.  Tamara  Ehs,  Institut  für Politikwissenschaft  sowie  Institut  für  Rechts- und  Verfassungsgeschichte  an  der  Universität Wien,  Universitätsstraße  7,  1010  Wien;  E-Mail: [email protected]

73 Mouffe, Das demokratische Paradox (2008) 60.

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