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Herausgegeben von Mai 2010 Einzelheft: 1,50 Euro, Abonnement: 15 Euro P.b.b., Verlagspostamt 1040 02Z031242 M, Kd.-Nr: 0021012558 Unabhängige GewerkschafterInnen im ÖGB 5 GEFÄHRLICHE DROHUNG: “BUDGETKONSOLIDIERUNG” § 278: RECHTSSTAAT ÖSTERREICH? BOLOGNA-PROZESS: HUSCH-PFUSCH? ROUTEN ZUR SOZIALMILLIARDE

Alternative Mai 2010

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Monatszeitschrift der Unabhängigen Gewerkschafter_innen im ÖGB

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Page 1: Alternative Mai 2010

Herausgegeben von

Mai 2010

Einzelheft: 1,50 Euro, Abonnement: 15 Euro

P.b.b., Verlagspostamt 1040

02Z031242 M, Kd.-Nr: 0021012558

UnabhängigeGewerkschafterInnenim ÖGB

5

GEFÄHRLICHE DROHUNG:

“BUDGETKONSOLIDIERUNG”

§ 278: RECHTSSTAAT ÖSTERREICH? BOLOGNA-PROZESS:HUSCH-PFUSCH? ROUTEN ZUR SOZIALMILLIARDE

Page 2: Alternative Mai 2010

Alternative, 3-4/2010, Seite 24–27

Kommentar zu „Antikapitalismus mit zwei Beinen“ von Andreas Exner.

Vorwärts in die Steinzeit?

Ich habe versucht, die Argumentation von Andreas Exner und die von ihm entwickel-

ten Szenarien einige Stufen weiter zu denken. Andreas argumentiert ja unter anderem

für die Abschaffung des Geldes und allem, was damit zusammenhängt, für das Ver-

schwinden des Arbeits- und Warenmarktes, die Auflösung der Großindustrie und die Re-

duktion der Infrastruktur, die Schwächung beziehungsweise Beschränkung der öffent-

lichen Institutionen und Vertretungen. Für mich steht als eine weitere Entwicklungsstu-

fe in seinem System dann wohl das, was allgemein gerne als „Steinzeit“ bezeichnet wird.

Menschen leben in kleinen Gruppen autonom und autark, produzieren sich ihre Lebens-

mittel und Güter selber, alles gehört allen, es gibt kein Geld mehr und nur sporadischen

Austausch mit anderen. Wie sich bei manchen noch erhaltenen Naturvölkern zeigt, eine

perfekte, die Umwelt nicht belastende und in der Regel harmonische Lebensweise. Mit

einer entsprechenden philosophischen und religiösen Basis wird der relativ frühe Tod

durch Krankheit oder Hungersnot ohne Dramatik akzeptiert und jeder Tag in vollen Zü-

gen genossen.

Offen ist nun noch, wie man dahin gelangt? Man vergisst leicht, dass es ja bereits

einige ernsthafte und , wie ich glaube, auch gut gemeinte Versuche gegeben hat, ei-

nige der Forderungen von Andreas in Ländern mit vielen Menschen und bestehenden

Strukturen in die Praxis umzusetzen. Zugegeben extreme, aber in ihren Intentionen ähn-

liche Projekte hat es ja in China, in Kambodscha, Albanien oder aktuell noch in Nord-

korea gegeben. Etwas abgeschwächt in den sogenannten ehemaligen Ostblockstaaten.

Diese Beispiele zeigen aber auf, wie schwierig manche Ideen in die Praxis umzusetzen

sind. Aber vielleicht waren es nur die falschen handelnden Personen und der falsche

Zeitpunkt und man lernt aus den Fehlern?

Letztendlich hat Andreas Recht, aber die Umsetzung seiner Ideen wird aus Kennt-

nis der Geschichte und der Natur des Menschen mit unendlich viel Zerstörung und in-

dividuellem Leid verbunden sein.

Helmut Deutinger, Grüne in der AK Tirol

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daten & taten

Aufruf zur Teilnahme & Mitarbeit

5. österreichischesSozialforum

Leoben, Steiermark, 13.–16. Mai 2010

Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungs-los! Eine gründliche Bestandsaufnahmeund gemeinsame, solidarische Aktionensind unerläßlich. Wir rufen daher alle zi-vilgesellschaftlichen Organisationen auf,sich an den Vorbereitungen des österrei-chischen Sozialforums 2010 inhaltlichund organisatorisch zu beteiligen.

Leoben, die Obersteiermark und dieRegion Aichfeld Murboden sind durchdie aktuelle, globale Krise des Kapitalis-mus besonders stark betroffen. Die Regi-on ist auch eine der „Geburtsstätten“ derÖsterreichischen ArbeiterInnenbewegungund spielte im antifaschistischen Kampfeine wichtige Rolle.Eine andere Welt ist möglich!www.sozialforum-asf.at

UG-Antirassismus-Seminarmit TrainerInnen vom Verein ZARAfür BetriebsrätInnen undPersonalvertreterInnen.

•Samstag, den 19. Juni 2010 •10 bis 17 Uhr

•KIV-Club, 1020, Große Mohrengasse 42

(Ecke Odeongasse).

Anmeldungen erforderlich:

•AUGE, 1040 Wien, Belvederegasse 10,

Telefon 505 19 52, E-Mail auge@ug-

oegb.at und

•KIV, 1020 Wien, Blumauergasse 22/3,

Telefon 216 52 72, E-Mail [email protected].

Solidarische Ökonomie und Grundeinkommen. Von Andreas Exner.

ANTIKAPITALISMUSMIT ZWEI BEINEN

D

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Diskussion

as Recht auf Leben ist bedingungslos,also auch das Recht auf „Lebensmit-tel“: Das bedingungslose Grundein-kommen ist ein Menschenrecht. Esstärkt gewerkschaftliche Kämpfe undsichert individuelle Freiheit. Wie ausdem Grundeinkommen auch eine trag-fähige gesellschaftliche Perspektivewird, dazu im Folgenden.

Das Kapital ist seit 2008 in einerfundamentalen Krise. Die Auswirkun-gen von Konjunkturpaketen, staatli-chen Bankgarantien und erneuten An-legerillusionen „arbeitslosen Reich-tums“ an den Börsen werden rasch ver-blassen. Die Inflation des „fiktivenKapitals“ der Börsen ist nicht gestoppt.Sie hat sich nur auf den Staat verscho-ben. Und damit direkt auf die Lohnab-hängigen. Staatsbankrott ist nur eineder Gefahren, die nun an die Stelle der„Kernschmelze“ des Finanzsystemsgetreten sind.

SOZIALPOLITIK IN DER KRISEDie Krise hat eine Vorgeschichte, die

bis in die 1960er Jahre zurückreicht.Das Wachstumsmodell der Nachkriegs-zeit, das heute viele nostalgisch alsZeit der „Vollbeschäftigung“ verklärenund glauben, man könne es mit ausrei-chend „politischem Willen“ wiederher-stellen, scheiterte damals an einer Rei-he von Faktoren: •Steigende Kapitalkosten, •der Widerstand der ArbeiterInnen,•sinkende Produktivitätszuwächseführten zu einem Fall der Profit- und

Wachstumsraten des Kapitals. Diesesging deshalb ab dem Ende der 1970erJahre zu einer Gegenoffensive über:dem Neoliberalismus. Die Profitratenerholten sich durch eine Verdichtungder Arbeit, Sozialabbau, stagnierendeReallöhne und eine Verbilligung derRohstoff- und Energiepreise. Dazu kamein neues, instabiles „Wachstumsmo-dell“ des Vermögensbesitzes: Die Rei-chen konnten sich mühelos noch rei-cher rechnen – auf den liberalisiertenFinanzmärkten.

Dieses System musste früher oderspäter kollabieren. Wenn die Ansprücheauf Mehrwert, die an den Finanzmärk-ten in Form von Wertpapieren gehan-delt werden, das Gesamtvolumen desMehrwerts übersteigen, wird das Systemprekär. Kommen Anleger zum Schluss,dass sie ihre Ansprüche nicht mehr inGeld flüssig machen können, verkaufensie aus Angst vor Verlusten und in derHoffnung, ihre Gewinnerwartungen inBares umsetzen zu können. Machen dasviele Anleger zugleich, setzt eine Panikein. Alle wollen verkaufen, die Kurse derWertpapiere fallen. Die überzähligenAnsprüche auf Mehrwert werden ver-nichtet. Eine umfassende Krise setzt ein:Unternehmen bankrottieren, Kreditewerden verknappt.

Schließlich beißen Massen von Lohn-abhängigen ins Gras. Die einzige Mög-lichkeit für das Kapital, seine Profitratewiederherzustellen besteht dann darin,die Löhne noch stärker nach unten zudrücken, Sozialleistungen weiter abzu-bauen und überschüssige Kapazitätenzu vernichten. Vollbeschäftigung durch

Staatsverschuldung zu finanzieren warschon in den letzten dreißig Jahrennicht erfolgreich. Nun ist das vollendsillusionär.

BEZAHLTE UNDUNBEZAHLTE ARBEITMehrwert fällt nicht vom Himmel.

Nur unter der Herrschaft des Kapitalsnimmt der Überschuss an Produkten,den Menschen erzeugen, die Form vonabstraktem Wert, von Geldgewinn, vonMehrwert an.

Zur fortwährenden Produktion diesesÜberschusses müssen Menschen ge-zwungen werden: sie müssen mehr ar-beiten, als sie arbeiten müssten, umihren Lebensunterhalt zu produzieren.Mehrwert wird nur durch Arbeit ge-schaffen – unbezahlte Arbeit, wohlge-merkt. Wären die Löhne gleich demGesamtwert der Produkte, wäre alsoalle Arbeit bezahlt, die unter dem Regi-ment des Kapitals getan wird (dasheißt exklusive Hausarbeit etc.), sogäbe es keinen Gewinn.

Das Kapital ist kein Ding und nichtbloß Geld, sondern die Zwangsbezie-hung zwischen zwei Klassen von Men-schen: Lohnabhängigen und den Be-sitzern von Produktionsmitteln. DasKapital ist somit nichts anderes als dieandere Seite der Lohnarbeit – Men-schen, die keine Produktionsmittelnbesitzen, müssen ihre Fähigkeiten aufeinem Arbeitsmarkt verkaufen. Die Be-sitzer von Produktionsmitteln kaufendiese Ware, um aus ihrer Nutzung Ge-winn zu ziehen.

Das Kapital beruht freilich nicht nurauf der Lohnarbeit und ihrer Ausbeu-tung. Diese selbst basiert auf vielenFormen von Arbeit, die allesamt unbe-zahlt sind und unsichtbar gemachtwerden: Hausarbeit, Arbeit vonSchülerInnen und Studierenden, Eh-renamt – ja, alle Leistungen, die frei-willig und in Eigenmotivation erbrachtwerden. Und dazu gehört auch eingroßer Teil der Lohnarbeit. Deshalb ist„Dienst nach Vorschrift“ ja eineKampfmaßnahme.

Darüber hinaus beruhen das Kapitalund sein Ausbeutungssystem auf derunbezahlten Leistung der vergangenenGenerationen: dem gesamten akkumu-lierten Wissen, den gesellschaftlichenFähigkeiten und Strukturen, die unbe-zahlt geschaffen wurden und täglichneu erzeugt und weiterentwickelt wer-den. Viele dieser Leistungen sindgrundsätzlich nicht bezahlbar, selbstwenn man das wollte, weil überhauptnicht einem Individuum zuzurechenoder gar zu quantifizieren. Mit zuneh-

menden Maschineneinsatz wird das ak-kumulierte Wissen die „eigentliche Pro-duktivkraft“ – es ist unmöglich, die ma-schinell verstärkte kooperative Kraftder Lohnabhängigen in irgendeinenGeldwert oder „Lohn“ zu pressen.

DIE ERPRESSUNGSMACHTDES KAPITALSHistorisch ist eindeutig: Menschen

machen sich dann zu „Lohnsklaven“,wenn sie keine andere Lebensmöglich-keit mehr haben. Diesen Zustand schaff-te blutige Enteignung. Überall dort, woMenschen mehr lohnarbeiten sollen alssie selbst dies wollen oder überhaupterst auf einen Arbeitsmarkt gezwungenwerden, muss man ihnen zuerst einmalwegnehmen, was ihnen ein Leben ohneoder mit wenig Lohnarbeit möglichmacht: kostenlose staatliche Leistungen,ausreichende Arbeitslosenunterstüt-zung, Subsistenzmöglichkeiten, Gemein-eigentum, öffentliche Güter. Dies be-werkstelligt die Staatsgewalt.

Nicht umsonst sprach Marx von der„industriellen Reservearmee“ alsVoraussetzung für kapitalistischeProduktion: Menschen, die keineandere Möglichkeit als Lohnarbeithaben, um sich einigermaßen amLeben zu halten, aber nicht beschäf-tigt sind und deshalb Druck auf alleausüben, sich dem Kapital (zu miesenBedingungen) zu verkaufen. Überalldort, wo der Zwang zur Lohnarbeitgelockert wird und Lohnarbeitslosig-keit ihren Stachel verliert, verliert dasKapital deshalb auch seine absoluteDurchsetzungsmacht.

Aus Sicht einer emanzipatorisch ori-entierten Gewerkschaft, die Freiheit er-weitern will anstatt ein „anderes Ma-nagement“ zu spielen, muss es daherzuerst darum gehen, Lohnarbeit zu-rückzudrängen. Lohnabhängige sindKapitalabhängige, Antikapitalismus istKampf gegen die Lohnarbeit und derAufbau einer Alternative.

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VOLLBESCHÄFTIGUNG?NEIN DANKE!Die aktuelle Krise reicht über die Ver-

nichtung der überzogenen Ansprücheauf Mehrwert weit hinaus. Hinzu tre-ten eine Klima- und Energiekrise in bei-spielloser Dimension. Auch aus diesemGrund ist eine Rückkehr zur Vollbe-schäftigung ein Halluzinationspro-gramm. Dies kann auch Arbeitszeitver-kürzung – so wichtig sie als solche ist –nicht leisten. Verkürzte Arbeitszeitohne Lohnausgleich ist keine Option;mit Lohnausgleich verschärft sie je-doch den Druck auf das Kapital unduntergräbt sich als Beschäftigungsstra-tegie folglich selbst.

Dazu kommt, dass viele Branchenaus ökologischen Gründen drastischeinzuschränken oder stillzulegen sind:•die Autoindustrie, •ihre Zulieferer, •weite Teile des Marketings, •der Infrastrukturbranchen (Straßen-bau etc.), •große Teile der chemischen Industrie,•alle damit befassten Finanzinstitutio-nen, und so fort.

Wer angesichts dieser Herausforde-rung nach dem Staat ruft, wiederholtnur die realsozialistische Illusion. DerStaat ist kein neutrales Instrument, umProduktion vernünftig zu planen, son-dern er hängt von Kapitalverwertungab, weil er daraus seine Steuermittelgewinnt. Er ist strukturell kapitalab-hängig. In einer Gesellschaft, in derMenschen bewusst über ihre Produkti-on bestimmen, gibt es zwar Institutio-nen, die dies regeln, jedoch keinen ab-gespaltenen Herrschaftsapparat na-mens Staat.

GRUNDEINKOMEN UNDSOLIDARISCHE ÖKONOMIEEine Strategie, die den Kampf gegen

die Lohnarbeit mit unmittelbaren Ver-besserungen und dem Aufbau einerSolidarischen Ökonomie zusammen-führt, ist daher das Gebot der Stunde.Dabei ist zu beachten, dass nur ein Teilder existierenden Betriebe in Selbstver-waltung zu überführen sind. Wie ge-sagt: Ein Großteil ist schlicht stillzule-gen. Das ist ein wichtiger Grund, wes-halb Sozialleistungen von Lohnarbeitentkoppelt werden müssen. Andern-falls ist eine Lockerung der Fixierung

auf den Erhalt der bestehenden Ar-beitsplätze unmöglich. Dabei ist klar,dass vorderhand weiterhin eine Geld-wirtschaft existiert. Zwar muss die Prio-rität sein, Infrastrukturen wie Ressour-cen kostenlos zugänglich zu machenund Verkaufsbeziehungen soweit wiemöglich zurückzudrängen. Dennochbraucht es ein „Übergangsprogramm“,um den Aufbau einer SolidarischenÖkonomie zu vollziehen. Hier setzt dasGrundeinkommen an.

Als eine bedingungslose, individuelleGeldzahlung über der Armutsgefähr-dungsschwelle, die das Menschenrechtauf Leben realisiert, ist es zugleich dieeinzige bedarfsorientierte Geldleistung.Sie wird allen ausbezahlt und jenenwieder weggesteuert, die über ausrei-chende Einkommen verfügen. Dies ge-schieht progressiv, unterbindet alsonicht den „Anreiz“, einer Lohnarbeitnachzugehen, wie herkömmliche Sozi-alhilfe und Arbeitslosengeld.

Ein Grundeinkommen ist keine Sub-vention für den Niedriglohnsektor.Ganz im Gegenteil stärkt es gewerk-schaftliche Arbeitskämpfe, sodass Ar-beit zu miesen Bedingungen abgelehntwerden kann. Der solidarisierendeKampf gegen die Lohnarbeit undSchritte zur praktischen Entkoppelungvon Auskommen und Einkommen kön-nen die Defensive der Gewerkschaften,die sich vor dem Hintergrund der ho-hen strukturellen Arbeitslosigkeit seitden 1980er Jahren immer weiter ver-schärft, überwinden.

Die fundamentale Krise des Kapitalsmacht jede Strategie, die entweder aufeinen „neuen Aufschwung“ hofft wieder „Green New Deal“ oder aber dasUnding eines „nicht-wachsenden Kapi-talismus“ anzielt, unbrauchbar. Vonnö-ten ist vielmehr ein „Übergangspro-gramm“, das dem Umbau von Produk-tion und Verteilung zu einer Gesell-schaft der Gemeingüter Orientierunggibt. Die Würde von Erwerbslosen, diesich in Geiselhaft von Gewerkschaftenbefinden, die sie als Argument für„Vollbeschäftigung“ benutzen, würdeim Kampf um ein Grundeinkommenendlich respektiert.

Staatsbürokratie, die sich erfrecht,„finanzierungswürdige“ Aktivitäten zudefinieren und dem aus der Sicht desKapitals „unwürdigen“ (weil nicht ver-wertbaren) Lebenswandel eine „aktivie-rende Arbeitsmarktpolitik“ als neolibe-

rales Umerziehungsprogramm entge-genstellt, wäre mit einem Grundein-kommen praktisch aufzubrechen.

Das Grundeinkommen ist jedochnicht der Weisheit letzter Schluss. Es istin mittlerer Sicht zu einem Grundaus-kommen zu transformieren. Als eineGeldleistung ist es zu überwinden. Ineiner Gesellschaft, in der blinde Markt-beziehungen durch bewusste Koopera-tion ersetzt werden, muss die Bedeu-tung von Verkaufsbeziehungen zurück-gehen. Der Arbeits- und Warenmarktverschwindet zugleich mit dem Kapitalund der Geldwirtschaft.

DIE ÜBERWINDUNGDES PATRIARCHATSEine Solidarische Ökonomie muss die

patriarchale Spaltung zwischen „wichti-ger“ und „unwichtiger“ Arbeit praktischüberwinden. Vorstellungen, man könnedas Patriarchat und seine geschlechtli-che Arbeitsteilung durch eine „Auftei-lung von Hausarbeit“ angreifen odereine Gleichbezahlung von Frauen undMännern, sind dem Problem so wenigangemessen als wollte man die Kapi-talherrschaft durch ein wenig „Mitbe-stimmung“ überwinden.

Das Patriarchat besteht ja geradedarin, dass bestimmte Eigenschaften,Tätigkeiten und „Sphären“ strukturellals unwichtig definiert und diskrimi-niert werden, weil sie der Verkaufsbe-ziehung und der Marktkonkurrenz nichtentsprechen. Die angeblich „weibli-chen“ Tätigkeiten und Verhaltenswei-sen werden zwar strukturell den „Frau-en“ zugeschrieben.

Das heißt aber nicht, dass das Patri-archat nicht auch die „Männer“ prägtund unterdrückt (wie ja auch die Kapi-talisten keinesfalls als Richtlinie eines„guten Lebens“ dienen können. Befrei-ung ist nicht teilbar). Eine wirklicheKritik des Patriarchats heißt nicht, das„Weibliche“ und das „Männliche“ be-stehen zu lassen und ein wenig „Um-verteilung“ zu spielen. Sie muss dieZwangsdefinition von „weiblich“ und„männlich“ in Frage stellen.

Die Idee der „Aufteilung der Hausar-beit“ greift aber noch aus einem ande-ren Grund viel zu kurz. Die Trennungder Gesellschaft in „Betriebe“ einerseitsund „Haushalte“ andererseits ist ja ge-rade innerer Kern und Resultat des Pa-triarchats. Solange Produktion für ei-

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nen Markt und von Mehrwert (Profit)das Ziel sind, muss eine Sphäre ausge-koppelt werden, in der die Arbeitskraftfür das Kapital wiederhergestellt wird,Kinder gezeugt und erzogen werdenetc.: durch die „Liebe der Frau“ oder,neuerdings, Migrantinnen aus demSüden. Markt und Kapital können fürsich nicht bestehen. Sie brauchen ein„Anderes“, das notwendigerweise eineuntergeordnete Rolle spielt, obwohlund weil es die Basis für Markt undKapital ist.

Um diesen Tiefenkern des Patriar-chats abzuschmelzen, müssen die Zen-tralität des Marktes und der Lohnarbeitpraktisch überwunden werden. Das ge-schieht weder durch eine „Umvertei-lung von Arbeit“ – Geschirrabwaschen,Ausdruck von Weichheit, unverzweckteBetätigung und Lust etc. werden im-mer „unwichtig“ und diskriminiert blei-ben, egal ob dies nun biologischenFrauen oder Männern sozial einge-schrieben wird. Noch geschieht es au-tomatisch in einer Solidarischen Öko-nomie, wenn sie die kapitalistischeForm des „Betriebs“ – egal ob selbst-verwaltet oder nicht – weiter von der„Haushaltssphäre“ (dem Geschirrabwa-schen, dem Unverzweckten, der Lustetc.) abspaltet.

Das Grundeinkommen bricht parziellden Marktzwang und die Definitions-macht des Kapitals und damit derLohnarbeit darüber, was „wichtig“ undwas „unwichtig“ ist, auf. Und es bautder realsozialistischen Falle vor, perParteidekret oder politischem Gremiumentscheiden zu wollen, was denn nun„gesellschaftlich nützlich“ und was„Privatvergnügen“ sei.

DER WEG ENTSTEHTBEIM GEHENDas Grundeinkommen, und in weite-

rer Folge ein Grundauskommen erlau-ben es also, sich parziell vom Patriar-chat und dem Marktzwang zu entkop-peln. Je weiter die Entkoppelung fort-schreitet, desto mehr untergräbt dieseEntwicklung aber klarerweise auch dieBasis der Geldleistung „Grundeinkom-men“: das Kapital selbst. Dies war dieStrategie der radikalen italienischenArbeiterInnenbewegung, die in den1970er Jahren mit der Forderung eines„politischen Lohns“ (Grundeinkom-mens) das Kapital in die Enge treiben

wollte (und an der staatlichen Repres-sion und den angepassten Gewerk-schaften scheiterte).

Solange überhaupt Kapital akkumu-liert und ein Markt besteht, ist aucheine Finanzbasis für das Grundeinkom-men gegeben. Es muss zudem nichtauf einen Schlag eingeführt werden,sondern sollte bei der Abschaffung al-ler Kontrollen des Arbeitslosengeldesbeginnen. Dies ist ein realpolitisch um-setzbares Ziel.

Wenn es scheitert, dann an Macht-bedürfnis, Kapitalkonformität undStaatshörigkeit politischer Funktionäreoder an der internalisierten Unterwer-fung der Lohnabhängigen. Diese, daszeigen Umfragen, sind oft mehrheitlichfür ein Grundeinkommen, meinen aberzugleich, „die Anderen“ würden es„missbrauchen“. Einmal davon abgese-hen, dass hier unklar ist, wie einGrundeinkommen „missbraucht“ wer-den sollte, ist eine solche Haltungleicht als Projektion des eigenen, un-eingestandenen Hasses auf Lohnarbeitund Herrschaft auf die „Arbeitsscheu-en“ und „Asozialen“ zu entziffern: dasGrundmuster rechter Ideologie.

Wer meint, ein Grundeinkommenwürde planvolle gesellschaftliche Pro-duktion verunmöglichen, sagt genaudas: Herrschaft ist naturnotwendig undkann nicht überwunden werden. Dasist rechte Ideologie, keine linke Positi-on. Tatsächlich steckt auch ein verque-res Bild des Menschen und von Tätig-keit dahinter. So als würde kein Ge-schirr abgewaschen, würden keine Kin-der aufgezogen, würde kein Ehrenamtausgeübt, würde nicht unbezahlteKreativität und Motivation selbst in derLohnarbeit die treibende Kraft darstel-len, nur weil all das nicht bezahlt undvon anderen Menschen erzwungen ist.Tatsächlich reagieren Menschen aufNotwendigkeiten, die sie erkennen, in-dem sie Probleme eigenständig undkooperativ lösen. Sie werden tätig, weildas ihr Menschsein ausmacht (und sieanders keine biologische Evolution hät-ten vollziehen können) – eine Alltags-realität, selbst im Kapitalismus. DieIdeologie der Kapitalherrschaft freilichist eine andere.

Das Grundeinkommen ist jetzt – imUnterschied zu den Kämpfen der1970er Jahre – mit einer erweitertenPerspektive und zugleich mit demAufbau einer Solidarischen Ökonomie

der Selbstverwaltung und der zwi-schenbetrieblichen Kooperationwiederaufzunehmen.

Die Solidarische Ökonomie alleinehat nicht unbedingt eine befreiendeWirkung. Unter Marktbedingungen ver-schärft sie zumeist den Arbeitszwangzur Selbstausbeutung. Eine „vollständi-ge“ Solidarische Ökonomie ohne bedin-gungslose soziale Sicherheit kannleicht in Repression durch Gruppen-druck und eine Fixierung in einzelneProjekte, Betriebe, Zusammenhängemünden. Es muss etwas hinzutreten,das wirkliche Freiheit schafft, Kreativi-tät ermöglicht, und den Wechsel zwi-schen Zusammenhängen problemloserlaubt.

Es sollte klar geworden sein, dassdas Grundeinkommen kein fertiges Pro-gramm der Zukunft, sondern eine un-mittelbare Notwendigkeit darstellt. Esgeht nicht um das Wolkenkuckucks-heim von „Finanzierungsmodellen“.Das gute Leben und das Ende des Ka-pitals sind nicht „finanzierbar“. Viel-mehr geht es um gesellschaftlicheKämpfe, die Lohn- und Kapitalabhän-gigkeit parziell zurückdrängen undFreiräume für eine Solidarische Ökono-mie aufmachen. Vollbeschäftigung istGefängnisjargon. Und von gestern.

Dabei ist keineswegs gesagt, dassMenschen, die einander ein Grundein-kommen zur Verfügung stellen und ge-gen Staat und Kapital erkämpfen, sichso verhalten werden, wie das Gewerk-schaftseliten, Linksintellektuelle oder„moralische Instanzen“ gerne hätten.Befreiung ist – das sollte man aus derGeschichte gelernt haben – nicht zuverordnen. Wir können nur die Bedin-gungen ihrer Möglichkeit begünstigen.Das aber wäre schon ziemlich viel.

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Thema

Budgetkonsolidierung: Wir sollen zahlen.  .  .  .  .  .  .  .  .  Seite 4

Gewerkschaft & Betrieb

Sozialgipfel: Routen zum Gipfel .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Seite 9§ 278: Rechtsstaat Österreich? .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Seite 14Wahlen: KIV – Gut unterwegs .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Seite 15Bologna-Prozeß: Husch-Pfusch? .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Seite 16Arbeitsmarkt: Markante Veränderungen .  .  .  .  .  .  .  .  .  Seite 18

International

Bei den TEKEL-ArbeiterInnen.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Seite 22

.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Seite 12

IM MAI

EDITORIAL von Alfred Bastecky

IMPRESSUM Medieninhaber, Verleger: Alternative und Grüne GewerkschafterInnen(AUGE/UG) Herausgeber: Unabhängige GewerkschafterInnen im ÖGB (UG/ÖGB)Redaktion, Satz & Layout: Alfred Bastecky (Koordination), Lisa Langbein, Klaudia Paiha,Franz Sklenar (Layout) Alle: 1040 Wien, Belvederegasse 10/1, Telefon: (01) 505 19 52-0,Fax: (01) 505 19 52-22, E-Mail: [email protected] (Abonnements), [email protected](Redaktion), internet: www.ug-oegb.at, Bankverbindung: BAWAG Kto. Nr. 00110228775 Dass namentlich gezeichnete Beiträge nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oderdes Herausgebers entsprechen müssen, versteht sich von selbst. Titel und Zwischentitelfallen in die Verantwortung der Redaktion, Cartoons in die Freiheit der Kunst.Textnachdruck mit Quellenangabe gestattet, das Copyright der Much-Cartoons liegt beimKünstler. DVR 05 57 021. ISSN 1023-2702.

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Budgetkonsolidierung: Wie so ziemlich alles falsch gemacht wird. Und das konsequent. Von Markus Koza.

WIR SOLLEN ZAHLEN

F

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Thema

alscher Zeitpunkt. Falsche Maßnah-men. Falsche wirtschafts- und gesell-schaftspolitische Zielsetzungen. Ausder Krise wurde nicht nur nichts ge-lernt. Nun droht der schweren Wirt-schaftskrise eine schwere soziale Krisezu folgen. Und die SPÖ arbeitet ziel-strebig an ihrem Untergang.

Mit konsequenter wirtschaftspoliti-scher Ignoranz wird heute bereits da-ran gearbeitet, dass es in Zukunft wirk-lich riesige Sparpakete brauchen wird,um die öffentlichen Finanzen wiederins Lot zu bringen. Die derzeit herr-schende wirtschaftspolitische Strategieder EU, die über Stabilitätspakte bezie-hungsweise Stabilitätsprogramme auchnach Österreich wirkt, sieht vor, nachalten neoliberalen Mustern Struktur-maßnahmen in den Euro-Länderndurchzupeitschen. Indem sie ange-sichts steigender Budgetdefizite undStaatsschulden den allgemeinenStaatsnotstand ausrufen lässt, gleich-zeitig für diesen Notstand allerdingsentscheidend mitverantwortlich ist.

Am Beispiel Griechenlands ist er-sichtlich, wie gut diese Strategie auf-geht. Denn auch wenn Griechenlandseine Budgetkrise selbst mitverschuldethat – Griechenland dient nun als will-kommener Vorwand dafür, dass die EU-Kommission und der EU-Rat in Hin-kunft bei der Erstellung aller nationa-

len Budgets ein gewichtiges Wörtchenmitreden will. Damit ergibt sich ausder Griechenlandkrise die einmaligeChance, unter dem Titel „Budgetkonso-lidierung“ den – bislang im Sinne derKommission nur halbherzig bezie-hungsweise nicht weitreichend genugdurchgeführten – Umbau der Pensions-und Gesundheitssysteme nach neolibe-ralen Kriterien in den Mitgliedsländernvoranzutreiben.

Offensichtlich sollen die Ursachen,beziehungsweise die Auslöser für dieFinanz- und die daraus resultierendeWirtschaftskrise mit in Folge steigen-den Staatsausgaben, aus dem kollekti-ven Gedächtnis verdrängt werden. Undman will wohl auch vergessen machen,wohin denn eigentlich jene milliarden-schweren Rettungspakete, die tiefe Lö-cher in die öffentlichen Haushalte ge-rissen haben, quer durch Europa vor-nehmlich geflossen sind: nämlich zuBanken, jedenfalls Krisen- und Budget-krisen(mit)verursacher.

UND ÖSTERREICH ?Das Budgetdefizit in Österreich lag

im Jahr 2009 bei 3,4 Prozent des Brut-toinlandsproduktes (BIP), also über dererlaubten Maastricht-Defizit-Grenze von3 Prozent. Somit wurde von EU-Seiteein Defizitverfahren, wegen „übermäßi-gem“ Defizit ausgelöst. Der reformierteEU-Stabilitätspakt von 2005 erlaubtbei „außergewöhnlichen Ereignissen“zwar ein anderes, entsprechendes Vor-gehen: Dieses besteht im Falle Öster-reich aber nur darin, dass nicht schon2010 mit der Budgetkonsolidierung be-gonnen werden muss, sondern erst2011. Es gibt bereits eine abgestimmte„Exitstrategie“ der EU-Staaten, die dazuführen wird, dass alle gleichzeitig mitder Konsolidierung beginnen. Damit

wird allerdings der ohnehin nur be-scheidene Wirtschaftsaufschwung ab-gewürgt (laut OECD dämpft die gleich-zeitig durchgeführte Budgetkonsolidie-rung das Wachstum um 0,8 Prozent).Was die Konsolidierungserfordernisletztlich noch zu erhöhen droht: be-denkt mensch, dass (für Österreich) einProzent mehr an Wachstum ein halbesProzent weniger an Budgetdefizit be-deutet (also einen geringeren Konsoli-dierungsbedarf von 1,4 MilliardenEuro), kann sich jede/r ausrechnen,um welche Beträge es hier geht. DieseWirtschaftspolitik bringt die öffentli-chen Haushalte noch mehr unterDruck.

Außerdem soll bei der Budgetkonso-lidierung primär bei den Staatsausga-ben angesetzt werden. Tatsächlichklafft allerdings bei den Staatseinnah-men ein Riesenloch: in vielen Staaten(auch in Österreich) bestanden dieKonjunkturpakete zu einem großen Teilaus Steuersenkungen, weil diese ver-hältnismäßig schnell umsetzbar waren.Hinsichtlich ihrer Wirksamkeit warendiese Steuersenkungen allerdings im-mer umstritten. In Österreich wurdeeine Steuerreform inklusive Familien-paket im Ausmaß von 3,5 MilliardenEuro beschlossen – ohne jegliche Ge-genfinanzierung. Einnahmen, die feh-len. Zusätzlich brachen die Gewinn-und Kapitalsteuern ein (KÖSt, KESt). Sofiel alleine von 2008 auf 2009 dasKÖSt-Aufkommen von 6,3 auf 4,2 Mil-liarden, das Aufkommen aus der KEStum über 700 Millionen Euro. Auf derEinnahmenseite klafft somit ein Rie-senloch. Es gibt also ein einnahmeseiti-ges Finanzierungsproblem. Gesprochenwird allerdings vor allem von einemAusgabenproblem. Unverhältnismäßighohe Ausgaben gab es allerdings vorallem für den Bankensektor. Ausgaben-

Markus Koza

ist UG-Vertreter imÖGB-Bundesvorstandund Mitarbeiter derAUGE/UG in Wien.

Page 5: Alternative Mai 2010

kürzungen sollen dagegen querfeldein,über alle Ministerien und deren Bud-gets hinweg, erfolgen.

KONSOLIDIERUNG:AUSGABENSEITIGFür die nächsten vier Jahre (2011 bis

2014) wurde im Ministerrat ein Konso-lidierungsplan beschlossen. Ausgehan-delt wurde dieser von SP-Bundeskanz-ler Faymann und VP-FinanzministerPröll, die MinisterInnenriege war regel-recht überrumpelt. Für jedes der Jahre(selbst 2014, obwohl dieses Jahr schonin eine neue Legislaturperiode fällt)wurden „Sparpakete“ geschnürt. Der Fi-nanzrahmen für alle Ministerien wurdereduziert, es müssen Jahr für Jahr Spar-ziele („Konsolidierungserfordernis“) er-reicht werden. Das „Sparpaket“ 2011beläuft sich auf 1,6 Milliarden (was da-mit in etwa den 1,7 Milliarden be-

schlossene Sparmaßnahmen auf Bun-desebene entspräche), jenes für 2012auf eine Milliarde Euro, „Sparpaket“2013 auf 450 Millionen und 2014 aufrund 400 Millionen Euro – bis 2014kumuliert über 3,4 Milliarden Euro. Da-bei soll die prozentmäßige Kürzung ineinigen Bereichen (Arbeitsmarkt, Bil-dung, Wissenschaft) unterdurchschnitt-lich ausfallen. Der Löwenanteil derAusgabenkürzungen verbleibt aller-dings dennoch im Bereich Arbeit undSoziales, dem Ministerium mit demletzten einigermaßen populären SP-Mi-nister, jenem Bereich, in dem der Sozi-aldemokratie noch so etwas wie „Kern-kompetenz“ zugeschrieben wird. Offen-sichtlich herrscht in der SPÖ ein Todes-trieb. Aber auch jene Bereiche, die hin-sichtlich der prozentmäßigen Kürzung„geschont“ werden sollen, sind trotzdes offensichtlichen finanziellen undgesellschaftlichen Handlungsbedarfs

in diesen Politikfeldern schwer betrof-fen. Einige ausgewählte Zahlen:•Besonders drastisch fallen die Ausga-benkürzungen im Bereich Soziales undFamilie aus: alleine im Jahr 2011 sollenin diesen Bereichen 935,7 MillionenEuro eingespart werden (bis 2014:rund 2 Milliarden Euro), davon im Ka-pitel „Sozialversicherung“ (das sind dieSV-Pensionen) rund 247 Millionen (bis2014: 544,9 Millionen), im Kapitel„Pensionen“ (öffentlich Bediensteteund Ausgegliederte) 214 Millionen (bis2014: 483,7 Millionen) Euro. Im Kapi-tel „Soziales und KonsumentInnen-schutz“ (darin sind unter anderem dasPflegegeld und auch das Bundessozial-amt beinhaltet) stehen 2011 Ausga-benreduktionen von knapp 86 Millio-nen (bis 2014: 186 Millionen) Euro be-vor. Drastisch auch die Einschnitte im

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Kapitel „Arbeit“. Trotz Krise am Arbeits-markt mit anhaltend hohen Arbeitslo-senraten und einer entsprechend not-wendigen aktiven Arbeitsmarktpolitik,sind hier 2011 Einsparungen im Um-fang von fast 125 Millionen Euro ge-plant, die sich bis 2014 auf insgesamt267 Millionen Euro belaufen sollen. ImKapitel „Jugend und Familie“ stehen2011 Kürzungen im Umfang von zirka235 Millionen Euro an, die sich bis2014 auf 484,5 Millionen Euro kumu-lieren. Mit rund 1,5 Milliarden Euro anKonsolidierungsbedarf bis 2014 er-bringt also beinahe die Hälfte des ge-samten Einsparungsvolumens auf Bun-desebene das SP-dominierte Ministeri-um für Soziales, Arbeit und Konsu-mentInnenschutz. Wie das die SP dasihrer Kernklientel erklären will?•Im Kapitel „Unterricht inklusiveKunst und Kultur“ (SP) liegt die Konso-lidierungserfordernis 2011 bei fast 112Millionen Euro (bis 2014: 234 Millio-nen Euro). Der Bereich „Wissenschaftund Forschung“ (ÖVP) muss 2011 49,4Millionen Euro einsparen, bis 2014 inSumme 101 Millionen Euro.•Im Kapitel „Verkehr, Innovation, Tech-nologie“ (SPÖ) liegen die Einsparungenim Jahr 2011 bei rund 99 MillionenEuro, bis 2014 bei insgesamt 250,5Millionen Euro. Mit einem Konsolidie-rungsvolumen von über 10 Prozent imVergleich zum finanziellen Gesamtrah-men von 2,4 Milliarden Euro im Jahr2010, trifft es das BMVIT besondershart. Und es trifft wohl nicht nur dieStraßenprojekte (deren Nichtverfol-gung ja aus ökologischer Sicht durch-aus sinnvoll sein kann) sondern, was zubefürchten ist, auch den Bahnausbau.Und hier wohl vermutlich nicht jeneProjekte, die hinsichtlich ihrer Sinnhaf-tigkeit tatsächlich hinterfragenswertwären (wie etwa der Koralmtunnel).Dafür werden die betroffenen Landes-hauptleute schon sorgen.•Hart trifft es auch Justiz und Finanz-verwaltung (ÖVP). Im finanziell undpersonell ohnehin schon seit Jahrenangespannten Justizbereich sollen2011 einmal mehr knapp über 42 Mil-lionen eingespart werden, bis 2014 so-gar 92,6 Millionen (bei einem Justiz-haushalt 2010 von knapp unter 1,2Milliarden Euro). Gespart wird auch beider Finanzverwaltung, also jener Be-hörde, die dafür zuständig ist, dassauch tatsächlich Steuern gezahlt wer-

den, die Unternehmen und Landwirteprüft: hier liegt das Konsolidierungs-erfordernis 2011 bei 43,2 MillionenEuro, bis 2014 bei in Summe 84,6 Mil-lionen Euro (Haushalt Finanzverwal-tung 2010: knapp 1,2 Milliarden Euro).•Im Bereich „Gesundheit“ (SP) liegtder Konsolidierungsbedarf 2011 beirund 29 Millionen Euro, bis 2014 beiknapp über 64 Millionen Euro. Offen-sichtlich soll der Bundesbeitrag zu denLandeskrankenhäusern im Rahmen desFinanzausgleichs gekürzt werden.

Soviel auch schon über den beschlos-senen Konsolidierungsbedarf bekanntist, so wenig weiß mensch bislang, wotatsächlich eingespart werden soll undwelche Einzelpositionen betroffen sind.Es können nur Vermutung angestelltwerden: Im Bereich •Pensionen (private wie öffentliche)läuft das Einsparungsvolumen wohlauf Nullerhöhungsrunden hinaus,•Familie ist von einer Streichung derkürzlich eingeführten 13. Familienbei-hilfe bis zu einer „Vereinfachung“ desKinderbetreuungsgeldes (sprich Strei-chung einer der fünf angebotenen Va-rianten) die Rede,•Arbeit droht es wohl die aktive Ar-beitsmarktpolitik (inklusive Sozial-öko-nomischer Betriebe) zu treffen. Wobeiim Arbeits- und Sozialministeriumscheinbar gehofft wird, dass sich derAnstieg der Arbeitslosigkeit in Grenzenhalten wird.

Einschnitte wird es wohl beim Pfle-gegeld geben, ist dieses doch dergrößte Posten im Bereich „Soziales undKonsumentInnenschutz“. Möglichauch, dass das BundessozialamtAusgaben reduziert, was wieder denSozialen Dienstleistungsbereich emp-findlich treffen würde. Die einfachsteSparmaßnahme im Bildungsbereichwäre die Abschaffung des „Sitzen“-bleibens. Allerdings ist die ÖVP seitjeher strikt dagegen.

Für die Beschäftigten im öffentlichenDienst dürften zusätzlich zu weiteremPersonalabbau Nulllohnrunden vorge-sehen sein. Anders sind die veran-schlagten Einsparungspotentiale nurschwer zu heben.

Im Bereich der Wissenschaft und For-schung wird es wohl (angesichts bereitsbeschlossener Leistungsvereinbarungenmit den Universitäten) vor allem zu Las-ten der Forschung und der Fachhoch-schulen gehen. Mehr Geld für die Unis

scheint jedenfalls einmal mehr in weiteFerne gerückt.

Wirklich Konkretes gibt es nochnicht. Nun wird in den Ministerien ein-mal gerechnet und gesucht. Und ge-hofft, dass sie wohl finanzielle Mittelfür „Offensivmaßnahmen“ erhalten.Die Einsparungsmaßnahmen in denMinisterien treffen jedenfalls einmalmehr vor allem jene, die für die Krisenichts können. Zusätzlich gefährden sieZukunftschancen. Von einem massivenInvestitionsschub in Bildung oder so-ziale Dienstleistungen kann bei denvorliegenden Zahlen ohnehin keineRede sein. Gespart wird jedenfalls anfalscher Stelle, zum falschen Zeitpunkt.

KONSOLIDIERUNG:EINNAHMENSEITIGÜber Steuern sollen 1,1 Milliarden an

den Bund (1,7 Milliarden an Bund undLänder) fließen. Welche Steuern erhöht,beziehungsweise eingeführt werdensollen, darüber herrscht in der Regie-rung noch keine Einigkeit. Klar ist bis-lang, dass eine (wie auch immer aus-gestaltete) Bankensteuer kommt, dierund 500 Millionen Euro Mehreinnah-men bringen soll. Während die SPÖeine Vermögenszuwachsbesteuerung(also die Aufhebung der Spekulations-frist für Wertpapierverkäufe, ab denenKursgewinne steuerfrei gestellt sind),die Wiedereinführung der Börsenum-satzsteuer (jedenfalls bis eine europa-weite Finanztransaktionssteuer umge-setzt ist), sowie die Aufhebung vonSteuerprivilegien für Stiftungen will,setzt die ÖVP (unter dem Deckmantelder „Ökologisierung“) auf eine Erhö-hung der Massensteuern, vor allem derMineralölsteuer, im Ausmaß von bis zu1,5 Milliarden Euro.

SCHWARZER „ÖKOSCHMÄH“Spricht prinzipiell nichts gegen eine

Ökologisierung des Steuersystems(ganz im Gegenteil), spricht doch eini-ges gegen die ÖVP-Pläne. Diese dienennämlich vorwiegend der Budgetsanie-rung und nicht dem strukturellen Um-bau des Steuersystems im Sinne einersozial-ökologischen Steuerreform.

Diese Steuerreform, wie sie von Um-weltverbänden, UmweltökonomInnenetc. gefordert wird, ist weitgehend auf-kommensneutral und damit nicht als

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Maßnahme zur Budgetsanierung ge-dacht. Sie zielt auf die steuerliche Ent-lastung einkommensschwacher Haus-halte ab, da diese sonst von höherenEnergiesteuern unverhältnismäßig hartbetroffen wären. Aus jenem Aufkom-men von Ökosteuern, das nicht in eineSenkung von Abgaben auf Arbeit, be-ziehungsweise in soziale Ausgleichs-zahlungen fließt, werden zusätzlichMaßnahmen zum Klimaschutz finan-ziert. Das mögliche Umschichtungsvo-lumen von lohnabhängigen Abgabenhin zur Besteuerung von Energiever-brauch ist dabei durchaus beeindru-ckend, beläuft sich doch alleine dasAufkommen aus Kommunalabgabeund Wohnbauförderungsbeitrag imJahr 2009 auf über 3 Milliarden Euro.

Von einer sozialen Komponente imZuge einer „Ökologisierung“ des Steu-ersystems ist von der ÖVP allerdingsbislang nur wenig zu vernehmen. Nichtleistbar, sagt ÖVP-Minister Mitterleh-ner. Arbeit, ArbeitnehmerInnen undTransferbezieherInnen sollen nicht ent-lastet werden. Die SPÖ stellt sich dabeieiner Ökologisierung (zumindest nachdem ÖVP-Modell) ebenso entgegen,wie die ÖVP den Vorstellungen derSPÖ. Die ÖVP und Pröll verteilen aller-dings die Noch-Nicht-Einnahmen ausden höheren Massensteuern bereitsmunter um: dem ÖVP-Wirtschaftsminis-ter verspricht Pröll 100 Millionen fürthermische Sanierung, dem ÖVP-Um-weltminister 100 Millionen für „GreenJobs“, der ÖVP-Wissenschaftsministerin100 Millionen für Fachhochschulenund Forschung.

Damit wäre das Einsparungsvolumenbei Wissenschaft und Forschung aus-geglichen, Umwelt und Wirtschaft stie-gen sogar deutlich positiv aus. Für denBereich Soziales und Bildung hat Pröllnichts dergleichen angekündigt. Zah-len sollen’s jene, die nicht für die Kriseverantwortlich sind, allerdings über hö-here Massensteuern quasi im Allein-gang für die finanzielle Krisenbewälti-gung aufkommen sollen. Besonders be-troffen wären vor allem einkommens-schwache Gruppen, die jede Erhöhungvon Massensteuern ohne entsprechen-den sozialen Ausgleich überproportio-nal trifft. Eine konsequent falscheMaßnahme, verkauft unter dem Deck-mantel der „Ökologisierung“. Offen-sichtlich will die ÖVP den Begriff „Öko-logisierung“ nachhaltig beschädigen.

AUSGABESEITIGES SPARENVERSCHÄRFT SOZIALE KRISE Die steigende Staatsschuld (2009:

66,5 Prozent des BIP) und die damitsteigende Zinslast macht eine Rückfüh-rung der Budgetdefizite wohl notwen-dig. Die Frage ist nur, wie und wanndas geschieht. Sowohl das „Wie“ alsauch das „Wann“ sind falsch gewählt.

Konsequent falsch. Bereits 2011 mitAusgabenkürzungen zu beginnen,droht die soziale Krise weiter zu ver-schärfen. Denn die Krise, vor allem dieArbeitsmarktkrise, ist noch lange nichtüberwunden. Bedenkt mensch zusätz-lich, dass Umverteilung in Österreichvor allem ausgabeseitig (über Trans-fers, Bildung, Gesundheit und öffentli-che Dienstleistungen) erfolgt, bringenAusgabenkürzungen gerade in obenerwähnten Bereichen noch mehrUngleichverteilung, Chancenun-gleichheit, Armutsgefährdung undsoziale Schieflage mit sich. Aus derKrise nichts gelernt.

EUROPÄISCHER VERGLEICH:KEIN GRUND ZUR PANIKTatsächlich stellt sich die budgetäre

Situation Österreichs im europäischenVergleich auch keineswegs so drama-tisch dar, wie behauptet wird (Herbst-prognose der EU-Kommission). Miteinem Budgetdefizit von 3,4 Prozent(2009) und geschätzten 4,7 Prozent(2010) steht die Alpenrepublik ver-gleichsweise gut da. So liegt dasDefizit in •Irland etwa 2009 bei 12,5 Prozent(2010: 14,7 Prozent), •Frankreich bei 8,3 (2010: 8,2), •Italien bei 5,3 (2010: 5,3), •Deutschland bei 3,5 (2010: 5),•den USA liegt das Defizit 2009 bei11,3 (2010: 13)•Großbritannien bei 12,1 (2010: 12,91).

Interessant ist in diesem Zusammen-hang auch die Entwicklung der Staats-ausgaben im Verhältnis zum Bruttoin-landsprodukt: diese waren vor Beginnder Krise mit 48,6 Prozent am niedrigs-ten Stand seit 30 Jahren, um 2010 aufgeschätzte 51,2 Prozent (2009: 51 Pro-zent) zu steigen. Im Jahresvergleich1980 bis 2010 keineswegs ein Spitzen-wert, trotz Schwere der Krise. In denJahren 1983 bis 2004 lag so dieStaatsausgabenquote (Ausnahme:

2002) regelmäßig höher. Bemerkens-wert ist auch die Entwicklung der Steu-er- und Abgabenquote, die ja immerwieder als exorbitant hoch und drin-gend senkungsbedürftig bezeichnetwird. Diese lag 2009 bei 42,1 Prozentdes BIP, für 2010 wird sie auf 41,2 Pro-zent geschätzt (wobei diese Annahmeausgesprochen optimistisch erscheint).Zum Vergleich: 2001, als schwarz-blauregierte und das Nulldefizit feierte, lagdie Steuer- und Abgabenquote bei stol-zen 45,6 Prozent, eine Rekordabgaben-quote, 4,4 Prozent höher als 2010. Wirerinnern: das erwartete Budgetdefizit2010 liegt bei 4,7. Mit einer Abgaben-quote wie 2001 läge Österreich bei0,2–0,5 Prozent. Überhaupt: Europa-weit stehen meist jene Länder hinsicht-lich ihres Budgetdefizits am besten da,welche auch die höchsten Abgaben-quoten, jedenfalls über 40 Prozent,aufweisen: Dänemark, Schweden, Finn-land, Belgien, selbst Italien. Rekordde-fizite weisen Großbritannien, Spanien,Irland und Griechenland auf. Ländermit Steuer- und Abgabenquoten, diedeutlich unter 40 Prozent und vielfachnur knapp über 30 Prozent liegen.

EINNAHMENSEITE ORDENTLICH ANGEHENDie angedachte Konsolidierungspoli-

tik der nächsten Jahre ist also aus vie-lerlei Hinsicht schlichtweg falsch undin hohem Maß kontraproduktiv. Das al-lerdings konsequent.

Kommt es zu einer Erhöhung derMassensteuern, trifft dies vor allem un-tere Einkommensschichten und dämpftdie Nachfrage und damit die Wirt-schaftsentwicklung. Die von der SPÖvorgeschlagenen vermögensbezogenenSteuern wären zwar ein Schritt in dierichtige Richtung, allerdings wäre dasGesamtaufkommen zu gering, um ge-sellschaftlich sinnvolle Konjunktur- undBeschäftigungspakete in den Berei-chen Bildung, Soziale Dienste und Kli-maschutz zu schnüren. Auch gibt eskeinerlei Anzeichen, dass die SP vonden von ihr mitbeschlossenen „Sparpa-keten“ abweichen will. Eine sozialpoliti-sche Bankrotterklärung, welche die SPnoch schwer treffen wird: die drasti-schen Einschnitte ausgabeseitig dro-hen die Wirtschaftskrise in eine noch

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veritablere soziale Krise gleiten zu las-sen und die Konjunktur abzuwürgen.

Die beste Methode, ausgabenseitigzu sparen, ist immer noch die Bekämp-fung von Arbeitslosigkeit – verursa-chen doch 100.000 Arbeitslose Kostenvon 2,7 Milliarden Euro. Einnahmen-seitig gibt es genug Handlungsspiel-raum, um ein Mehr an Verteilungsge-rechtigkeit herzustellen sowie ein Mehran öffentliche Mittel ohne negativeAuswirkungen auf Beschäftigung, wirt-schaftliche, ökologische und sozialeEntwicklung zu lukrieren.

Ganz im Gegenteil: Einnahmenseitigkönnten endlich entsprechende Spiel-räume geschaffen werden, um eine po-sitive soziale, ökologische Entwicklungder Gesellschaft zu ermöglichen. Ent-sprechende steuerliche Maßnahmenwären nicht einmal besonders revolu-tionär, sondern würden sich vielfach(etwa bei Vermögens- oder Unterneh-menssteuern) am EU-Durchschnitt ori-entieren, und aus dem SteuerparadiesÖsterreich ein „normales“ Steuerlandmachen, in dem alle nach der ökono-mischen Leistungsfähigkeit ihren Steu-erbeitrag leisten:•Vermögensbezogene Steuern, nur aufEU-Schnitt angehoben, (Österreich: 0,6Prozent des BIP, EU 15: 2,1 Prozent desBIP) brächten jährliche Mehreinnah-men von zirka 4 Milliarden Euro (bezo-gen auf das BIP 2009 in Höhe von276,9 Milliarden Euro).•Eine höhere Besteuerung von Spit-zeneinkommen (ein Steuersatz von 55Prozent auf Jahreseinkommen ab140.000 Euro, 60 Prozent ab 500.000,die volle Besteuerung des 13./14. Mo-natsgehalts ab 100.000) brächte min-destens 300 Millionen Euro im Jahr.Die Rücknahme des Gewinnfreibetragsfür Selbständige (ein sachlich nicht be-gründbares 13./14. Monatsgehalt fürSelbständige) brächte zwischen 160und 300 Millionen Euro, eine Rücknah-me der Steuergrenze, ab der 50 Pro-zent Einkommenssteuer zu zahlen ist(von 60.000 auf wieder 51.000 Euro)noch einmal 120 Millionen Euro.•Auch im landwirtschaftlichen Bereichbestünde dringender Handlungsbe-darf. Österreichs Landwirte zahlen beieinem Subventionsvolumen von 2,2Milliarden Euro lediglich 98 Millionenan Steuern. Das Prinzip der Pauschalie-rung widerspricht dem steuerlichenGrundsatz, wonach jede/r entspre-

chend seine/r Leistungsfähigkeit einenBeitrag zum Steueraufkommen leistensoll. Das Umstellen der Pauschalierungauf eine normale Einnahmen-Ausga-benrechnung brächte rund 200 Millio-nen Euro, die von den Landwirten ein-behaltene aber nicht abgelieferte Um-satzsteuer noch einmal rund 100 Mil-lionen, die Abschaffung diverser Steu-erprivilegien (keine KfZ-Steuer auf Trak-toren, Agrardieselrückvergütung etc.)noch einmal rund 170 Millionen Euro.Dabei wäre keine Subvention für dieLandwirtschaft gestrichen, allerdingsmehr Steuergerechtigkeit hergestellt. •Die Streichung des Alleinverdiener-absetzbetrags brächte rund 360 Millio-nen Euro.•Die Streichung der beschäftigungs-politisch kontraproduktiven steuerli-chen Begünstigung von Überstundenbrächte nach WIFO-Schätzungen rund150 Millionen Euro.•Eine Anhebung des Aufkommens ausGewinnsteuern auf EU-Niveau (2007EU-15: 9 Prozent, Österreich 5,8 Pro-zent), etwa durch die Abschaffung derGruppenbesteuerung oder das Schlie-ßen von steuerlichen Gestaltungsspiel-räumen, brächte, bezogen auf dasKÖST-Aufkommen 2009, Mehreinnah-men von über 2 Milliarden Euro.•Und schließlich eine weitgehend auf-kommensneutrale sozial-ökologischeSteuerreform, die zum Beispiel übereine CO2-Steuer fossile Energieträgerhöher besteuert und ArbeitnehmerIn-nen entlastet. In einer ersten Umbau-phase könnten so über drei Jahre dreiMilliarden Euro an Steueraufkommen(rund ein Prozent des BIP) von Arbeithin zu klima- und umweltschädigendenEnergieträgern umgeschichtet werden.Dabei wird Arbeit über eine Lohnsum-mensteuersenkung um bis zu 1,1 Milli-arden Euro entlastet, ArbeitnehmerIn-nen und private Haushalte über Steu-ergutschriften beziehungsweise überTransfers um bis zu 1,7 Milliarden Euro,was insbesondere kleinen und mittle-ren EinkommensbezieherInnen zu Gutekommt. Zweihundert Euro würden ineinen Fonds fließen, der Haushaltebeim Umstieg von fossilen zu erneuer-baren Energieträgern finanziell unter-stützt, aus dem Energieberatung undEnergiesparmaßnahmen für Private fi-nanziert werden. Im Sinne einer Ökolo-gisierung gilt es jedenfalls auch die Mi-neralölsteuerbefreiung, beziehungswei-

se -begünstigung von fossilen Treib-stoffen beigemengten „Bio“-Sprit, des-sen Erzeugung gerade aus klima-, um-welt- und ernährungspolitischen Grün-den in höchstem Maße bedenklich ist,abzuschaffen. Das brächte zwischen200 bis 300 Millionen Euro.

In Summe wäre alleine mit derarti-gen Maßnahmen ein zusätzliches jähr-liches Steueraufkommen von 7 bis über8 Milliarden Euro erzielbar. Sozial ga-rantiert treffsicher, ökologisch lenkend,die Massenkaufkraft nicht beeinträchti-gend und eindeutig von oben nach un-ten umverteilend. Bezogen auf das BIPwürde sich die Steuer- und Abgaben-quote gerade einmal um rund 2–3 Pro-zent erhöhen, und damit immer nochdeutlich unter der Rekordsteuer- undAbgabenquote unter FinanzministerKarl-Heinz Grasser liegen.

Damit wären „Offensivmaßnahmen“,eine Bildungsmilliarde, eine Sozialmilli-arde und beschäftigungswirksame Kli-maschutzmaßnahmen, wie thermischeSanierung, sowie eine Entlastung klei-ner und mittlerer Einkommen und eineumfassende soziale und infrastrukturel-le Grundsicherung nachhaltig finan-zierbar. Gleichzeitig wird so auch (ohneAusgabekürzungen in gesellschaftlich,sozial und politisch sensiblen Berei-chen und ohne Erhöhung von Massen-steuern) eine behutsame Budgetkonso-lidierung möglich.

Vor allem würden nicht jene einmalmehr für eine Krise zahlen müssen, fürdie sie nichts können und für die siebereits bezahlt haben. Was derzeit al-lerdings auf europäischer, wie nationa-ler Ebene geschieht, lässt einenschlichtweg verzweifeln. Aus der Krisewurde nichts gelernt. Es soll weiterge-hen wie bisher. Es wird falsche Politikweitergeführt. Und das mit aller dra-matischen Konsequenz.

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Am 18. April luden AUGE/UG und KIV/UG unter dem Titel „Wir stürmen den Gipfel zu Sozialmilliarde“ zum gewerkschaftlichen

Sozialgipfel ins Wiener Rathaus.

ROUTEN ZUM GIPFEL

Weit über 100 Beschäftigte, Betriebsrät-Innen, PersonalvertreterInnen aus demSozial- und Gesundheitsbereich und In-teressierte folgten der Einladung. DasZiel der Veranstaltung: ein Aufriss überdie Problemlagen im Sozial- und Ge-sundheitsbereich, die Formulierung vonForderungen an die Politik, das Voran-treiben der Vernetzung der Betroffenen.

Wissenschaftliche Inputs liefertendabei Nikolaus Dimmel, Universitäts-professor an der Uni Salzburg, Expertefür Sozialwirtschaft und ElisabethHammer vom FH Campus für Sozialar-beit und Mitbegründerin des VereinsKritische Soziale Arbeit.

WIRTSCHAFTLICHE BEDEUTUNGUND PROBLEME Niklaus Dimmel gab in seinem Input

einen kurzen Überblick über den Be-reich der Sozialwirtschaft: mit über6.000 Betrieben, einem Umsatz von 4Milliarden Euro (ohne Spendenaufkom-

men) und rund 140.000 Beschäftigten(240.000 im gesamten Sozial-, Ge-sundheits- und Veterinärwesen) ist dieSozialwirtschaft ein bedeutender Ar-beitgeber und Wirtschaftsfaktor. DieBeschäftigungsverhältnisse im Sozial-bereich seien allerdings von Präkarisie-rung und Atypisierung geprägt, Be-schäftigungszuwächse vor allem aufTeilzeit zurückzuführen.

Der Sozialsektor sei nicht nur in die-ser Hinsicht geradezu ein Muster „neo-liberaler“ Umstrukturierungsprozesse:es sei ein regelrechter Sozialmarkt ent-standen, der KlientInnen als KundIn-nen sehe, in dem massive Rationalisie-rungsprozesse stattfinden würden, undder in hohem Maße von Dequalifizie-rungstendenzen betroffen sei, da ein-heitliche Qualitätsstandards fehlenwürden – nicht zuletzt, weil der Sozial-sektor föderal strukturiert sei. Da sichdie öffentliche Hand mehr und mehraus der Finanzierung sozialer Dienst-leistungen verabschieden würde, wür-

den zunehmend KlientInnen finanziellstärker belastet. Viele könnten sichdaraufhin soziale Dienste nicht mehrleisten, soziale Dienste würden hin zurfamiliären Ebene „privatisiert“ also aufdie Angehörigen abgeschoben.

Der Sozialbereich sei außerdem einNiedriglohnsektor, Einkommen stündenin keinem Verhältnis zum Wert der ge-leisteten sozialen Arbeit, die Unterneh-men der Sozialwirtschaft bekämen nurkurzfristige, meist Ein-Jahre-Verträge,was eine länger ausgerichtete perso-nelle und inhaltliche Planung nicht zu-läßt. Sozialwirtschaftliche Unterneh-men seien in ihrem Bestand perma-nent bedroht. Weiters gebe es keineBindungswirkung der öffentlichen För-dergeber an den BAGS, was eine Perso-nalkostenkalkulation schwierig mache.Dimmel sinngemäß: „Während allge-mein akzeptiert sei, dass die SalzburgerFestspiele einen öffentlichen Finanzie-

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Der Sozialsektor ist ein Muster „neoliberaler“ Umstrukturierungsprozesse: Ein Sozialmarkt ist entstanden, der KlientInnen als KundInnen sieht

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rungsvertrag über zehn Jahre haben,gibt es für soziale Vereine Ein-Jahres-Verträge“. Vollkommen fehle auch eineSozialplanung auf so gut wie allen ge-bietskörperschaftlichen Ebenen, so diescharfe Kritik Dimmels.

SOZIALE ARBEIT IST MEHRUND BRAUCHT MEHRElisabeth Hammer ging in ih-

rem Input vor allem auf die ge-änderten gesellschaftlichenRahmenbedingungen fürsoziale Arbeit ein. SozialeArbeit sei von Verdich-tung und Präkarisierunggeprägt, verdeutlichteHammer noch einmal.Leistungen aus sozialer Ar-beit seien nicht standardi-sierbar, weil jede KlientIn an-dere Bedürfnisse hätte. SozialeArbeit erlebe allerdings nicht nur eineArbeitsverdichtung, sondern auch eineAusdehnung der Tätigkeitsfelder –sprich Bürokratisierung. Dies führe zuDequalifizierungsprozessen, weil er-langte Qualifikationen nicht mehr ge-nutzt oder nachgefragt würden.

Da soziale Arbeit Care-Arbeit anMenschen sei braucht sie eine anderefinanzielle und gesellschaftliche Bewer-tung als der industrielle Fertigungsbe-reich. Soziale Arbeit braucht mehr Geld– für einen anderen Umgang mit Men-schen, die ihre Leistung in Anspruchnehmen und nutzen. Der Kampf umbessere Arbeitsbedingungen in der so-zialen Arbeit sei daher auch der Kampfum einen anderen, besseren Wohlfahrt-staat, der vor allem auch einen höherengesellschaftlichen Mehrwert für allebrächte. Ausgesprochen erfreut zeigtesich Hammer, dass aus allen Bereichender sozialen Arbeit Interessierte gekom-men wären. Dies zeige, dass die Pro-blemlagen überall ähnlich seien.

ARBEITSGRUPPEN Entsprechend waren auch die Ergeb-

nisse aus den Arbeitsgruppen, die denSozialgipfel über fünf „Routen“ bestie-gen, die •angefangen beim Behinderten- undpsychosozialen Bereich, •über den Kinder- und Jugendwohl-fahrtsbereich,

•zum Bildungs-, Kinder- und Jugend-betreuungsbereich, •über die Route der Sozialarbeit •bis zum Pflege- und Gesundheitsbe-reich führten.

Unisono wurde mehr Geld und Per-sonal gefordert, nicht nur, um selbst„nicht auf der Strecke“ zu bleiben, son-dern sich endlich wieder mit den

KlientInnen intensiver aus-einander setzen zu

können. Soziale Ar-beit müsse fi-

nanziell undgesellschaftli-che deutlichaufgewertetwerden, Defi-zite in der so-

zialen Versor-gung beseitigt

werden (zum Bei-spiel Jugendzahnkli-

niken in Wien). Vor allemmüsse sozialer Profit höher bewertetwerden als wirtschaftlicher.

In der anschließenden Podiumsdis-kussion wurden die Ergebnisse disku-tiert. Heftige Kritik wurde dabei immerwieder an den Gewerkschaften geübt,die sich zu wenig für die Interessen derin der Sozialarbeit Beschäftigten küm-mern würden. Es müsse entschiedenenWiderstand geben, um die drohendenEinsparungsmaßnahmen im Sozialbe-

reich zu verhindern. Wie dieser aller-dings aussehen müsste – darüberherrschte dann doch einige Unklarheit.Der „Kindergartenaufstand“ hätte je-denfalls gezeigt, dass Proteste durch-aus auch etwas bewirken würden.

WAS FOLGT NUN AUS DEM SOZIALGIPFEL?Wir werden die Forderungen aus

dem Sozialgipfel den Ministern Hunds-torfer und Pröll zukommen lassen undeine Stellungnahme verlangen. Wasnun auch endlich kommen soll, ist dieparlamentarische Enquete zur Sozial-milliarde. Für uns war dieser Gipfel einAuftakt, der auch für uns heißt, dieVernetzung und Kooperation der Be-schäftigten im Sozialbereich weiter vor-anzutreiben und neue – wie alte – Pro-testformen zu suchen und zu entwi-ckeln. Eines wurde allerdings einmalmehr klar:Her mit der Sozialmilliarde – dennsoziale Arbeit ist nicht nur mehr wert,sie bringt auch gesellschaftlichenMehrwert!

Die Präsentationen und Referate von Niko-laus Dimmel und Elisabeth Hammer sind aufder AUGE/UG-Homepage (www.auge.or.at)am Ende des Beitrags „Das war der Sozial-gipfel im Wiener Rathaus“ downloadbar.

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Antrag der AUGE/UG zur 153. Vollversammlung der Arbeiterkammer Wienam 28. April 2010

Her mit der Sozialmilliarde – Für einKonjunkturpaket Pflege, Betreuung undsoziale Dienste

Die Sozialwirtschaft ist mit 6000 Unternehmen, rund140.000 Beschäftigten (240.000 insgesamt im Sozial-, Ge-sundheits- und Veterinärwesen) und einem Umsatz von 4 Milli-arden Euro (ohne Spendenaufkommen) eine bedeutende volks-wirtschaftliche Größe. Der Bereich der Sozialwirtschaft stelltdabei nicht nur die für einen funktionierenden Sozialstaat un-abdingbare soziale Infrastruktur im Bereich der Care-/Sorgear-beit – von Behindertenbetreuung über Pflege bis zu Sozialar-beit und Kinderbetreuung – zur Verfügung, sondern leistet ei-nen wesentlichen Beitrag zu gesellschaftlichem Wohlstand undsozialem Zusammenhalt. So hat etwa die britische „new econo-mics foundation“ errechnet, dass jedes bezahlte Pfund an Ein-kommen für Kinderbetreuung den gesellschaftlichen Wohl-stand um 9,50 Pfund erhöht. Ohne soziale Infrastruktur, ohneCarearbeit wäre die Erwerbsbeteiligung breiter Bevölkerungs-gruppen und damit die Generierung von eigenem Einkommen,Chancen und gesellschaftlicher Teilhabe – vor allem für Frauen– erst gar nicht möglich.

Im Sozial- und Gesundheitssektor liegen hohe Beschäfti-gungspotentiale – sowohl im Bereich der privaten als auchkommunalen Dienste. Massive Versorgungsdefizite bestehenbei der Kinderbetreuung, der Jugend- und Schulsozialarbeit, imBereich Integration, in der Pflege, im Bereich betreutes undbetreubares Wohnen.

Beschäftigungszuwächse im Sozialbereich gehen bislang al-lerdings fast ausschließlich auf atypische Arbeit zurück. Der So-zialbereich gilt als Niedriglohnsektor (Einkommensmedian:18.706 Euro/Jahr, unteres Drittel im Branchenvergleich, Sozi-albereich liegt 20 Prozent unter dem Durchschnitt sämlichterBruttobezüge) mit hoher physischer und psychischer Belastungder Beschäftigten und schlechten Arbeits- und Einkommensbe-dingungen, was sich in hoher Fluktuation – vor allem im Alten-pflegebereich, steigenden Burn-Out-Raten, hoher Arbeitsdichte,überdurchschnittlich hohen Teilzeitquoten, langen Verweildau-ern im Grundgehalt und einem hohen Ausmaß an unbezahlterArbeit ausdrückt. Die Relation zwischen Qualifikationsanforde-rungen einerseits und Bruttoeinkommen andererseits habensich im Sozialbereich gegenüber dem „For Profit Bereich“ ver-schlechtert.

Zurückzuführen sind diese Entwicklungen vor allem auf diezunehmende Verabschiedung der öffentlichen Hand aus der Fi-nanzierung, beziehungsweise Erbringung sozialer Dienste:Normkostensätze sind in der Regel nicht kostendeckend, Finan-zierungsverträge sind meist kurzfristig angelegt und ermögli-chen keine mittel- bis langfristige Personal- und Bestandspla-nung, hinsichtlich der Personalkostenkalkulation gibt es keine„Bindungswirkung“ des BAGS, es fehlt auf praktisch allen Ebe-nen – insbesondere bei den Ländern – eine umfassende Sozial-planung. Steigende Eigenleistungen der zu betreuenden Klient-Innen verunmöglichen teilweise die Inanspruchnahme sozialerDienste und befördern einmal mehr Atypisierungprozesse derBeschäftigungsverhältnisse im Bereich der Sozialwirtschaft.

Im kommunalen Sozial- und Gesundheitsbereich stellt sichdie Situation nicht wesentlich anders dar: Auch hier sind dieBeschäftigten mit hoher Arbeitsverdichtung, akutem Personal-mangel und steigendem Arbeitsdruck konfrontiert. Zusätzlichverabschieden sich die Kommunen zusehends aus der Erbrin-gung sozialer Dienstleistungen, gliedern diese aus oder über-lassen privaten Anbietern die Leistungserbringung, ohne dieseausreichend finanziell zu dotieren, was wieder eine Atypisie-rung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse zur Folge hat.

Seitens der Gewerkschaften wird bereit seit längerer Zeiteine Sozialmilliarde für den Ausbau sozialer Infrastruktur, zurVerbesserung der Arbeits- und Einkommensbedingungen derBeschäftigten im Sozialbereich und als beschäftigungswirksa-me Konjunkturmaßnahme gefordert. Die geforderte Sozialmilli-ardeenquete im Parlament hat allerdings immer noch nichtstattgefunden. Vielmehr drohen Einsparungen im Arbeits- undSozialbereich – auf Bundes- wie Länder- und Gemeindeebene –den wirtschafts- wie sozialpolitisch so wichtigen sozialwirt-schaftlichen Sektor und damit die Beschäftigten und die Quali-tät sozialer Dienste einmal mehr unter zusätzlichen Druck zusetzen.

Es wurde bereits zu lange zugewartet. Die Beschäftigten imSozialbereich sind am Limit. Weil soziale Arbeit nicht nur mehrwert ist, sondern vor allem auch einen hohen gesellschaftli-chen Mehrwert bringt, braucht es einen massiven Investitions-schub zum Ausbau privater und kommunaler sozialer und Ge-sundheitsdienste! Es braucht jetzt eine Sozialmillarde!

Die 153. Vollversammlung der AK-Wien möge daher beschließen:

Die Arbeiterkammer Wien fordert die österreichische Bundes-regierung sowie den Gesetzgeber auf, eine Sozialmilliarde fürden Ausbau und die qualitative Verbesserung kommunaler undprivater sozialer Infrastruktur, zur Verbesserung der Arbeits-und Einkommensbedingungen der Beschäftigten im privatenund kommunalen Sozial- und Gesundheitsbereich, sowie alsbesonders beschäftigungswirksame Konjunkturmaßnahme zubeschließen.

Die Arbeiterkammer Wien fordert gleichzeitig die Verant-wortlichen in Bund, Länder und Kommunen auf, umgehend inVerhandlungen zu treten, um die rechtlichen Rahmenbedin-gungen für die Erbringung sozialer Dienstleistungen zu verbes-sern. Diese beinhalten insbesondere:•verbindliche Vorgaben von mittelfristigen Rahmenverträgenzur Erhöhung der Planungs- und Bestandssicherheit von sozial-wirtschaftlichen Unternehmen (mittelfristige Finanzierungsver-einbarungen)•Angleichung der Standards durch Art. 15a B-VG Vereinba-rung mit verbindlicher Wirkung auch für das AMS•Gleichartige Sozialplanungsstandards in den Bundesländern,Gemeinden und AMS•verpflichtende Mindestpersonalschlüssel, Betreuungsschlüsselund maximale Fallzahlen, abgestimmt auf einfachgesetzlicheQualitätsvorgaben•Bindungswirkung der Fördergeber an den BAGS-KV•Herausnahme der sozialen Dienstleistungen von gemeinnüt-zigen Erbringern aus dem Vergaberecht•deutliche finanzielle Aufwertung der Sozial- und Gesund-heitsberufe

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24. März 2010 diskutierten Dr.Sabine Vogler, Sprecherin der

Arbeitsgruppe für verfolgte Ge-werkschafterInnen von Amnesty

International (AI), Mag. Felix Hnat, be-troffener Tierrechtsaktivist, sowie HeinzDürr, Arbeitsrechtsexperte, AUGE/UG,über die Auswirkungen des §278 StGBauf die Gewerkschaftsbewegung.

Zunächst schilderte Mag. Felix Hnatdie Vorgeschichte der derzeit stattfin-denden Prozesse gegen die 13 Tier-rechtsaktivistInnen. Diese wurden2008 nach Hausdurchsuchungen fürüber 3 Monate in Untersuchungshaftfestgehalten, obwohl ihnen keine kon-kreten Straftatbestände nachgewiesenwerden konnten. Grundlage für diesesVorgehen war der § 278 a („Bildung ei-ner kriminellen Organisation“). Da-durch bekam die Sonderkommissionbereits 2007 weitreichende Ermitt-lungsbefugnisse, wie Videoüberwa-chung, Abhörmaßnahmen oder E-Mail-Auswertung. Insgesamt sind etwa 5Millionen an Steuergeldern in die Er-mittlungstätigkeit der SOKO gelaufen.Dabei haben in den letzten 15 Jahrenur etwa 30 Sachbeschädigungenstattgefunden.

Dr. Sabine Vogler zeigte in ihrem In-put auf, wie GewerkschafterInnen in-ternational behindert, beziehungsweiseverfolgt werden. Sei es in Tunesien, wodie Führung der Einheitsgewerkschafteine enge Verbindung zur Regierunghat und kritische GewerkschafterInnenmit Problemen zu kämpfen haben,oder in der Türkei, wo sich seit den An-titerrorgesetzen die Lage der Gewerk-schaften wieder verschärft hat und so-

gar schon Kinder bei Demonstrationenverfolgt werden.

Heinz Dürr schildert, dass seit Grün-dung der Gewerkschaften 1870 nur inder Zeit von 1933 bis 1945 gewerk-schaftlicher Kampf als kriminell gewer-tet wurde. Derzeit sieht er zwar keineGefahr für die Gewerkschaftsbewe-gung, aber wenn sich die gesellschaftli-chen Verhältnisse ändern, könnte esdurchaus gefährlich werden. Im ÖGB-Statut ist verankert, dass sich der ÖGBals Kampforganisation sieht. Streik istin Österreich eine geduldete Form desWiderstands, erlaubt sind die Teilnah-me und die Durchführung eines Streiks.Er stellt fest, dass das herrschendeRecht immer das Recht der Herrschen-den ist, und dass wir nur in einer hal-ben Demokratie leben, die innerhalbdes Betriebes aufhört – was für vieleMenschen leider selbstverständlich istund gleichzeitig auch Vorbildwirkungfür die Bereiche außerhalb des Betrie-bes hat.

Die Diskussion drehte sich um die Ge-setzgebung und ähnliche Prozesse inanderen (EU)-Ländern, sowie um dieProblematik einer immer verstärkt statt-findenden Gesetzgebung im Namen desKampfes gegen den Terrorismus. Bei-spiele unter dem Deckmantel Terrorver-dacht gibt es einige: sei es in Deutsch-land nach § 129a, wo ein Soziologedurch seine wissenschaftliche Arbeitendas theoretische Rüstzeug für Brandan-schläge geliefert haben soll, dem Vor-wurf des Verstoßes gegen den § 34 Au-ßenwirtschaftsgesetz durch eine Soli-Spendensammlung für eine unter an-geblichen Terrorverdacht stehende Or-ganisation, oder auch die ersten Prozes-

se nach § 278 in Österreich: die soge-nannte „Operation Spring“ sowie der so-genannte „Islamistenprozess“. Hnatsieht den Trend, den § 278 als Begrün-dung für weitreichende Ermittlungsbe-fugnisse herzunehmen. Gleichzeitig gibtes auch verstärkt das Muster, weltweitgegen soziale Bewegungen vorzugehen.Dürr warnt davor, der Illusion einer Frei-heit zu unterliegen: ArbeitnehmerInnenhaben persönliche und wirtschaftlicheAbhängigkeiten.

In der anschließenden Runde, zumThema Beispielwirkung einer eventuel-len Verurteilung und Handlungsmög-lichkeiten, spricht Dürr davon, dass esbei AK und ÖGB scheinbar noch keinProblembewusstsein gibt. Eine Verur-teilung hätte eine große Beispielwir-kung, aus diesem Grund ist ein „Weh-ret den Anfängen“ wichtig, auch imZusammenhang mit den Übergriffenbei den Protesten gegen den WienerKorporations-Ring-Ball. Vogler weistdarauf hin, dass politischer Widerstandoft zu wirtschaftlichen Konsequenzen(Entlassung, schwarze Listen) und öko-nomischem Druck führt. Kolumbien istzum Beispiel das Land mit der höchs-ten Zahl an ermordeten Gewerkschaf-terInnen. Für Hnat könnten Arbeits-kämpfe und Demonstrationen nachdieser Gesetzgebung als Nötigung auf-gefasst werden. Sind es anfangs nochkleine isolierte Gruppen, so besteht beieiner Verurteilung ohne größere Protes-te die Gefahr, dass immer stärkere„GegnerInnen“ ausgesucht werden.

Als Protestaktionen bieten sich AIBriefe an, aber auch Anfragen an denÖGB, die Aktionen zu unterstützen.Gerade AK und ÖGB könnten viel tun,wie zum Beispiel Stellungnahmen beiparlamentarischen Begutachtungenabzugeben. Auf www.tierschutzpro-zess.at kann der Prozess nachverfolgtwerden, derzeit gibt es zwei große Pro-testaktionen: die Selbstanzeigenaktionund die Protestmail-Aktion gegen diegeplante Verschärfung des § 278. (bei-des unter www.demokratie-retten.at)

Nachsatz: die Veranstaltung war üb-rigens am nächsten Tag kurz Themabeim Prozess: „Richterin befragt Zweit-besch. zu seinem gestrigen Vortragüber § 278 und Gewerkschaften“.

In diesem Sinne: Wehret den Anfängen!

RECHTSSTAAT ÖSTERREICH?

Was kümmert der § 278 die

Gewerkschaftsbewegung?

Von Renate Vodnek.

Am

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Renate vodnek

ist psychologin und gewerkschafts-aktivistin.

§278

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ie Ausgangslage war nichtnur rosig: Im September hat

sich die KIV von ihren Kolleg-Innen bei den Wiener Linien ge-

trennt (sie haben zu stark „Toleranz“mit „Öffnung nach rechts“ gleichge-setzt) und dann hat sich auch noch derKollege, der 2006 allein bei Wienstromangetreten war, entschlossen, nichtmehr zu kandidieren. Zudem wird dasKlima in der Gewerkschaft immer mie-ser. Kein Geld für den Wahlkampf,stattdessen Schikanen, wo es nur geht.

Andererseits hat sich bei den WienerKindergärten einiges getan, und das –deutlich sichtbar für die KollegInnen –auf Betreiben der KIV. Die „Rüge“ derGewerkschaft dafür („überflüssiger“Aktionismus war noch das Gelindeste)ist den KollegInnen auch sauer aufge-stoßen. Und, es haben sich KollegIn-nen aus neuen Bereichen für Kandida-turen gefunden und einige Bereichehaben sich verstärkt.

Alle Listen, die wir eingereicht ha-ben, hatten genügend Unterschriftenund sind anerkannt worden. Die KIVkandidiert bei der Personalvertretungs-wahl in 29 Dienststellen. Bei der Ge-werkschaftswahl in 4 Hauptgruppen.Insgesamt gibt es bei den kommendenWahlen etwa 390 Menschen, die inWien für die KIV kandidieren.

NEU: SCHULWARTINNENEin Bereich, in dem es immer nur die

FSG gegeben hat. Dementsprechendsind unsere KandidatInnen immer wie-der heftigen Angriffen ausgesetzt. Daes dieses Jahr in der Wahlauseinander-

setzung der FSG sehr oft recht persön-lich wird, danken wir den KollegInnenganz besonders für ihren Mut (eigent-lich unglaublich, dass sie wirklich Mutbrauchen, um bei einer Wahl zu kandi-dieren).

NEU: BEZIRKSÄMTERMIT STANDESÄMTERNEin alter Wunsch geht in Erfüllung,

es haben sich KollegInnen gefunden,die kandidieren. Auch hier wirds dieKIV erstmals in einem reinen FSG-Be-reich geben.

NEU: WIENER WOHNENEine Kandidatur bei Wiener Wohnen

haben wir immer wieder versucht, dies-mal ist es so weit. Es haben sich Kolle-gen gefunden, die kandidieren.

AUSGEBAUT: WIEN-KANALBei Wien-Kanal hat ein Kollege letz-

tes Mal allein kandidiert und gleichzwei Mandate gemacht. Jetzt sind siezu dritt. Wir gratulieren.

AUSGEBAUT: DAS DONAUSPITALDort hat es schon einmal eine starke

KIV gegeben, in der letzten Zeit abernicht so sehr. Heuer kandidieren 28KollegInnen mit einer breiten Streuungdurch die Berufsgruppen.

ZUSAMMENGELEGT: SMZ-SÜDIm Preyerschen Kinderspital gibt’s

schon lang eine KIV-Mehrheit. Das Spi-tal wird aber mit dem Kaiser-Franz-Jo-sef-Spital zusammengelegt und heuerwird schon gemeinsam kandidiert. EineHerausforderung für 34 KIVlerInnen,die sich dort zu einer Liste zusammen-gefunden haben.

NACHFOLGE GESCHAFFTBei Jugend-Bildung hatte die KIV im-

mer starke KandidatInnen, die aller-dings inzwischen in die Jahre gekom-men sind. Es freut uns, mitzuteilen,dass die Nachfolge gut geklappt hat,es gibt viele neue wunderbare Kandi-datInnen!

STARKES TEAM:PARKRAUMÜBERWACHUNGDa diese Dienststelle neu ist (früher

bei der „Allgemeinen Verwaltung“),freut es uns besonders, dass sich gleichacht KollegInnen zu einer KIV-Liste zu-sammengefunden haben.

SONDERFALL: KMSfB Im Sommer haben die GdG und die

„Kunst, Medien, Sport, freie Berufe“(KMSfB) fusioniert. Daher wird erst-mals in der KMSfB gewählt. Wir haben7 KandidatInnen und brauchten 64Unterschriften. Das ist nicht wenig,war aber dank einer beispiellosen Bei-trittskampagne machbar. Allein in denletzten Feber- und ersten März-Tagensind auf unseren Hinweis 45 Men-schen der Gewerkschaft beigetreten.(„Rüge“ aus der Zentrale und vieleHoppalas)

PENSIONISTINNEN Wir haben zwanzig KandidatInnen,

das ist ganz problemlos, immer mehrvon uns gehen schließlich in Pension.Allerdings blieb die Hürde der hundertUnterschriften. Die aber auch ge-schafft wurde.Also: möge der 7. Mai ruhig kommen.Wir werden berichten.

Wahlen bei den Wiener Gemeindebediensteten am 7. Mai

GUT UNTERWEGSZuversichtlich schauen

die KIVlerInnen der Wahl

entgegen.

Von Lisa Langbein.

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Lisa Langbein

ist UG-Vorsitzende undarbeitet in der KIV.

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Wilfried Mayr über den Bologna-Prozess.

HUSCH-PFUSCH?

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er Begriff Bologna-Prozess bezeichnetein politisches Vorhaben zur Schaffungeines einheitlichen europäischen Hoch-schulwesens, ursprünglich bis zum Jahr2010 angelegt. Es folgt der aggressi-ven Lissabon-Strategie der europäi-schen Staats- und Regierungschefsvom März 2000, derzufolge die EU in-nerhalb von zehn Jahren zum wettbe-werbsfähigsten und dynamischstenwissensgestützten Wirtschaftsraum derWelt (!) werden soll („Heute gehörtuns Europa, morgen …“). Expansion aufKosten der USA und Japans und insge-samt auf Kosten der Schwellen- undEntwicklungsländer. Der Bologna-Pro-zess beruht auf einer im Jahre 1999von 29 europäischen Bildungsminister-Innen im italienischen Bologna unter-zeichneten, völkerrechtlich nicht bin-denden „Bologna-Erklärung“.

Ein erstes allgemeines völkerrechtli-ches Abkommen zur gegenseitigen An-erkennung von Studienabschlüssen er-arbeitete der Europarat zusammen mitder UNESCO am 11. April 1997 in derLissabon-Konvention. Diese legte dieprinzipielle Anerkennung aller Studien-abschlüsse der Unterzeichnerstaatenuntereinander fest. Im Gegenzug solltejedes Land zusätzliche Bedingungenzur Fortsetzung eines bereits im Aus-land begonnenen Studiums in seinenGrenzen definieren dürfen, wobei dieTransparenz des Verfahrens gegebensein sollte. Ferner enthielt die Überein-kunft Regelungen zur Beilegung eines

Diploma Supplement (sinngemäß:„Leistungsnachweis“) zu jeder Hoch-schulurkunde.

Die Initiative zur Vereinheitlichungdes bestehenden europäischen Hoch-schulbetriebs geht auf eine gemeinsa-me Erklärung der Bildungsminister derdamals vier größten Mitgliedsländerder Europäischen Union (Frankreich,Deutschland, Italien, Großbritannien)im Jahr 1998 zurück. Aufgrund ihresUnterzeichnungsortes wurde diese „Ge-meinsame Erklärung zur Harmonisie-rung der Architektur der europäischenHochschulbildung“ vom 25. Mai 1998als Sorbonne-Erklärung bekannt. Darü-ber hinaus forderte die Erklärung, imAusland erbrachte Leistungen in einemsolchen Hochschulraum unbürokratischanerkennen zu lassen, die studentischeMobilität zu fördern und ein Kredit-punktesystem zu erlassen. Inzwischensind 46 Länder der Bologna-Erklärungbeigetreten.

Der Bologna-Prozess verfolgt drei of-fizielle Hauptziele: Die Förderung vonMobilität, von internationaler Wettbe-werbsfähigkeit und von Beschäfti-gungsfähigkeit. Als Unterziele umfasstdies unter anderem:•die Schaffung eines Systems leichtverständlicher und vergleichbarer Ab-schlüsse, auch durch die Einführungdes Diplomzusatzes, •die Schaffung eines dreistufigen Sys-tems von Studienabschlüssen, d.h. kon-sekutive Studiengänge, undergradua-te/graduate, als Bakkalaureus/Bache-lor (mindestens drei Jahre), Magis-ter/Master (1–2 Jahre) sowie Dokto-rat/PhD (3–4 Jahre),•zwecks Vergleichbarkeit Aufgliede-rung eines Studiums in Module und dieEinführung eines Leistungspunktesys-tems (ECTS = European Credit TransferSystem),•die Förderung der Mobilität durchBeseitigung von Mobilitätshemmnis-sen; gemeint ist nicht nur räumliche

Mobilität, sondern auch kulturelleKompetenzen und Mobilität zwischenHochschulen und Bildungsgängen, •das lebenslange beziehungsweise le-bensbegleitende Lernen, •die studentische Beteiligung (Mitwir-ken an allen Entscheidungen und Ini-tiativen auf allen Ebenen), •die Förderung der Attraktivität deseuropäischen Hochschulraumes, •die Verzahnung des europäischenHochschulraumes mit dem europäi-schen Forschungsraum, insbesonderedurch die Eingliederung der Promoti-onsphase in den Bologna-Prozess.

Ein weiteres Ziel ist offiziell die Inte-gration der sozialen Dimension (wieeine ausgewogene Vertretung der so-zialen Gruppen gelingen soll), und sie-he da: Diese wird als übergreifendeMaßnahme verstanden und bildet so-mit keinen eigenen Schwerpunkt. Da-her dürfte dieser Dimension dasSchicksal der Unterrichtsprinzipien dro-hen: Sie existieren zwar, aber kaum je-mand kennt sie näher – geschweigedenn – setzt sie auch tatsächlich um.Generalverdacht: Ein umfassendes Bil-dungsstudium ist auf Sicht wieder nurmehr den Nachkommen begüterter El-tern möglich, während „Durchschnitts-menschen“ lediglich eine Ausbildungerhalten. Die Mobilität der Studieren-den ist seit Bologna eher rückläufig,weil sie weniger von ECTS-Punkten undBachelor-Abschlüssen abhängt, son-dern vielmehr vom sozialen Status undEinkommen der Eltern. Jetzt wird auchverständlicher, warum man im Glücks-fall Vater und Mutter ehren soll.

In Österreich wurde einmal mehr ge-pfuscht: Mit dem Universitätsgesetz2002 wurden die Universitäten 2004ausgegliedert, ohne finanziell ausrei-chend ausgestattet zu sein. Gleichzei-tig richtete man eilig den Umbau derStudien (zurzeit laufen 83,6 Prozentder Uni-Studien und 98,7 Prozent derFachhochschulstudien auf der neuen

Wilfried Mayr

ist HS-Lehrer und ÖLI-Vorsitzender.

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Schiene) einschließlich großräumigemChaos. Die Studien wurden dramatischverschult, in die drei Bachelorjahremeist die Inhalte des vormals vierjähri-gen Diplom-Magisterstudiums hinein-gepfercht, obwohl dies keine Bologna-Vorgabe ist. Dazu kommen Zugangsbe-schränkungen mangels Ressourcenund „Voraussetzungsketten“ (bestande-ne Prüfungen als Voraussetzung für dienächsten, Studienstau ist damit vorpro-grammiert). Das Studium soll sich vor-rangig an Arbeitsmarktqualifikationenund Marktinteressen orientieren, mantendiert zum Spezialistentum ohne kri-tischen Geist, statt zum Hum-boldt’schen Ideal einer breit angeleg-ten, umfassenden Bildung, welche dieStudierenden befähige, sich insgesamtin der Welt zurecht zu finden. Das un-mittelbar Verwertbare währt zuneh-mend kürzer. Durch ein auf drei Jahreverkürztes Studium zum Bachelor ste-hen AbsolventInnen mit ungewissenBerufsaussichten da. Friedrich Faul-hammer vom Wissenschaftsministeri-um glaubt an eine zukünftige Anerken-nung des „bachelors“ als vollwertigesStudium, Dwora Stein (Uni-Rätin Wien,GPA-Bundesgeschäftsführerin) siehtwie viele andere diesbezüglich schwarz.

Weitere Dilemmata: Die Bologna-Ar-chitektur wurde „von oben“ am Reiß-brett entworfen, vom angloamerikani-schen Bereich (wo Studien und Berufs-phasen anders korrelieren) abgekupfertund den europäischen Unis überge-

stülpt. ProfessorInnen und StudentIn-nen können zwar ihren Senf dazu ge-ben, zu bestimmen haben sie aberpraktisch nichts. Verlust von Mitbestim-mung und -gestaltung ist nicht unbe-dingt demokratisch. Die Förderung derMobilität trat nicht ein: Immer wenigerStudierende nutzen ausländische Studi-enorte. Verzahnung Hochschule-For-schung: aus Einsparungsgründen zu-nehmend Teilzeitbeschäftigung vonUni-Personal samt befristeten Verträ-gen, was der Qualität von Forschungund Lehre nur abträglich sein kann. –Studienmöglichkeiten für Berufstätigewerden verschlechtert. FinanzministerJosef Pröll will die Uni-Ressourcen von1,4 Prozent auf 2 Prozent des BIP erhö-hen, allerdings bis 2020, jetzt wird ersteinmal weiter eingespart. Und zu alle-dem kommt noch die Nicht-UniversitätPH mit ihrer den Unis nachempfunde-nen Rektoratsherrlichkeit und von allenrelevanten Entscheidungen ausge-schlossenen Lehrenden, die nicht wis-sen, ob sie noch Pädak-Status habenoder schlicht Schul-LehrerInnen sindoder ProfessorInnen. Externe und be-fristet bis prekär Beschäftigte gibt es –eine Parallele zu den Universitäten –mehr und mehr.

DIE ÖLI/UG FORDERT:•Bereitstellung der nötigen Budget-mittel für universitäre LehrerInnenbil-dung auf Master-Niveau mit anschlie-

ßendem gleitenden Berufseinstieg(derzeit nur an AHS-/BMHS),•Gleichwertigkeit aller PädagogInnen-Ausbildungen und -einkommen,•Schrittweise Integration der PHs indie Universitäten,•ein faires gemeinsames LehrerInnen-Dienstrecht und eine•demokratische Schulreform, die allenKindern unabhängig von ihrer sozialenHerkunft das Menschenrecht auf Bil-dung sichert. Der Staat hat sicherzu-stellen: Bildung darf weder Privilegnoch Ware sein!

Der europaweite Bologna-Protest derStudierenden und Lehrenden könntefür ein demokratisches, weltoffenes eu-ropäisches Bildungswesen eine Chancesein – gegen das konkurrenz-orientier-te Bologna-Schlagwort von einermarktförmigen Mobilität, das wennschon nicht welt-, so doch EU-offenklingt, damit nicht nur in Österreich al-les beim Alten bleiben kann.Die öffentliche Diskussion über die LehrerInnenbildung-NEU hatEnde März begonnen. Mischen wir uns ein – jetzt.

Weitere Informationen: www.oeli-ug.at.

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Der europaweite Bologna-Protest der Studierendenund Lehrenden könnte für ein demokratisches,weltoffenes europäisches Bildungswesen eine Chancesein – gegen das konkurrenz-orientierte Bologna-Schlagwort von einer marktförmigen Mobilität

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Erster Teil über Entwicklungen am österreichischen Arbeitsmarkt in den letzten Jahrzehnten. Von Fritz Schiller.

MARKANTEVERÄNDERUNGEN

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er Arbeitsmarkt in Österreich hat sich in den vergangenenJahrzehnten markant verändert. Die Anzahl der unselbstän-dig Beschäftigten steigt seit Jahren beständig an. Haupt-sächlich verantwortlich dafür sind die immer mehr auf denoffiziellen Arbeitsmarkt drängenden Frauen, aber auch dieausländischen ArbeitnehmerInnen. Teilzeitarbeit hat sich inden letzten fünfzehn Jahren verdoppelt, was zum überwie-genden Teil auf die Zunahme der Berufstätigkeit bei denFrauen zurückzuführen ist. Die offiziell gemeldete Zahl derArbeitslosen hat sich im Vergleich zu vor zwölf Jahren umknapp 10 Prozent erhöht, die der SchulungsteilnehmerInnengar verdreifacht. Diese und andere Entwicklungen des öster-reichischen Arbeitsmarktes möchte dieser Beitrag eingehen-der diskutieren.

Die Anzahl der unselbständig Beschäftigten lag Ende2009 bei 3,37 Millionen Menschen. Im Vergleich zu 1998erhöhte sie sich um 9,6 Prozent, verglichen mit 1980 gar um21 Prozent. Damals waren 2,79 Millionen Personen unselb-ständig beschäftigt. Die durchschnittliche jährliche Zunah-me der unselbständig Beschäftigten zwischen 1998 und2009 betrug 0,8 Prozent.

Die Zunahme der unselbstständig Beschäftigten verlief imBeobachtungszeitraum (1980 bis 2009) nicht geradlinig.Mitte der 1980er Jahre kam es zu einem temporären Rück-gang ebenso wie Mitte der 1990er Jahre. 2008 wurde diehöchste Zahl an unselbständig Beschäftigten gezählt, sie er-reichte 3,420.494 Personen. 2009 kam es im Zuge der Aus-wirkungen der weltweiten Finanzmarktkrise zu einem Rück-

gang um 47.000 Personen auf insgesamt 3,37 MillionenPersonen. Die Schwankungen bei den unselbständig Be-schäftigten sind in engem Zusammenhang mit der konjunk-turellen Entwicklung der österreichischen Wirtschaft zu se-hen.

Nach wie vor sind mehr Männer als Frauen unselbständigbeschäftigt. 2009 gab es rund 200.000 mehr männliche Ar-beitnehmer als weibliche. Bemerkenswert ist aber, dass Frau-en in den letzten Jahren vermehrt auf dem offiziellen Ar-beitsmarkt tätig werden. 1998 waren es 1,33 MillionenFrauen, 2009 stieg diese Zahl um mehr als 255.000 oderum 19,2 Prozent auf knapp 1,59 Millionen Frauen. Im glei-chen Zeitraum erhöhte sich die Anzahl unselbständig be-schäftigter Männer um 41.000 auf 1,79 Millionen (+ 2,4Prozent). Die durchschnittliche jährliche Zunahme der Ar-beitnehmerinnen im Zeitraum von 1998 bis 2009 belief sichauf 1,6 Prozent, die der Arbeitnehmer nur auf 0,2 Prozent.

Die Anzahl der geringfügig Beschäftigten, das sind dieje-nigen Personen, die unter der Geringfügigkeitsgrenze verdie-nen (2010 sind das weniger als 366,33 Euro pro Monat),belief sich 2009 auf 288.194. Bezogen auf die unselbstän-dig Beschäftigten machte das einen Anteil von 8,5 Prozentaus, im Jahre 2000 hatte der Anteil noch um mehr als 2Prozentpunkte weniger ausgemacht. Freie Dienstverträgemachen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt nur einemarginale Größe aus, 2009 waren 24.129 Personen als freieDienstnehmer beschäftigt (0,7 Prozent bezogen auf die Ge-samtzahl der unselbständig Beschäftigten).

Quelle: AMS, BMASK Bali-Datenbank

Quelle: AMS, BMASK Bali-Datenbank

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Am markantesten ist die Entwicklung der ausländischenArbeitnehmerInnen auf dem österreichischen Arbeitsmarktverlaufen. Zwischen 1998 und 2009 erhöhte sich ihre Zahlum knapp 132.000 auf 430.491 oder um 44 Prozent.Durchschnittlich stieg ihre Anzahl um 3,4 Prozent pro Jahr.Somit erhöhte sich auch der Anteil ausländischer Arbeitneh-merInnen an den unselbständig Beschäftigten deutlich:1997 hatte er noch 9,7 Prozent, 2009 war er auf 12,9 Pro-zent gestiegen. Rund 255.000 der ausländischen Arbeitneh-merInnen kamen aus Nicht-EU-Mitgliedsstaaten (2009).59,2 Prozent waren männlich, 40,8 Prozent weiblich (2009).

Die Verteilung zwischen Voll- und Teilzeitarbeitsplätzen inÖsterreich hat sich äußerst divergent entwickelt. Vollzeit ar-beiteten 2008 nach Statistik Austria (Arbeitskräfteerhebung2008, S. 339ff) 2,71 Millionen Personen. Verglichen mit1994 sind das um 29.000 Arbeitsplätze weniger. 2004 hat-te es mit 2,592 Millionen Arbeitsplätzen die geringste An-zahl in der Periode von 1994 bis 2008 gegeben. Das heißtes wurden im Vergleichzeitraum keine neuen Vollzeitarbeits-plätze geschaffen.

Völlig anders ist die Entwicklung bei den Teilzeitarbeits-plätzen. Verglichen mit 1994 verdoppelten sie sich. 2008waren rund 819.000 Personen teilzeitbeschäftigt, das sindum 416.000 Personen mehr als 1994. In keinem einzigenJahr seit 1994 war ein Rückgang der Teilzeitbeschäftigungfestzustellen. Der Anteil der Teilzeitarbeitsplätze an den un-selbständig Beschäftigten erhöhte sich deshalb von Jahr zuJahr. 1994 betrug er noch knapp 13Prozent, fünfzehn Jahrespäter war er auf bereits über 23Prozent gestiegen oder ummehr als 10 Prozentpunkte.

Männer wie Frauen arbeiten insgesamt in einem viel hö-heren Maße Teilzeit als etliche Jahre zuvor. Bei den Frauenjedoch ist eine absolute Strukturveränderung zwischen Voll-und Teilzeitarbeit eingetreten. 1994 arbeiteten eine MillionFrauen Vollzeit und 350.000 Teilzeit. Für 2008 wurden vonder Statistik Austria (AKE 2008) 957.000 Voll- und 697.000weibliche Teilzeitarbeitsplätze gezählt. Das sind einerseits48.000 Vollzeitarbeitsplätze weniger und mit 347.000 dop-pelt so viele Teilzeitarbeitskräfte mehr. Das Verhältnis Voll-zu Teilzeit hat sich innerhalb 15 Jahren von 74,2 zu 25,8(1994) auf 57,9 zu 42,1 (2008) erheblich verändert. DerAnstieg der Teilzeitquote, das ist der Anteil der Teilzeitar-beitsplätze an den gesamten Arbeitsplätzen für Frauen, ver-deutlicht diese Entwicklung (Abbildung 5).

Im Vergleich dazu arbeiten nur 122.000 Männer Teilzeit(2008), oder 6,5 Prozent der gesamten männlichen Arbeit-nehmer. Gleichwohl arbeiten über 69.000 mehr MännerTeilzeit als 1994, das entspricht einer Steigerung um 130Prozent. Im Vergleich zu den Frauen haben sich die Vollzeit-arbeitplätze der Männer fast nicht verändert. 2008 gab es1,75 Millionen Vollzeitarbeitsplätze, 19.000 mehr als 1994.Der Anteil der Frauen an den gesamten Teilzeitbeschäftig-ten machte 2008 85 Prozent aus, der der Männer 15 Pro-zent.

Die Arbeitszeit wird in der Regel als Arbeitsstunden proWoche definiert. Die gesetzliche wöchentliche Normalar-beitszeit für Angestellte beträgt 40 Stunden (vergleiche § 3(1) AZG). In etlichen Kollektivverträgen ist sie mit 38,5 Wo-chenstunden festgelegt.

Eurofound hat die durchschnittlichen kollektivvertraglichvereinbarten normalen wöchentlichen Arbeitsstunden fürdie EU-Staaten ermittelt. In Frankreich sind mit 35 Stundendie geringsten wöchentlichen Arbeitsnormen vereinbart, miteinem deutlichen Abstand gefolgt von Dänemark mit 37Stunden. Die EU 15-Staaten, die sogenannten „alten“ Mit-gliedsländer weisen im Schnitt eine wöchentliche Norm von37,9 Stunden auf. Im Mittel aller EU-27-Staaten, bestehteine wöchentliche Arbeitsnorm von 38,6 Stunden auf. In Ös-terreich beträgt sie 38,8 Stunden. Von den sogenannten „al-ten“ EU-Staaten haben lediglich Luxemburg (39 Stunden),Irland (39 Stunden) und Griechenland (40 Stunden) einehöhere Wochennorm als Österreich. Alle anderen „alten“EU-Staaten liegen teilweise deutlich unter der österrei-chischen Norm.

Quelle: AMS, BMASK Bali-Datenbank

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Quelle: BMASK, Bali-Datenbank

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Für die empirische Erfassung hingegen sind andere Stun-denwerte relevant. Statistik Austria beziehungsweise Euros-tat unterscheiden zwischen Personen, die weniger als 36Wochenstunden arbeiten als teilzeitbeschäftigt. Alle darü-

ber hinaus Arbeitenden werden als vollzeitbeschäftigt be-zeichnet. In den vierteljährlich durchgeführten Mikrozensus-erhebungen wird nach den durchschnittlich normalerweisegeleisteten Wochenarbeitsstunden gefragt, worin auch re-gelmäßig geleistete Über- und Mehrstunden enthalten sind.

In Tabelle 1 sind die durchschnittlichen normalerweise ge-leisteten Wochenarbeitsstunden ausgewählter europäischerLänder, sowohl für Vollzeit- als auch für Teilzeitbeschäftigtefür das 3. Quartal 2009 aufgelistet. Im Vereinigten König-reich arbeiten Vollzeitbeschäftigte am meisten (42,2 Stun-den), dicht gefolgt von österreichischen Vollzeitarbeitneh-merinnen mit 42,1 Stunden. Hierzulande arbeiten sie um3,3 Stunden (siehe oben) mehr als ihre Normarbeitszeit ver-langt. Am wenigsten arbeiten die dänischen Vollzeitarbeit-nehmerInnen mit 37,7 Stunden. In Frankreich, wo die Norm-arbeitszeit bei 35 Stunden liegt, wird 39,5 Stunden pro Wo-che gearbeitet. Der EU 27-Schnitt liegt bei 40,4 Wochen-stunden, um 1,7 Stunden unter dem Österreichs.

Bei den Teilzeitbeschäftigten ergibt sich ein völlig anderesBild. Am meisten wird hier in Schweden (24,8 Stunden) undUngarn (24 Stunden) gearbeitet. Am wenigsten in Deutsch-land mit 18,3 Stunden. ArbeitnehmerInnen aus Irland unddem Vereinigten Königreich folgen mit 19,1 beziehungswei-se 19,3 Stunden. In Österreich arbeiten Teilzeitarbeitskräftedurchschnittlich 21,1 Stunden und sind damit um 0,8 Stun-den über dem EU-27 Schnitt.

Quelle: Eurofound 2009

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Durchschnittliche normalerweise geleistete Wochenarbeitsstunden (3. Quartal 2009)Land Vollzeit TeilzeitVereinigtes Königreich .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  42,2 Schweden .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  24,8Österreich .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  42,1 Belgien .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  24,1Bulgarien .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  41,4 Ungarn .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  24,0Tschechische Republik .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  41,3 Frankreich .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  23,3Rumänien.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  41,1 Tschechische Republik .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  22,9Slowenien.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  41,1 Rumänien .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  22,9Polen .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  41,0 Lettland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  22,6Zypern .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,9 Polen .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  22,4Lettland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,9 Zypern .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  22,4Griechenland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,8 Slowakei .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  22,4Deutschland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,6 Italien .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  22,4Estland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,6 Estland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  22,2Slowakei .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,6 Slowenien.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  21,7Ungarn .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,5 Litauen .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  21,4EU 27 .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,4 Österreich .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  21,1Spanien .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,4 Malta .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  21,1Malta.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,4 Griechenland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  20,9Portugal .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,2 Finnland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  20,8Luxemburg .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  40,0 Luxemburg .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  20,5Schweden .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  39,9 Bulgarien.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  20,4Litauen .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  39,6 EU 27 .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  20,3Frankreich .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  39,5 Portugal .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  20,0Belgien .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  39,1 Niederlande .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  20,0Italien .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  39,1 Dänemark .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  19,6Finnland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  39,0 Spanien.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  19,5Niederlande .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  38,9 Vereinigtes Königreich .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  19,3Irland.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  38,3 Irland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  19,1Dänemark .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  37,7 Deutschland .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  18,3

Que

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rbeit ist auch in Zeiten derKrise höchst ungleich verteilt.

So arbeiteten im 3. Quartal2009 Vollzeit arbeitende Männer

nach wie vor durchschnittlich 42,9Wochenstunden (2008: 43,1), Vollzeitbeschäftigte Frauen 41,2 Wochenstun-den (2008: 41,4 Stunden; Quelle: Sta-tistik Austria).

Auch die durchschnittlichen Arbeits-zeiten (Voll- und Teilzeit) haben sichkaum verändert: Männer arbeiteten im3. Quartal 2009 durchschnittlich 41,1Wochenstunden (2008: 41,4), Frauen32,6 Wochenstunden (2008: 32,9).

Eine deutliche Verschiebung hat esim Zuge der Krise von Voll- zu Teilzeit-beschäftigungsverhältnissen gegeben:So ist einmal mehr die Teilzeitquotevon 23,6 Prozent (4/2008) auf24,1 Prozent (3/2009) gestiegen. Ver-glichen mit dem zweiten Quartal 2008sind bis zum zweiten Quartal 200954.500 Vollzeitstellen abgebaut wor-den. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeitauf rund 400.000 Arbeitslose zu Be-ginn des Jahres 2010 gestiegen.

Höchst ungleich verteilt ist bezahlteund unbezahlte Arbeit nicht nur zwi-schen in Erwerbsarbeit stehenden undArbeitslosen, sondern auch zwischenMännern und Frauen. Die Krise hat al-lerdings gleichzeitig auch bewiesen,dass Arbeitszeitverkürzung – etwadurch Kurzarbeit und Bildungskaren-zen – auch Arbeitsplätze sichert, wennauch unter Hinnahme eines teilweisenLohnverlustes.

Tatsache ist auch, dass Arbeitszeit-verkürzung seit Jahrzehnten stattfin-det: allerdings nicht in Form einer kol-lektiven Arbeitszeitverkürzung, sondernindividuell. Ohne Lohnausgleich unddadurch vielfach nicht Existenz si-chernd. Und keineswegs immer freiwil-lig, sondern, weil gesellschaftliche Rah-menbedingung – wie etwa fehlendeBetreuungseinrichtungen für Kinderoder zu pflegende Personen – nur Teil-zeitarbeit zulassen.

Die letzten generellen Arbeitszeitver-kürzungen fanden etappenweise von1970 bis 1975 statt, als die Wochenar-

beitszeit von 45 auf 40 Stunden redu-ziert wurde. Die letzte Erhöhung desgesetzlichen Mindesturlaubs wurde1986 durchgeführt. Damals wurde derUrlaub von vier auf fünf Wochen er-höht.

Es besteht genügend Spielraum füreine grundlegende, radikale Verkür-zung der Arbeitszeit: während nämlichdas Bruttoinlandsprodukt von 1976 bis2009 durchschnittlich real um 2,1 Pro-zent jährlich gewachsen ist, wuchsendie Einkommen der ArbeitnehmerInnenim gleichen Zeitraum unterdurch-schnittlich real um 1,8 Prozent, wäh-rend die Gewinneinkommen real um2,6 Prozent überdurchschnittlich ge-wachsen sind. Trotz enormer Produkti-vitätszuwächse schlugen sich diese we-der in einem entsprechenden Lohn-wachstum nieder, noch in einer ent-sprechenden kollektiven Verkürzungder Arbeitszeit. Eine grundlegende, um-fassende Arbeitszeitverkürzung ist da-her überfällig …

DIE 153. VOLLVERSAMMLUNGDER WIENER ARBEITERKAMMERFORDERT DAHER:

•eine radikale, allgemeine und gesetz-liche Verkürzung der wöchentlichenund täglichen Normalarbeitszeit ummindestens zwanzig Prozent – Zielrich-tung Dreißig-Stunden-Woche, Sechs-Stunden-Arbeitstag – mit Einkommens-ausgleich jedenfalls bis zur Höchst-beitragsgrundlage,

•die Einführung einer sechsten Ur-laubswoche, wie sie in vielen europäi-schen Ländern längst Standard ist,•eine wirkungsvolle Eindämmung desÜberstundenunwesens durch progres-siv steigende Beiträge zur Kranken-und Arbeitslosenversicherung für jedezusätzlich geleistete Überstunde. EineStreichung der steuerlichen Begünsti-gung von Überstunden,•eine gesetzliche Verpflichtung fürUnternehmen, ab einem bestimmtenAusmaß an regelmäßig und dauerhaftüber einen gewissen Zeitraum erbrach-ten Überstunden (z.B. Überstunden imAusmaß von zehn Prozent des gesam-ten Normalarbeitszeitvolumens) eineentsprechende Anzahl an neuen Ar-beitnehmerInnen einstellen zu müssen,•einen Rechtsanspruch auf zeitlich be-fristete berufliche Auszeiten (Sabbati-cal, Betreuungs-, Bildungskarenzen) beiBezug eines fiktiven Arbeitslosengel-des, mindestens jedoch Mindestsiche-rung, •Ausweitung des Rechtsanspruchs aufTeilzeit – mit Rückkehrrecht zu Vollzeit– für Eltern von Kindern in einem ers-ten Schritt bis zum 10. Lebensjahr desKindes, perspektivisch bis zum 16. Le-bensjahr des Kindes. •gesetzliche Mindestarbeitszeitrege-lung bei Teilzeitbeschäftigung: nebengesetzlichen Höchstarbeitszeiten sollenauch Mindestarbeitszeiten gesetzlichverankert werden, unter die kein Teil-zeitarbeitsverhältnis fallen darf, um einentsprechendes Mindesteinkommen fürTeilzeitbeschäftigte zu sichern (Aus-nahme: spezifische Lebens- und Be-darfslagen) und•entsprechende soziale und rechtlicheRahmenbedingungen, die Vollzeitbe-schäftigung ermöglichen. Das soll ins-besondere durch ein flächendeckendes,ganztägiges, bedarfsorientiertes Ange-bot an Kinderbetreuungs- und Bil-dungseinrichtungen – von der Kinder-krippe bis zur Ganztagschule – ermög-licht werden, sowie einem entsprechen-den Angebot an Einrichtungen für be-treuungs- und pflegebedürftige Ange-hörige mit Rechtsanspruch.

ARBEIT FAIR TEILEN!

Die AUGE/UG stellt bei der

Wiener Arbeiterkammer-Voll-

versammlung einen Antrag

zur Arbeitszeitverkürzung.

A

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Seit Monaten kämpfen und streiken die TEKEL-ArbeiterInnen für ihre Rechte. Zerife Yatkin besuchte für die AUGE/UG im Rahmen einer Solidaritätsdelegation die

streikenden ArbeiterInnen.

BEI DEN TEKEL-ARBEITERINNEN

W

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ir waren neun Personen aus unter-schiedlichen Interessenvertretungenund Organisationen: ADA, Work @ Mi-gration, Gewerkschaftsbund, SLP, WIKund AUGE/UG. Am Flughafen gab eseine kurze Besprechung, wie wir uns imFalle einer – zu diesem Zeitpunktdurchaus möglichen – Festnahme inAnkara verhalten sollten. Für jene De-legationsteilnehmerInnen, die nichttürkisch verstehen, wird es im „Rotati-onsprinzip“ eine Übersetzung geben.Um 3 Uhr früh: Ankunft in Ankara. EinBekannter eines Delegationsmitgliedsholt uns ab, eine Wohnung wird unszur Verfügung gestellt.

GUTER EMPFANGNach dem Frühstück geht’s in die

Zeltstadt der Streikenden. Wir wurdenunerwartet mit einer unglaublichen Be-geisterung empfangen. Wir besuchendie Zelte und sprechen mit den Men-schen. Unser ursprünglicher Zeitplanund unsere Absprachen werden überden Haufen geworfen, weil wir von denArbeiterInnen neugierig voll in An-spruch genommen werden. Statt wiegeplant, nur 10 Minuten, verbringen

mindestens eine halbe Stunde in je-dem Zelt. Jedes Delegationsmitgliedhat seine/ihre Grußbotschaft und dieSolidarität Ihrer Organisation mitge-bracht.

Die ArbeiterInnen sind positiv undoptimistisch eingestellt. Sie glauben andie Gerechtigkeit, daher glauben sieauch, dass sie siegen werden. Über dieGewerkschaft beschweren sie sich. Sievertrauen ihr nicht. Ginge es nach derGewerkschaft, müssten sie längst auf-geben. Es ist ein Kampf, der „von un-ten“ nach „oben“ geführt wird. Die Ar-beiterInnen sind es, die die Gewerk-schaft zwingen, weiter mit ihnen zukämpfen. Ich habe selten Menschengetroffen, die trotz begrenzter Möglich-keiten und hohen Risikos so entschlos-sen waren.

Die Zelte sind aus Nylon und Holz.In den Zelten ist Platz für 5 und 20Menschen. Sie heizen mit Holzöfen. Esist kalt, vor allem in der Nacht sinkendie Temperaturen deutlich. Sie schlafenauf dem Boden, haben unter und übersich nur Decken. Frauen, wie Männerschlafen Seite an Seite. Das gab es –auf diese Art und Weise – in der Türkeinoch nie.

Was mich hier sehr beeindruckt: Nie-manden hier interessiert das religiöseBekenntnis oder die „ethnische“ Zuge-hörigkeit. Sie kämpfen gemeinsam undsolidarisch. Wer die Geschichte der Tür-kei kennt, weiß, dass das nicht selbst-verständlich ist: In der Türkei gibt undgab es seit jeher Konflikte zwischenSunnitInnen und AlevitInnen und be-sonders bekannt zwischen TürkInnenund KurdInnen, bis hin zum offenenKrieg. Hier war von alledem nichts zu

spüren. Ich habe hier ArbeiterInnen ge-troffen, die sich nicht um Kultur, Religi-on oder Sprache der Anderen scheren.Hier waren alle „nur“ Menschen, Arbei-terInnen, die um das Gleiche kämpfen.

Diese Menschen haben der Politik,die versucht hat und nach wie vor ver-sucht, sie auseinander zu dividierenund Konflikte zwischen ihnen zu schü-ren, einen Denkzettel erteilt. Ich binam Ende des Tages sehr aufgewühlt.Mein Respekt gegenüber diesen Men-schen wächst von Stunde zu Stunde.

ZELTSTADTWir haben ein paar Sachen zusam-

mengepackt, da wir heute in der Zelt-stadt übernachten werden. Um10.30 Uhr kommen wir im Zeltlager an.Wir marschieren mit unserem Transpa-rent zwischen den Zelte durch undskandieren laut solidarische Slogans.Wir werden mit Begeisterung und Ap-plaus empfangen.

Vor dem Gewerkschaftsgebäude derTÜRK-IS (Gewerkschaft) machen wirhalt. Es haben sich zirka 1000 Men-schen versammelt, um auch uns zuzu-hören. Als erstes verliest unser SprecherErnst unsere Grußbotschaft, die wirnoch in der Nacht verfasst hatten. Da-nach bringen für den ÖGB Ismail, fürdie WIK Damian, für die AUGE-UG ichund für die SLP Michael ihre Grußbot-schaften vor. AktivistInnen linker Orga-nisationen, die vor Ort auch anwesendsind, singen „Die Arbeiter von Wien“.Sie singen auf türkisch, unsere Delega-tion auf deutsch. Es war ein tolles, er-hebendes Gefühl – alle Menschen sin-gen das gleiche ArbeiterInnenlied, in

Zerife Yatkin

hat für die AUGE/UGzur Arbeiterkammer-Wahl kandidiert.

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unterschiedlichen Sprachen. Menschen,die vorher nichts miteinander zu tunhatten, die aus sehr unterschiedlichenKulturen kommen, kämpfen hier ge-meinsam für die Rechte der ArbeiterIn-nen.

Unseren Reden folgt ein tosenderApplaus. Nach unserem Auftritt redenwir mit dem Vorsitzenden der TEK-GIDA-IS (er war bis vor kurzem der Ge-neralsekretär der TÜRK-IS, ist von die-sem Posten aber zurückgetreten) undmit anderen Sekretären der TÜRK-IS.Der Vorsitzende beantwortet unsereFragen, so gut es geht und so gut erkann. Er legte seine Funktion in derTÜRK-IS zurück, weil er keine Möglich-keit mehr hatte, für die Rechte derStreikenden zu kämpfen und weil erden TÜRK-IS Vorstand nicht kämpfe-risch genug fand.

Nach dem Mittagsessen treffen wirdie VorarbeiterInnen. Es sind zirka 40Personen anwesend. Frauen und Män-ner. Sie haben uns über den langenKampf, den Protest, das Entstehen derZeltstadt erzählt: Ein Musterstreik, dermit Sitzaktionen vor der Gewerk-schaftszentrale begonnen hat. DieWetterbedingungen haben die Men-schen dann gezwungen, sich zu schüt-zen. Die Zeltstadt ist so Stück für Stückentstanden. Es war also keineswegseine geplante Sache, dass eine Zelt-stadt entstehen sollte und ihr Kampfhier vor Ort weitergeführt wird. LinkeOrganisationen, viele Studierende, Or-ganisationen der Zivilgesellschaft, dieOppositionspartei CHP, sowie die Grü-ne Partei in Ankara stehen den Strei-kenden zur Seite und solidarisieren sichmit ihnen. Manche Parteien und Orga-nisationen nützen die Gelegenheit, umaus diesem Protest Profit für ihre Sachezu schlagen. Das merken die Arbeite-rInnen aber sehr wohl und lassen sichentsprechend nicht instrumentalisie-ren: Immer wieder betonen sie, dass siehier sind, um ihre Rechte als Arbeiter-Innen zu erkämpfen.

Viele der Anwesenden haben ur-sprünglich die konservative Regie-rungspartei AKP gewählt, weil diese ih-nen damals die Pragmatisierung ver-sprochen hatte. Manche erzählten,dass die AKP in vielen Städten gedrohthätte, im Falle einer Wahlniederlagewürden viele Menschen ihre Arbeit ver-lieren. Das hat dann viele aus Angstdoch veranlasst – entgegen ihrer Über-

zeugung – die AKP zu wählen. Wo sichalle einig sind: dass sie nie wieder dieAKP wählen werden.

Kemal, ein FSGler aus St. Pölten, hatin seiner Fabrik für die StreikendenSpenden gesammelt und überreicht sieden anwesenden VorarbeiterInnen. Siewaren sehr dankbar, wollten aber an-fangs das Geld nicht nehmen. So vielWürde und Stolz haben diese Men-schen. Sie leben hier seit 77 Tagen miteinem Minimum an Mitteln – trotzdemakzeptieren sie keine Spenden.

Die Mehrheit der Delegation wirdheute aus Solidarität im Zeltlager über-nachten. Alle sind in höchster Aufre-gung. Es wird befürchtet, dass die Spe-zialeinheiten der Polizei heute Nachtdas Zeltlager zwangsräumen. Die Ge-werkschaft hat gemeinsam mit den Ar-beiterInnen entschieden, nur friedli-chen Widerstand zu leisten und sichvon Gewalt zu distanzieren.

In jedem Zelt bekommen wir türki-schen Tee und Süssigkeiten. Die Arbei-terInnen fragen uns zum Leben und zurSituation der ArbeitnehmerInnen in Ös-terreich. Sie zeigen uns Photos von ih-ren Kindern, erzählen uns von ihrerHeimatstadt, vor allem jedoch von ih-rem Willen, bis zum Schluss zu kämp-fen und durchzuhalten. Diese Men-schen hier sind sehr herzlich.

Ein Arbeiter schildert mir, dass er ei-gentlich ein sehr gläubiger Mensch sei.Jetzt ist er der kommunistischen Parteibeigetreten. Er muss meinen über-raschten Gesichtsausdruck bemerkt ha-ben. Mit einem leichten Lächeln, sagter „Jetzt bin ich ein Kommunist, derfünf Mal am Tag betet”.

ERSEHNTE NACHRICHTTrotz nur zwei Stunden Schlafs sind

wir voller Energie. Es herrscht überallAufregung. Der oberste Gerichtshofsoll heute seine Entscheidung über dieVerlängerung des Streikes treffen. Denganzen Tag führen wir Gespräche mitArbeiterInnen, VorarbeiterInnen, mitGewerkschafterInnen.

Gegen Abend kommt die ersehnteNachricht: Der oberste Gerichtshof hatden Streikenden Recht gegeben undhat die Dauer für ihren Protest auf wei-tere 8 Monate verlängert. Die Men-schen sind außer sich vor Freude.Jede/r umarmt jede/n. Wir sind einTeil von ihnen. Sie nehmen uns in ihre

Mitte und feiern mit uns ihren Sieg.Mache sagen, dass wir eine große Rollegespielt hätten. Wir haben mit unsererAnwesenheit hier den ArbeiterInnensehr viel Mut gegeben und habendurch unsere mediale Präsenz in derTürkei der Sache der Streikenden einepositive Berichterstattung verschafft.

Ich kann, wie viele andere, meineTränen nicht zurückhalten. Wir tanzenmit den Streikenden. Im Zelt von Diyar-bakir (Südtürkei, KurdInnen) tanzen wirHoron (traditioneller Tanz, SchwarzesMeer Gebiet, türkisch), im Zelt vonTrabzon (Schwarzes Meer Gebiet-über-zeugte TürkInnen) auch Semmamme(traditioneller Tanz der KurdInnen). Esgibt keine Grenzen hier, keine Vorurtei-le, keine Feindseligkeiten. Die Politikund PolitikerInnen haben über Jahr-zehnte immer wieder mit Erfolg dieseMenschen für ihre Politik der Vorurteilebenützt und die unterschiedlichen Eth-nien in der Türkei als Gefahr verkauftfür die „nationale Einheit“. Oft habendie Menschen diesen Lügen geglaubtund sind ihnen gefolgt. Nicht umsonsthört der Krieg in Südosten und Ostender Türkei nicht auf.

Aber hier und heute haben diese Ar-beiterInnen, von denen viele nur dieVolksschule besucht haben, der verlo-genen Politik eine Abfuhr erteilt. DieseArbeiterInnen sagen: wir sind Men-schen, wir sind ArbeiterInnen, wir le-ben in einem Land, wir sind alle Ge-schwister, wir lassen uns nicht mehrgegeneinander aufhetzen. Wir werdenweder töten, noch getötet werden, da-mit ihr eure verlogenen politischen Plä-ne weiter durchführen könnt.

Spät abends fahren wir voller Freude,aber gleichzeitig mit einem Stich imHerzen in unsere Wohnung zurück. DerAbschied von den Menschen hier fälltuns allen schwer. Auch die ArbeiterIn-nen trennen sich nur schweren Her-zens. Wir sind die einzige von dreiund-zwanzig Delegationen, die Ankara be-sucht hat, die mit den ArbeiterInnen inunmittelbaren Kontakt getreten ist undsich ehrlich für ihre Angelegenheiteninteressiert hat. Alle anderen Delega-tionen sind durch die Zeltstadt spa-ziert, haben mit dem Gewerkschafts-bund Gespräche geführt und sinddann wieder abgereist.

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Page 24: Alternative Mai 2010

Anlässlich des 120-Jahr-Jubiläums der internationalen Feiern zum Ersten

Mai zeigt das Österreichische Museum für Volkskunde in Wien von

30. April bis 12. September 2010 die Sonderausstellung „Der 1. Mai – De-

monstration. Tradition. Repräsentation“.

Seit seiner ersten internationalen Feier 1890 ist der 1. Mai ein paradig-

matisches Datum der ArbeiterInnenbewegung, dem eine Vielzahl von Be-

deutungen, Assoziationen und Projektionen eingeschrieben ist. Zugleich

spiegelt der 1. Mai in seiner 120jährigen Geschichte exemplarisch allge-

meine historische Verläufe, Brüche und Wendungen eines Jahrhunderts

der Moderne und schließlich Postmoderne wider.

Die Ausstellung bringt diese Wandlungen und Kontinuitäten von der

Formierung der Arbeiterschaft vor über 100 Jahren, über die Kultur- und

Klassenkämpfe der Zwischenkriegszeit, die totalitären Umdeutungen und

symbolische Neubesetzung durch Austrofaschismus und Nationalsozialis-

mus, die Rekonstruktionsszenarien von Wiederaufbau, Wirtschaftswunder

und Kaltem Krieg bis in das Zeitalter des Neoliberalismus, wo Arbeitneh-

merInnen immer mehr ihre soziale Position zu verlieren drohen.

Eine spannende Vortrags- und Filmreihe, sowie Sonderführungen und

Workshops begleiten die Ausstellung und gehen insbesondere auch auf

die jüngere Geschichte der 1. Mai-Demonstrationen, etwa Mayday, ein.

Der 1. Mai – Demonstration. Tradition. Repräsentation

30. April bis 12. September 2010, Österreichisches Museum

für Volkskunde, Wien, Laudongasse 15–19, 1080 Wien.

Details (gesamtes Begleitprogramm): www.volkskundemuseum.at/?id=235

1. Mai: Anachronistischer Feiertag, (Massen-)Event ODER

Kampftag für prekär gewordene Arbeitsverhätnisse?

Begleitprogramm:

Donnerstag, 6. Mai 2010, 18 Uhr

BuchpräsentationWolfgang Maderthaner, Michaela Maier(Hg.)… acht Stunden aber wollen wir Menschsein. Der 1. Mai. Geschichte und Ge-schichten, Edition Rot. Wien (erscheintApril 2010) mit Beiträgen von ausgewie-senen ExpertInnen.

Dienstag, 1. Juni 2010, 18 Uhr

Vortrag mit FilmbeispielenProletarisches Kino in Österreich vonChristian Dewald, Filmarchiv Austria

Sonntag, 2. Mai 2010, 15 Uhr

Filmprogramm:Die Internationale, USA 2000, 30 Minu-ten, englische OriginalfassungPrimero de Mayo (La Ciudad-fábrica)/First of May (The City Factory)Spanien 2004, 70 Minuten, Spanisch mitenglischen Untertiteln.

Mittwoch, 5. Mai 2010, 18 Uhr

Filmprogramm:Das Plakat (1. Teil „Arbeitersaga“) Öster-reich 1990, 85 Minuten.1. Mai – Helden bei der Arbeit, Deutsch-land 2008, 98 Minuten.

Freitag, 18. Juni 2010, 14 Uhr

Workshop & PodiumsdiskussionSchlag zu!99 Gramm Grundeinkommen gegen he-xagrammatische Prekarität: Fragen desLebens und Arbeitens unter den prekari-sierten Bedingungen der Gegenwartwerden mit der konkreten Utopie einesBedingungslosen Grundeinkommenskonfrontiert.

Dienstag, 22. Juni 2010, 18 Uhr

„Linke“ Musik in Großbritannien und denUSA mit Wolfgang Maderthaner undRoman Horak. Im Anschluss DJs Freundund Braun

Termine

Spezialtermine•KIV/UG: Ulli Fuchs, KIV-Kandidatinin der KMSfB, wird durch die Ausstel-lung führen. Termin: Donnerstag, 6.Mai, 17.30 Uhr. Bitte unter 216 52 72, [email protected].•AUGE/UG: Dienstag, 11. Mai,17–18 Uhr, anschließend Buffet. Bitte unter 505 19 52, [email protected] anmelden.