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Alexander Jordan, Stefan Krauss, Katrin Löwen, Werner Blum, Michael Neubrand, Martin Brunner, Mareike Kunter, JÜfgen Baumert
Aufgaben im COACTIV-Projekt: Zeugnisse des kognitiven Aktivierungspotentials im deutschen
Mathematikunterricht
Kurzfassung
Im Rahmen des DFG-Projekts "Professionswissen von Lehrkräften, kognitiv aktivierender Mathematikunterricht und die Entwicklung von mathematischer Kompetenz" (kurz: COACTIV) wurden die Mathematiklehrkräfte, deren Klassen an den PISA-Erhebungen 2003 und 2004 teilnahmen, befragt und getestet. Um die Qualität der im deutschen Mathematikunterricht gegen Ende der Sekundarstufe I eingesetzten Aufgaben zu untersuchen, wurden von diesen Lehrkräften Mathematikaufgaben eingesammelt, die sie in ihren Klassen (Jahrgangs stufe 9 und 10) im Schuljahr 2003/2004 verwendet hatten (im Unterricht, in Klassenarbeiten oder in Hausaufgaben). Diese Aufgaben (ca. 45.000) wurden anhand eines in COACTIV entwickelten Klassifikationsschemas beurteilt. Dabei sollte der Frage nachgegangen werden, welches Potential diese Aufgaben für Lemgelegenheiten im Mathematikunterricht bieten. In diesem Beitrag werden die wichtigsten Kategorien des Klassifikationsschemas vorgestellt und ausgewählte Ergebnisse berichtet.
Abstract
In the context ofthe DFG-funded project "Professional Knowledge ofTeachers, Cognitively Activating Instruction, and the Development of Students' Mathematical Competence" (COACTIV), the mathematics teachers whose c1asses participated in the 2003/2004 longitudinal component of the PISA assessment in Germany were surveyed and tested. To provide insights into the quality of the tasks implemented in German mathematics c1assrooms toward the end of secondary level I, the teachers were also asked to submit the examinations, tests, and homework assignments they had set for their 9th and 10th grade c1asses in the 2003/2004 school year. All tasks (approx. 45,000) were then coded according to a c1assification scheme developed specifically for COACTIV. The objective was to investigate the potential of these tasks to provide leaming opportunities in the mathematics c1assroom. This artic1e presents the major categories of the c1assification scheme and reports selected findings.
(JMD 29 (2008) H. 2, S. 83-107)
84 Alexander Jordan et. al.
o Einleitung
Das zentrale Forschungsanliegen des Projekts COACTIV1 (2002 - 2006) ist die theoretische Operationalisierung und empirische Erfassung der professionellen Expertise von Mathematiklehrkräften. Die Untersuchung ist dazu konzeptuell und technisch in die nationale Ergänzung der internationalen Vergleichsstudie PISA 2003/2004 der OECD eingebunden. Exemplarisch für den Mathematikunterricht in Deutschland im 9. und 10. Schuljahr wird der Zusammenhang zwischen Professionswissen, Überzeugungen und Einstellungen anhand einer repräsentativen Stichprobe von Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe analysiert und in Beziehung zur Unterrichtsgestaltung und zu den Lernerfolgen der Schülerinnen und Schüler gesetzt (N=351 Lehrkräfte zum 1. Messzeitpunkt 2003, N=229 Lehrkräfte zum 2. Messzeitpunkt 2004). Neben der Untersuchung von Lehrkräften und Schülern ist ein weiteres Ziel der Studie die Rekonstruktion ausgewählter Aspekte des Unterrichts in den betrachteten PISA-Klassen im Hinblick auf deren Potential für die Schaffung von Lerngelegenheiten (vgl. Krauss et al. 2004; Brunner et al. 2006; Kunter et al. 2006).
Um genauere Informationen hierüber zu gewinnen, wurden in COACTIV insbesondere Unterrichtsmaterialien untersucht, die in den betreffenden Klassen verwendet wurden. Ausgehend von der Hypothese, dass Aufgaben neben weiteren Elementen der Unterrichtsgestaltung (wie z.B. methodisches Arrangement, Mediennutzung, individuelle Unterstützung u.v.a.m.) zentral tUr die kognitive Aktivierung von Schülern sind, waren die teilnehmenden Lehrkräfte gebeten worden, eine Zusammenstellung aller bislang im Schuljahr gestellten Klassenarbeiten, eine Zufallsauswahl von in diesem Schuljahr gestellten Hausaufgaben sowie (nur 2004) Einstiegsaufgaben zu festgelegten Themen aus dem Unterricht einzureichen. Damit liegen Aufgaben tUr alle Schulformen der 9. Jahrgangsstufe und mit Ausnahme der Hauptschule auch tUr die 10. Jahrgangsstufe vor.
Klassenarbeitsaufgaben wurden in diesem Zusammenhang gewählt, da man davon ausgehen kann, dass sie tUr die unterrichtende Lehrkraft einerseits summativ die Quintessenz der bearbeiteten Inhalte abbilden, andererseits aber auch ihren normativen Anspruch sowohl hinsichtlich zu erreichender Mindestanforderungen offen legen als auch ihre mathematischen und didaktischen Erwartungen an Schülerleistungen beschreiben. Die ebenfalls zu zwei Messzeitpunkten erhobene Stichprobe von Hausaufgaben sollte es erlauben, Anforderungsniveau und Variationsbreite von mathematischen Fragestellungen zu identifizieren, die Anlass zum Durcharbeiten und Festigen geben sollen. Die tUr die 10. Klassen erhobenen Einstiegsaufgaben aus dem Unterricht zu zwei für diese Jahrgangsstufe bundesweit verbindlichen Themengebieten (Potenzen mit rationalen Exponenten, Körper und Körperberechnungen) sollten dazu dienen, die Qualität von Aufgaben bei der Erarbeitung neuer Sachverhalte zu bestimmen. Insgesamt betrachtet sollte
Die Studie Professionswissen von Lehrkräften, kognitiv aktivierender Mathematikunterricht und die Entwicklung von mathematischer Kompetenz (COACTIV) wurde gefördert im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms Bildungsqualität von Schule (BIQUA). Projektleiter sind Jürgen Baumert, Wemer Blum und Michael Neubrand. Über weitere mathematikdidaktisch relevante Aspekte in COACTIV wird in Krauss et al. (eingereicht) berichtet (fiir mehr Informationen siehe auch www.mpib-berlin.mpg.de/coactiv/index.htm).
Aufgaben im COACTIV-Projekt 85
der auf diese Weise gewonnene Aufgabenbestand einen spezifischen fachbezogenen Einblick in das Geschehen des Mathematikunterrichts in Deutschland am Ende der Sekundarstufe I ermöglichen.
Dabei sei vorweg betont, dass in diesem Beitrag nur die Aufgaben selbst Gegenstand der Untersuchung sind und das ihnen inhärente Potential für die Schaffung von Lerngelegenheiten im Mathematikunterricht analysiert werden soll. Weiterfiihrende Aspekte wie zum Beispiel das methodische Vorgehen beim Einsatz von Aufgaben im Unterricht bzw. deren Anordnung nach didaktischen Gesichtspunkten werden dagegen in diesem Beitrag nicht thematisiert.
1 Bedeutung von Aufgaben für den Mathematikunterricht
Das Bearbeiten von Aufgaben ist bekanntlich die mit Abstand wichtigste Schüleraktivität im Mathematikunterricht (siehe z.B. Walther 1985; Christiansen & Walther 1986; Neubrand 2002; Büchter & Leuders 2005). Nach Bromme, Seeger & Steinbring (1990, S. If.) haben Aufgaben im Mathematikunterricht "eine große Bedeutung, denn:
• Aufgaben sind in der traditionellen Mathematik-Didaktik stets ein Mittel gewesen, den Lernstoff zu organisieren (vgl. Lenne 1969, S. 34-35, Walther 1985). Verschiedene Aufgabentypen haben dazu gedient, die unterschiedlichen Stoffgebiete voneinander zu trennen.
• Aufgaben sind im Mathematikunterricht allgegenwärtig. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Unterrichtsvorbereitung und Unterrichtsablauf zu weiten Teilen um Aufgaben herum organisiert sind. Sie wirken als Orientierungs- und Kristallisationspunkte for die Lehrer-Schüler-Interaktion (vgl. Bromme 1981, Hopf1980).
• Aufgaben sind das Objekt der Lernanstrengungen der Schüler. Für eine psychologische Theorie des Lernens von Schülern ist die Bedeutung der Aufgaben for Verstehen und Lernen zu analysieren. Dabei geht es vor allem um den Zusammenhang von Aufgaben und Fehlern. Versteht man Fehler nicht bloß als Abweichung vom richtigen Weg der eindeutigen Aufgabenlösung, sondern als Hinweis auf die kontruktive Natur des Lernens, dann verändert sich damit auch der Begriff von ,Aufgabe '. Eine Theorie des Lernens im Mathematikunterricht benötigt einen theoretischen Begriffvon Aufgabe, in dem diese Beziehung zu Fehlern berücksichtigt wird. "
Für die Lehrerin oder den Lehrer sind Aufgaben also ein entscheidendes Vehikel zur Gestaltung ihres Unterrichts. In zweierlei Hinsicht kann die Lehrkraft damit Einfluss auf den Unterricht nehmen: Einerseits ist die Art und Weise der inhaltlich orientierten kognitiven Aktivität der Schülerinnen und Schüler eng daran gekoppelt, ob überhaupt und wenn ja, in welcher Abfolge Aufgaben mit adäquatem kognitiven Potential als Gelegenheit zum verständnisvollen Lernen von Mathematik in den Unterricht eingebracht werden (Auswahl und Anordnung von Aufgaben). Andererseits wird die Art und Weise, wie eine Aufgabe im Unterricht verwendet wird, mit welchen Bearbeitungsmodi sie verbun-
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den ist, zu welchen Handlungen sie Schülerinnen und Schüler auffordert, auf deren Motivation, Selbstkonzept und Interesse wirken (Umgang mit Aufgaben; vgl. Jordan et al. 2007; Jordan & Leiß 2006; Jordan & Wagner 2006). Bei entsprechendem Wissen der Lehrkraft über das Potential der dargebotenen Aufgaben (siehe hierzu die Kategorien des Abschnitts 2.1) kann diese also das Verständnis eines mathematischen Begriffs oder Verfahrens, den Aufbau kohärenter Begriffsnetze und letztendlich auch das Mathematikbild der Lernenden positiv oder negativ beeinflussen. Aufgaben sind somit flexible, breit einsetzbare und aktiv steuerbare inhaltliche und didaktische Strukturierungselemente des Mathematikunterrichts. Kurz gesagt: Aufgaben sind ein Substrat der im Unterricht geschaffenen Lerngelegenheiten und somit ein wichtiges Zeugnis for das kognitive Aktivierungs potential des Unterrichts.
Dies sind Gründe genug, die Qualität und Wirkung von Aufgaben differenzierter zu analysieren. Hinzu kommt, dass man auf der Grundlage einer inhaltlichen und kognitiven Analyse der im Unterricht gestellten Aufgaben unterschiedliche Strukturen von Lerngelegenheiten tatsächlich aufzeigen kann. Das hat sich insbesondere im interkulturellen Vergleich bewährt, etwa in der Analyse der in den Stunden der TIMSS-VideoStudien von den Lehrkräften genutzten Aufgaben (vgl. Neubrand 2002; Neubrand 2006). Auch für COACTIV kann somit - in der Annahme, dass Aufgaben ein wichtiger Bestandteil von kognitiv-anregendem Mathematikunterricht sind, auch wenn sie Unterrichtsqulität nicht per se determinieren - erwartet werden, dass das in diesem Beitrag vorgestellte Klassifikationsschema (vgl. Jordan et al. 2006) potentielle Lerngelegenheiten im deutschen Mathematikunterricht verlässlich identifizieren kann. Dazu ist es auf ausgewählte Aspekte von Aufgaben zugeschnitten. Ziel ist es, aussagekräftige Ergebnisse über die in den Klassen 9 und 10, also gegen Ende der Sekundarstufe I, in Deutschland eingesetzten Aufgaben zu gewinnen, und zwar im Hinblick auf den für COACTIV ausschlaggebenden Fokus, nämlich die Gelegenheiten der kognitiven Aktivierung der Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht. In diesem Zusammenhang ist es natürlich nicht sinnvoll, nur einzelne Aufgaben zu betrachten und daraufhin zu schließen, ob der zugehörige Mathematikunterricht im Sinne einer kognitiven Aktivierung der Lernenden eher förderlich oder eher hinderlich ist. Es muss vielmehr darum gehen, den gesamten Bestand der im Unterricht yon einer Lehrkraft genutzten Aufgaben zu beurteilen, zumindest eine repräsentative Sammlung von authentischen Aufgaben. Diese Chance hat sich auf grund der Anlage von COACTIV eröffuet (vgl. Krauss et al. 2004; Kunter et al. 2006).
2 Das Aufgabenklassifikationsschema
Um das Potential von Aufgaben für die Gestaltung von Lernprozessen im Mathematikunterricht detailliert untersuchen zu können, wurden alle eingesammelten Aufgaben nach verschiedenen didaktischen und kognitiven Kategorien mit Hilfe eines in COACTIV spezifisch entwickelten Klassifikationsschemas klassifiziert (vgl. Jordan et al. 2006). Die Kategorien des Schemas reichen dabei von eher technischen Kategorien (z.B. mathematische Stoff gebiete ) bis hin zu Kategorien, die nur vor dem Hintergrund eines didaktischen Rahmenkonzepts mathematischen Arbeitens, auf welches der Fokus bei COACTIV gerichtet ist, zu verstehen sind (z.B. Typen mathematischen Arbeitens). Im
Aufgaben im COACTIV-Projekt 87
Folgenden beschreiben wir dieses didaktische Rahmenkonzept, in dem die Kategorien vier Dimensionen zugeordnet werden. Generelles Ziel bei der Entwicklung des Aufgabenanalyseschemas war es, ein möglichst hohes Maß an Reliabilität und Validität rur alle Kategorien sicherzustellen (siehe hierzu Abschnitte 3 und 4). Dabei ging es insbesondere auch darum, möglichst breit bereits vorhandene Konstrukte zur Kategorisierung von Aufgaben abzubilden. Ziel war letztlich die Zusammenstellung einschlägiger Kategorien sowie deren theoretisch begründete Strukturierung in übergeordneten Dimensionen.
2.1 Dimensionen und Kategorien des Schemas
Mit den im Klassifikationsschema gewählten Kategorien soll primär das Potential von Aufgaben zur kognitiven Aktivierung von Schülern erfasst werden. Dazu wurden aus der einschlägigen fachdidaktischen und pädagogisch-psychologischen Fachliteratur Beurteilungskategorien ausgewählt und rur die Belange von COACTIV weiterentwickelt? Diese Kategorien, die zu vier Dimensionen zusammengefasst werden (fiir einen Überblick siehe Tabelle 1), sollen im Folgenden kurz beschrieben werden (rur eine ausfUhrliche Darstellung sei auf Jordan et al. 2006 verwiesen). Anschließend werden die Kategorien und deren Ausprägungen anband ausgewählter Aufgaben illustriert.
Dimension A) Mathematische Stoffgebiete als inhaltlicher Rahmen Die gestellte Aufgabe gehört jeweils zu einem oder mehreren mathematischen Stoffgebieten, die den inhaltlichen Rahmen der Bearbeitung bilden. In loser Anlehnung an Fanghänel (1992) wurde bei COACTIV zwischen den vier klassischen Inhaltsbereichen Arithmetik, Algebra, Geometrie und Stochastik unterschieden, wobei jeder der Bereiche noch einmal sorgfältig ausdifferenziert wurde. So gehören z.B. zur Arithmetik Zahlbereiche und Rechnen, Prozent- und Zinsrechnung, Potenzen und Wurzeln, Proportionalität und Antiproportionalität sowie das Arbeiten mit Größen. Zur Stochastik werden beschreibende Statistik, beurteilende Statistik, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kombinatorik gerechnet. Bei der Interpretation der Daten werden die Stoff gebiete allerdings nicht nur als äußerer Rahmen einer Aufgabe betrachtet. Sie werden auch als Maß rur den Grad kognitiver Aktivierung verstanden, nämlich dadurch, ob eine gewisse stoffliche Breite in den behandelten Aufgaben deutlich wird, und ob Vernetzungen zu zurückliegenden Inhalten hergestellt werden.
Neben der stofflichen Breite ist fiir kognitive Aktivierung auch maßgeblich, inwieweit Aufgaben aus verschiedenen Bereichen des zurückliegenden Curriculums angesprochen werden. Mit dem Merkmal curriculare Wissensstufe (vgl. Neubrand et al. 2002, S. 106) wird beschrieben, aus welchem curricularen Zusammenhang das mathematische Wissen stammt, das in der Aufgabe angesprochen wird. Dazu wird festgehalten, auf welcher Stufe des Curriculums (Grundschule, Beginn bzw. Verlauf der Sekundarstufe I bzw. Ende der Sekundarstufe I) man einen mathematischen Inhalt gewöhnlich
2 In diesem Zusammenhang waren Arbeiten von Neubrand (2002), Enright & Sheehan (2002), Knoll (2003), Neubrand, Klieme, Lüdtke & Neubrand (2002), Renkl (1991), Williams (2000, 2002) sowie Williams & Clarke (1997) besonders hilfreich.
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erlernt.3 Als Kategorien der Dimension A (mathematische Stoff gebiete) werden also von jeder Aufgabe das Stoffgebiet selbst sowie die curriculare Wissensstufe erfasst.
Dimension B) Typen mathematischen Arbeitens als kognitiver Rahmen Um die qualitativ unterschiedlichen Anforderungen, die in mathematischen Aufgaben enthalten sein können, abzubilden, wurde der jeweilige Aufgaben-Lösungsprozess in drei fiir die Mathematik charakteristische Aufgabenklassen eingeordnet (vgl. Neubrand 2003). Je nachdem, ob bei einer durch den Modellierungsprozess (im weiten Sinn; siehe hierzu Dimension C) beschreibbaren Aufgabe prozedurales oder konzeptuelles Denken überwiegt (vgl. hierzu z.B. Hiebert 1986; Neubrand 2002), wurde eine betrachtete Aufgabe der Klasse der rechnerischen bzw. begrifflichen ModelIierungsaufgaben zugeordnet. Dazu kam die Klasse der technischen Aufgaben, die nur den Abruf von Fertigkeiten oder Faktenwissen erfordern. Im Zusammenhang mit diesen Aufgabenklassen spricht man bei COACTIV von Typen mathematischen Arbeitens. Diese drei Typen sind der Kern des bei PISA in Deutschland benutzten Kompetenzmodells (vgl. Neubrand et al. 2001), wobei dort gezeigt werden konnte, dass es jeweils unterschiedliche Merkmale von Aufgaben sind, die in jeder der drei Klassen die Aufgabenschwierigkeit bestimmen (vgl. Neubrand et al. 2002). Es sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass es bei allen drei Klassen leichte und schwere Aufgaben gibt. Normativ betrachtet sollte ein Hauptziel des Mathematikunterrichts darin bestehen, die in den drei Typen erfassten Arbeits- und Denkweisen adäquat auszubilden, zum Beispiel durch ein auch quantitativ angemessenes Angebot an Aufgaben. Der bei COACTIV eingesammelte Aufgabenbestand einer Mathematiklehrkraft sollte also über die Typen mathematischen Arbeitens austariert sein. In der Dimension B (Typen mathematischen Arbeitens) wird somit von jeder Aufgabe die Aufgabenklasse erfasst.
Dimension C) Kognitive Elemente des Modellierungskreislaufs: Inner- und außermathematisches Modellieren. mathematische Grundvorstellungen, Umgehen mit mathematikhaItigen Texten, Gebrauch mathematischer Darstellungen und mathematisches Argumentieren Die drei Typen mathematischen Arbeitens erfassen noch nicht, auf welchem Niveau sich die zu leistenden kognitiven Prozesse befinden. Um diese Prozesse und die hierin eingebundenen unterschiedlichen kognitiven Aktivitäten differenziert darzustellen, wurde bei COACTIV als theoretisches (nicht empirisch abgeleitetes) Modell der wohlbekannte Kreislauf mathematischen Modellierens gewählt (vgl. Schupp 1988; Blum 1996; Blum et al. 2007; Klieme et al. 2001). Dieser Kreislauf beginnt idealtypisch mit dem Lesen und Verstehen des gegebenen Aufgabentextes, was daraufhin außer- oder innermathematische Übersetzungsprozesse erfordert. Die bei diesen Übersetzungsprozessen benötigten Grundvorstellungen leiten dann über zu einem innermathematischen Bearbeitungsteil, der neben technische Fertigkeiten auch Argumentationsfähigkeiten erfordert. Am Ende steht dann die Rückübertragung des ermittelten Resultates auf die Ausgangssituation.
Dieses Merkmal weist eine gewisse Grobheit auf. Beispielsweise werden stochastische Inhalte in manchen Bundesländern erst gegen Ende der Sekundarstufe I bzw. im Verlauf der Oberstufe behandelt.
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Dabei ist anzumerken, dass bei diesem Prozess in allen genannten Schritten Darstellungen als Hilfen herangezogenen werden können. Die so beschriebenen mathematischen Tätigkeiten haben in der mathematikdidaktischen Literatur eine lange Tradition. Beispielsweise finden sie sich bereits bei Winter (1975), der vom "Mathematisieren", "Explorieren", "Argumentieren" und "Formulieren" spricht. Die Niveaus dieser Tätigkeiten beim Durchlaufen des Kreislaufs sollen im Folgenden detailliert beschrieben werden:
Zunächst wird zwischen inner- und außermathematischen Übersetzungsprozessen unterschieden, wobei beide Prozesse - wie auch bei der nationalen Ergänzungsuntersuchung von PISA - als kognitiv strukturgleich angesehen und mit "Modellieren" bezeichnet werden (vgl. Klieme, Neubrand & Lüdtke 2001; Neubrand 2003; zur Bezeichnungsproblematik siehe Knoche et al. 2002). Beide Prozesse können einschrittig, mehrschrittig oder komplex sein4; ggf. können diese Prozesse sogar miteinander kombiniert auftreten (vgl. z.B. die wohlbekannte Äpfel-Aufgabe aus PISA 2000).5 Im Klassifikationsschema (Jordan et al. 2006) ist die systematische Unterscheidung zwischen innerund außermathematischen Aufgaben detailliert behandelt.
Mathematische Begriffe basieren auch darauf, was sich Menschen unter den jeweiligen Inhalten vorstellen, welche Bedeutung sie damit verbinden. Grundvorstellungen (vgl. vom Hofe 1995) beschreiben gerade diese Beziehung zwischen dem mathematischen Inhalt, der Realität und den individuellen mentalen Strukturen. Sie sind Träger der Bedeutung eines mathematischen Inhalts und repräsentieren für das Individuum den Kern des Inhalts. Aufgaben können entweder die Aktivierung keiner Grundvorstellung, einer Grundvorstellung, mehrere Grundvorstellungen oder sogar von Grundvorstellungskomplexen während des Lösungsprozesses erfordern. Wie die Typen mathematischen Arbeitens hat sich auch diese Kategorie bei PISA empirisch bewährt, indem gezeigt werden konnte, dass die Grundvorstellungsintensität ein erklärungsstarker Prädiktor zur Aufklärung der Schwierigkeit von Aufgaben ist (vgl. Blum et al. 2004).6
Ebenfalls empirisch an den PISA-Aufgaben als schwierigkeitsgenerierendes Merkmal nachgewiesen ist die Bedeutung der Komplexität des Aufgabentextes (vgl. CohorsFresenborg, Sjuts & Sommer 2004). Diesbezüglich ist beim Umgehen mit mathematikhalligen Texten insbesondere zu beachten, inwieweit der sprachliche Fluss bei der Aufgabenstellung mit dem Lösungsgang in einem mathematischen Modell übereinstimmt. Zu ermitteln ist daher, welche relevanten Informationen aus einem Kontext sich identifizieren und in eine mathematische Beschreibung überführen lassen. Nach CohorsFresenborg (1996) rufen insbesondere sprachliche Konstruktionen, die die logische
4
6
Von einer komplexen ModelIierung soll beispielsweise dann gesprochen werden, wenn mathematische Modelle miteinander verglichen oder kritisch beurteilt werden sollen. Die Nähe der in diesem Abschnitt beschriebenen kognitiven Kategorien zu den Bildungsstandards-Kompetenzen (siehe Blum et al. 2006) ist dabei nicht zuflillig: Beides basiert auf den PISA-Kompetenzen, und die Bildungsstandards haben sich z.T. aufCOACTIV bezogen. Eine I zu I-Entsprechung war dabei jedoch nicht intendiert. Ein Katalog mathematischer Gmndvorstellungen, der die wichtigsten Vorstellungen zu den zentralen mathematischen Inhalten der Sekundarstufe I aufgegliedert nach Stoff gebieten enthält, ist in Jordan 2006, S. 148ff. zu finden. Eine ausführliche Operationalisiemng der Kategorie "Grundvorstellungsintensität" kann in Blum et al. 2004, S. 152ff. nachgelesen werden.
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Struktur der Kontextdarstellung betreffen, sowie solche Fonnulierungen, die durch die Authentizität einer Situation bedingt sind, Schwierigkeiten hervor.
Weiter ist für die kognitive Aktivierung durch Aufgaben auch verantwortlich, inwieweit Argumentationsprozesse erforderlich sind. Unter Argumentieren (vgl. u.a. Hanna & Jahnke 1996) soll dabei bei COACTIV die Fähigkeit verstanden werden, eine geschlossene Argumentationskette zu präsentieren oder auch verschiedene Fonnen von mathematischen Argumentationen zu verstehen bzw. zu bewerten. Hierzu gehören sämtliche Arten von Begründungen, so z.B. auch die Reflexion über ein gegebenes mathematisches Modell oder das systematische Anwenden einer Strategie. Wie das Modellieren bezieht sich auch diese Fähigkeit sowohl auf innennathematische Prozesse, wie das Ausführen eines Beweises, als auch auf reale Sachverhalte, wie z.B. die Begründung der Antwort auf die Frage, ob eine bestimmte Spielsituation gerecht ist.
Schließlich wurde bei COACTIV erhoben, inwieweit ein Gebrauch von bzw. ein Wechsel zwischen Darstellungen (z.B. Tabelle, Graf, Diagramm) erforderlich ist.
Wie bei den mathematischen Grundvorstellungen und dem Umgehen mit mathematikhaltigen Texten gibt es auch bei den letzten beiden Kategorien unterschiedliche Niveaus (beispielsweise beim Argumentieren von der bloßen Wiedergabe von Standardargumentationen bis hin zur Entwicklung komplexer mathematischer Argumente), die auch hier im Sinne einer kognitiven Aktivierung in den AufgabensteIlungen deutlich werden sollten. Relativierend sei an dieser Stelle angemerkt, dass zwar die Bedeutung der Argumentationsintensität zur Erklärung der Aufgabenschwierigkeit durch im Rahmen des SINUS-Programms durchgeführte multiple Regressionsanalysen bestätigt werden konnte (vgl. Jordan 2006), wohingegen die Relevanz der Intensität des Gebrauchs mathematischer Darstellungen hierfür empirisch bislang noch nicht nachweisbar war. Dennoch soll letztgenannte Kategorie insbesondere auch wegen ihrer Bedeutung bei internationalen wie nationalen Vergleichsstudien in die Analyse des Aufgabenmaterials einbezogen werden. In der Dimension C (kognitive Elemente des Modellierungskreislaufs) wird also bei jeder Aufgabe bewertet, inwieweit inner- bzw. außennathematische Modellierungsproezsse erforderlich sind, mathematische Grundvorstellungen aktiviert werden müssen und mathematisches Argumentieren, der Gebrauch von mathematischen Darstellungen und der Umgang mit mathematikhaltigen Texten benötigt werden.
Bei allen genannten Kategorien sollte - nicht zuletzt auch aus Sicht einer angemessenen Schüleradaptivität - eine gewisse Ausgewogenheit in den Aufgaben einer Lehrkraft feststellbar sein.
Dimension D) Lösungsraum Ein Merkmal von Aufgaben ist auch, wie weit der in einer Aufgabe realisierte Lösungsraum abgesteckt ist. Zwei Kriterien werden hierzu beachtet: Einerseits, ob eine Aufgabe in Übereinstimmung mit der oder gegen die Richtung der Bearbeitung gestellt ist, in der ein Begriff oder ein Verfahren üblicherweise gelernt oder dargestellt wird (d.h. vorwärts oder rückwärts), andererseits, ob eine Aufgabe auf unterschiedlichen Wegen gelöst werden soll (Anzahl der explizit eingeforderten Lösungswege). Insbesondere Aufgaben, die dem letztgenannten Aspekt gerecht werden, kommt im Unterricht eine besondere Bedeutung für die kognitive Aktivierung zu (vgl. Blum & Wiegand 2000; Neubrand & Neu-
Aufgaben im COACTIV-Projekt 91
brand 1999). In der Dimension D (Lösungsraum) wird also von jeder Aufgabe die Bearbeitungsrichtung sowie die Anzahl der eingeforderten Lösungswege erfasst.
Tabelle 1 gibt einen Überblick über alle Kategorien sowie die übergeordneten Dimensionen des Aufgabenklassifikationsschemas.
Dimension Kategorie Bedeutung der Ausprägungen
A- I-Stoffgebiet I =Arithmetik, 2=Algebra, 3=Geometrie, 4=Stochastik Inhaltlicher 2-Curriculare I =Grundkenntnisse, 2=Einfaches Wissen der Sekundarstufe I, Rahmen Wissensstufe 3=Anspruchsvolles Wissen der Sekundarstufe I
B- 3-Typ mathe- I =Technische Aufgabe, 2=rechnerische Aufgabe, 3=begriffiiche Kognitiver matischen Arbei- Aufgabe Rahmen tens
C- 4-Außerrna- O=Nicht benötigt, I =Standardmodellierungen, 2=Mehrschrittige Kognitive matisches Model- Modellierungen, 3=Modellreflexion, -validierung oder -eigen-Elemente des lieren entwicklung Modellie- 5 -Innerrnathe- O=Nicht benötigt, I =Standardmodellierungen, 2=Mehrschrittige rungskreis- thematisches Modellierungen, 3=Modellreflexion, -validierung oder -eigen-laufs Modellieren entwicklung
6-Grundvor- O=Nicht benötigt, I =Eine elementare Grundvorstellung oder (tri-stellungen viale) Kombination von verwandten elementaren Grundvorstel-
lungen, 2=Eine erweiterte Grundvorstellung oder eine nicht-triviale Kombination von elementaren Grundvorstellungen oder eine nicht-triviale Kombination von elementaren, aber nicht ver-wandten Grundvorstellungen, 3=Mehr als dies
7-Umgehen mit O=Nicht benötigt, I =Unmittelbares Textverstehen, mathematikhalti- 2=Textverstehen mit Umorganisation, 3=Verstehen logisch gen Texten komplexer Texte
8-Mathemati- O=Nicht benötigt, 1 =Standardbegründungen, 2=Mehrschrittige sches Argurnen- Argumentationen, 3=Entwicklung komplexer Argumentationen tieren oder Beurteilen von Argumenten
9-Umgehen mit O=Nicht benötigt, 1 =Standarddarstellungen, 2=Wechsel zwi-mathematischen sehen Darstellungen, 3=Beurteilen von Darstellungen Darstellungen
D- IO-Bearbeitungs- I =vorwärts, 2=rückwärts Lösungsraum richtung
lI-Anzahl der O=kein Lösungsweg, I =ein Lösungsweg, 2=mehrere Lösungs-eingeforderten wege Lösungswege
Tabelle 1: Überblick über ausgewählte Kategorien des Klassifikationsschemas
Die nachfolgend ausgeführten Beispiele sollen die Kategorien des Aufgabenschemas und deren Ausprägungen verdeutlichen. Für eine ausführliche Analyse weiterer Aufgaben mittels ausgewählter Kategorien siehe Jordan (2006) und Jordan et al. (2006).
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2.2 Aufgabenbeispiele
Im Klassiftkationsprozess wurde zunächst der Frage nachgegangen, welchem mathematischen Stoff gebiet eine betrachtete Aufgabe angehört und welcher curricularen Wissensstufe sie zuzuordnen ist (Dimension Ades Klassifikationsschemas). Anschließend wurde erfasst, welcher der drei Typen mathematischen Arbeitens bei der Aufgabenbearbeitung im Zentrum steht (Dimension B des Klassifikationsschemas).
Curriculare Wissensstufe (Dimension A, Kate20rie 2) Ausprägung 1: Ausprägung 3:
Grundkenntnisse (Grundre- Anspruchvolleres Wissen (fortge-chenarten und eirifachste ge- schrittene Begriffe und Verfahren, ometrische Grundkenntnisse, die in der Sekundarstufe 1 bis hin die bereits in der Grund- zu quadratischen Gleichungen und
Typ mathematischen Ar- schule vermittelt werden 0- zu Anfängen der Ahnlichkeitsgeo-heitens (Dimension B, Ka- der aus dem Alltag bekannt metrie gehen) tegorie 3) sind)
Ausprägung 1: Technische Geteilt Gleichung Aufgabe (technisches Wis- Berechne: 18: 2 = ..... Bestimme die Lösungen mithilfe sen außerhalb jeglicher einer Formel: Kontextanbindungen)
x 2 -8x+7 = 0
Ausprägung 2: Teppichboden Taschengeld
Rechnerische Modellie- lan will einen Teppichboden Peter startet in wenigen Tagen zu rungsaufgabe (inner- und für sein Zimmer kaufen (sie- einer zweiwöchigen Klassenfahrt. außermathematische Auf he nachstehende Abbildung). Seine Eltern möchten ihm nach gaben, bei denen vorwie- 03m folgendem Plan Taschengeld mit-gend prozedurales Denken geben: Für den ersten Tag 3 Euro, in der Phase der Verarbei- dann täglich 2 Euro mehr als am tung nötig ist) Tag vorher. Peter überlegt kurz
und macht einen "bescheidenen"
Wie viel m2 Teppichboden Gegenvorschlag:
benötigt er? Schreibe auf, Für den ersten Tag 3 Cent, dann wie du rechnest. täglich den doppelten Betrag des
Vortages. Was hältst du davon? Begründe deine Antwort.
Ausprägung 3: 31 Cent Kreis
Begriffliche Modellierungs- Wie kannst du einen Geldbe- Löse die folgende Aufgabe auf aufgabe (inner- und außer- trag von genau 31 Cent hin- möglichst viele verschiedene Ar-mathematische Aufgaben, legen, wenn du nur IO-Cent-, ten und beschreibe deine Lö-bei denen vorwiegend kon- 5-Cent- und 2-Cent-MÜllZen sungswege sorgfältig: zeptuelles Denken in der zur Verfugung hast? Gib alle Wie ändert sich der Flächeninhalt Phase der Verarbeitung nö- Möglichkeiten an und erläu- eines Kreises, wenn man seinen tig ist) tere dein Vorgehen. Radius verdoppelt? Begründe dei-
ne Antwort.
Tabelle 2: Beispiele for Aufgaben, die sich in ihrer curricularen Verortung (Dimension A) als auch in den Typen mathematischen Arbeitens (Dimension B) unterscheiden
Aufgaben im COACTIV-Projekt 93
Wie aus Tabelle 2 ersichtlich ist, können alle Typen mathematischen Arbeitens auf verschiedenen curricularen Wissensstufen auftreten.? So gehören die Aufgaben 31 Cent (Stoffgebiet: Arithmetik) und Kreis (Stoffgebiet: Geometrie) zwar beide zu den begrifflichen Modellierungsaufgaben, die tUr ein erfolgreiches Aufgabenlösen nötigen Wissenselemente werden aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Curriculum behandelt. Während das bei der Aufgabe 31 Cent erforderliche Arbeiten mit Größen und der diesbezügliche Umgang mit natürlichen Zahlen bereits in der Grundschule behandelt werden, sind das Themengebiet Kreis und die Berechnung des Kreisflächeninhalts in allen Bildungsgängen erst gegen Ende der Sekundarstufe I angesiedelt. Ebenso verhält es sich mit den weiteren Aufgabenbeispielen. So erfordern die Aufgaben Teppichboden und Taschengeld zwar beide eine rechnerische Modellierung, die hierfiir bei der Aufgabe Teppichboden nötige Multiplikation mit natürlichen Zahlen ist aber genuiner Bestandteil der Grundschulmathematik, wohingegen das bei der Aufgabe Taschengeld nötige Wissen über exponentielle Wachstumsprozesse üblicherweise erst gegen Ende der Sekundarstufe I behandelt wird.
Nach einer Betrachtung der genannten Kategorien zu den Dimensionen A und B des Klassifikationsschemas wurden im Klassifikationsprozess die inner- sowie außermathematische Modellierungsintensität, die Grundvorstellungsintensität, das Niveau des Umgangs mit mathematikhaltigen Texten, das Argumentations- und das Darstellungsniveau als Eckpunkte des Modellierungskreislaufs (Dimension C) sowie die Richtung der Aufgabenbearbeitung und die Anzahl der explizit eingeforderten Lösungswege (Dimension D) in die Aufgabenanalyse einbezogen. Betrachtet man diesbezüglich exemplarisch die Aufgabe 31 Cent, dann erfordert diese ein einfaches Verständnis eines mathematischen Textes. Diesen muss man auf einem eher niedrigen Niveau sinnentnehmend lesen können, insbesondere muss man in der Lage sein, das gegebene Problem innerhalb der Mathematik zu strukturieren. Dabei geht es - und hierin besteht sicherlich die Schwierigkeit bei dieser Aufgabe - neben dem AusfUhren einer anspruchsvollen innermathematischen Modellierung im vorhin genannten Sinn auch um komplexes Argumentieren. Es müssen verschiedene Möglichkeiten systematisch durchgespielt und es muss sorgfältig begründet werden, warum alle Fälle gefunden wurden. Dabei sind der rechnerische Anspruch und auch die Intensität mathematischer Grundvorstellungen (es genügt die Aktivierung einer elementaren Grundvorstellung vom Addieren) offensichtlich sehr gering. Zudem verläuft die Richtung der Auseinandersetzung entgegen der in der Mathematik üblichen Denkrichtung, wobei kein Lösungsweg explizit gefordert ist8• Bei der Aufgabe Taschengeld, die entlang der üblichen mathematischen Denkrichtung gestellt ist, ist der gegebene Aufgabentext deutlich anspruchsvoller und das tUr ein erfolgreiches Aufgabenlösen erforderliche Modellieren verlangt (mehrschrittige) Übersetzungsprozesse zwischen Reali-
? Die Beispiele stammen aus unterschiedlichen Quellen: So ist die Aufgabe 31 Cent eine leichte Modifikation der Aufgabe 31 Pfennig aus PISA-2000, die Aufgaben Geteilt und Gleichung sind Standardfragestellungen in den Klassenstufen 9 bzw. 10, die Aufgaben Kreis, Teppichboden und Taschengeld stammen aus dem COACTIV-Aufgabenpool für Kodiererschulungen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass nicht auch bei dieser Aufgabe verschiedene Lösungswege möglich sind (z.B. ein systematisches Konstanthalten von 11 Cent oder ein sukzessives Herunterarbeiten "von Groß nach Klein"; vgl. Jordan 2006). Eine Notation dieser verschiedenen Wege ist allerdings - z.B. im Gegensatz zur Aufgabe Kreis - nicht explizit eingefordert.
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tät und Mathematik. Zudem erfordert dieses Beispiel die Aktivierung einer Vielzahl mathematischer Grundvorstellungen (Funktionsbegriff bei linearen und exponentiellen Funktionen, Vergleich beider Vorschläge durch Subtraktion, ggf. Variablenbegriff bei Notation und Verarbeitung der Funktionsvorschriften) und das Argumentieren ist rechnerisch bestimmt.
Die nachstehende Tabelle 3 gibt einen Überblick über die Einordnung der in Tabelle 2 vorgestellten Aufgabenbeispiele in die Dimensionen C und D des Klassifikationsschemas (der Vollständigkeit halber sind die Dimensionen A und B in der Tabelle noch einmal mit aufgeführt):
Dimension A B C D
Kategorie 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
31 Cent 1 1 3 1 3 1 1 3 0 2 0
Kreis 3 3 3 0 2 2 1 2 0 1 2
Teppichbo- 3 1 2 1 0 1 2 0 1 1 0 den
Taschengeld 2 3 2 2 0 3 2 1 0 1 0
Geteilt 1 1 1 0 0 0 0 0 0 1 0
Gleichung 2 3 1 0 0 0 0 0 0 1 1
Tabelle 3: Ausprägungen der Beispielaufgaben auf den Kategorien des Klassifikationsschemas
Bedeutung der Ziffern der Kategorien:
Zur Dimension A: Kategorie 1 "Stoffgebiet" (1=Arithmetik, 2=Algebra, 3 = Geometrie, 4= Stochastik), Kategorie 2 "Curriculare Wissensstufe " (1 = Grundkenntnisse, 2=Einfaches Wissen Sek. 1, 3=Anspruchsvolles Wissen Sek. I).
Zur Dimension B: Kategorie 3 "Typ mathematischen Arbeitens" (1 = Technische Aufgabe, 2=Rechnerische Modellierungsaufgabe, 3=BegrifJliche Modellierungsaufgabe).
Zur Dimension C: Kategorie 4 "Außermathematisches Modellieren ", Kategorie 5 "innermathematisches Modellieren ", Kategorie 7 "Umgehen mit mathematikhaltigen Texten ", Kategorie 8 "Mathematisches Argumentieren" sowie Kategorie 9 " Umgehen mit mathematischen Darstellungen" (stets: O=keine, 1 =niedrig, 2=mittel, 3=hoch), Kategorie 6" Grundvorstellungen " (O=keine, 1=elementar, 2=erweitert, 3=mehr als dies).
Zur Dimension D: Kategorie 10 "Bearbeitungsrichtung" (1=vorwärts, 2=rückwärts), Kategorie 11 "Eingeforderte Lösungswege" (O=kein Lösungsweg, 1=ein Lösungsweg, 2=mehrere Lösungswege).
Hierbei wird insbesondere deutlich, dass die Schwierigkeit bei den technischen Aufgaben Geteilt und Gleichung vermutlich vor allem durch die Komplexität des auszuführenden Algorithmus determiniert wird, wohingegen bei den übrigen Aufgaben ganz verschiedene Faktoren auf unterschiedlichen Niveaus eine Rolle spielen können, weshalb gerade solche Aufgaben im Sinne einer kognitiven Aktivierung als deutlich anregender zu betrachten sind. Zudem ist ersichtlich, dass allein bei der Aufgabe Teppichboden der Gebrauch von Darstellungen substantiell erforderlich ist. Hier müssen nämlich die zur
Aufgaben im COACTIV-Projekt 95
Aufgabenlösung nötigen Informationen (hier: die Länge und Breite des Zimmers) aus einer vorgegebenen Abbildung entnommen werden.
3 Durchführung des Aufgabenratings bei COACTIV
Der nachfolgende Abschnitt gibt zunächst einen kurzen Überblick über das Vorgehen beim Sammeln der Aufgaben (Aufgabensampling) und bei der Datenerfassung und thematisiert dann die statistische Güte der Kategorien des Klassiflkationsschemas.
3.1 Aufgabensampling und Datenerfassung
Aufgabenumfang und Verteilung der Aufgaben und Aufgabeneinheiten auf die Lehrkräfte
Insgesamt: 47.573 Aufgaben Anzahl Mittelwert Standard-
Aufgaben pro Lehrkraft abweichung
Klassenarbeiten 2003 KAs * 1064 4,04 1,2
260 Lehrkräfte Aufgaben 14744 55,6 27,7
Hausaufgaben 2003 HAEs ** 797 3,7 3,0
210 Lehrkräfte Aufgaben 10740 50,4 75,9
Klassenarbeiten 2004 KAs* 752 3,7 1,1
202 Lehrkräfte Aufgaben 10863 53,3 25,7
Hausaufgaben 2004 HAEs ** 238 1,7 0,5
137 Lehrkräfte Aufgaben 5959 43,2 37,8
Unterrichtsaufgaben 2004 UAEs *** 253 1,8 0,4
144 Lehrkräfte Aufgaben 5267 38,2 36,3 * Klassenarbeiten ** Hausaufgaben-Einheiten (unter einer "Einheit" sind dabei jeweils alle von einer *** Unterrichtsaufgaben-Einheiten Lehrkraft eingereichten Einzelaufgaben zu verstehen)
Tabelle 4: Aufgabenumfang der in COACTIV kategorisierten Mathematikaufgaben
Wie aus Tabelle 4 ersichtlich ist, hatten zum ersten Messzeitpunkt im Jahr 2003 insgesamt 260 Lehrkräfte Stichproben des von ihnen im Mathematikunterricht verwendeten Aufgabenmaterials eingereicht. Insgesamt lagen l.064 Klassenarbeiten und 797 Hausaufgabeneinheiten vor, die sich auf 25.484 einzelne Items (im Sinne von Unteraufgaben oder Analyseeinheiten) verteilten9. Im Jahr 2004 belief sich der Umfang auf 752 Klassenarbeiten, 238 Hausaufgabeneinheiten und 253 Unterrichtsaufgabeneinheiten von noch 202 Lehrkräften. Insgesamt waren dies 22.089 Analyseeinheiten. In der Summe la-
9 Die Beispiele aus Tabelle 2 werden somit jeweils als einzelne Hems betrachtet.
96 Alexander Jordan et. al.
gen uns von beiden Messzeitpunkten somit insgesamt 47.573 einzelne Mathematikaufgaben zur Kategorisierung vor. IO
Bevor das Aufgabenmaterial von geschulten Kodierern (Mathematik-Lehramtsstudierende, Referendare sowie zwei Lehrkräfte, alle aus dem Raum Kassel) klassifiziert werden konnte, wurde jedes Aufgabenblatt zunächst mit der entsprechenden Lehrer-ID (Identifikationsnummer) und einer Seitenzahl versehen. Anschließend wurden die Aufgaben in Themeneinheiten, in Hauptaufgaben und in Teilaufgaben eingeteilt. Jede zu kodierende Aufgabe ("Analyseeinheit") enthielt entsprechend dieser Struktur eine Nummer (bei den Klassenarbeiten konnte die Nummerierung der Lehrkräfte beibehalten werdeni I. Anhand dieser Nummerierung ist eine exakte Identifizierung jeder einzelnen Aufgabe gewährleistet.
Die Datenerfassung erfolgte dann mittels einer auf die Kodierung spezifisch zugeschnittenen elektronischen Dateneingabemaske.12 Auf diese Weise konnte die große Anzahl an Mathematikaufgaben in einem moderaten Zeitrahmen bewältigt wie auch die Datenmenge adäquat archiviert werden.
3.2 Überprüfung der Beurteilerübereinstimmung
Das Rating der Mathematikaufgaben wurde bei COACTIV von zwölf geschulten Kodierem vorgenommen (fiir eine ausfiihrliche Darstellung der Kodiererschulung vgl. Jordan et al. 2006, S. 20f.). Die Raterübereinstimmung wurde in zwei Reliabilitätstests im Jahr 2003 geprüft. Im Jahr 2004 wurde ein erneuter Test durchgefiihrt. An den ersten beiden Tests im Jahr 2003 beteiligten sich alle zwölf Kodierer. An der Testwiederholung im Jahr 2004 waren acht Kodierer aus dem Jahr 2003 beteiligt, vier Kodierer kamen neu hinzu. Datengrundlage für die Analyse der Raterübereinstimmung bildeten die von den Kodierern vorgenommenen Kategorisierungen von Aufgaben aus TIMSS und PISA sowie aus eingesammelten Klassenarbeiten und Hausaufgaben nach den in Abschnitt 2.1 ausgeführten Kategorien und deren zugehörigen Ausprägungen \3. Zur Bestimmung der Beurteilerübereinstimmung wurden zwei Koeffizienten ermittelt:
(a) Rho (vgl. Shavelson & Webb 1991) ist das Ergebnis einer Intraklassenkorrelation (ICC), welche auf Grundlage einer Varianzkomponentenanalyse berechnet wird. Die ICC ist ein gängiges Maß zur Bestimmung der Reliabilität intervallskalierter Ratings und hat gegenüber dem Übereinstimmungsmaß Cohens
10 Die vergleichsweise hohen Standardabweichungen bei den eingesammelten Hausaufgaben basieren darauf, dass ein Großteil der Lehrkräfte unsere Vorgabe bezüglich der Anzahl einzureichender Aufgaben (max. 5) nicht berücksichtigt hat. Dieses Problem bestand nicht bei den Klassenarbeiten, da deren Anzahl innerhalb eines Schuljahres naturgemäß begrenzt ist.
11 Die Bestimmung der Analyseeinheiten wurde von drei Experten übernommen, die zur Gruppe der Kodierer zählten. Diese waren mit dem Forschungsanliegen und dem Aufgabenklassifikationsschema besonders gut vertraut. Für weitere Details sei auf Jordan et al. 2006, S. 18ff. verwiesen.
12 Wir bedanken uns bei Michael Schneider (Max-Planck-Institut filr Bildungsforschung, seit 2006 ETH Zürich) filr die Programmierung der Dateneingabemaske.
13 Im Jahr 2004 haben wir uns bei der Überprüfung der Beurteilerübereinstimmung auf Aufgaben aus Klassenarbeiten und Hausaufgaben beschränkt.
Aufgaben im COACTIV-Projekt 97
Kappa den Vorteil, dass sie für mehr als zwei Beurteiler gemeinsam berechnet werden kann (vgl. Wirtz & Caspar 2002, S. 157ft). Rho gibt an, welcher Anteil der Gesamtvarianz (über alle zwölf Kodierer) auf systematische Unterschiede zwischen den beurteilten Aufgaben anstatt auf systematische Unterschiede zwischen den Kodierern oder zufälligen Fehlern (z.B. Eingabefehler am Rechner) zurückgeht. Rho kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Je höher der Wert von Rho ist, desto besser ist die Übereinstimmung zwischen den Kodierern.
(b) Als ein weiteres Maß der Beurteilerübereinstimmung wurde die mittlere prozentuale Übereinstimmung (kurz: PÜ, vgl. Fleiss 1973) berechnet. Dieser Wert wird aus einem Vergleich aller 66 möglichen Paarbildungen zwischen den 12 Kodierern für jede Kategorie bestimmt. Wenn zwei Kodierer miteinander übereinstimmen, gibt es einen Punkt für die eingeschätzte Aufgabe. Um den Wert für die mittlere prozentuale Übereinstimmung zu bestimmen, berechnet man zuerst die mittlere Übereinstimmung über alle eingeschätzten Aufgaben für ein Raterpaar (z.B. 30 beim Übereinstimmungstest 2004) und mittelt dann über alle (in 2004: 66) dieser Raterpaarmittelwerte (vgl. Wirtz & Caspar 2002). Es ist jedoch zu beachten, dass die prozentuale Übereinstimmung auf grund der stark variierenden Grundraten allerdings nur eingeschränkte Aussagekraft besitzt.
Die nachfolgende Übersicht (Tab. 5; für eine ausführlichere Fassung sei auf Jordan et al. 2006 verwiesen) stellt die über die Ausprägungen gemittelten Rho-Werte sowie die mittlere prozentuale Übereinstimmung für ausgewählte Kategorien dar.
2003, 2003, 2004, 1. Test 2. Test 3. Test
Rho PÜ Rho PÜ Rho PÜ (in %) (in %) (in %)
Arithmetik 0,94 81 --- --- 0,96 86
Algebra 0,91 81 --- --- 0,90 83
Geometrie 0,91 93 --- --- 0,99 89
Stochastik 0,79 95 --- --- 1,00 100
Curriculare Wissensstufe 0,91 64 0,95 78 0,93 82
Außermathematisches Modellieren 0,96 76 0,99 87 0,99 87
Innermathematisches Modellieren 0,89 69 0,95 64 0,95 74
Typen mathematischen Arbeitens 0,93 69 0,93 66 0,97 81
Mathematische Grundvorstellungen 0,94 59 0,94 63 0,97 63
Umgang mit mathematikhaltigen Texten 0,82 64 0,95 74 0,96 80
Mathematisches Argumentieren 0,97 88 0,98 93 0,98 93
Gebrauch mathematischer Darstellungen 0,96 83 0,98 90 0,98 90
Richtung der Bearbeitung 0,82 76 0,90 85 0,88 83
Eingeforderte Lösungswege 0,86 92 --- --- 0,86 92
Tabelle 5: Beurteilerübereinstimmung bei ausgewählten Kategorien
Dabei ist anzumerken, dass einzelne Kategorien, die beim ersten Test noch zu geringe Interraterreliabilitäten aufwiesen, noch einmal theoretisch überarbeitet wurden, um da-
98 Alexander Jordan et. al.
raufhin einen weiteren Test zur Überprüfung der Übereinstimmung der Kodierer durchzufUhren. Falls für eine Kategorie kein Eintrag in der zweiten Spalte besteht, wurde sie bei diesem Test der Beurteilerübereinstimmung nicht berücksichtigt.
Insbesondere im Durchgang 2004 zeigten sich für nahezu alle genannten Kategorien zufrieden stellende Werte (vgl. Tab. 5). Dabei muss allerdings offen bleiben, inwieweit diese Werte durch die vorgenommene Einschränkung auf Klassenarbeiten und Hausaufgaben positiv beinflusst werden. Zudem ist anzumerken, dass die mathematischen Grundvorstellungen in allen Durchgängen eine gewisse Problematik aufweisen. Hier lag die mittlere prozentuale Übereinstimmung unter 70%. Berücksichtigt man allerdings, wie detailliert und umfangreich diese Kategorie ist und dass hiermit Neuland betreten worden ist, so kann auch dieser Wert als zufrieden stellend angesehen werden.
Insgesamt betrachtet ist es also gelungen, ein Analyseschema zu entwickeln, das eine Vielzahl reliabler Kategorien beinhaltet, die es ermöglichen, das kognitive Aktivierungspotential von Mathematikaufgaben differenziert zu untersuchen, wie im folgenden Abschnitt 4 dargestellt.
4 Ergebnisse
In diesem Abschnitt geben wir einen Überblick über das Potential der im deutschen Mathematikunterricht verwendeten Aufgaben gemäß unserer Analysekriterien. Wir beschränken uns dabei exemplarisch auf die sieben Kategorien Mathematisches Argumentieren, Außermathematisches Modellieren, Innermathematisches Modellieren, Gebrauch mathematischer Darstellungen, Mathematische Grundvorstellungen, Umgang mit mathematikhaltigen Texten und Curriculare Wissensstufe. Die ersten sechs Kategorien können als Indikatoren für das kognitive Potential einer Aufgabe gesehen werden (siehe Abschnitt 2). Die curriculare Wissensstufe wird hier mit aufgenommen, um zu prüfen, ob die von den Lehrkräften eingesetzten Aufgaben der jeweiligen Jahrgangsstufe angemessen sind.
Zu erwarten sind für die curriculare Wissensstufe für Aufgaben der 9./10. Klasse Werte zwischen 2 (einfaches Wissen aus der Sekundarstufe I) und 3 (anspruchsvolles Wissen aus der Sekundarstufe I). Welche Werte sind bezüglich der sechs gewählten Indikatoren zur Charakterisierung der kognitiven Aktivierung zu erwarten? Alle sechs Indikatoren haben einen Wertebereich von 0 (Kompetenz nicht erforderlich) bis 3 (Kompetenz auf hohem Niveau erforderlich). Für einen qualitätsvollen Unterricht ist sicherlich eine breite Streuung über die eingesetzten Aufgaben aus diesen Kategorien wünschenswert (siehe Abschnitt 2). Günstig wären hierfür also Mittelwerte zwischen 1 und 2.
Tabelle 6 gibt die Mittelwerte bezüglich dieser sieben Kategorien für die 5 Aufgabensets an, die im Rahmen von COACTIV eingesammelt wurden (Hausaufgaben 2003 und 2004, Klassenarbeiten 2003 und 2004, Einstiegsaufgaben 2004). Diese Mittelwerte wurden wie folgt berechnet: Zuerst wurden pro Lehrkraft die Mittelwerte für die jeweilige Kategorie (z.B. Hausaufgaben 2003) ermittelt, dann wurden diese Mittelwerte jeweils zu einem Gesamtmittelwert aggregiert, um so die Aufgaben jeder teilnehmenden Lehrkraft gleich zu gewichten. Die Anzahl der teilnehmenden Lehrkräfte (bzw. der dabei berücksichtigten Aufgaben) ist Tabelle 4, Abschnitt 3.1 zu entnehmen.
Aufgaben im COACTIV-Projekt 99
Aufgabensets: Einstiegsaufgaben Hausaufgaben Klassenarbeiten
Kategorien: Unterricht 2003 2003 (nur 2004) (2004) (2004)
Mathematisches Argumentieren (0-3) 0,05 0,06 0,07
(0,06) (0,06)
Außerrnathematisches Modellieren (0-3) 0,20 0,34 0,22
(0,19) (0,33)
Innerrnathematisches Modellieren (0-3) 0,38 0,34 0,32
(0,27) (0,41)
Gebrauch mathem. Darstellungen (0-3) 0,36 0,34 0,22
(0,30) (0,30)
Mathematische Grundvorstellungen (0-3) 0,58 0,78 0,64
(0,52) (0,83)
Umgang mit mathem. Texten (0-3) 0,41 0,34 0,32
(0,35) (0,44)
Curriculare Wissensstufe (1-3) 2,62 2,56 2,60
(2,64) (2,72)
Tabelle 6: Mittelwertefür sieben Kategorien der bei COACTIVuntersuchtenfünf Aufgabensets
Tabelle 6 offenbart ein insgesamt sehr niedriges kognitives Aktivierungspotential der Aufgaben im deutschen Mathematikunterricht (die hypothesenkonformen Ergebnisse zur curricularen Wissensstufe sollen im Folgenden nicht weiter diskutiert werden). Zieht man die von den Lehrkräften eingesetzten Aufgaben zu Rate, scheint mathematisches Argumentieren im deutschen Mathematikunterricht nahezu gar nicht gefordert zu sein, und auch außermathematisches wie innermathematisches Modellieren, der Gebrauch mathematischer Darstellungen und der Umgang mit mathematikhaltigen Texten scheint nur auf sehr niedrigem Niveau stattzufinden. Zudem ist ein weiteres Ergebnis auffällig: Die Aufgaben, die deutsche Mathematiklehrkräfte verwenden, unterscheiden sich in ihrem kognitiven Niveau offenbar kaum im Hinblick darauf, ob sie fiir den Unterricht, als Hausaufgaben oder fiir Klassenarbeiten eingesetzt werden. Darüber hinaus scheint insgesamt kein nennenswerter Anstieg im Niveau der fiir ein erfolgreiches Aufgabenlösen geforderten mathematischen Kompetenzen von der 9. zur 10. Klasse stattzufmden (in Tabelle 6 stehen die Werte von 2004 rur Hausaufgaben und Klassenarbeiten jeweils in Klammem).
Alle Mittelwerte der kognitiven Kategorien liegen zwischen 0 und 1, deutsche Mathematiklehrkräfte scheinen denmach kaum die Möglichkeit zu nutzen, über den Einsatz geeigneter Aufgaben die Aktivierung mathematischer Kompetenzen von ihren Schülerinnen und Schülern zu fordern und diese dementsprechend zu fördern. Es ist aber noch eine andere Interpretation der Ergebnisse möglich: Die theoretisch konstruierten Kategorien des Klassifikationsschemas könnten "unrealistisch" sein, bei der Festlegung der Ausprägung und der Wertelabels könnte sozusagen von Forschungsseite "zu viel verlangt" worden sein. Dies scheint zwar unwahrscheinlich, wenn man sich vor Augen fUhrt, dass z.B. rur die Vergabe des Wertes 1 beim mathematischen Argumentieren von einer Aufgabe lediglich verlangt wird, dass zu ihrer Lösung die Wiedergabe von Standardargumentationen bzw. das Argumentieren mit Alltagswissen genügt (der Mittelwert fiir die Argumentationsintensität liegt dennoch rur alle 5 Aufgabensets nur knapp über 0).
100 Alexander Jordan et. al.
Trotzdem ist es theoretisch möglich, dass die auffällig deutlichen Ergebnisse das Resultat von zu anspruchsvollen Überlegungen bei der Konstruktion des KlassifIkationsschemas bzw. von Problemen beim Ratingprozedere sind. Um diese Hypothese zu überprüfen, haben wir zur Validierung des KlassifIkationsschemas mit der gleichen Vorgehensweise drei weitere Aufgabensets analysiert, nämlich die Aufgaben des nationalen PISA-Tests 2003, die Aufgaben des internationalen PISA-Tests 2003 und die Aufgaben des COACTIV-Fachwissenstests für Mathematiklehrkräfte. Der COACTIV-Fachwissenstest, der zum zweiten Messzeitpunkt im Jahr 2004 eingesetzt wurde, bestand aus 13 Aufgaben, in denen vertieftes Hintergrundwissen zum Sekundarstufenschulstoff geprüft wurde (vgl. Krauss et al. 2006; Krauss et al. eingereicht).
Aufgabensets: Einstiegs- Haus- Klassen- PISA PISA COACTIV aufgaben aufgaben arbeiten 2003 2003 (Lehrer Unterricht 2003 2003 Aufgaben Aufgaben Fachwis-
Kategorien: (nur 2004) (2004) (2004) (national) (internat.) senstest) Mathematisches Argu-
0,05 0,06 0,07
0,26 0,15 1,46 mentieren (0-3) (0,06) (0,06) Außerrnathematisches
0,20 0,34 0,22
0,85 1,52 0,10 Modellieren (0-3) (0,19) (0,33) Innerrnathematisches
0,38 0,34 0,32
0,41 0,20 1,46 Modellieren (0-3) (0,27) (0,41) Gebrauch mathem. Dar-
0,36 0,34 0,22
0,49 0,69 0,28 stellungen (0-3) (0,30) (0,30) Mathematische Grund-
0,58 0,78 0,64
1,51 1,80 1,53 vorstellungen (0-3) (0,52) (0,83) Umgang mit mathem.
0,41 0,34 0,32
0,56 0,83 1,17 Texten (0-3) (0,35) (0,44) Curriculare 2,62
2,56 2,60 2,02 1,79 2,75
Wissensstufe (1-3) (2,64) (2,72)
Tabelle 7: Validierung ausgewählter Kategorien des Klassifikationsschemas durch Vergleich der von den Lehrkräften eingesetzten Aufgaben mit drei externen Aufgabensets (PISA 2003 National.
PISA 2003 International, COACTIV-Fachwissenstest)
Tabelle 7 zeigt die Mittelwerte dieser drei genannten Aufgabensets bezüglich der eben betrachteten sechs Kategorien (die Ergebnisse von Tabelle 6 sind zum besseren Vergleich noch einmal mit aufgenommen). Auch diese Aufgabensets wurden wieder von denselben Kodierern beurteilt. Dabei wurde den Kodierern nicht mitgeteilt, dass es sich um PISA-Aufgaben bzw. COACTIV-Fachwissenstestaufgaben handelt. Um die Unvoreingenommenheit der Kodierer beim Aufgabenrating zu gewährleisten, wurden diese Aufgaben unter die anderen zu kodierenden Aufgaben gemischt.
Tabelle 7 verdeutlicht, dass das KlassifIkationsschema durchaus sensibel für anspruchsvollere Aufgaben ist. So sind erwartungsgemäß beim COACTIV-Fachwissenstest mathematisches Argumentieren, innermathematisches Modellieren und der Umgang mit mathematikhaltigen Texten auf einem deutlich höheren Niveau erforderlich als bei den Aufgaben, die im deutschen Mathematikunterricht eingesetzt werden. Auch die mathematischen Grundvorstellungen, deren Aktivierung an Übersetzungsprozesse gekoppelt ist, weisen eine deutlich höhere Intensität auf.
Aufgaben im COACTIV-Projekt 101
Tabelle 7 zeigt weiterhin, dass das Klassifikationsschema den Anspruch des internationalen PISA-Tests nach hoher Modellierungskompetenz (vgl. z.B. OECD 2003) in den Aufgaben tatsächlich wiederspiegelt (Mittelwert von 1,52), was ein Zeichen für die Validität dieser Kategorie ist. Zudem sind die dargebotenen Darstellungen reichhaltiger, und auch im Umgang mit mathematikhaltigen Texten und beim mathematischen Argumentieren weisen die PISA-Aufgaben durchschnittlich ein höheres Niveau als die Aufgaben der deutschen Lehrkräfte auf, und das, obwohl sie in der Regel einer geringeren curricularen Wissensstufe zuzuordnen sind. Gerade der Vergleich der Aufgaben der deutschen Lehrkräfte mit den PISA-Aufgaben macht deutlich, dass ein hohes Modellierungsniveau und ein hohes Argumentationsniveau nicht notwendigerweise mit einer höheren curricularen Wissensstufe einhergehen muss. Die PISA-Aufgabe ,,31 Cent" (siehe Tabelle 2 und 3) illustriert diesen Sachverhalt auf besonders schöne Weise: Obwohl die Aufgabe mathematisch nur einfache Grundkenntnisse erfordert (Curriculare Wissensstufe = 1), befmdet sich das bei dieser Aufgabe geforderte mathematische Argumentationsniveau auf der höchsten Stufe (3). Mathematisches Argumentieren (genauso wie außermathematisches Modellieren und der Umgang mit mathematikhaltigen Texten) ist also durchaus auch auf einer niedrigen curricularen Wissensstufe möglich.
Klassenarbeiten 2003 Gymnasium Andere Signifikanz / Schulforrnen Effektstärke
Mathematisches Argumentieren (0-3) 0,14 0,03 P < 0,01 d = 1,1
Außennathematisches Modellieren (0-3) 0,13 0,26 P < 0,01 d = -0,68
Innennathematisches Modellieren (0-3) 0,46 0,25 P < 0,01 d = 1,03
Gebrauch mathem. Darstellungen (0-3) 0,22 0,22 P > 0,01 d = -0,05
Mathematische Grundvorstellungen (0-3) 0,71 0,61 P > 0,01 d = 0,28
Umgang mit mathem. Texten (0-3) 0,33 0,31 P > 0,01 d = 0,07
Curriculare Wissensstufe (1-3) 2,79 2,49 P < 0,01 d= 1,2
Tabelle 8: Schulformunterschiede (Gymnasium versus andere Schulformen) bezüglich der Klassenarbeiten 2003. Zur Orientierung: Nach Cohen (1992) handelt es sich bei d = 0,3 um kleine Ef fekte, bei d = 0,5 um mittlere Effekte und ab d = 0,8 um große Effekte; d berechnet sich aus der MittelwertsdifJerenz geteilt durch die gepoolte Standardabweichung.
Eine weitere Frage ist, ob und inwieweit in verschiedenen Schulforrnen Aufgaben auf unterschiedlichen curricularen bzw. kognitiven Niveaus eingesetzt werden. So wäre beispielsweise zu erwarten, dass im Gymnasium in den Mathematikaufgaben mathematisches Argumentieren und der Umgang mit mathematikhaltigen Texten durchschnittlich auf einem höheren Niveau verlangt wird als in anderen Schulforrnen (Realschule, Hauptschule, Gesamtschule, Sekundarschule etc.). In Tabelle 8 werden diese Hypothesen für
102 Alexander Jordan et. al.
das exemplarisch herausgegriffene Set der Klassenarbeiten 2003 überprüft (die Ergebnisse mr die anderen Aufgabensets sind ähnlich).
Es ist ersichtlich, dass mathematisches Argumentieren in den Klassenarbeiten am Gymnasium durchschnittlich tatsächlich auf einem höheren Niveau verlangt wird (0,14) als bei anderen Schulformen (0,03), aber eben nach wie vor auf einem absolut gesehen sehr niedrigen Niveau. Eine genauere Analyse der Daten ergab, dass am Gymnasium immerhin jede zehnte Aufgabe in Klassenarbeiten mathematisches Argumentieren erfordert, während dies in anderen Schulformen nur fiir jede mnfzigste Klassenarbeitsaufgabe der Fall ist.
Beim Umgang mit mathematikhaltigen Texten und beim Gebrauch mathematischer Darstellungen treten wider Erwartung keine Schulformeffekte auf. Klassenarbeiten aus Gymnasien und aus anderen Schulformen haben bezüglich dieser beiden Kategorien etwa dasselbe Niveau (siehe Tabelle 8). Beim außermathematischen Modellieren zeigt sich sogar ein gegenteiliger Effekt: Während im Gymnasium eher innermathematisch gearbeitet wird (was sich in den Werten der Kategorie innermathematisches Modellieren zeigt), befinden sich unter den Aufgaben in anderen Schulformen tendenziell sogar mehr außermathematische Modellierungsaufgaben, die das Übersetzen einer Situation aus der Realität in die Mathematik verlangen. Dieses auf den ersten Blick erstaunliche Ergebnis mag darauf ZUfÜckzumhren sein, dass in nicht-gymnasialen Schulformen Lehrkräfte öfter auf Anschauungsbeispiele in Form von Sachaufgaben (Anwendungsaufgaben) zurückgreifen, während im wissenschaftlich orientierten Gymnasium traditionell eher "reine" Mathematik betrieben wird (vgl. innermathematisches Modellieren). Der letzte signifikante Schulformunterschied in Tabelle 8, der ·Unterschied in der curricularen Wissensstufe, ist erwartungskonform. Selbstverständlich werden im Gymnasium die im Curriculum höher angesiedelten Stoffe angesprochen. Die absolute Höhe der Mittelwerte der curricularen Wissensstufe zeigt aber auch, dass nur selten auf Stoffe aus früheren Perioden des Curriculums, die gleichwohl anspruchsvoll sein könnten, zurückgegriffen wird.
Zusammengefasst kann somit gesagt werden, dass die im deutschen Mathematikunterricht eingesetzten Aufgaben insgesamt ein sehr niedriges kognitives Aktivierungspotential aufweisen und diesbezüglich nur geringe Unterschiede zwischen den einzelnen Schulformen bestehen. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass dieses zwar nicht überraschende, aber doch ernüchternde Ergebnis nicht auf eine zu anspruchsvolle Formulierung der Kategorien des Klassifikationsschemas ZUfÜckgefiihrt werden kann, sondern als ein Zeugnis der deutschen Unterrichtsrealität angesehen werden muss.
5 Zusammenfassung und Ausblick
Aufgaben sind ein zentrales Element des Mathematikunterrichts. Sie dienen einerseits dazu, verschiedene mathematische Teilgebiete voneinander abzugrenzen, andererseits sind Unterrichtsvorbereitung und Unterrichtsablauf um und durch Aufgaben organisiert, zudem liefern sie in Klassenarbeiten und Tests Schülerinnen und Schülern wie auch Lehrkräften Rückmeldung über den erworbenen Wissensstand. Auf die Beschäftigung mit Aufgaben wird somit ein Großteil der Zeit des Mathematikunterrichts verwendet, weshalb den im Unterricht genutzten Aufgaben eine bedeutsame Rolle bei der Vermittlung mathematischer Denk- und Arbeitsweisen zukommt. Mathematische Aufgaben ha-
Aufgaben im COACTIV-Projekt 103
ben sich außerdem in der Forschung bewährt als Indikatoren, die Strukturen der Gestaltung des Mathematikunterrichts aufzeigen können.
In der COACTIV-Studie wurden Lehrkräfte und Lernende der PISA-Klassen 2003/2004 umfangreich befragt und getestet. Auch wenn sich aus den zahlreichen dabei eingesetzten Skalen zum Abbilden des schulischen Alltags am Ende der Sekundarstufe I eine Vielzahl wertvoller Erkenntnisse über den deutschen Mathematikunterricht ergeben, muss zugestanden werden, dass die meisten dieser Skalen auf Selbstberichten basieren. Die von den COACTIV-Lehrkräften eingereichten Aufgaben dagegen können als echte Zeugnisse aus dem Unterricht gesehen werden. Sie sind Objekte mathematischen Arbeitens in deutschen Schulklassen. Die große Menge der bei COACTIV erfassten Aufgaben (über 45.000) erlaubt einen umfassenden Einblick in das im deutschen Mathematikunterricht am Ende der Sekundarstufe I verwendete Aufgabenmaterial. Es konnte darüber hinaus ein Klassifikationsschema entwickelt werden, mit dessen Hilfe man reliabel und valide zentrale Dimensionen der Qualität mathematischer Aufgaben im Hinblick auf ihr Potential zur kognitiven Aktivierung beurteilen kann.
Bei den Analysen stellte sich heraus, dass das durch die Aufgaben vermittelte kognitive Aktivierungspotential im Mathematikunterricht in Deutschland sehr niedrig ausgeprägt ist. Daraus kann gefolgert werden, dass die Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler über qualitätsvolle Aufgaben möglichst umfassend zu fördern, nur unzureichend genutzt wird. Die in Deutschland eingesetzten Aufgaben sind sehr homogen: Mathematisches Argumentieren fmdet kaum statt, die Aufgabentexte sind sprachlich wenig anspruchsvoll, es muss nur selten mit anspruchsvollen mathematischen Darstellungen umgegangen werden, außermathematische und innermathematische Bezüge werden im Sinn des Modellierens nur wenig hergestellt. Auch weitere Indikatoren fiir das kognitive Aktivierungspotential weisen auf einen kognitivanregungsarmen Mathematikunterricht hin (vgl. Kunter et al. 2006). Die Schulformen unterscheiden sich zwar im Grad der Ausprägung dieser Indikatoren, doch finden diese Unterschiede auf einem insgesamt sehr niedrigen Niveau statt.
Dass dieses geringe Potential zur kognitiven Aktivierung nicht nur aus theoretischer Sicht beklagenswert ist, sondern auch praktische Implikationen hat, konnte ebenfalls im Rahmen von COACTIV unter Nutzung der PISA-Schülerdaten gezeigt werden. So ließ sich in längsschnittlichen Analysen nachweisen, dass Schulklassen, in denen Aufgaben mit relativ höherem kognitiven Potential gestellt wurden, bei statistischer Kontrolle u.a. des Vorwissens nach einem Jahr deutlich bessere Leistungen aufwiesen (Kunter et al. 2006). Dies ist insofern bemerkenswert, da auf grund der äußerst geringen Varianz in den Aufgabenkategorien diesbezügliche Effekte grundsätzlich nur schwer nachweisbar sind. Es kann nur spekuliert werden, welchen Effekt auf den Lernzuwachs qualitätsvollere Aufgaben (die nicht nur im Mittel bei den einzelnen Kategorien höhere Werte haben, sondern auch eine größere Varianz bei diesen Kategorien aufweisen) erzielen könnten. Zumindest wird die wichtige Rolle, die den im Mathematikunterricht verwendeten Aufgaben zur Förderung mathematischer Kompetenzen theoretisch zugeschrieben wird, durch diese Befunde eindrucksvoll gestützt.
Berücksichtigt man im Zusammenhang mit diesen Resultaten aktuelle bildungspolitische Veränderungen wie die verbindliche Einfiihrung der Bildungsstandards in allen Schulformen, so muss konstatiert werden, dass es auch nach mittlerweile mehreren Jah-
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ren intensiver Bemühungen zur Verbesserung der Aufgaben- und Unterrichtsqualität, wie sie in Programmen wie SINUS und SINUS-Transfer seit 1998 vorgenommen wurden, noch nicht hinreichend gelungen ist, eine kognitiv anregende Aufgabenkultur in den Schulen breit zu verankern. Dies ist aus unserer Sicht aber eine notwendige Bedingung fiir eine erfolgreiche Implementation der Standards (siehe Blum et al. 2006). Gerade im Sinne der damit einhergehenden zentralen Leistungsüberprüfungen ist es notwendig, dass Lehrerinnen und Lehrer ein kognitv reichhaltiges Aufgabenmaterial im Unterricht darbieten. Nur so ist eine erfolgreiche Implementation der Standards und die damit intendierte nachhaltige Verbesserung des Mathematikunterrichts in Deutschland möglich. Hier sind Fachdidaktik und Lehrerbildung gleichermaßen gefordert, praktikable Konzepte zu liefern.
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Adressen der Autoren
Alexander Jordan Universität Bielefeld Institut fiir Didaktik der Mathematik 33615 Bielefeld [email protected]
Michael Neubrand Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Institut fiir Mathematik 261110ldenburg
Katrin Löwen, Mareike Kunter, Jürgen Baumert Max-Planck-Institut fiir Bildungsforschung Fachbereich fiir Erziehungswissenschaft und Bildungssysteme Lentzealle 94 14195 Berlin
Manuskripteingang: 1. August 2007 Typoskripteingang: 20. Mai 2008
Stefan Krauss, Wemer Blum Universität Kassel FB 17 Mathematik 34109 Kassel
Martin Brunner Universität Luxembourg Educational Measurement and Applied Cognitive Science (EMACS) 7201 Walferdange Luxembourg