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Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen sondern Machtfragen (Ferdinand Lassalle)
Zusammenfassung: Die Verzahnung von Recht und Politik durch die hybride Institution der Verfassung würde für ihre Erforschung auch ein klar politikwissenschaftliches Terrain eröffnen. Doch Verfassungsfragen gelten in Österreich weitgehend als Juristenfragen, weswegen zahl-reiche Themenfelder einer „Verfassungspolito-logie“ allein der Rechtswissenschaft überlassen werden, die jedoch in ihrer Betrachtung nor-mativer Fragen über eine spezifische Sicht der Dinge verfügt. Der vorliegende Beitrag versucht unter Einbezug der jüngsten Studienreformen eine Darstellung des Status quo österreichischer Verfassungsforschung und -lehre und empfiehlt nicht zuletzt aus demokratiepolitischen Gründen eine explizit politologische Verfassungsanalyse sowie mehr Kooperation zwischen Rechts- und Politikwissenschaft.
Deskriptoren: Demokratie · Juristenausbildung · Politik- und Rechtswissenschaften · Studienreform · Verfassungsforschung
Rechtsquellen: B-VG 1920; B-VG-Nov BGBl I 2/2008; Universitätsgesetz 2002; Mitteilungsblatt (MB) Universität Innsbruck 15. 4. 2009, 65. Stück, Nr 255; MB Universität Salzburg 18. 12. 2008, 13. Stück, Nr 34; MB Universität Wien 21. 06. 2010, 29. Stück, Nr 158
I. Einleitung
Über die Bedeutung der Verfassung aus politik-wissenschaftlicher Sicht zu schreiben, bedarf zum Einstieg einer wissenschaftstheoretischen Refle-xion. Es ist hierfür geboten, sowohl allgemein über die österreichische Politikwissenschaft nachzu-denken als auch konkret nach einer Verfassungs-politologie zu fragen. Dabei stößt man trotz aller verkündeten und eingeforderten Inter- und/oder Transdisziplinarität1 bald auf die Scheuklappen der Disziplinen. Insbesondere das Verhältnis zwi-schen Politik- und Rechtswissenschaften gestaltet sich traditionell schwierig. Das Streben der jün-geren Disziplin, der Politologie, nach Abgrenzung und Autonomie gegenüber der Rechtswissenschaft führte zu einer weitgehenden Ignoranz aller recht-lichen Aspekte des eigenen Forschungsbereichs. Auf der Suche nach wissenschaftlicher Anerken-nung wandte sich die Politikwissenschaft überdies methodisch eher der Ökonomie und Soziologie zu, die theoriegeleitet empirisch arbeiten. Dadurch wurden Politics- und Policy-Forschung gestärkt,
1 Zu den Unterschieden siehe Feichtinger/Mitterbau-er/Scherke, Interdisziplinarität – Transdisziplinarität. Zu Theorie und Praxis in den Geistes- und Sozialwissen-schaften, in: Newsletter Moderne 7(2)/2004, 11 ff.
Journal für Rechtspolitik 19, 3–14 (2011)DOI 10.1007/s00730-011-0004-5
Forum
Tamara Ehs
Verfassungspolitologie?Zur Bedeutung des B-VG aus politikwissenschaftlicher Sicht
Online publiziert: 16. Juni 2011 © Springer-Verlag 2011
Erweiterte Fassung meiner am 7. September 2010 anlässlich des Symposiums Neue Fragen an eine alte Verfassung im Parlament gehaltenen Rede. Für wertvolle Hinweise ist Elsa Hackl (Universität Wien), Reinhard Heinisch (Universität Salzburg), Thomas König (European Research Council), Irmgard Rath-Kathrein (Universität Innsbruck) und Alexander Somek (University of Iowa) Dank zu sagen.
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eine Auseinandersetzung mit der Polity aber ste-tig vernachlässigt und den Rechtswissenschaften überlassen, deren Wissenschaftlichkeit und ideo-logiekritisches Vermögen man seitens so mancher Politologen zugleich anzweifelt(e). Hinzu kommt eine Juristenausbildung, die in den vergangenen Jahren Fächer wie Volkswirtschaftslehre, Sozio-logie, aber ebenso die rechtswissenschaftlichen Grundlagen (Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte etc) sukzessive aus dem Studienplan gestrichen oder zumindest stark reduziert hat, sodass sich durch Verschiebung weg von einstmals umfas-sender Unterweisung in Jurisprudenz hin zu schlichter Vermittlung von Rechtskunde auch die Möglichkeiten des transdisziplinären Dialogs und gegenseitigen Verstehens stetig schwieriger gestalten.2
Exemplarisch zeigt sich das Verhältnis beider Disziplinen zueinander an Hans Kelsen, dem maßgeblichen Mitgestalter des im Rahmen der Tagung „Neue Fragen an eine alte Verfassung“ feierlich bedachten Bundes-Verfassungsgeset-zes: Seine theoretischen Schriften über Demo-kratie, seine Abhandlungen über Sozialismus und Marxismus, seine methodologischen Gedan-ken über die Soziologie werden von der öster-reichischen Politologie bis auf einige wenige Ausnahmen kaum wahrgenommen.3 Aus Sicht vieler Politikwissenschafter ist Kelsen Jurist – und damit zu meiden. Hierbei wird jedoch übersehen, dass Kelsen nicht nur die Reine Rechtslehre, sondern korrespondierend auch eine elaborierte Demokratietheorie entworfen hat, dass bei ihm Rechts- und Demokratielehre faktisch nicht zu trennen sind; seine Konzep-tion der Rechtswissenschaft machte die politi-schen Momente der Rechtserzeugung erst sicht-, formulier- und damit (politik-)wissenschaft-lich – darunter verstehe ich: ideologiekritisch – beurteilbar.4 Das merkte man auch dem B-VG von 1920 an: Im Vergleich mit anderen, insbe-
2 Für eine Reflexion über die Ziele juristischer Ausbil-dung siehe Schmoller, Interdisziplinäres Studium an einer Rechtswissenschaftlichen Fakultät?, in: Wöhle/Augeneder/Urnik (Hrsg), Rechtsphilosophie. Vom Grund-lagenfach zur Transdisziplinarität in den Rechts-, Wirt-schafts- und Sozialwissenschaften (2010) 411 ff, insb 413 ff.3 Dazu ausführlich Ehs, Vorwort, in: Ehs (Hrsg), Hans Kel-sen. Eine politikwissenschaftliche Einführung (2009) 5 ff.4 Zur normtheoretischen Einbettung der Demokratie-theorie: Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 320 ff und 352 ff; näher Ehs, Erziehung zur Demokratie. Hans Kel-sen als Volksbildner, in: Ogris/Olechowski/Walter (Hrsg), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 32 (2009) 81 ff.
sondere mit zeitgenössischen Verfassungen war es schlicht, schmucklos und nüchtern gehalten. Doch gerade weil sich Kelsen eindringlich mit der Demokratie in Theorie und österreichischer Praxis auseinandergesetzt hatte, konzipierte er die Verfassung als bloßen Spielregelkatalog für politisches Handeln, als einen Rahmen für die politische Auseinandersetzung, der grundsätz-lich inhaltsneutral ist: Demokratie als Verfah-ren.5 So vertrat der Wissenschafter Kelsen „ein juristisches Gegenstandsverständnis, das nicht interdisziplinär ist, und ein juristisches Metho-denverständnis, das im Sinne der Arbeitsteilung sehr wohl interdisziplinär ist.“6 Das heißt aus unserer heutigen Sicht der ausdifferenzierten Wissenschaften, dass sich auch und gerade die Politikwissenschaft mit Rechts- und Verfas-sungsfragen auseinanderzusetzen hat, weil der rechtswissenschaftliche Blick auf Recht, Staat und Verfassung durch die Reine Rechtslehre methodisch stark eingegrenzt ist.7 Aufgabe und Kompetenz der Politologie im Bereich der Verfas-sungsforschung lassen sich somit umschreiben als ideologiekritische Analyse von Verfassungs-gesetzgebung, Verfassungsrechtsprechung und der Relation des B-VG zur „Realverfassung“.
II. Österreichische Verfassungspolitologie. Skizzen
A. Abkoppelungen
Eine Verfassung ist in Inhalt und Form das Pro-dukt eines politischen Prozesses, spiegelt somit die Machtverhältnisse der Gesellschaft wider und ist die „juristische Taufe der Herrschaft“ (Robert Piloty), indem sie deren Ausübung in eine rechtliche Ordnung zwingt, dh der Macht Willkür und Beliebigkeit nimmt und ihr statt-dessen Berechenbarkeit und Stabilität gibt.8 An
5 Vgl Ehs, Das demokratische Prinzip, in: Bezirksmuseum Josefstadt (Hrsg), Hans Kelsen und die Bundesverfassung. Geschichte einer Josefstädter Karriere (Ausstellungska-talog) (2010) 60 ff.6 Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bun-desdeutsche Staatsrechtslehre, in: Gusy (Hrsg), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945 (2003) 354 ff (359).7 Instruktiv: Porsche-Ludwig, Die Abgrenzung der sozia-len Normen von den Rechtsnormen und ihre Relevanz für das Verhältnis von Recht(swissenschaft) und Politik(wis-senschaft) (2007) insb 86 ff.8 Vgl Badura, Stichwort „Verfassung“, in: Kunst (Hrsg), Evangelisches Staatslexikon (1966) Spalte 2343 ff. Allge-mein zu politischem Begriff und -sgeschichte(n) von „Ver-
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die Verzahnung von Recht und Politik durch die „hybride Institution der Verfassung“9 erinnert auch das bekannte Zitat von Ferdinand Lassalle: „Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen sondern Machtfragen.“10 Unter dem Aspekt der Macht11 als zentrale Kategorie eröffnet sich für die wissenschaftliche Erfor-schung der Verfassung ein klar politologisches Terrain. Oder vielleicht sollte man formulieren: es würde sich politologisches Terrain eröffnen. Denn wie Klaus von Beyme zu Recht beklagt, haben Politikwissenschafter verlernt, sich in juristische Materien einzuarbeiten.12 Mitunter haben sie es nicht bloß verlernt, sondern gar nie gelernt, weil die Emanzipation der Politik- von der Rechtswissenschaft und die Szientifizie-rung der Disziplin eine nicht unproblematische Abkoppelung zugunsten einer anti-normativen und nicht-normwissenschaftlichen Ausrichtung des Faches zur Folge hatten,13 die Robert Chris-tian van Ooyen beanstandet: „Eine vermeintlich kritische Politikwissenschaft überlässt daher alles, was irgendwie mit (Verfassungs-) Recht zu tun hat, den Juristen, die in ihrer Betrachtung normativer Fragen von ‚Staat‘, ‚Verfassung‘ und ‚Demokratie‘ zumeist über eine ganz spezifische Sicht der Dinge verfügen – und reproduziert mit diesem ‚blinden Fleck‘ gerade die obrigkeits-staatliche Attitüde der Trennung von Politik und ‚unpolitischem‘ Recht.“14
fassung“ siehe Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache (2010) 363 ff.9 Schuppert, Verfassung und Verfassungsstaatlichkeit in multidisziplinärer Perspektive, in: Badura-FS (2004) 529 ff (545).10 Lassalle, Über Verfassungswesen (1862), in: Lasalle, Gesammelte Reden und Schriften, hrsg v Bernstein, Band 2 (1919) 7 ff (60).11 Zum Macht- als Fundamentalbegriff in Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaften siehe Russell, Macht (1938), (2001); Merriam, Political Power: Its Composition & Incidence (1934).12 Vgl von Beyme, Das Bundesverfassungsgericht aus der Sicht der Politik- und Gesellschaftswissenschaften, in: 50 Jahre Bundesverfassungsgericht-FS, Band 1 (2001) 393 ff (494).13 Für eine Bestandaufnahme der Methodenanwendung in der deutschen Politikwissenschaft, die sich auf Österreich übertragen lässt: Kittel, Eine Disziplin auf der Suche nach Wissenschaftlichkeit. Entwicklung und Stand der Methoden in der deutschen Politikwissenschaft, in: PVS – Politische Vierteljahresschrift 50(3)/2009, 577 ff.14 Van Ooyen, Politik und Verfassung. Beiträge zu einer politikwissenschaftlichen Verfassungslehre, VS 2006, 7. Zur Entwicklung der Politikwissenschaft und ihrer Ent-fremdung vom Recht siehe auch Becker/Zimmerling (Hrsg), Politik und Recht, PVS-Sonderheft 36 (2006),
Doch es gibt kein unpolitisches Recht;15 gerade die Rechtserzeugung ist ein extrem politischer Moment. Die Verfassung dokumentiert die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im Land, sie verfügt über einen Fundus an politischen Ordnungsvorstellungen und jede Novelle ändert ein wenig „die Kerngrammatik des menschli-chen Zusammenlebens“16, gibt somit Zeugnis ab über die politischen Kompromisse im Wandel der Zeit. Erst eine Zusammenschau der rechtlichen und politischen Aspekte, eine Thematisierung des Zusammenhanges zwischen gesellschaftli-cher Entwicklung und Verfassungsentwicklung kann diesen Veränderungen wissenschaftlich gerecht werden.
Jedoch hat Wolfgang Seibel für Deutschland befunden, was – wie weiter unten zu belegen sein wird – in noch größerem Ausmaß für Öster-reich Gültigkeit hat: „Verfassungsfragen gelten in Deutschland allerdings als Juristenfragen, in der Politikwissenschaft wird dies in der Form partieller Selbstentmündigung weitgehend hin-genommen.“17 Diese Selbstentmündigung der Politikwissenschafter gibt ein allgemeines Ver-fassungsbewusstsein wieder und findet statt, obwohl Juristen sich zumeist nur mit Verfas-sungsdogmatik, kaum mit allgemeiner Verfas-sungslehre beschäftigen – schon gar nicht in Österreich, wo sich mangels Inkorporationsge-bot die fugitiven Verfassungsbestimmungen18 trotz der Bereinigung im Jahr 2008 durch die B-VG-Novelle (BGBl I 2/2008) offenbar einer
darin insbesonders die Beiträge der Herausgeber (9 ff) sowie von Maus (76 ff).15 Zum juristischen Diskurs der Selbstbeschreibung als „unpolitisch“ siehe Schmidt, Sichtbares Recht und unsichtbare Politik. Zur Auseinandersetzung zwischen staatsrechtlichem Positivismus und Verfassungspolitolo-gie, in: Brodocz et al (Hrsg), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust (2005) 213 ff.16 Höffe, Vortrag „Rechtsphilosophie als politische Phi-losophie“, gehalten am 25. September 2008, Tagung der deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, Tübingen.17 Seibel, Suchen wir immer an der richtigen Stelle? Einige Bemerkungen zur politikwissenschaftlichen For-schung nach dem Ende des Kalten Krieges, in: Politische Vierteljahresschrift 44(2)/2003, 217 ff (221). Zur sel-ben Einschätzung, allerdings aus dem Blickwinkel der Rechtswissenschaft, kam bereits in den 1970ern Grimm, Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik und der Beitrag der Politikwissenschaft, in: Grimm (Hrsg), Die Zukunft der Verfassung (1978) 336 ff.18 Siehe dazu das berühmt gewordene Bild von der öster-reichischen Verfassung als „Ruine“ bei Klecatsky, Bun-des-Verfassungsgesetz und Bundesverfassungsrecht, in: Schambeck (Hrsg), Das österreichische Bundes-Verfas-sungsgesetz und seine Entwicklung (1980) 83 ff.
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gesamttheoretischen Betrachtung entziehen. Die Reflexionsdisziplin der Verfassungslehre, die als Grundlagenfach an den juridischen Fakultäten ohnehin den Stellenwert einer „Jurisprudenz-folkore“19 hat, könnte jedoch im politikwissen-schaftlichen und im staatsbürgerlich bildenden Kontext genutzt werden, um normwissenschaft-liche Informationen über die Verfassung zu kommunizieren, um sich über das österreichi-sche politische System zu verständigen, um „sich über Sinn und Zweck, Warum und Wozu der Verfassung zu orientieren, ohne gleichzei-tig das genaue Wie, ohne die ebenso eigentüm-liche wie komplexe Rechtstechnik durchschauen oder betätigen, ohne also das entsprechende Verfügungswissen besitzen und einsetzen zu müssen“20 – letztlich um der Politik im Recht zu mehr Sichtbarkeit, dem Herrschaftssystem somit zu mehr Transparenz zu verhelfen, wie es dem demokratischen Verfassungsstaat gebührt.
Verfassungstechnik ist Handwerk von Juristen, doch Verfassungstheorie, Verfas-sungsgeschichte und -entwicklung, damit Ver-fassungspolitik sowie Verfassungsvergleich sind Einfallstore für die Politikwissenschaft im Sinne einer transdisziplinären Zusammen-arbeit. Im besten Fall ist diese politologische Untersuchung der Verfassung – eine Verfas-sungspolitologie – eingebettet in ein multidis-ziplinäres Forschungsprogramm, wie es zum Beispiel Gunnar Folke Schuppert angedacht hat, der in Weiterentwicklung der alten Staats-wissenschaften die heutigen Fachdisziplinen Rechts-, Politik- und Kulturwissenschaften sowie Geschichte und Ökonomie verbunden sehen will.21 In Anlehnung an die anglo-ame-rikanische Tradition der constitutional studies könnte man disziplinenübergreifend von Ver-fassungswissenschaft als Grund- und Integra-tivwissenschaft sprechen.
19 Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein … Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis (2006) insb 1 ff.20 Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung. Eine Standortbestimmung der Verfassungstheorie, Schön-burger Gespräche zu Recht und Staat, Band 12 (2009) 72.21 Schuppert, Staatswissenschaft (2003). Dazu bereits grundlegend: Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre (1963). Zu ähnlichen Überlegungen einer „neuen Staatswissenschaft“ siehe Ehs, Über die Ursprünge österreichischer Politikwissenschaft. Ein Blick zurück im Bologna-Jahr 2010, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 39(2)/2010, 223 ff.
B. Desiderata österreichischer Politikwissenschaft
Im Folgenden werden der politikwissenschaftli-che Part einer Verfassungswissenschaft behan-delt und mit den Forschungsbereichen einer Verfassungspolitologie zugleich Desiderata der österreichischen Politikwissenschaft aufgezeigt:
Ausgangspunkt einer politikwissenschaftli-chen Verfassungsanalyse wären wohl die Bau-gesetze, sowohl die ideell-theoretischen und historisch-gesellschaftlichen Grundlagen, ihr Entstehungszusammenhang, als auch ihre lau-fende Weiterentwicklung, hierbei insbesondere die demokratiepolitische Verfassungserneue-rung. Diese würde aktuell zum Beispiel The-men wie die Herabsetzung des Wahlalters, die Erweiterung direktdemokratischer Instrumente oder die Debatten um das sogenannte „Aus-länderwahlrecht“, sowie hinsichtlich des libe-ralen Prinzips den Bereich der Menschen- und Bürgerrechte umfassen. Bezüglich des rechts-taatlichen Prinzips wären Veränderungen im Rechtsschutzsystem zu untersuchen.
Hinzu kämen Fragen nach der Bedeutung der Rechtsprechung für das politische System Österreichs, vor allem hinsichtlich des Verfas-sungsgerichtshofs. Denn Verfassungsinterpreta-tion (und somit -fortbildung) ist seit dem B-VG 1920 nicht mehr allein Sache der wissenschaft-lichen Theorie, sondern Praxis des Verfas-sungsgerichtshofes. Der VfGH ist im Sinne der Gewaltenteilung einer von mehreren „Hütern der Verfassung“ und damit ein Element des politischen Prozesses22; folglich sind Doktrin und Praxis des VfGH umso mehr politikwissen-schaftlich zu untersuchen. Eine Analyse entlang judicial self restraint und judicial activism23 des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, also darüber, ob und wie kreativ das Höchstge-richt judiziert, letztlich wieviel Politik der VfGH macht und wie und warum sich die Praxis im Laufe der Zeit gewandelt hat, wäre im Sinne der Auseinandersetzung mit Machtfragen eine explizit politologische Aufgabe; gerade hin-sichtlich des Faktums, dass die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Grundordnung weitge-hend eine Schöpfung von Lehre und Judikatur
22 Näher van Ooyen (Hrsg), Hans Kelsen: Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (2008).23 Aufschlussreich: Holoubek, Wechselwirkungen zwi-schen österreichischer und deutscher Verfassungsrecht-sprechung, in: Merten (Hrsg), Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich, Schriften zum Europäi-schen Recht, Band 137 (2008) 85 ff, insb 110 f.
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ist.24 Eine international vorbildhafte Analyse zu diesem Themenkomplex stammt beispielsweise vom britischen Politologen David Robertson, der Erkenntnisse von Verfassungsgerichten als angewandte politische Theorie versteht.25
Es wäre seitens einer ideologiekritischen Poli-tikwissenschaft zu reflektieren, dass der VfGH politisch ist, dass die Aufgabe des VfGH, die Garantie der Verfassung, also die Machtkontrolle – „der Ausübung der Macht rechtliche Schran-ken zu setzen. Verfassungsgarantie bedeutet: Sicherheit dafür zu schaffen, daß diese Rechts-schranken nicht überschritten werden“26 – eine (auch-)politische Tätigkeit ist.27 Eine unpoliti-sche, über allen Niederungen der Parteipolitik schwebende Verfassungsgerichtsbarkeit erwiese sich dann als bloße Illusion oder bewusste Ver-schleierung von Macht. Hans Kelsen, der ja den Verfassungsgerichtshof als sein persönlichstes Werk betrachtete28, hat Verfassungsgerichts-barkeit wegen ihrer hohen legislativen shaping power immer als primär politische Gesetz-gebung verstanden, weswegen das Politische besser offen einzubeziehen wäre: Zum Beispiel plädierte er aus (partei-)pluralistischer Sicht für die Bestellung und Zusammensetzung des Gerichts auch mittels parlamentarischer Wahl.29 Verfassungspolitologische Untersuchungen zur Bestellung der VfGH-Richter/innen könnten die bestehende juristische Literatur30 weiterent-
24 Beachte dazu allein die Zitierpraxis des VfGH, näher: Öhlinger, Stil der Verfassungsgesetzgebung – Stil der Verfassungsinterpretation, in: Adamovich-FS (1992) 502 ff. Zum Verhältnis zwischen Lehre und Judikatur siehe – allerdings aus deutscher Sicht – Schlink, Die Ent-thronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Ver-fassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28/1989, 161 ff; Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrecht-sprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, in: Juristenzeitung 62(4)/2007, 157 ff.25 Robertson, The Judge as Political Theorist: Contempo-rary Constitutional Review (2010).26 Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, in: Die Jus-tiz, Band VI (1930/31) 576 ff (577).27 Vgl Barfuß, Die „politische“ Komponente des öster-reichischen Verfassungsgerichtshofs, in: Adamovich-FS (1992) 1 ff.28 Vgl Kelsen, Autobiographie (1947), in: Jestaedt (Hrsg), Hans Kelsen im Selbstzeugnis (2006) 31 ff (70).29 Vgl Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichts-barkeit, VVDStRL 5 (1929) 30 ff, insb 56 f.30 Maßgebend bereits Klecatsky, Über die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der österreichischen Verfas-sungsgerichtsbarkeit, in: Geiger-FS (1974) 925 ff, sowie Neisser/Schantl/Welan, Betrachtungen zur Verfassungs-gerichtsbarkeit, in: Österreichische Juristen-Zeitung 27(23)/1972, 623 ff; in jüngerer Zeit zum Beispiel Schern-thanner, Der Verfassungsgerichtshof und seine Unabhän-
wickeln und etwa die immer wieder erhobenen Forderungen nach „Objektivierung“ – bisweilen „Entpolitisierung“31 – der Richterauswahl, nach Abhaltung von Hearings und Einführung einer (veröffentlichten) dissenting opinion unter dem Aspekt (partei-)politischer Machtkonstellatio-nen hinterfragen.
Weiters fehlen in diesem Bereich Studien zur österreichischen Verfassungsentwicklung und Verfassungsrechtsprechungsentwicklung ange-sichts des europäischen Integrationsprozesses und der Ausarbeitung einer „EU-Verfassung“. Einerseits wäre die Konstitutionalisierung, also der Prozess des Verfassungsmachens in sei-ner Rückwirkung auf die österreichische Ver-fassung und höchstgerichtliche Judikatur zu untersuchen, indem man fragt, inwiefern „die Autorität der konstitutionalisierten Verfas-sung eine andere ist als die einer Verfassung, wie wir sie bislang kannten“32. Es ginge hierbei um eine Auseinandersetzung mit den Chancen und Gefahren eines „politisch entleerten Ver-fassungsbegriffs“33 hinsichtlich der Autonomie des Politischen in Anbetracht der in Auflösung begriffenen räumlichen Autorität des National-staates. Andererseits müsste vergegenwärtigt werden, dass die EU eigentlich nur mittels Geset-zen und EuGH-Entscheidungen regieren kann, kaum durch Steuern, Umverteilung oder durch Command and Control-Regulierung. Das bedeu-tet, ihre Herrschaft ist äußerst normenzentriert und letztlich bei den Höchstgerichten angesie-delt, auch beim österreichischen Verfassungs-gerichtshof. Dieser hat immerhin die Aufgabe, die Umsetzung und Implementierung von EU-Recht durch nationale Behörden zu beaufsich-tigen. Hieran anknüpfend wäre die Bedeutung des EuGH für Europäisierung und Konstitu-tionalisierung zu erheben. Denn was wir heute
gigkeit, in: Österreichische Juristen-Zeitung 35(17)/2003, 621–627, und Heller, Der Verfassungsgerichtshof. Die Ent-wicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart (2010) insb 201 ff und 360 ff.31 Noch immer lesenswert Merkl, Der „entpolitisierte“ Verfassungsgerichtshof, in: Der österreichische Volkswirt 23(19)/1930, 510 ff.32 Somek, Die Verfassung im Zeitalter ihrer transnatio-nalen Reproduzierbarkeit. Gedanken zum Begriff der Konstitutionalisierung, Vortrag bei der Friedrich Ebert Stiftung Berlin, November 2009, online auf http://somek.org/Downloads/Berlin2009.pdf (22.10.2010) 3.33 Wahl, Verfassung jenseits des Staates, in: Hochhuth (Hrsg), Nachdenken über Staat und Recht, Wissenschaft-liche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Band 59 (2010) 107 ff (133).
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in der „EU-Verfassung“ vorfinden, ist haupt-sächlich eine Kodifizierung dessen, was in den vergangenen 50 Jahren in Luxemburg judiziert wurde.34 Jene Integration durch EuGH-Recht-sprechung wäre unter dem Aspekt der demokra-tischen Legitimität politologisch zu betrachten. Anschlussfähige Untersuchungen sind zum Bei-spiel jene des Politikwissenschafters Alec Stone Sweet, der eine vergleichende neofunktionalis-tische Analyse der Rechtspolitik entwickelt35, oder von den Politologen des Max Planck-Ins-tituts für Gesellschaftsforschung, allen voran Martin Höpner36.
Um Machtfragen und damit politikwissen-schaftlich zu untersuchende Aspekte ginge es ferner bei einer Analyse der allgemeinen Ver-fassungsreformpolitik, insbesondere einer immer wieder in Aussicht gestellten Grund-rechtsreform. In diesem Zusammenhang wäre ebenso nach dem Kulturgehalt der Verfassung, nach der je politisch-kulturellen Grundierung des Verfassungsrechts zu fragen37, etwa nach der Funktion (und dem Fehlen) eines Grund-rechtskatalogs, von Präambeln (und dort veran-kerten Gottesanrufungen) oder (ausdrücklichen oder verdeckten) als „Werte“ umschriebenen Erziehungszielen (wie Toleranz, Solidarität etc), sowie nach politischen Symbolen als Identitäts-momenten. Das heißt, neben der instrumentel-len wäre auch die symbolische Funktion38 der Verfassung Gegenstand politikwissenschaftli-cher Analyse, nicht nur um bestimmte Leitideen sozialer und politischer Ordnung aus der juris-tischen Verdichtung des Verfassungstextes zu interpretieren, sondern auch um so manch iden-titätsstiftende Elemente (Stichwort: [fehlender] Verfassungspatriotismus) zu begreifen. Dazu gehörten etwa Untersuchungen über das poli-
34 Vgl Lenaerts/Desomer, Bricks for a Constitutional Treaty of the European Union: Values, Objectives and Means, in: European Law Review 27/2002, 377 ff.35 Zum Beispiel: Stone Sweet, A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems (2008), sowie Stone Sweet, Governing with Judges: Constitutio-nal Politics in Europe (2000).36 Aktuell: Höpner, Warum betreibt der Europäische Gerichtshof Rechtsfortbildung? Die Politisierungshypo-these, in: Sozialer Fortschritt 59(5)/2010, 141 ff; Höpner, Von der Lückenfüllung zur Vertragsumdeutung. Ein Vor-schlag zur Unterscheidung von Stufen der Rechtsfort-bildung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), in: Der Moderne Staat 3(1)/2010, 165 ff.37 Vgl Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft2 (1998) insb 83 ff.38 Neben den efficient parts also auch die dignified parts, um an Walter Bagehots Differenzierung anzuknüpfen (Bagehot, The English Constitution [1867]).
tische Wie und Warum der stetig blumiger und programmatischer werdenden Verfassung: 1920 fehlten Staatszielbestimmungen fast noch voll-ständig. Später wurden diese „Verfassungsauf-träge“ in großer Zahl aufgenommen, wie etwa der Rundfunk als öffentliche Aufgabe (1974), der umfassende Umweltschutz (1984), die Gleich-behandlung von Behinderten (1997) oder die Gleichstellung von Mann und Frau (1998). Auch andere, nicht-judiziable, lediglich „schöne“ Pas-sagen wie beispielsweise Art 14 Abs 5a B-VG, wonach „Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den Menschen…Grund-werte der Schule“ seien, hatten im ursprüngli-chen Verfassungstext ebensowenig verloren wie die symbolpolitische, 1981 als Art 8a B-VG ver-ankerte Bestimmung über Fahne und Wappen der Republik.39
Weiters wäre die Diskrepanz zwischen nor-mativer und faktischer Verfassung, zwischen Verfassung(sanspruch) und Verfassungswirk-lichkeit politikwissenschaftlich zu erheben. Hierbei würde in akteurs- und/oder institutions-zentrierter Analyse das gegenwärtige österrei-chische politische System vor dem Hintergrund der Verfassungsbestimmungen untersucht, idealiter in vergleichender und insbesondere historischer Kontextualisierung. Denn ohne einen Blick in die verfassungsrechtlichen Aus-gangsbedingungen und verfassungstheoreti-schen Kontroversen ist die politische Geschichte Österreichs nur unzureichend zu verstehen und nicht akkurat wissenschaftlich zu unter-suchen. Die Lektüre des Verfassungstextes im Wandel gäbe Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen des Gesetz-gebers und damit der Gesellschaft zur Zeit der jeweiligen Verfassungsgesetzwerdung. Folglich ist beispielsweise der berühmte Kommentar von Kelsen, Fröhlich und Merkl eine wichtige Quelle zum Verständnis der historischen Grundlagen österreichischer Politik. Nicht umsonst wurde dieses Werk 2003 neu aufgelegt und damit nicht nur „der juristischen Öffentlichkeit wieder zur Verfügung gestellt“40, sondern ebenso der Poli-tikwissenschaft besser zugänglich gemacht.
39 Vgl Olechowski, Über Wert und Unwert von Verfas-sungspräambeln, in: Ehs (Hrsg), Hans Kelsen und die Europäische Union. Erörterungen moderner (Nicht-)Staatlichkeit (2008) 75 ff (83).40 Walter, Vorwort, in: Kelsen/Froehlich/Merkl (Hrsg), Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (Nachdruck 2003) 3.
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Außerdem müssten auf einer Metaebene Ver-fassungsverständnis und Verfassungskultur hinterfragt und somit der Wandel der Verfas-sungsfunktion thematisiert werden. Hierbei ginge es hauptsächlich um die Analyse der poli-tischen Implikationen der Umfunktionierung vom ursprünglichen Spielregelkatalog des B-VG 1920 zu einem System, in dem Verfassungsrecht dazu herangezogen wurde, großkoalitionäre Kompromisse der einseitigen Abänderung – und der Kontrolle durch den VfGH – zu entziehen41, respektive gegenwärtig um eine Untersuchung der Instrumentalisierung von Verfassungsrecht für parteipolitische Machtdemonstrationen gegenseitiger Paralysierung mittels Verweige-rung der für Verfassungsgesetze notwendigen Mehrheiten.
All dies eben Genannte müsste nicht nur natio-nal, sondern ebenso im Vergleich mit anderen Staaten untersucht werden.42 Ein unter diesem Aspekt bis heute uneingeholtes Standardwerk ist Karl Loewensteins Verfassungslehre, worin er „die Bedeutung der Verfassung innerhalb des Prozesses der politischen Macht“43 untersuchte.
Eine solcherart betriebene Politologie, die den Bereich der Normativität – darunter ver-stehe ich ein aufklärerisch hinterfragtes, streng begründbares oder sich um Begründbarkeit doch bemühendes Sollen44 – nicht vernachläs-sigt, knüpft weiterführend an die uralte Frage danach an, wie wir als Menschen ein gutes, ver-nünftiges Leben miteinander führen können. So definierte schon Ernst Fraenkel als Studienob-jekt der Politikwissenschaft, „ob und wie sich in der Verfassungswirklichkeit das den Verfas-sungsnormen zugrundeliegende Modell einer politischen Ordnung realisieren lässt, die glei-cherweise den Anforderungen einer autonom
41 Vgl Öhlinger, Verfassungskern und verfassungsrechtli-che Grundordnung, in: Pernthaler-FS (2005) 273 ff (275). Funk spricht gar von der „politischen Praxis des Verfas-sungsvandalismus“: Funk, Formenmißbrauch und Verfas-sungsumgehung durch die Legislative. Ein Problem im Spannungsfeld von formellem und materiellem Verfas-sungsverständnis, in: Klecatsky-FS (1990) 67 ff (78).42 Auf dem Gebiet der Komparatistik ist die Politik- der Rechtswissenschaft bereits ein weites Stück voraus, macht doch die vergleichende Systemlehre seit jeher einen gro-ßen Teil der politologischen Forschung aus, wohingegen die Verfassungsvergleichung oftmals ein Nischendasein als „Korollarwissenschaft“ (Wieser, Vergleichendes Ver-fassungsrecht [2005] V) fristet.43 Loewenstein, Verfassungslehre (1959) IV.44 Vgl Hochhuth, Nüchtern und klar trotz Postmoderne, in: Hochhut, Nachdenken über Staat und Recht, Wissen-schaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Band 59 (2010) 11 ff (13).
pluralistischen Demokratie und eines sozialen Rechtsstaates gerecht wird.“45 Hierbei schließt die moderne empirische Politikwissenschaft wiederum an die klassische Philosophie an, die nach einer menschenwürdigen Ordnung des Gemeinwesens sucht und hierfür unter anderem die geltende rechtliche Grundordnung, die Ver-fassung, zum Analysegegenstand hat.
III. Gretchenfrage an Politologen: Wie hältst Du’s mit der Verfassung?
Bislang habe ich – gestützt auf Untersuchungen zur deutschen Politikwissenschaft und eigene Erfahrung – bloß unterstellt, Verfassungswis-senschaft würde ebenso in Österreich allein von Juristen betrieben, die politologische Frage-stellungen im besten Fall „berücksichtigen“46. Bereits ein flüchtiger Blick in die Kommunika-tion über Verfassungsfragen, die in Funk und Fernsehen beinahe täglich thematisiert werden, bestätigt meine Behauptung. Denn in den Medien kommen in der überwiegenden Zahl der Inter-views Verfassungsjuristen zu Wort, sodass man annehmen muss, es gäbe keine explizit polito-logische Verfassungsexpertise. Um meine These allerdings einer Überprüfung zu unterziehen und zugleich eine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des B-VG für die österreichische Politikwissenschaft zu erhalten, erhob ich den Status quo politologischer Lehre und Forschung zum Stichtag 1. August 2010. Dazu konzentrierte ich mich auf die aktuellen Forschungsschwer-punkte der drei Studienstandorte Innsbruck, Salzburg und Wien, auf die politologischen Dis-sertationen der letzten Jahre sowie auf die aktu-ell online verfügbaren Vorlesungsverzeichnisse im Bachelor- und Masterprogramm:
45 Fraenkel, Politikwissenschaft und Gesellschaft, in: Der Politologe, Jahrgang 4, Nummer 12 (Feber 1963) 3.46 Ein österreichischer Klassiker: Adamovich/Funk, Österreichisches Verfassungsrecht. Verfassungsrechts-lehre unter Berücksichtigung von Staatslehre und Poli-tikwissenschaft2 (1984). Seit 1997 wird diese Reihe allerdings von einem vergrößerten Autorenkonsortium unter dem Titel „Österreichisches Staatsrecht“ und ohne politikwissenschaftlichen Zusatz fortgeführt. Zum Ver-gleich eine deutsche Koryphäe mit am Umschlagbild klein gedruckter Politikwissenschaft: Zippelius, Allge-meine Staatslehre. Politikwissenschaft, Reihe Juristische Kurz-Lehrbücher16 (2010).
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A. Politologische Forschung an den Studienstandorten
Die Forschungsbereiche, so wie sie auf den Web-sites der Institute verlautbart sind, umfassen in der bekannten Trias Politics-Polity-Policy die üblichen, seit den 1970er-Jahren etablier-ten Teilgebiete der Politikwissenschaft47 (poli-tisches System Österreichs, vergleichende Politikwissenschaft, internationale Beziehun-gen, politische Theorie und Ideengeschichte, politische Ökonomie, empirische Sozialfor-schung und Statistik), heute erweitert um Gen-der Studies, Europäische Integration und etliche „Bindestrich-Politologien“48. Allerdings ist die Polity-Forschung gegenüber Politics- und Poli-cy-Untersuchungen deutlich seltener vertreten. Ein gar explizit auf Verfassungswissenschaft bezogener Forschungsbereich findet sich an kei-nem der drei Standorte; auch die Österreichische Gesellschaft für Politikwissenschaft verzeich-net keine entsprechende Sektion. Expertise in Verfassungsfragen, meist hinsichtlich demo-kratiepolitischer Verfassungserneuerung und EU-Verfassung, gibt es jedoch in bestimmten Spezialisierungssegmenten der Politics- und Policy-Forschung, etwa bei Minderheiten- und Migrationspolitik, politischer Partizipation, Citizenship, Parteien- und Wahlforschung49, sowie als kulturwissenschaftlichen Ansatz50. Solch Fachwissen, das gleichsam nebenher auch verfassungspolitologische Kenntnisse trans-portiert, findet sich sowohl im universitären als auch außeruniversitären (z. B. am Zentrum für Angewandte Politikforschung, Institut für Höhere Studien oder Zentrum Sozialwissen-
47 Vgl etwa Berg-Schlosser/Stammen, Einführung in die Politikwissenschaft7 (2003), die der „traditionellen Poli-tikwissenschaft“ zwar durchaus Platz widmen, über eine politologische Verfassungswissenschaft dennoch kein Wort verlieren.48 van Ooyen (FN 14) 44.49 Wahl- und Parteienforschung sind exakt jene Teilbe-reiche, in denen die österreichische Politikwissenschaft methodisch am stärksten profiliert und innovativ ist (vgl jüngst etwa AUTNES – Austrian National Election Study http://www.autnes.at/). Offenbar trägt dieses Selbstbe-wusstsein der disziplinär autonomen Methodenentwick-lung dazu bei, sich auch wieder vergleichsweise stärker mit Rechts- und Verfassungsfragen auseinanderzusetzen, sich also nicht länger krampfhaft um Abgrenzung von den Rechtswissenschaften bemühen zu müssen.50 Zum cultural turn in der deutschen Politikwissenschaft, der kulturwissenschaftlichen Verfassungsanalysen auch in Österreich einigen Auftrieb verlieh, siehe Brodocz, Die symbolische Dimension der Verfassung. Ein Beitrag zur Institutionentheorie (2003).
schaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) Bereich.
B. Dissertationsthemen
Jene Beschränkung der aktuellen politikwissen-schaftlichen Forschungsgebiete auf eine Ausei-nandersetzung mit Verfassungsfragen als (mehr oder weniger unumgängliche) Nebenschiene setzt sich beim wissenschaftlichen Nachwuchs fort: Eine Erhebung der in den Jahren 2000 bis 2010 an den drei Studienstandorten appro-bierten Dissertationen unter dem Suchbegriff51 „Verfassung“ zeigt, dass die Arbeiten sich kaum mit dem B-VG auseinandersetzen. So sich die Studierenden überhaupt an Verfassungsthemen heranwagten, dann meist an die EU-Verfassung (oft diskursanalytisch, zum Beispiel Cornelia Bruell, Salzburg 2008) oder an ausländische Verfassungen, insbesondere unter demokratie-politischen und grundrechtlichen Aspekten, etwa zur Minderheitenpolitik und Rechtskul-tur der USA (Bettina Scholdan, Wien 2005), zur Rolle der ungarischen Minderheit in der Slo-wakei (Marion Rasek, Wien 2002) oder zur Ent-wicklung von Parlamentarismus und Wahlrecht in Tunesien (Abdeslem Jledi, Wien 2002) – offen-bar Themen, die als nicht von österreichischen Juristen besetzt wahrgenommen werden.
Hingegen finden sich im selben Zeitraum zahlreiche rechtswissenschaftliche Disserta-tionen zum Stichwort „Verfassung“, die – the-matisch, nicht methodisch – sehr wohl auch politologische Aspekte beinhalten, zum Beispiel über den zivilen Widerstand gegen den Transit-verkehr in Tirol (Christina Dander, Innsbruck 2007), über die EU-Sanktionen gegen Österreich (Christian Warum, Innsbruck 2004), über euro-päische Verfassungs- und Demokratietheorie mit einem Blick auf Sozialpolitik (Hermann Wil-helmer, Wien 2003), Schubhaft gemäß Fremden-gesetz (Thomas Neugschwendtner, Wien 2002), Verbotsgesetz (Felix Müller, Wien 2002), mehrfa-che Staatsangehörigkeit (Wolfgang Gabler, Wien 2001) oder Behindertenpolitik (Robert Bechina, Salzburg 2001).
Besonders auffällig ist schließlich, dass Unter-suchungen verfassungspolitologischer Themen hauptsächlich dort vorgenommen werden, wo es Politikwissenschaft als Studienfach gar nicht gibt, nämlich an der Universität Graz. Allein im Jahr 2010 wurden dort Abschlussarbeiten zu
51 Dissertationsdatenbank http://media.obvsg.at/dissdb (01.08.2010).
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Verfassungsfragen von e-Voting, Minderheiten-schulwesen in Kärnten und im Burgenland, Ein-satz ausländischer Polizeikräfte in Österreich während der Euro 2008, Verhältnis des Bun-despräsidenten zur Gesetzgebung usw verfasst. Die Karl Franzens-Universität hat zwar keine Studienrichtung Politikwissenschaft, aller-dings eine Abteilung für Politikwissenschaft, Allgemeine Staats- und Verfassungslehre am Institut für Öffentliches Recht eingerichtet und bietet seit dem Wintersemester 2010/11 gar ein Doktoratsprogramm Öffentliches Recht und Politikwissenschaft. Das heißt, an der „Grazer Schule der Politikwissenschaft“ betreuen wie-derum ausgebildete Rechtswissenschafter (teils mit postgradualer politikwissenschaftlicher Zusatzqualifizierung) politologische Themen, verwirklichen gleichsam „Juristenpolitologie“ (Wolfgang Mantl)52 wie die Staats- und Verfas-sungslehrer der Ersten Republik.
Jene Rechtswissenschafter der Zwischen-kriegszeit waren damals bahnbrechend, weil sie sich allenfalls zur Hälfte auf dem rein juristi-schen Gebiet des Verfassungsrechts bewegten, in weiten Teilen jedoch der politischen Theorie und Ideengeschichte, zuletzt auch einem soziolo-gischen Zugang verpflichtet waren53 – und damit den politischen Aspekt des Rechts, den Macht-faktor, wissenschaftlich sichtbar machten. Doch heute, nach etlichen Studienplanreformen, sind Jus-Studierende weder zur Absolvierung (natio-nal-)ökonomischer noch soziologischer, schon gar nicht politik- oder anderer gesellschaftswis-senschaftlicher Fächer verpflichtet und selbst in den methodischen und historischen Grundlagen der eigenen Disziplin haben sie stets weniger Stunden zu belegen. Es mangelt somit oft an ideologiekritischer, politischer Bildung, dem-nach an jenem Bereich, in dem die Stärke eines
52 Dazu aus Grazer Innensicht: Marko/Handstanger, The interdependence of law and political science: About the „essence and value“ of a „Juristenpolitologie“-approach, in: ICL-Journal 3(2)/2009, 66 ff. Vergleiche mit Graz bis 2006 die Universität Innsbruck mit dem Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre, als es noch als Institut für Öffentliches Recht und Politikwis-senschaft (ab 1999 mit dem Zusatz des Finanzrechts) geführt wurde und thematisch verfassungspolitologische Dissertationen wie beispielsweise zur österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld von Recht und Politik (Andergassen, 2004) oder zu Verwaltungs-organisation und Verfahrensbeschleunigung (Schneider, 2004) hervorbrachte. Die Brücke zwischen Rechts- und Politikwissenschaft war personalisiert durch Fried Ester-bauer, nach dessen Tod im Jahr 2004 das Institut umbe-nannt wurde.53 Vgl van Ooyen (FN 14) 7.
Dialogs mit der Politikwissenschaft läge, sofern sich diese wiederum der Auseinandersetzung mit rechtlichen Fragen öffnete.
C. Studienpläne
An dieser unzureichenden politologischen Expertise zu Verfassungsfragen in Österreich scheint sich in nächster Zukunft nicht viel ändern zu können, wie ein Blick in die Vor-lesungsverzeichnisse und Studienpläne verrät: Das Innsbrucker Bachelorstudium beinhaltet zwar neuerdings54 das Wahlmodul Rechtswis-senschaften für Politikwissenschaft, hierbei eine einstündige Vorlesung Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre. Einführung und Über-blick über die Staats- und Verfassungslehre, doch eben nicht als verpflichtend zu belegen-des Fach. In Salzburg gibt es Verfassungsrecht verpflichtend als einführende Lehrveranstal-tung der Grundlagen aus Nachbardisziplinen in Form der zweistündigen Vorlesung Grundla-gen des Staatsrechts.55 Das Wiener BA-Studium bietet verpflichtend in der STEP II (Studien-eingangsphase) eine Einführung in das sozial-wissenschaftliche Arbeiten mit Schwerpunkt Politikwissenschaft, hierin in drei Einheiten den Themenblock Politik und Recht. Eine frei-willige Vertiefung in Rechts- und Verfassungs-fragen kann nun, erstmals im Studienjahr 2010/1156, über sogenannte Erweiterungscurri-cula (EC, im Umfang von insgesamt 60 ECTS) gewählt werden, zum Beispiel Einführung in die Rechtswissenschaften (für Studierende nicht-juristischer Fachrichtungen), weiterführend die EC Internationales Recht, Öffentliches Recht – Rechtsstaat, Demokratie und Verwaltung oder Recht im historischen, gesellschaftlichen und philosophischen Kontext, allesamt koordiniert von der Studienprogrammleitung Rechtswis-senschaft und abgehalten von Juristen.
Gefragt nach der Bedeutung des B-VG muss sich die österreichische Politikwissenschaft eingestehen: Die Verfassung fungiert als Hin-tergrundgeräusch, wird als Voraussetzung von Politik und damit von Politikwissenschaft zwar wahrgenommen, erfährt aber meist nur sekun-däre Beachtung und Betrachtung, ist bereits
54 Vgl MB der Universität Innsbruck v 15. April 2009, 65. Stück, Nr 255.55 Vgl MB der Universität Salzburg v 18. Dezember 2008, 13. Stück, Nr 34.56 Vgl MB der Universität Wien v 21. Juni 2010, 29. Stück, Nr 158.
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durch die rechtswissenschaftliche Methodik und Expertise gefiltert. Verfassungswissen-schaft ist demnach kein Teilbereich österrei-chischer Politologie, wird in Forschung und Lehre den Rechtswissenschaftern überlassen, was deren Dominanz perpetuiert. Somit lässt man eigentlich politikwissenschaftliche Gegen-standsbereiche weiterhin von der Rechtswissen-schaft wie zu den Hochzeiten der Allgemeinen Staatslehre mitverwalten, als hätte eine metho-dische und dadurch disziplinäre Ausdifferen-zierung nie stattgefunden.
Selbst die Kooperationsbereitschaft der Poli-tikwissenschaft zu inter-/transdisziplinärer Zusammenarbeit mit Juristen ist äußerst gering. Dies wird traditionell der bereits erwähnten spät erfolgten universitären Institutionalisie-rung der Politikwissenschaft und der damit einhergehenden Emanzipation der Politik- von der Rechtswissenschaft sowie ihrer Suche nach Wissenschaftlichkeit zugeschrieben. „Jeder Ansatz zu interdisziplinärem Arbeiten wurde so als Regression zum abgelebten Zustand man-gelnder wissenschaftlicher Ausdifferenzierung und als Kotau vor rechtswissenschaftlicher Hegemonie beargwöhnt“57, reflektiert Ingeborg Maus die politologische Idiosynkrasie gegen alle juridischen Aspekte ihrer Forschungsbereiche. Zwar hat die Politikwissenschaft als sogenannte „welcoming discipline“58 eher Methoden aus den Nachbardisziplinen importiert, als spezifisch eigene zu entwickeln; doch im Prozess der Szien-tifizierung, die mit einer theoriegeleitet-empiri-schen Perspektive gleichgesetzt wurde, handelte es sich hierbei um Anleihen aus Ökonomie und Soziologie, nicht aus den Rechtswissenschaften, deren Wissenschaftlichkeit ohnehin oft in Frage gestellt wird.
Die Rechtswissenschaft wiederum behaup-tet entgegen aller studienrechtlichen und lehr-planmäßigen Entwicklungen ihren Status als studium generale. Dabei erfolgt die juristische Grundausbildung heute längst nicht mehr als Unterweisung in Jurisprudenz, sondern als Ver-mittlung von Rechtskenntnis, also als Rechts-kunde.59 Während die Jurisprudenz nicht nur
57 Maus, Das Verhältnis der Politikwissenschaft zur Rechtswissenschaft. Bemerkungen zu den Folgen polito-logischer Autarkie, in: Becker/Zimmerling, Politik und Recht, PVS-Sonderheft 36 (2006) 76 ff (76 f).58 Beck, Political Methodology: A Welcoming Disci-pline, in: Journal of the American Statistical Association 95/2000, 651 ff.59 Die aus diesem Mangel entstehenden Probleme erkennend rufen Heinz Barta und Michael Ganner zur
am geltenden Gesetz orientiert ist, sondern dieses stets hinterfragt und kritisiert, also ein Verständnis für die hinter einer konkreten Regelung stehenden gesellschaftlichen Prob-leme, ihre Entstehungsgeschichte, die mit ihr verfolgten politischen Zielvorstellungen und ihre Auswirkungen hat, ordnet die Rechtskunde bloß Sachverhalte in den rechtlichen Kontext.60 Mit der Zurücknahme jurisprudentieller Fächer in der Rechtswissenschaft eröffnete sich für die Politikwissenschaft ein immenses Spektrum an Aufgabengebieten.
IV. Besonderheiten österreichischer Verfassung(swissenschaft)
Die Gründe für das Fehlen österreichischer Verfassungspolitologie sind jedoch vielleicht nicht allein in den oben genannten Aspekten zu suchen. Neben der konsequenten selbstkriti-schen Hinterfragung in Bezug auf die „Selbst-entmündigung“ lässt die gute wissenschaftliche Praxis durchaus zu, die Schuld auch woanders zu suchen: Vielleicht liegen die Gründe nicht bloß in der Politologie, sondern mitunter in der Verfassung selbst?
Alexander Somek weist auf das „imperiale Erbe“ hin, auf „die Mentalität – den Geist – des österreichischen Staatsrechts“, das in der Ver-fassung nur „eine organisatorische Regelung der Machtverhältnisse im Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative“ sieht.61 Tatsächlich beinhaltet das B-VG keine durchgängige Wer-teordnung oder gar Ewigkeitsklausel wie das Bonner Grundgesetz. Die österreichische Ver-fassung wurde konzipiert als unpathetische „Rechtswegeverfassung“ (Adolf Julius Merkl), ganz anders als zum Beispiel die US-Verfassung oder die Bemühungen um eine „echte“ Verfas-
Aufnahme von Rechtssoziologie und Rechtstatsachenfor-schung in die Juristenausbildung auf und plädieren für entsprechende wissenschaftliche Abteilungen im Justiz-ministerium – ohne hierfür allerdings an die Möglichkeit der Einbeziehung der Politikwissenschaft zu denken: Barta/Ganner, Plädoyer für eine neue Rechtspolitik in Österreich, in: Dimmel/Schmee (Hrsg), Politische Kultur in Österreich 2000–2005 (2005) 199 ff.60 Vgl Schmoller, Interdisziplinäres Studium an einer Rechtswissenschaftlichen Fakultät?, in: Wöhle/Augen-eder/Urnik, Rechtsphilosophie. Vom Grundlagenfach zur Transdisziplinarität in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (2010) 411 ff (414 f).61 Somek, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Österreich, in: v Bogdandy/Villalón/Huber (Hrsg), Ius Publicum Europaeum, Band 2 (2007) 637 ff (639).
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sung für die Europäische Union62. Trägt dieses instrumentale, etwa einem Verfassungspatrio-tismus nicht sehr zugängliche Verfassungsver-ständnis dazu bei, dass sich Politologen nicht am B-VG abarbeiten? Doch an diese Frage ist eine weitere, jenen Gedanken relativierende anzu-schließen: Ist die Deutung der Verfassung als bloßes Verfahrens- und Organisationsrecht des politischen Prozesses überhaupt noch zeitgemäß und richtig, zumal Europäisierung und Interna-tionalisierung (auch der Höchstgerichte) immer mehr auf das nationale Verfassungsverständnis rückwirken,63 dadurch in Österreich materiales Verfassungsverständnis kultivieren und in einer nachpositivistischen Ära64 längst ein „Verlust an wissenschaftlicher Ernüchterungsleistung“65 zu beklagen ist?
Mitunter führt vielleicht, was einerseits als Verlust zu bedauern ist, andererseits zu einem Gewinn, nämlich dann, wenn jene Verände-rungen Impulse für eine österreichische Ver-fassungspolitologie geben. Unaufgearbeitete Diskrepanzen und Widersprüche – wie etwa das Paradoxon einer auf Richterrecht basierenden obersten Stufe des Rechts vor dem Hintergrund eines betont gesetzespositivistischen Verfas-sungsverständnisses – sind nach Theo Öhlinger nämlich die Folge eines Defizits an Studien, die über rein rechtsdogmatische Fragen hinaus-gehen.66 Solch Analysen fehlen bis heute. Denn
62 Wie bereits angemerkt, betreibt die österreichische Politikwissenschaft durchaus (kulturwissenschaftliche) EU-Verfassungsforschung. Das ist nicht nur der zeit-lichen Nähe zum Untersuchungsgegenstand als work in progress geschuldet, sondern vor allem der symbolischen Funktion, die die Ausarbeitung einer EU-Verfassung in Hinsicht auf Identitäts- und Integrationspolitik ver-folgte, und der damit gegebenen „außerrechtlichen“, somit als politikwissenschaftlich akzeptierten Perspektive; aus juristischer Sicht hatte Europa mit dem Primärrecht bereits eine Verfassung.63 Dazu Öhlinger, Die Transformation der Verfassung – Die staatliche Verfassung und die Europäische Integra-tion, in: JBl 124(1)/2002, 2 ff, insb 9 f; mit Augenmerk auf Europäisierung und Englisch als führende Rechtsprache weist Somek zudem auf die „steady spread of the common law mentality“ hin (Somek, The Indelible Science of Law, in: ICON – International Journal of Constitutional Law 7(3)/2009, 424 ff [428]).64 Vgl Somek/Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken. Inhalt und Form des positiven Rechts (1996).65 Somek (FN 62) 661.66 Vgl Öhlinger (FN 25) 514. Eine Omission der (rechts-wissenschaftlichen) Forschung, insbesondere angesichts der zunehmenden „Juristokratie“, ortet auch Somek (FN 63) 440. Zum Terminus „Juristokratie“ siehe Hirschl, Towards Juristocracy: The Origins and Consequences of the New Constitutionalism (2007).
spätestens seit 1972, dem Erscheinungsjahr des Systems von Robert Walter67, wurde ein B-VG-Verständnis herrschende rechtswissenschaftli-che Lehre, das beispielsweise die eigentlich sehr politischen Verfassungsideen, die Baugesetze, ausschließlich rein-rechtswissenschaftlich be- handelt; das ehrt zwar die Methodenreinheit der Rechtswissenschaft und entspricht der Arbeitsteilung der einzelnen und neu entstan-denen Disziplinen, doch die Politikwissenschaft ließ ihren Aufgabenbereich unbearbeitet. Das heißt, zeitgleich mit der Institutionalisierung der Politikwissenschaft an den österreichischen Universitäten und ihrer Entwicklung wider die Rechtswissenschaft fiel die akademische Betrachtung der Verfassung hinter ihre Mög-lichkeiten zurück.
Bereits Hans Kelsen hatte aus Gründen der Arbeitsteilung und Präzision für die Einnahme methodischer verschiedener Sichtweisen (auf die Verfassung) plädiert: „Auch soll nicht gesagt sein, daß der Jurist nicht auch soziologische, psychologische, dass er etwa keine historischen Untersuchungen vornehmen dürfe. Im Gegen-teil! Solche sind nötig; allein der Jurist muß sich stets bewußt bleiben, daß er als Soziologe, Psy-chologe oder Historiker einen ganz anderen Weg verfolgt, als jenen, der ihn zu seinen spezifischen juristischen Erkenntnissen führt, er darf die Resultate seiner explikativen Betrachtung nie-mals in seine normative Begriffskonstruktion aufnehmen.“68 Übertragen auf die disziplinär höchst ausdifferenzierte Wissenschaftsland-schaft der Gegenwart beinhaltet Kelsens Aus-sage einerseits einen Aufruf an Soziologen, Psychologen, Historiker – schließlich Politik-wissenschafter – sich gemäß ihren jeweiligen Methoden mit dem Recht auseinanderzusetzen, und andererseits zugleich eine Besch(n)eidung des im rein-rechtlichen Sinne wissenschaftli-chen Forschungsbereiches und seiner Vertreter. Damit schuf die Reine Rechtslehre erst Diszipli-nen wie der Politikwissenschaft neuen Platz.69
Doch die österreichische Politologie nützte nicht etwa dieses eingeschränkte, formelle Ver-fassungsverständnis der Rechtswissenschaft, um eine eigene B-VG-Forschung zu entwickeln, sondern blieb der gebieterischen „Zwangsnor-merzeugungsregel“ (Robert Walter) gleichsam
67 Walter, Österreichisches Bundesverfassungsrecht. Sys-tem (1972).68 Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwi-ckelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911) 42.69 MwN Ehs (FN 3).
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reflexartig abgewandt. Dadurch verwirklichte sie bis heute nicht, was gemäß Kurt Sontheimer Politikwissenschaft sein sollte, nämlich „eine Art Dauerreflexion über die Lebensprobleme einer politischen Gemeinschaft, und sie fügt zu diesem Behufe die verschiedenen Wirklichkeits-wissenschaften und die Staatsrechtswissen-schaft zu einer philosophischen Fragestellung nach dem Sinn und den Aufgaben politischen Handelns in der Gegenwart zusammen.“70 Um die endlich erreichte disziplinäre Autonomie und fortschreitende Szientifizierung (iSv spezi-fizierten empirischen Analysen) nicht preiszu-geben, verzichtet die Politologie weiterhin auf (verfassungs-)rechtliche Erkenntnis und ist des-halb mittlerweile, in Zeiten steter Verrechtli-chung aller Lebensbereiche, oft nicht imstande, so manch politischen Sachverhalt oder Prozess angemessen zu analysieren. Damit wird sie auch ihrem ureigenen „Anspruch auf die Institutio-nalisierung der wissenschaftlichen Selbstre-flexion der Gesellschaft“71 nicht gerecht. Geht es der Politikwissenschaft jedoch im Kern um die Analyse strategischer Interaktionen zwi-schen Akteuren in asymmetrischen Beziehungs-strukturen, die durch öffentliche Institutionen definiert werden, dann darf eben jene öffentli-che, institutionelle Dimension, die Polity, deren Grundlage ja die Verfassung ist, nicht vernach-lässigt werden.
V. Resumée
Eine politikwissenschaftliche Analyse der Ver-fassung und die staatsbürgerliche Vermittlung dieser Kenntnisse tut not, weil die demokratie-politisch wichtige Aufgabe der Verfassungsga-rantie – das heißt letztlich: der Machtkontrolle – nicht allein Verfassungsgerichtshof, Parlament, Bundespräsident und Regierung, sondern ebenso dem Citoyen übertragen ist. In den Jahren der Konkordanzdemokratie wurden „weite Bereiche des Rechts (und der dieses gestaltenden Politik) der demokratischen Mehrheitsregel entzogen und dem ‚Konsens‘ zwischen den ‚Lagern‘ über-antwortet.“72 Doch institutionalisierter Konsens widerspricht der pluralen Demokratie und wirkt nun in die Gegenwart der Post-Konkordanzde-mokratie hinein depolitisierend, denn: „Konsens
70 Sontheimer (FN 21) 48.71 Lepsius, Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaften (1961) 19.72 Öhlinger (FN 41) 275.
ist in einer liberal-demokratischen Gesellschaft Ausdruck einer Hegemonie und der Kristallisa-tion von Machtverhältnissen.“73 Die Verfassung, einst schlanke Spielregelbeschreibung, die einen Rahmen für politisches Handeln abgab, wurde im Lauf der Zeit parteipolitisch instrumentali-siert, umfunktioniert und entformalisiert; ihre ursprüngliche Funktion übernahmen rechts-wissenschaftliche Lehre und zusehends die Judikatur. Das ist eine schleichende Involution von Demokratie und wird als Missstand bereits literarisch und feuilletonistisch aufgegriffen. Es fehlt jedoch an einer Verfassungspolitologie, die diese Fragen wissenschaftlich bearbeitet; auf demokratiepolitisch bedenkliche Entwicklun-gen aufmerksam zu machen, wäre Aufgabe und Kompetenz der Politikwissenschaft: Ideologie-kritik als Analyse der Machtverhältnisse und Machtverschiebungen.
Die Bedeutung des B-VG im politischen Sys-tem der Republik liegt aus meiner Sicht als Politologin somit darin, dass an der Verfassung immer wieder nicht allein Rechtsfragen, sondern vor allem Machtfragen manifest werden. Gerade in deren Beschreibung bestünde die große kriti-sche Kraft der Politikwissenschaft im Vergleich mit einer formalen und diese Verhältnisse nur durch die juristische Methode gefiltert wahr-nehmenden Rechtswissenschaft. Die Entwick-lung des B-VG gibt nämlich einen Maßstab dafür ab, in welche Richtung sich Politik und Gesell-schaft orientieren, auf welche Grundlagen sich das Gemeinwesen bezieht, wie Herrschaft – die Gewähr und Begrenzung von Freiheitsrechten – schließlich ausgeübt wird.
Korrespondenz: Dr. Tamara Ehs, Institut für Politikwissenschaft sowie Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte an der Universität Wien, Universitätsstraße 7, 1010 Wien; E-Mail: [email protected]
73 Mouffe, Das demokratische Paradox (2008) 60.
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